Ich werde sie wieder sehen!

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Lord Nicholas Chapman ist erregt und beunruhigt: Bald wird er der Frau gegenüberstehen, der er vor elf Jahren das Herz gebrochen hat. So sehr war er damals von der amerikanischen Studentin Megan bezaubert, dass er sie zu einer leidenschaftlichen Affäre verführte - obwohl er wusste, dass er bald eine andere heiraten würde. Ob ihm Megan verziehen hat? Nicholas ahnt nicht, dass bald eine ergreifende Begegnung auf ihn wartet, die sein ganzes Leben verändert ...


  • Erscheinungstag 16.12.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754549
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Hallo, Megan. Ich habe gehört, dass du gestern Abend einen hübschen kleinen Jungen zur Welt gebracht hast. Herzlichen Glückwunsch!“

Eine Frau mit weißgrauem Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden war, stand vor der neunzehnjährigen Megan Stewart. Sie sah die junge Mutter so freundlich an, dass Megan beinahe Vertrauen zu ihr gefasst hätte, wäre ihr nicht klar gewesen, wer diese Frau war und warum sie gekommen war.

„Sie sind Mrs. Clancy, nicht wahr? Und Sie sind wegen der Adoption hier.“

„Nenn mich ruhig Alma“, antwortete die Frau mit einem Lächeln, das voller Mitgefühl war. „Ja, ich bin hier, um mit dir über deine Möglichkeiten zu sprechen.“

Möglichkeiten … Wenn Megan sich einer Sache sicher war, dann war es die Tatsache, dass ihr nur eine einzige Möglichkeit geblieben war.

„Ich habe deinen Sohn gesehen“, sprach Alma Clancy weiter. „Er sieht wirklich sehr niedlich aus.“

Diese Worte versetzten Megan einen Stich ins Herz. „Ich habe ihn nicht gesehen“, entgegnete sie knapp.

Einen Augenblick lang sah Alma überrascht aus. „Du hast ihn nicht gesehen?“

Megan schüttelte den Kopf. „Ich möchte zwar, aber ich habe Angst. Wenn ich ihn erst mal gesehen habe, dann kann ich ihn nicht mehr …“ Sie konnte nicht weitersprechen.

„Denkst du, du würdest dir noch mal überlegen, ob du ihn abgeben willst?“ Alma setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, und stellte ihre Aktentasche neben sich auf den Boden.

Megan spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, ihre Entscheidung infrage zu stellen. Sie musste an das Baby denken. „Nein“, antwortete sie fest und versuchte, dem prüfenden Blick der Besucherin auszuweichen.

„Komm, lass uns alles in Ruhe von Anfang an durchgehen.“ Damit holte Alma ein Klemmbrett aus ihrer Aktentasche und sah auf das zuoberst liegende Blatt. „Du hast angegeben, dass der Vater unbekannt sei.“ Sie blickte hoch. „Stimmt das?“

Natürlich stimmte das nicht. Megan konnte seit acht Monaten an nichts anderes denken als an den Vater ihres Kindes. Er lebte in England, und das war fünftausend Kilometer weit weg. Letzte Nacht noch hatte sie von Nicholas geträumt … und von ihrem gemeinsamen Kind, einem kleinen Jungen mit dunkelblondem Haar, der dieselben blauen Augen hatte wie sein Vater. Die kleine, rundliche Kinderhand hatte wie ein winziger Seestern ausgesehen, als er sie nach Megan ausstreckte.

Sie hatte diese Hand jedoch nicht ergriffen. Sie durfte es nicht – nicht mal in ihren Träumen.

Erschrocken war sie in ihrem Krankenhauszimmer mit dem grellen Licht und den sterilen, weißen Wänden aufgewacht. Kein Nicholas, kein Baby. Nur sie selbst, einsam und verzweifelt.

Ist der Vater unbekannt? Die Frage stand immer noch unbeantwortet im Raum.

