Im Land der großen Weite

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Für Beverly scheint ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht wahr zu werden: Amir Alzadikh, der Kronprinz von Bandhrazar, engagiert sie als Gouvernante für seine Schwester. Während er ihr die schönsten Seiten seines Wüstenreichs zeigt, kommt sie ihm immer näher. Auf zärtliche Küsse folgt eine rauschende Liebesnacht. Doch bald muss sie sich traurig fragen: Kann sie je mehr als Amirs heimliche Geliebte sein? Obwohl er selbst modern denkt, muss er der Tradition gehorchen und eine standesgemäße Braut wählen – keine Bürgerliche wie sie …


  • Erscheinungstag 20.08.2024
  • Bandnummer 172024
  • ISBN / Artikelnummer 0800240017
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Rock und Blazer des Business-Outfits saßen perfekt. Der altrosa Lippenstift gab ihrem Auftreten den letzten Schliff. Nicht zu auffällig, nicht zu dezent, schön weiblich, aber nicht aufreizend; beherzt, aber nicht zu forsch; gepflegt, aber nicht überkandidelt.

Die perfekte Kandidatin für den neuen Auftrag.

Zufrieden drehte sich Beverly Dawson vor dem großen Spiegel, der im Foyer der Personal-Service-Agentur hing. Der Spiegel hatte einen Goldrahmen. Genau genommen war es nur ein Überzug aus Blattgold, aber er vermittelte der Kundschaft, die hier Kurzzeitpersonal für die Urlaubsbetreuung ihrer Sprösslinge suchte, jene Mischung aus Reichtum und Gediegenheit, nach der sie verlangte.

Es war eine Klientel, die höchste Ansprüche an das gesuchte Personal stellte: Bildung, Umgangsformen, Sportlichkeit, das Beherrschen von Fremdsprachen, Koch- und Backkenntnisse, Organisations- und Improvisationstalent sowie – ganz wichtig! – absolute Verschwiegenheit.

Was Beverly selbstredend alles zu bieten hatte. Na gut, das mit der Verschwiegenheit hätten sich die Kunden vermutlich noch einmal überlegt, wenn sie gewusst hätten, womit Beverly eigentlich ihren Lebensunterhalt zu bestreiten versuchte. Spannende Geschichten, sorgsam gehütete Geheimnisse, Hinweise jeder Art, das war ihr Metier, das brachte sie auf die Spur.

Was allerdings nicht hieß, dass jeder ihrer journalistischen Beutezüge zu einem Ergebnis geführt hätte. Als investigative Journalistin versuchte man, Skandale aufzudecken, die Lügen hinter den schönen Worten zu entlarven, Wahrheiten herauszufinden. Es waren Sachen, die die Zeitungen besonders gern druckten, weil ihnen das eine umso größere Leserschaft garantierte. Aber nicht immer waren den Magazinen die herausgefundenen Fakten skandalträchtig genug, deshalb nahmen sie Bev die Artikel manchmal nicht ab – was bedeutete, dass sie in diesem Fall umsonst recherchiert, umsonst Zeit geopfert und vor allem umsonst geschrieben hatte; von den Kosten für die Recherche ganz zu schweigen, auf denen sie in diesen Fällen sitzen blieb. Als Freelancerin arbeitete sie immer auf eigenes Risiko. Es war ein interessanter, aber gleichzeitig auch harter Job.

Deshalb hatte sich Beverly noch einen zweiten Job zugelegt: In der Haupturlaubszeit, wenn das Sommerloch herrschte, oder zu Weihnachten kümmerte sie sich um die Kinder reicher Leute.

Um die Kinder sehr reicher Leute.

Nach Angabe der Agenturchefin suchte der heutige potenzielle Auftraggeber nach einer Betreuung für ein fünfzehnjähriges Mädchen, das laut der Informationen, die ihr vorab zur Verfügung gestellt worden waren, als sensibel, selbstbewusst und – oha! – hochintelligent beschrieben wurde.

Vermutlich also ein verzärtelter, ichbezogener, besserwissender Teenager.

