Julia Ärzte Spezial Band 22

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SCHENK MIR DEIN LÄCHELN von LYNNE MARSHALL

Dr. John Griffin ist Schwester Polly ein Rätsel: Für seine kleinen Patienten im Angel’s hat er immer ein Lächeln übrig, ihr jedoch zeigt er die kalte Schulter. War es ein Fehler, sich von ihm zum Dinner einladen und zu einer zärtlichen Liebesnacht verführen zu lassen?

EIN WUNSCH GEHT IN ERFÜLLUNG von MEREDITH WEBBER

Die Psychologin Daisy sehnt sich nach einer Familie. Doch nach einer gescheiterten Beziehung hat sie geschworen, sich nie wieder zu verlieben. Da scheint eine Vernunftehe mit Dr. Julian Austin die perfekte Lösung. Bis Daisy gegen ihren Willen immer stärkere romantische Gefühle für den attraktiven Kinderarzt hegt ...

FÜR EINEN KUSS VON DR. KHALIL von JOSIE METCLAFE

Küssen Sie mich, Dr. Khalil, denkt Emily sehnsuchtsvoll. Doch der attraktive Kinderarzt bleibt kühl. Erst als er sie am Strand von Penhally Bay überrascht, zieht er sie voller Leidenschaft an sich – und macht ihr ein schockierendes Geständnis …


  • Erscheinungstag 03.08.2024
  • Bandnummer 22
  • ISBN / Artikelnummer 8203240022
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Lynne Marshall, Meredith Webber, Josie Metcalfe

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 22

1. KAPITEL

Polly Seymour hastete in die Eingangshalle des Angel Mendez Children’s Hospital, von allen liebevoll nur Angel’s genannt, und eilte über den spiegelblanken Marmorfußboden. Ausgerechnet heute an ihrem ersten Tag als Krankenschwester in der Orthopädie hatte die U-Bahn von der Lower East Side bis zum Central Park länger gebraucht. Und Polly wollte an diesem Montag auf keinen Fall zu spät kommen.

Um sich nicht in einen der überfüllten Fahrstühle zwängen zu müssen, entschied sie sich fürs Treppenhaus. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief sie hinauf in den sechsten Stock. Dabei ging ihr durch den Kopf, was sie in der letzten Woche bei der allgemeinen Einführung in den Organisationsablauf des Krankenhauses gelernt hatte. Oberster Grundsatz: Das Angel Mendez Children’s Hospital weist nie ein Kind ab.

Eine Philosophie, mit der sie gut leben konnte.

Sie hatten ja sogar sie akzeptiert, ein Mädchen, das von Tanten und Onkeln immer nur mitleidig „die arme Polly“ genannt wurde. Im Angel’s war sie jedoch mit offenen Armen aufgenommen worden.

Atemlos stürzte sie in den Flur, rannte weiter und dabei einen Mann im Arztkittel über den Haufen. Oder beinahe. Athletisch gebaut wie ein Football-Spieler, mit kurzem braunen Haar, in dem sich viele attraktive silbergraue Strähnen zeigten, blieb er stehen wie ein Baum, fasste sie bei den Schultern und bewahrte sie dadurch vor einem peinlichen Sturz.

„Vorsicht, Küken“, sagte er und klang wie ein bärbeißiger Cowboy aus einem Clint-Eastwood-Streifen.

Zutiefst verlegen holte sie bebend Luft. „Verzeihen Sie, Dr. …“ Sie blickte von den braunen Augen hin zu seinem Namensschild. „Dr. Griffin.“ Ach, du Schande, stand da wirklich Ltd. Chefarzt Orthopädie? Dann war er ihr Boss. Auch das noch!

Der erste Eindruck zählt, hieß es doch immer. Und den hatte sie gründlich verdorben. Ohne ihm eine weitere Gelegenheit zu geben, sie „Küken“ zu nennen – für wie alt hielt er sie? Dreizehn? – deutete sie auf die Automatiktüren zur Station und ließ ihn mit einem zerknirschten „Entschuldigung …“ stehen.

An der Schwesternstation zog sie den Riemen der Umhängetasche über den Kopf, schälte sich aus ihrer Jacke und deponierte beides, Jacke und Tasche, schwungvoll auf dem Tresen. „Ich bin Polly Seymour. Ich fange heute hier an. Ist Brooke Hawkins da?“

Die junge Frau mit den unzähligen winzigen Zöpfchen, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst trug, hob den Kopf, sah Polly mit ihren großen schokoladenbraunen Augen an, lächelte gezwungen und zeigte den Flur hinunter. „Die lange Rothaarige“, gab sie knapp Auskunft und tippte weiter Laborwerte in den Computer ein.