Megan biss die Zähne zusammen. Nicholas würde das mit dem Baby nie herausbekommen. Irgendwann hätte sie es ihm fast erzählt. Da war sie im zweiten Monat schwanger gewesen und hatte gedacht, sie sollte ihn benachrichtigen. Sie bat ihn in einem Brief, sie anzurufen, aber er reagierte nicht darauf. Jetzt, im Nachhinein, war sie froh darüber. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die einflussreiche Familie Chapman sich auf das Baby stürzen und es in die kalte, dunkle Welt entführen würde, in der Nicholas seine Kindheit hatte verbringen müssen. Sie liebte ihr Kind zu sehr, um ihm das antun zu können.

„Ich … ich bin mir nicht sicher, wer der Vater ist.“

Alma wartete eine Weile und schaute dann wieder in ihre Papiere. „Hier steht, dass du im letzten Herbst an einem Austauschprogramm in London teilgenommen hast. Hast du dort jemanden getroffen?“

Ja! hätte Megan am liebsten geschrien, er stammt aus einer aristokratischen Familie in England. Nicholas ist Viscount Hennington und sein Vater der Earl of Shrafton. Sie haben unglaublich viel Einfluss, und mir macht die Vorstellung panische Angst, dass sie mir das Baby wegnehmen, wenn sie von ihm erfahren. Sie würden es wie ein uneheliches Kind behandeln, von dessen Existenz niemand wissen darf. Sie würden meinen Sohn nur nehmen, weil sie glauben, er gehört ihnen, und nicht, weil sie ihn lieben.

Megan biss sich auf die Lippen, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Als sie spürte, wie Alma ihr das schwarze Haar zurückstrich, brach sie in Schluchzen aus.

„Psst“, flüsterte Alma. „Es wird alles gut. Wir schaffen das schon. Ich helfe dir. Egal was kommt.“

Megan sah sich erst unbehaglich um und starrte dann nur noch auf ihre Hände. „Was wäre, wenn ich ihn behielte? Kann ich meinen Sohn vor der Familie seines Vaters beschützen, wenn sie hinter ihm her ist?“

„Ich kann mir kaum vorstellen“, entgegnete sie, „dass eine Familie einer guten, liebenden Mutter das Sorgerecht streitig macht, wie du es befürchtest. Es gibt vielleicht Besuchsrechte, aber dass sie dir deinen Sohn nicht wegnehmen können, dessen bin ich mir vollkommen sicher.“ Sie sah Megan freundlich an und schüttelte den Kopf. „Und darf ich dir einen kleinen persönlichen Rat geben? Man sollte wichtige Entscheidungen im Leben nie aus Angst treffen. Du solltest immer auf dein Herz hören.“

Eine Weile saßen sie beide schweigend da. Megan sah nachdenklich aus dem Fenster, und Alma betrachtete Megan mit beruflicher Gelassenheit.

„Ich möchte mein Baby behalten“, sagte Megan schließlich.

Alma sah Megan tief in die Augen. „Dann lege ich die Adoptionspapiere also zur Seite?“

„Ja, bitte!“ Megan hatte das Gefühl, dass sie zum ersten Mal seit fast einem Jahr wieder frei durchatmen konnte.

Alma wollte die Krankenschwester rufen.

„Einen Moment noch“, bat Megan und hielt Alma am Arm fest. „Ich habe Angst.“

Von irgendwoher am Ende des Korridors war das Schreien eines Babys zu hören. Megan richtete sich im Bett auf. Die gespannten Brüste taten ihr weh, und ihr Nachthemd hatte feuchte Stellen von der auslaufenden Milch. Sie setzte sich gerade hin und schaute Alma Clancy an. „Alle haben mir gesagt, dass es dem Baby gegenüber nicht fair sei, wenn ich es behalte. Und es gibt viele Gründe, weswegen diese Leute recht haben.“

Megans Eltern waren zwar verständnisvoll, aber auch sehr unnachgiebig gewesen und hatten sie gedrängt, das Baby zur Adoption freizugeben. Sie wollten, dass Megan ihr Studium beendete und Karriere machte. Etwas, was weder ihnen noch ihren Vorfahren aufgrund mangelnder Schulbildung möglich gewesen war. Manchmal glaubte Megan, dass das für ihre Eltern wichtiger war als für sie selbst.