Beverly hatte mit ihren achtundzwanzig Jahren genug Erfahrung mit halbwüchsigen Töchtern aus sogenanntem guten Haus, sie machte sich nichts vor. Der Job, wenn sie ihn bekam, würde anstrengend werden, denn meistens galt: Je reicher die Klientel, desto extravaganter und anspruchsvoller war sie auch. Und fünfzehn war ohnehin ein schwieriges Alter.

Aber der Auftrag, falls sie ihn bekam, würde Geld in ihre Kasse spülen. Geld, das Bev dringend brauchte, um die hohen Fixkosten für das Haus am Rande Londons zu bezahlen, das sie nach dem Tod ihrer Großmutter ganz allein unterhalten musste. Ihre Mutter war schon vor vielen Jahren unter tragischen Umständen verstorben.

Wie immer, wenn Bev daran dachte, zog sich ihr das Herz schmerzhaft zusammen. Schmerzhaft und voller Gewissensbisse.

Sie war nicht die Einzige, die im Moment vor dem Spiegel im Foyer noch einmal den Lippenstift nachzog und die Frisur richtete. Genau das taten die beiden anderen Frauen neben ihr ebenfalls. Wie Bev trugen sie elegante Businesskostüme mit Röcken, die weder zu lang noch zu kurz waren, sondern genau auf Höhe der Knie endeten, sowie Seidenstrumpfhosen und Schuhe, die elegant und strapazierfähig zugleich wirkten – wie gemacht für die Betreuung von Kindern unter den strengen Augen der eigentlichen Erziehungsberechtigten.

Ein letztes Mal musterte sich Bev im Spiegel. Das Kostüm, dessen Farbe genau auf ihre kornblumenblauen Augen abgestimmt war, stand ihr vorzüglich. Es betonte ihr flammendrotes Haar, das zu einer strengen Frisur hochgesteckt war, wobei sie zur Vermeidung eines allzu gouvernantenhaften Eindrucks einigen vorwitzigen Strähnen erlaubt hatte, sich an ihren Wangen hinab auf ihre Schultern zu ringeln. Das pudrige Rosé ihres Nagellacks nahm die Farbe ihres Lippenstifts wieder auf.

Eine Fünfzehnjährige also. Das Mädchen musste mitten in der Pubertät stecken und war wahrscheinlich mehr an Jungen interessiert als am guten Ruf ihrer Betreuerin auf Zeit. Der Job würde ihr einiges abverlangen. In jeder Hinsicht.

In dem Moment öffnete sich die Bürotür und Mrs. Daubeney, die Inhaberin der Agentur, eine schick gekleidete Frau Anfang Fünfzig, mit Pagenfrisur und dezentem Make-up, stand im Rahmen. „Meine Damen, kommen Sie bitte?“

Prinz Amir senkte die Lider, während drei elegante junge Frauen in das Büro traten und auf dem Sofa ihm gegenüber Platz nahmen.

„Bitte schön, Mr. Alvarez. Hier hätten wir dann als Erstes …“, die Personalvermittlerin schaute kurz auf das Datenblatt, das vor ihr lag, „... Miss Kristin Fisher, siebenundzwanzig Jahre alt und sehr erfahren im Umgang mit … ähm … herausfordernden Kindern. Sie hat bereits in mehreren …“

Dass sie ihn mit Mr. Alvarez angesprochen hatte, war beabsichtigt. Amir hatte ihr seinen wahren Namen nicht genannt. Als Geschäftsmann trat er häufiger als Mr. Alvarez auf, wenn er die Lage erst einmal zu sondieren gedachte.

Er räusperte sich. „Miss Fisher. Was würden Sie tun, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen Sie ständig korrigieren würde?“

Die Frau sah ihn an. Eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht.