Dennoch ging sie davon aus, dass sie ihr beistehen würden, egal wie sie sich entschied.

Fragend zog Alma die Augenbrauen hoch und wartete. „Und was ist mit dir? Wie fühlst du dich dabei?“

Megan ging für sich zum x-ten Mal innerlich die Liste aller Fürs und Widers durch, die ihr einfielen. „Ich habe Angst, dass es für den Kleinen sehr schwierig wird, bei einer alleinerziehenden Mutter aufzuwachsen, die immer arbeiten muss. Bestimmt habe ich ihm schon genug damit angetan, dass ich mich so habe täuschen lasse. Eigentlich habe ich kein Recht, ihn zu behalten, egal wie sehr ich ihn auch liebe. Und ich liebe ihn so sehr. Das tue ich wirklich.“ Megan versuchte zu lächeln. „Ich frage mich, wie ich mich bloß auf mein Herz verlassen kann, nachdem es so geirrt hat?“

Alma ließ nicht locker. „Nun hör mir mal zu! Was möchtest du tief in deinem Innern wirklich?“

„Ich …“ Megan holte tief Luft. In ihrem Innern wusste sie genau, was sie wollte. In ihrem Innern wusste sie, was das Beste war. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sie hatte nur nie geglaubt, dass es so leicht sein konnte, wie es jetzt plötzlich aussah. „Ich möchte mein Baby behalten.“

1. KAPITEL

Zehn Jahre später

Er konnte es nicht fassen.

Nicholas Chapman, Earl of Shrafton, starrte auf das Blatt Papier, das vor ihm auf seinem Schreibtisch lag.

Am liebsten hätte er den Brief zerknüllt und in den Papierkorb geworfen, aber er war wie gelähmt. Dort stand, dass er sie wiedersehen würde. Die einzige Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte.

Es hätte nichts Schlimmeres passieren können.

Megan Anne Stewart würde in diesem Semester nach London kommen, um Englisch zu unterrichten – so stand es dort. Und das im Rahmen desselben Programms, das Nicholas selbst entworfen hatte. Nichts auf der Welt hätte ihn so völlig unerwartet treffen können.

Er hätte sich einen Schutzwall für seine Gefühle bauen sollen, doch er hatte nicht im Traum daran gedacht, dass er sie je wiedersehen würde.

Es war jedoch keine Reue, die er bei dieser Konfrontation mit der Vergangenheit empfand. Als er damals ihre Beziehung beendete, war er sich sicher gewesen, das Richtige zu tun, und auch heute noch lebte er in der Gewissheit, dass es kein Fehler war. Der einzige Fehler, den er begangen hatte, war, dass er sich erlaubt hatte, zu viel für diese junge Frau zu empfinden, obwohl er von Anfang an wusste, dass sie nie zusammenbleiben konnten.

Das Summen der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch schreckte ihn auf. Ohne hinzuschauen, drückte er auf den Knopf. „Ja, Monica?“, sagte er in gereiztem Ton.

„Ihre ehemalige Frau ist auf Leitung vier.“

Verflixt, heute kam aber auch wirklich alles zusammen. „Nicht jetzt, Monica.“ Er fuhr sich mit der freien Hand durch das dunkelblonde Haar. „Sagen Sie ihr, ich sei nicht da.“

„Ja, Sir.“

Nicholas nahm die Hand von der Gegensprechanlage. Das konnte er nun wirklich gar nicht gebrauchen, an seine kurze, unglückliche Ehe erinnert zu werden. Allerdings konnte er auch nicht an Megan denken, ohne an seine Ehe erinnert zu werden.