„Ich … Also ich denke, ich würde es höflich bitten, das zu unterlassen.“

„Aus welchem Grund?“

„Nun ja, es ist unhöflich, nicht wahr? Ich meine, es schickt sich nicht, Erwachsene ständig zu verbessern. Es gibt gewisse Umgangsformen, die man in diesem Alter …“

„Vielen Dank, Miss Fisher.“ Amir lehnte sich zurück. Die Bewegung bedeutete ein Nein, ein klares Aus für die junge Frau, mochte sie noch so hübsch sein und noch so unschuldig dreinschauen mit ihren großen Augen. Ein fünfzehnjähriges Mädchen in seinem Wissensdrang einfach abzuwürgen, erschien ihm keine gute Idee. Zumal er selbst noch ganz andere Ansprüche an die Frau hatte, für die er sich entscheiden würde. Was hatte sich die junge Frau eigentlich von dieser Antwort erhofft?

Vermutlich hatte die Chefin seine Worte aber in eine völlig andere Richtung interpretiert, denn auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck der Erleichterung. „Dann darf ich Miss Fisher also als eine mögliche Kandidatin für Sie vormerken?“, fragte sie und griff nach ihrem Kugelschreiber.

„Ganz sicher nicht!“

Amir bemerkte das enttäuschte Flackern in den Augen der jungen Frau, die er gerade befragt hatte, den überraschten Ausdruck im Gesicht der zweiten und den herausfordernden Blick der dritten. Hob die jetzt nicht sogar kämpferisch das Kinn?

Amir sah ihr direkt in die kornblumenblauen Augen. Oh ja, darin brannte das Feuer des Widerspruchs und wurde von ihrem flammendrotem Haar sogar noch betont. Gut so! Wer es mit ihm zu tun bekam, der brauchte Kampfgeist, der durfte sich nicht von der erstbesten Frage ins Bockshorn jagen lassen. Sie würde noch genug Fragen zu bestehen haben – und nicht nur die eines fünfzehnjährigen Teenagers.

Eine Welle der Genugtuung lief durch seinen Körper. Als er herausgefunden hatte, dass die Journalistin, die für sein geheimes Projekt perfekt zu sein schien, auch als Nanny arbeitete, hatte er sofort einen Backgroundcheck über sie durchgeführt. Er hatte es sogar eigenhändig getan, statt es wie sonst seinem Sicherheitsdienst zu überlassen. Nächtelang hatte er vor seinem Laptop gesessen. Amir wusste genau, wen er hier vor sich hatte. Und vor allem wusste er, dass er unbedingt sie haben wollte, diese dritte Kandidatin mit den flammendroten Haaren, die eigentlich eine Journalistin war.

Sie war die, die er für seinen Plan brauchte. Was aber niemand wissen durfte, zumindest noch nicht jetzt.

„Nun gut“, sagte die Agenturchefin und deutete auf die zweite junge Frau. „Dann hätten wir hier Miss Karen Johnson, achtundzwanzig Jahre alt. Miss Johnson ist ebenfalls eine sehr erfahrene …“

„Miss Johnson also.“ Seine Stimme klang plötzlich rauer, als er es von sich gewohnt war, und Amir wusste auch, warum. Es war der intensive Blick der dritten, den er auf sich spürte. Sie schaute ihn unverwandt an, das sah er aus dem Augenwinkel. Und es war ein Blick, wie ihn sich die Frauen seines Landes einem Mann gegenüber niemals erlaubt hätten.

„Ja, Mr. Alvarez?“ Die Stimme der zweiten klang angespannt. Amir merkte ihr das Bemühen an, auf keinen Fall einen Fehler machen zu wollen.

„Wie würden Sie mit einem solchen Kind umgehen?“

Die angesprochene Kandidatin holte unmerklich tief Luft. „Nun, auf dem Bogen, den Sie ausgefüllt haben, steht, dass das Mädchen hochbegabt sei.“

„Ja. Und?“

„Dann weiß es vielleicht wirklich besser, was es sagt, und hat recht, wenn es mich korrigieren möchte.“

Amir schaute die junge Frau an. „Sprechen Sie weiter.“

„Also, in dem Fall sollte man vielleicht …“

„Man? Warum werden Sie nicht konkret? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe den Eindruck, die Aufgabe überfordert Sie jetzt schon.“

„N...nein, durchaus nicht“, stammelte die junge Frau, die von seinen harten Worten wie überfahren wirkte.