Er konzentrierte sich wieder auf das Problem, das sich mit Megans Kommen stellte. Vielleicht konnte er ihren Vertrag ja noch lösen. Er sah kurz auf den Kalender, obwohl er wusste, dass es dafür zu spät war. Die Vorstellungsparty für die Mitarbeiter war schon heute Abend, und die Kurse sollten bereits Montag beginnen. Sie war also bereits in London.

Nicholas stand auf und ging zum Fenster. Er lehnte sich gegen die Fensterbank und legte eine Hand flach an die kühle Scheibe. Regentropfen liefen wie Tränen am Glas hinunter – wie Megans Tränen, die er nie vergessen hatte.

Megan. Der Name ging im einfach nicht aus dem Kopf. Sie war nun schon so lange fort, dass … dass was? Dass er sie vergessen hatte? Nein, wohl kaum. Aus seiner Erinnerung schoben sich Bilder in seine Gedanken: Er sah das gertenschlanke Mädchen, wie es unter dem kitschig rosafarbenen Abendhimmel von London auf einer Bank im St. James’s Park saß. Ihr dunkles, kastanienbraunes Haar hatte sie im Nacken zu einem Zopf geflochten. Sie sah in ihrem Schlaf sehr friedlich aus und bemerkte weder die um sie herum pulsierende Stadt noch den hingerissenen jungen Mann, der sie aus der Ferne bewunderte. Dieses Bild war in den letzten zehn langen Jahren nicht verschwunden, es hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.

Nicholas atmete tief durch. Er hätte sie an diesem Tag in Ruhe lassen sollen. Er hätte damals gut auf sie verzichten können. Er hätte sogar auf sie verzichten müssen!

Durch die Zeit mit Megan war ihm besonders deutlich, wie leer seine spätere Ehe gewesen war. Nicht, dass diese Ehe ein Fehler gewesen wäre. Sie hatte eine sehr wichtige Fusion mit sich gebracht. Und auf diese Weise hatte er eine Stufe des Erfolgs erreicht, von der sein Vater immer nur geträumt hatte.

Was das Ganze jedoch absurd erscheinen ließ, war die Tatsache, dass er hier mitten in seinem Reich in einem elegant eingerichteten Büro herumstand, unbequeme Kleidung trug und Mühe hatte, den Aufruhr in einem Herzen zu bekämpfen, das sich nun so lange ruhig verhalten hatte. Ganz zu schweigen von der körperlichen Erregung, die ihn ergriffen hatte. Megan – mit ihrer Frische, ihrem weiblichen Duft, ihrer weichen, samtigen Haut – hatte ihn auch sexuell mehr erregt als je eine Frau vor oder nach ihr.

Das Fenster war von seinem Atem beschlagen und hüllte die Straße unter ihm in Nebel ein. In der Ferne konnte er die Kuppel der St. Paul’s Cathedral erkennen, und bei diesem Anblick zog sich ihm der Magen zusammen. Wie oft war er mit Megan damals dort gewesen? Wie oft war er noch dorthin gegangen, als sie schon längst fort war? Wann hatte er eigentlich damit aufgehört?

Vor allem musste er jetzt aufhören, daran zu denken. Aber warum nur war Megan eine Erinnerung, die er einfach nicht loswerden konnte?

Nicholas ging zu seinem Schreibtisch zurück und warf sich in den Sessel, bevor er die Papiere wieder zur Hand nahm, um Megans kurze Biografie zu lesen. Sie hatte 1995 ihr Examen an der Universität von Maryland abgelegt. 1995? Dann musste sie ihr Studium wohl unterbrochen haben. Denn als sie damals zurückging, hatte sie nur noch zwei Semester zu absolvieren. Er las weiter. Sie hatte ihren Magister an der George-Washington-Universität gemacht und seitdem an der Hochschule von Maryland englische Literatur unterrichtet.

Und jetzt war sie wieder da. Auch wenn er sich noch so viel Mühe gab, er würde einer Begegnung nicht aus dem Weg gehen können.