„Na gut, starten wir einen zweiten Versuch. Also, wie würden Sie mit einer vorlauten Jugendlichen umgehen, die Sie vielleicht auch mal verbal angreift?“

Die junge Frau schaute ihn hilflos an. Ein bisschen tat sie ihm leid, denn er ging sie tatsächlich etwas harsch an. Aber die von ihm Gewählte würde später noch ganz andere Attacken auszuhalten haben, eventuell sogar zielgerichtete Anfeindungen von der Presse. Was er im Moment allerdings nicht preisgeben durfte. Außerdem musste er den Schein waren. Es musste aussehen, als prüfte er alle drei Kandidatinnen gleichermaßen hart.

„Ich werde mich jedenfalls gut um Ihre Tochter kümmern, das verspreche ich Ihnen, Mr. Alvarez“, versicherte die zweite ihm jetzt mit roten Wangen. „Und es stört mich überhaupt nicht, wenn ich dabei von ihr korrigiert werde.“

Amir verzog den Mund. Ein Kindermädchen, das sich auf der Nase herumtanzen ließ und diesen Umstand schon jetzt unumwunden zugab, war gewiss nicht das, was er suchte. Er machte eine ungeduldige Handbewegung. Mrs. Daubeney sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.

„Auch nicht, Mr. Alvarez? Nun, dann hätten wir hier noch Miss Beverly Dawson, achtundzwanzig Jahre alt. Auch sie hat schon einige Erfahrungen als Betreuerin sowohl von Kindern als auch von Teenagern sammeln können, und sie kennt sich außerdem mit …“

Diese Augen! Er konnte sich nicht erinnern, jemals Augen von einem solch intensiven Blau gesehen zu haben. Es leuchtete wie der Himmel über der Wüste an einem klaren Sommertag. Aber in ihrem Blick erkannte er auch eine Art trotziger Auflehnung, was ihm gefiel. Sie würde es weder ihm noch anderen leicht machen, das spürte er.

Er musterte Beverly Dawson provozierend. „Wollten Sie gerade etwas sagen?“

„Absolut.“ Die junge Frau nickte energisch, was sie noch selbstbewusster erscheinen ließ. „Ich habe mich gerade gefragt, welche Antwort Sie eigentlich erwarten. Geben Sie es zu: Sie haben selbst keine Ahnung, wie Sie mit Ihrer pubertierenden Tochter umgehen sollen!“

Wie bitte? Amir stieß einen leisen Laut der Überraschung aus. Dieses Selbstbewusstsein war ja geradezu unglaublich! Er nahm sie fester in den Blick. „Sie irren sich gewaltig, Miss Dawson.“

„Ach wirklich?“ Die junge Frau sah ihn mit funkelnden Augen an.

Amir schob das Kinn vor. „Ja, Sie irren sich. Laila ist nicht meine Tochter. Sie ist meine Schwester.“

Was hatte sie nur zu dieser Antwort veranlasst? Am liebsten wäre Bev im Erdboden versunken, aber das hätte nur dazu geführt, dass sie den Auftrag an ihre Konkurrentinnen verlor. Rückzug war also keine Option.

Es war die Überheblichkeit des Mannes, die sie gereizt hatte. Die Art, wie er die anderen beiden Kandidatinnen vor ihr abgekanzelt hatte. Bev hatte nicht vor, genauso mit sich umspringen zu lassen. Sie schluckte und sah dem Kunden direkt in die Augen.

Er war geradezu unverschämt attraktiv. Ein glattrasiertes Gesicht, auf dem trotzdem die leichte Andeutung eines Bartschattens lag, ein markantes Kinn, ein sinnlicher Mund und eine leicht gebogene Nase, die seinem Gesicht den Ausdruck eines Falken verlieh – besonders jetzt, da er leicht verärgert wirkte. Dazu schwarze Haare, in die eine Sonnenbrille geschoben war, sodass Bev auch seine Augen sehen konnte; glänzende dunkle Augen, tief und unergründlich wie Brunnen. War sie einem so gut aussehenden Mann schon einmal begegnet? Wenn sie ihren Blick weitergleiten ließ, sah sie breite, starke Schultern und eine muskulöse Brust, über der sich ein stahlblaues Hemd leicht spannte.