Aber was sollte er ihr bloß sagen? Schön dich wiederzusehen. Ich habe es im Moment leider etwas eilig, aber wir sollten mal zusammen zu Mittag essen. Es tut mir übrigens leid, was da vor zehn Jahren passiert ist …

Ob sie sich überhaupt noch daran erinnerte? Es war schon so lange her! Vielleicht war die ganze Geschichte für sie längst verblasst. Wer wusste schon, was seither in ihrem Leben alles passiert war?

Ein weiteres Mal ging er die Unterlagen durch. Was suchte er eigentlich? Etwas zwischen den Zeilen? Irgendeinen Bezug zu ihrer gemeinsamen Vergangenheit? Irgendetwas, das ihm mehr über sie sagte? Ihr Ausbildungsgang und die Auflistung ihrer Arbeiten gaben keinerlei Aufschluss über ihr Privatleben. Er wusste noch nicht mal, ob sie verheiratet war. Ihr Nachname war zwar immer noch derselbe, aber sie hatte immer betont, dass, sollte sie je heiraten, sie ihren Namen behalten würde, genauso wie ihre Unabhängigkeit. Daran konnte sich Nicholas noch sehr gut erinnern. Schließlich gehörte das zu den Dingen, die er sich immer dann ins Gedächtnis rief, wenn er sich ermahnen wollte, wie absolut ungeeignet sie für ein Leben als britische Gräfin gewesen wäre.

Erneut las er ihren Personalbogen und fragte sich, ob und wie sehr sie wohl ihre Ansichten geändert hatte. Vielleicht war sie ja glücklich verheiratet. Vielleicht hatte sie sogar Kinder. Vielleicht hatte sie ihn völlig vergessen, nachdem sie England verlassen hatte, oder spätestens nach dem einen Brief, den sie ihm noch geschrieben hatte.

Ein Brief für Sie, Sir. Das Hausmädchen – Nelly? Kelly? – hatte ihm auf einem Tablett einen Umschlag gereicht. Er spürte noch heute diese unangenehme Mischung von freudiger Erregung und Erschrecken, mit der er Megans Handschrift wieder erkannte.

Er hatte den Brief gelesen, obwohl es wahrscheinlich weniger schmerzhaft gewesen wäre, wenn er ihn ungeöffnet weggeworfen hätte. Sie schrieb, dass es noch Unerledigtes zwischen ihnen gäbe, und bat ihn, sie bitte anzurufen, damit sie darüber sprechen könnten. Er wusste natürlich, dass ein Anruf alles nur noch schlimmer gemacht hätte, als es ohnehin schon war. Vielleicht hatte sie sogar recht, und ihre Beziehung war „unerledigt“, aber dann musste sie es eben bleiben. Kein Reden und kein Nachtrauern konnten daran etwas ändern. Also hatte er den Brief zusammen mit der Telefonnummer vernichtet.

Kein Bedauern.

Er hatte das Richtige getan.

Er hatte keine Lust, sich damit jetzt verrückt zu machen. Er musste nur noch eins tun: Er musste mit ihr reden, wenn sie schon mal da war, und es vor allem bald hinter sich bringen.

Am nesten gleich heute Abend.

Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage.

„Ja, Sir?“, antwortete seine Sekretärin.

„Sagen Sie bitte meine Termine für heute Abend ab. Wenn mich irgendjemand unbedingt sprechen will, kann er mich in der Universitätsbibliothek erreichen.“

Megan spürte einen ungewöhnlichen Frieden in sich, als sie am Abend in der Bibliothek stand. Entweder war sie endlich am richtigen Ort angelangt und tat das Richtige zur richtigen Zeit, oder sie litt mehr unter der Zeitverschiebung, als sie vermutet hatte. Ersteres hielt sie jedoch für wahrscheinlicher.