Aber ja, es stimmte, er sah noch recht jung aus. Anfang Dreißig vermutlich. Bei einer fünfzehnjährigen Tochter hätte er ziemlich zeitig mit der Familienplanung begonnen haben müssen. Zu ärgerlich, dass ihr dieser Umstand nicht eher aufgefallen war. Aber den anderen beiden Frauen war es ja auch entgangen. Hatte nicht die eine zuerst von „Tochter“ gesprochen? Automatisch war deshalb auch Bev davon ausgegangen, dass der Mann bereits Kinder hatte.

„Abgesehen davon haben Sie aber recht“, sprach der Fremde in dem Moment weiter. „Ich bin ziemlich in meine Arbeit eingebunden und nur selten längere Zeit zu Hause. Außerdem werden bei uns Mädchen ab einem gewissen Alter generell von Frauen betreut. Aber Laila scheint ihren Erzieherinnen gerade über den Kopf zu wachsen.“

Er musterte sie von oben bis unten, wobei sein Blick ein paar Momente zu lange auf ihrem Dekolleté verweilte, bevor er sich wieder in ihren Augen verfing.

Bev verzog den Mund. Wollte der Mann vielleicht mehr als eine Betreuung für seine Schwester? Hatte er nebenbei noch etwas ganz anderes im Sinn? Damit würde er bei ihr auf Granit beißen! Bev hatte schon von einigen Kolleginnen gehört, dass sie hin und wieder von ihren Klienten angemacht wurden, weil die davon ausgingen, dass man sich hinterher sowieso nicht wiedersah. Ihr selbst war das aber noch nicht passiert, außerdem würde sie einen Teufel tun und mit Verwicklungen dieser Art ihren Nebenjob riskieren, der des Öfteren lukrativer ausfiel als ihr Hauptjob.

„Um Ihre Frage zu beantworten“, begann sie langsam und bedacht, „ich würde meine Reaktion von der jeweiligen Situation abhängig machen. Ich vermute, Ihre Schwester handelt nicht aus Boshaftigkeit, sondern sie möchte Widerspruch provozieren, um auch andere Perspektiven und Standpunkte zu erfahren. Ich würde Ihrer Schwester also mehr Möglichkeiten bieten, ihren offensichtlich großen Wissensdurst zu stillen. Es gibt da ja viele Möglichkeiten, man könnte mit ihr zum Beispiel in Museen gehen, in Bibliotheken, in für jedermann frei zugängliche Vorlesungen an den Universitäten. Vielleicht auch mal eine kleine Bildungsreise machen …“

„So einfach ist das nicht. Bei uns werden den Frauen und Mädchen solche Dinge nicht zugestanden. Auch wenn Laila da noch in einer besseren Lage ist als viele ihrer Altersgenossinnen.“

Bei uns? Woher kam er denn? Mrs. Daubeney hatte Bev vor zwei Tagen nur mitgeteilt, dass sie sich diesmal auf eine größere Reise gefasst machen sollte. Dem Namen des Kunden nach hatte sie ein spanischsprachiges Land, eventuell in Lateinamerika, erwartet.

„Falls ich mich für Sie entscheide, müssten Sie willens sein, sich für sechs Wochen nach den Sitten und Gepflogenheiten von Bandhrazar zu richten“, erklärte der Mann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Sind Sie dazu bereit? Und auch entsprechend vorbereitet?“

Bandhrazar? Den Namen hatte Bev noch nie gehört. Aber inwiefern musste sie sich darauf besonders vorbereiten? Sie hatte eine Liste, die sie immer abarbeitete, sobald sie einen Betreuungsauftrag übernahm, ansonsten ließ sie sich von den jeweiligen Situationen leiten. Natürlich informierte sie sich vor der Abreise über besondere Eigenheiten eines neuen Klienten, über Landesgepflogenheiten, Sehenswürdigkeiten und Klima im Zielland, ansonsten aber …

„Und um das Finanzielle gleich zu regeln: Natürlich käme ich für Kost und Logie auf, sowie für alle Ausgaben, die Sie für Lailas Wohlergehen tätigen. Außerdem bekämen Sie für die sechs Wochen ein kleines Taschengeld in Höhe von zehntausend Bandhri.“

Mr. Superattraktiv musste ihren irritierten Blick bemerkt haben, denn er fügte hinzu: „Das sind ungefähr fünfzigtausend Pfund. Ich denke, das ist angemessen?“, wandte er sich mit fragendem Blick an Mrs. Daubeney, der gerade die Gesichtszüge entgleisten.

„G…gewiss“, stotterte die.

Fünfzigtausend Pfund? dachte auch Bev überrumpelt. Hatte sie das richtig gehört? Ein dermaßen hohes Angebot war ihr noch nie gemacht worden, und schon gar nicht für nur sechs Wochen. Fünfzigtausend Pfund, davon ließen sich nicht nur die Grundsteuern ihres Hauses eine ganze Weile lang bezahlen, es waren sogar ein paar Reparaturen drin, eine Erneuerung der uralten Elektrik, neue Küchenfenster vielleicht, eventuell sogar ein paar Bäume aus einer guten Baumschule für ihren kleinen Garten …

Sie schluckte. „Natürlich bin ich entsprechend vorbereitet“, sagte sie, setzte sich kerzengerade hin und schaute kurz zur Mrs. Daubeney hinüber, die ihr mit einem strengen Blick signalisierte, jetzt nur keinen Fehler zu machen, um die Provision für die Agentur nicht zu gefährden. „Meine Chefin hat mich bereits ausführlich über das Reiseziel informiert. Bandhrazar ist ein wunderbares Land, das ich … ähm … schon immer mal kennenlernen wollte.“

In die dunklen Augen des Mannes stahl sich ein spöttisches Lächeln.

„Gehe ich recht in der Annahme, Miss Dawson, dass Sie noch nie von Bandhrazar gehört haben?“

2. KAPITEL

Was für ein Glück, dachte Bev auf dem Heimweg, dass er sich auf ihre wahrheitsgemäße Antwort hin nicht ebenso brüsk von ihr abgewandt hatte wie von ihren Mitbewerberinnen.

Stattdessen hatte Mr. Alvarez sie in eine Unterhaltung verwickelt, die einem Verhör verdammt nahegekommen war. Er hatte sich genauestens über ihren Werdegang informiert, ihre Fremdsprachenkenntnisse abgeklopft, ihr Allgemeinwissen geprüft und sich schließlich von ihren Erfahrungen als Betreuerin anderer Kinder berichten lassen. Selbstverständlich hatte Bev hier keine Namen genannt – schon gar nicht, nachdem sie ihm verraten hatte, dass sie in ihrem Hauptberuf als Journalistin tätig war. Ihren eigentlichen Beruf zu verschweigen, war für Bev nicht infrage gekommen. Es hätte sie als Kindermädchen für ihre exquisite Klientel für immer diskreditiert, wenn jemand mal zufällig dahinterkäme.

Erstaunlicherweise schien ihn das gar nicht sonderlich überrascht zu haben. Er war trotz dieser heiklen Information ganz normal zur Tagesordnung zurückgekehrt. Allerdings hatte er ihr das Versprechen abgenommen, im Falle einer Einstellung über alles, was sie im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses über seine Familie erfahren würde, Stillschweigen zu bewahren, und selbstredend hatte Bev der Forderung ohne eine Sekunde Bedenkzeit zugestimmt. Fünfzigtausend Pfund waren schließlich eine mehr als überzeugende Entscheidungshilfe.