Sie freute sich auf die langen Monate, die sie vor sich hatte, und konnte es kaum erwarten, amerikanische Schüler für die englische Literatur zu begeistern, und das auch noch in einer Umgebung, in der man nur die Hand auszustrecken brauchte, um den Berühmtheiten nahe zu sein. Sie konnte mit ihren Schülern überall hinfahren, um die Literatur hautnah zu erleben, genauso wie sie es selbst einst getan hatte.

Nun, jedenfalls fast genauso. Ihre Schüler würden sich wahrscheinlich nicht mit einem attraktiven Aristokraten wie Nicholas einlassen, und das war auch gut so.

Der Gedanke an Nicholas ließ sie schaudern, weil sie ihrer Aufgabe, ihn zu finden und ihm von seinem Sohn zu erzählen, nicht mehr länger davonlaufen konnte.

Aber das musste ja nicht gleich heute Abend sein, beruhigte sie sich. Heute Abend wollte sie nur an die angenehmen Aufgaben denken, die vor ihr lagen, an ihre Lehraufgaben und die Fahrten durch das Land. An das schwierige Vorhaben, Nicholas zu finden und ihm von William zu erzählen, wollte sie erst später denken.

Jemand schlug mit einem Löffel an eine Teetasse und das leise Stimmengewirr im Hintergrund verebbte. „Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“, rief ein dünner, schmächtiger Mann mit glattem braunen Haar und Nickelbrille auf der Nase. „Ich freue mich, Sie alle hier begrüßen zu können“, begann er. „Ich bin Simon MacGonagle, der Direktor des Londoner Studienprogramms.“

Es wurde höflich geklatscht.

„Und ich möchte Ihnen gern einige unserer großzügigen Wohltäter vorstellen, die so freundlich waren, heute Abend hier anwesend zu sein.“ Er nannte die Namen einiger Leute, die neben ihm standen, und für jeden wurde brav geklatscht. Megan war ihrem Jetlag fast ganz erlegen, als Simons Stimme sie aus ihrer Lethargie riss. „Ist der Earl of Shrafton hier?“

Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, und sie spürte, wie sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper anspannte. Der Earl of Shrafton? Das musste der Vater von Nicholas sein. Aber das war doch nicht möglich! Er war ihr nie als Menschenfreund beschrieben worden – eher als das Gegenteil. Sie musste sich verhört haben.

Megan drehte sich zu ihrer Freundin Felicity um, die als moralische Unterstützung mitgekommen war, und „Hat er das gesagt, was ich glaube?“, flüsterte.

„Das habe ich jedenfalls auch gehört“, flüsterte Felicity zurück. Sie war der einzige Mensch auf der Welt, der verstand, was in Megan vorgehen musste. Sie war über all die Jahre mit ihr in Kontakt geblieben und hatte die ganze Geschichte von Anfang bis Ende mitbekommen.

„Aber Miles Chapman hat sich nie für solche Dinge interessiert. Besonders nicht, wenn es um amerikanische Schüler ging.“ Megan runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Es kann aber auch kein Zufall sein. Ich meine, es gibt in jeder Linie immer nur einen Earl. Es kann also keine zwei Earls of Shrafton geben, oder doch?“

Felicity verzog das Gesicht. „Nein, das kann es nicht geben …“

„Um Himmels willen, glaubst du, er würde mich erkennen? Der Earl, meine ich.“

„Da bin ich mir ganz sicher, und zwar sofort.“ Felicity nahm Megan an die Hand und führte sie in eine ruhige Ecke. „Ich muss dir etwas sagen, Meg. Es gibt etwas, was du wissen musst.“

„Er kann sich bestimmt nicht erinnern.“ Megan knetete sich nervös die Hände. „Schließlich war ich ja nur eine kurze – eher winzige – Affäre in Nicholas’ Leben. Sein Vater hat bestimmt Wichtigeres zu tun, als Groll gegen mich zu hegen.“

„Ganz bestimmt“, bestätigte Felicity. Ihr Griff um Megans Arm wurde fester. „Jetzt hör mir mal zu, Meg. Er ist bestimmt nicht hier, weil er verstorben ist.“