Mit der U-Bahn fuhr sie hinaus ins Randgebiet von London. Wie immer ging ihr das Herz auf, als sie ihr windschiefes Häuschen inmitten all der Villen sah, die in den letzten Jahren in der Umgebung errichtet worden waren. Die ursprünglichen Nachbarn lebten längst nicht mehr hier, sondern hatten ihre Grundstücke für teures Geld verkauft, und die neuen Besitzer hatten die Häuser entweder aufwendig renoviert oder abgerissen und in weitaus pompöserem Stil neu gebaut. Inzwischen nahm sich Bevs Hexenhäuschen, wie sie es zärtlich nannte, ziemlich ärmlich zwischen all den Prachtbauten aus.

Man hatte ihr auch schon mehrfach eine hohe Summe für das Grundstück geboten und sie, nachdem sie abgelehnt hatte, monatelang mit Baulärm traktiert, um sie doch noch zum Verkauf zu bewegen. Aber in dieser Hinsicht würde Bev stur bleiben. Zu viele Erinnerungen hingen an dem Häuschen. Hier hatte sie nach dem tragischen Unfalltod ihrer Mutter mit ihrer Granny gewohnt.

Schnell schüttelte Bev die traurigen Gedanken ab, schloss die Haustür auf und trat in die winzige Diele. Sie liebte ihr kleines Refugium über alles. Wenn man zu dieser Jahreszeit durch das alte Küchenfenster in den Garten schaute, konnte man unzählige bunte Blumen in wilder Pracht blühen sehen. Im Wohnzimmer standen noch das alten Sofa und der barocke Esstisch ihrer Großmutter, und das winzige Schlafzimmer, aus dem man durch eine Terrassentür im Sommer barfuß in den Garten gelangen konnte, war der perfekte Rückzugsort.

Der größte Raum in dem Haus aber war die Küche. Auch jetzt ging Bev zuerst dorthin und stellte ihre Tasche auf dem Küchentisch ab. Eigentlich hatte sie direkt nach dem Agenturgespräch für das bevorstehende Wochenende einkaufen wollen, aber das war nun nicht mehr nötig: Schon übermorgen, am Sonntag, würde sie mit Mr. Superattraktiv in das geheimnisvolle Bandhrazar fliegen.

Die Dringlichkeit der Abreise war für sie eine Überraschung gewesen. Aber für fünfzigtausend Pfund konnte man schon mal umdisponieren. Viel Zeit blieb ihr jetzt zwar nicht mehr, um die notwendigen Dinge zu erledigen – aber doch genug, um sich für heute Abend noch mit ein paar Freundinnen zu verabreden. Dieser Auftrag musste gefeiert werden.

Miss Beverly Dawson also, achtundzwanzig Jahre alt, hübsch und selbstbewusst. Wobei hübsch hier nicht das richtige Wort war. Attraktiv, oh ja, und schön in einem klassischem Sinn. Faszinierend wie eine Diva. Wie machte sie es eigentlich, dass sie mit diesen blauen Augen und dem flammendroten Haar in ihrem Hauptberuf als investigative Journalistin unter dem Radar blieb? Oder war gerade die Schönheit ihre Tarnung, weil man nur ihre Attraktivität sah und im Gespräch nicht darauf achtete, dass man eben nicht nur eine schöne Frau, sondern vor allem eine wissbegierige Journalistin vor sich hatte? Er selbst hatte in der Agentur ebenfalls zuerst auf ihr Aussehen reagiert, sogar ziemlich heftig – und das, obwohl er gewusst hatte, was ihn erwartete. Wer ihn erwartete!

Amir ging in das Schlafzimmer seiner Suite, die sich über die gesamte Etage des Hotels erstreckte. Es war im Hilton abgestiegen, denn noch hatte die Hotelkette Bandhra Luxury keine Dependance hier in London. Was eigentlich ein Unding war. Zwei, drei Zimmer hätten ihm im Hilton auch genügt, aber er mochte es nicht, fremden Leuten auf dem Gang zu begegnen, und hatte deshalb gleich das gesamte obere Stockwerk angemietet. Der Fahrstuhl, den er benutzte, bediente nur diese Etage, ein zufälliges Aufeinandertreffen mit Fremden war also ausgeschlossen.

Genauso musste es sein.

Er ging ins Bad und musterte sich kurz im Spiegel. Müde sah er aus, aber das war der Tribut, den man entrichten musste, wenn man demnächst eine der vermögendsten Banken der Welt übernehmen wollte.

Wie immer, wenn er an seine Zukunft dachte, zog sich ihm der Magen zusammen. Die Royal Bank of Bandhrazar würde in wenigen Monaten an ihn gehen. Sein Vater sprach in letzter Zeit immer häufiger davon, den Vorsitz bald an seinen ältesten Sohn abzugeben. Amir hatte die Dreißig vor Kurzem überschritten – jenes Datum, an dem die Söhne der Familien traditionell begannen, finanzielle Verantwortung zu übernehmen.

Sein mittlerer Bruder Khaled würde bald die Luxuskreuzfahrtflotte Bandhra Cruises leiten und sein jüngster Buder Zaid in einigen Jahren die Hotelkette Bandhra Luxury. Und Laila … nun ja, sie war ein Mädchen. Beziehungsweise schon fast eine junge Frau. Aber die Gesetze seines Landes verboten ihr das Arbeiten außerhalb der Familienunternehmen.

Natürlich hatte die Chefin der Agentur nicht gewusst, wer hier eigentlich ein Kindermädchen suchte. Ganz bewusst war Amir unter falschem Namen aufgetreten. Dass er vermögend genug war, sich die exquisite Agentur zu leisten, war allerdings klar, denn die wenigsten Kunden fuhren mit einem Bugatti Chiron vor, der zu den teuersten Autos der Welt zählte. Dabei nutzte Amir den Wagen nur in London. Zu Hause stand ihm ein ganzer Fuhrpark ähnlich hochpreisiger Fahrzeuge zur Verfügung.

Hätte die Frau gewusst, wen sie da vor sich hatte, hätte sie bestimmt auch Beverly Dawson besser über den bevorstehenden Auftrag informiert. Amir hatte sehr wohl gespürt, dass diese Frau ihrer Angestellten nicht allzu viele Informationen im Voraus gegeben hatte; vermutlich, um sie im Unklaren über die Provision zu lassen, die sie selbst kassieren würde, wenn ein Abschluss zustande kam. 

Zu dumm für sie, dass er den Preis, den er zu zahlen bereit war, offen genannt hatte. Das fassungslose Gesicht der Frau war Gold wert gewesen.

Und das Erstaunen in den Augen von Beverly Dawson hatte ihn gerührt. Wie viel sie wohl sonst mit ihrer Arbeit verdiente? Zum wiederholten Mal stellte Amir fest, dass er keine Ahnung hatte, wie normale Menschen in einer Stadt wie London lebten und überlebten. Für ihn war die britische Finanzmetropole lediglich ein Platz, an dem er für kurze Zeit vergessen konnte, wer er war. Hier mischte er sich inkognito unter die Menschen, um wenigstens für ein paar Tage im Jahr mal etwas Spaß zu haben.

So wie auch heute. Sein alter Studienfreund Steven Brown würde in einer Stunde vorbeikommen und ihn abholen. Bis dahin musste Amir sich noch ein lässigeres Outfit besorgen, trotzdem wohlhabend aussehend, aber auch einen gewissen Zweifel ausstrahlend, ob er es je in die Welt der oberen Zehntausend schaffen würde. Damit ihm die Finanzgroupies nachher nicht in Scharen am Hals hingen, sobald er den Club betrat, wie es seinen reichen Geschäftsfreunden regelmäßig in der westlichen Welt passierte, ob an der Côte d’Azur, auf Bora Bora oder in Monaco.

Autor

Ally Evans
<p>Ally Evans kam erst spät zum Schreiben. Als Fremdsprachenlehrerin und Bibliothekarin arbeitete sie zuvor in Berufen, die immer auch mit Sprache oder Büchern zu tun hatten. Heute geht sie zum Schreiben gern in Cafés, genießt dort eine heiße Schokolade und lässt sich für ihre mitreißenden Romances von ihren Reisen inspirieren,...
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