„Verstorben?“, echote Megan. Williams Großvater war tot? „Das kann nicht sein. Simon hat doch gerade selbst gesagt, dass er eigentlich hier sein sollte.“

„Simon hat vom Earl of Shrafton gesprochen“, korrigierte Felicity vorsichtig, „nicht von Nicholas’ Vater.“ Sie kam noch dichter heran und wiederholte: „Nicholas’ Vater ist tot. Er ist letztes Jahr gestorben.“

In Megans Gesicht stand erst Erstaunen geschrieben, dann Betroffenheit und schließlich das blanke Entsetzen. „Aber das heißt ja …“, sie musste schlucken, „der Earl of Shrafton, der hier sein sollte, ist …“ Sie legte sich eine Hand an die Stirn und griff mit der anderen nach einem Stuhl hinter sich.

„Nicholas“, beendete Felicity Megans Feststellung.

„Darauf bin ich nicht vorbereitet“, sagte sie nach einer Weile. „Wir müssen gehen.“ Ängstlich sah sie zur Tür. „Wir müssen sofort gehen!“, drängte sie, während sie aufstand und Felicity am Arm ergriff.

Aber Felicity blieb stehen. „Nun warte doch. Schließlich bist du auch deswegen nach England gekommen. Du willst ihm die Wahrheit sagen.“

„Aber doch nicht jetzt! Nicht hier und nicht heute Abend!“ Megan dachte an ihren Sohn, der mit ihr in einem Haus in einem nördlichen Stadtteil von London untergebracht war und der keine Ahnung davon hatte, dass seine Mutter und sein Vater sich vielleicht zum ersten Mal nach seiner Geburt wieder gegenüberstehen könnten.

Natürlich hatte William in diesen Jahren immer wieder nach seinem Vater gefragt. Sie hatte ihm, so viel sie konnte, von Nicholas und ihrer Beziehung zueinander erzählt und dabei immer betont, dass sie sich zwar sehr geliebt hatten, aber nicht zusammenbleiben konnten.

In letzter Zeit waren Williams Fragen jedoch genauer geworden. Er wollte Dinge wissen, die Megan einfach nicht wusste – zum Beispiel, ob sein Vater in der Schule viel Sport gemacht hatte, in welchem Alter er im Stimmbruch war oder ob er sich jemals etwas gebrochen hatte. Die meisten Kinder wussten solche Sachen über ihre Väter. Als er schließlich wissen wollte, ob sein Vater als Kind die Windpocken gehabt hatte, hatte Megan entschieden, dass es Zeit war, Nicholas zu finden, um ihm die Wahrheit zu erzählen. Warum ausgerechnet diese Frage das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, wusste sie auch nicht. Vielleicht, weil es die letzte unschuldige Frage war, die sie mit „Ich weiß es nicht“ beantworten konnte, vielleicht auch weil es Sinn machte, Nicholas’ Krankengeschichte zu kennen. Jedenfalls hatte diese Frage zu dem Entschluss geführt, Nicholas und William die Wahrheit zu erzählen.

„Das muss sorgfältig geplant werden“, sagte Megan zu ihrer Freundin.

„Hast du das nicht in den letzten Monaten bereits getan?“

Megan versuchte, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken, vergebens. „Schon, aber ich dachte, ich müsste ihn erst mal finden und dass ich mich während dieser Suche auf das Wiedersehen vorbereiten könnte.“

„Nun, jetzt hast du ihn gefunden. Warum machst du nicht einen Sprung ins kalte Wasser und erzählst ihm sofort alles?“

„Nicht jetzt.“ Megan schnappte nach Luft. „Warum hast du mir das mit seinem Vater nicht früher erzählt?“

„Weil du mich extra darum gebeten hattest, es nicht zu tun. Du hast mir gesagt, wenn ich jemals etwas von ihm hörte, sollte ich es für mich behalten. Schließlich habe ich die ganze Zeit in London gelebt. Ich musste dir versprechen, ihn nie zu erwähnen.“

„Du hast recht, ich weiß“, gab Megan zu. „Weißt du noch mehr, als du mir bis jetzt eröffnet hast?“

„Nur, dass er sich schon bald nach seiner Hochzeit wieder hat scheiden lassen und dass diese Ehe kinderlos blieb.“

Also war William sein einziges Kind. Sein Erbe. Megan hatte das Gefühl, dass sich alles in ihr zusammenzog. Sie bekam kaum noch Luft. Alles war zu überwältigend, als dass sie weiter darüber nachdenken konnte.

„Das wird mir jetzt alles zu viel. Ich muss hier raus.“ Sie ging in Richtung Flur in der Hoffnung, sich unbemerkt hinausstehlen zu können. Beim Hinausgehen blickte Megan noch einmal über die Schulter zurück und schaute gerade noch rechtzeitig wieder nach vorn, um mitzubekommen, dass ihre Freundin vor ihr stehen geblieben war. Sie lief ihr direkt in den Rücken.

Und dann machte Felicity einen Schritt zur Seite, sodass Megan direkt vor dem Mann stand, den sie so lange versucht hatte zu vergessen.

2. KAPITEL

Nicholas war natürlich älter geworden, aber eigentlich sah er eher reifer aus als älter. Schließlich war er erst Mitte dreißig. Um die blauen Augen herum zogen sich jetzt feine Linien. Man konnte ihnen nicht ansehen, ob es Lachfältchen oder Sorgenfalten waren. Jedenfalls gaben sie seinem Gesicht eine Ausdruckskraft, an die Megan sich nicht erinnern konnte. Sein Mund hatte jedoch immer noch die ihr so vertrauten, feinen Züge, und er zog ihn immer noch auf einer Seite leicht nach oben, sodass er ständig aussah, als amüsierte er sich über etwas. Ihr fiel auf, dass seine Nase die erwachsene Ausgabe der Nase ihres Sohnes war – gerade, kräftig und würdevoll. Auch hatte er denselben ruhigen, intelligenten Gesichtsausdruck, den sie bei William beobachtet hatte, wenn er seine Mathematikhausaufgaben machte.

Es verschlug Megan förmlich den Atem. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Das alles kam zu schnell und zu unerwartet. Nicholas hatte immer noch die alte Kraft, sie völlig widerstandslos und zu einem Häuflein von Gefühlen zu machen.

Auch er starrte sie an, aber ihm stand die Überraschung nicht so deutlich im Gesicht geschrieben wie ihr. Die Menschen um sie herum schienen schweigend in die Dunkelheit zurückgetreten zu sein. Sie sah nur noch ihn. Freude durchströmte sie und am liebsten wäre sie ihm in die Arme gesunken.

Nicholas. Das wunderbare Gesicht, von dem sie so oft geträumt hatte, der verführerische Blick, seine kräftigen, schützenden Arme, nach denen sie sich so sehr gesehnt hatte. Hier stand er nun und war immer noch der kluge, freundliche Mann, in den sie sich verliebt hatte.

Megan wusste genau, wie es sich anfühlte, seine Arme um sich zu spüren. Sie wusste, wie er riechen, wie er schmecken würde. Sie konnte sich so gut daran erinnern, als wäre das letzte Mal erst ein paar Stunden und nicht viele Jahre her.

Autor

Elizabeth Harbison
Elizabeth Harbison kam erst auf Umwegen zum Schreiben von Romances. Nach ihrem Abschluss an der Universität von Maryland, ihrem amerikanischen Heimatstaat, arbeitete sie zunächst in Washington, D.C. als Gourmet-Köchin. 1993 schrieb sie ihr erstes Backbuch, danach ein Kochbuch, wie man besonders romantische Mahlzeiten zubereitet, dann ein zweites Backbuch und schließlich...
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