Polly raffte ihre Sachen zusammen und flitzte zu der Stationsschwester. Brooke begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln, und das nervöse Flattern in Pollys Magen legte sich ein wenig.

„Sie sind früh dran“, meinte Brooke nach einem Blick auf ihre Uhr. „Ich habe Sie nicht vor sieben Uhr erwartet.“

„Ich wollte die Übergabe nicht verpassen, und außerdem habe ich keine Ahnung, wo ich meine Sachen unterbringen oder meine Arbeitszeit eingeben soll“, stieß sie hastig hervor, immer noch außer Atem.

„Kommen Sie.“ Die Stationsschwester deutete auf eine Tür, zu der der Weg leider an dem hochgewachsenen Arzt vorbeiführte. „Wie ich gesehen habe, sind Sie unserem Chef schon in die Arme gerannt. Buchstäblich“, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Polly legte eine Hand an die linke Schläfe, um ihr Gesicht vor dem Mann zu verbergen, der einige Schritte entfernt stand und sie immer noch betrachtete. „Ich glaube, er hat mich für eine Patientin gehalten.“

„Hat er Sie angelächelt?“

„Ja.“

„Dann hat er auf jeden Fall gedacht, Sie wären eine Patientin. Mitarbeiter lächelt er nie an.“

Eine Stunde später stand Polly in einem Vierbettzimmer, um bei jedem Kind die Vitalzeichen zu kontrollieren, als eines von ihnen herzzerreißend zu weinen anfing.

Polly blickte über die Schulter. „Was ist los, Karen?“ Das kleine Mädchen hatte Sichelfüße gehabt, eine Fußfehlstellung, bei der die Zehen und der Mittelfuß nach innen gewölbt waren. Jetzt trug sie beide Beinchen in Gips, verbunden mit einer Metallstange, damit ihre Füße in genau der richtigen Position blieben.

Karen brüllte aus Leibeskräften, und Polly nahm sie aus dem Gitterbett. Mit dem Gips wog die Kleine gut zehn Pfund mehr. „Honey, was hast du denn?“, murmelte Polly und strich ihr beruhigend über den Rücken.

Ohne Ergebnis. Das Geschrei wurde noch lauter, und Polly versuchte es mit Singen. Aber auch das muntere Kinderlied half nichts. Womit konnte sie die Kleine noch ablenken?

„Oh, sieh mal! Sieh mal da!“ Sie stellte sich mit ihr ans Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Central Park hatte. „Wie schön, siehst du?“ Hoffnungsvoll zeigte sie auf die prachtvollen grünen Bäume, von denen einige selbst Ende Juni noch mit weißen und rosa Blüten bezauberten.

„Nein!“ Wild schüttelte Karen den Kopf und plärrte weiter.

Polly setzte sich das Mädchen auf die Hüfte, soweit der Gips es zuließ, und hüpfte mit ihr durchs Zimmer. „Hoppe, hoppe, Reiter …“, sang sie. „Hüh, Pferdchen, hüh!“

„Nein hüh!“, protestierte ihr Schützling ungnädig und bekam einen Schluckauf.

„Dann fresse ich dich!“ Polly tat, als wollte sie ihr in die Schulter beißen. „Rrrr, Rrrr!“

„Nicht fressen, nein, nicht fressen!“

„Ich will auch reiten!“, verlangte Felicia, die Fünfjährige mit dem Gipsarm.

Polly tanzte zu dem Bettchen in der Zimmerecke. „Hörst du, Karen, Felicia will reiten.“

Aber Karens Kummer schien ansteckend zu sein, denn jetzt weinten beide Mädchen. Weder die albernen Grimassen noch die lustige Kinderlieder, die Polly zum Besten gab, konnten die Welle der Traurigkeit, die das Vierbettzimmer überschwemmte, aufhalten. Auch Erin in Bett C, deren rechter Arm in einer Schlinge lag, stimmte in das Geheul mit ein. Nur das Mädchen in Bett D schlief seelenruhig.

Allerdings war es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Kind schreiend seinen Unmut kundtun würde.

„Hallo, hallo!“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Als sie sich verwundert umdrehte, entdeckte sie Dr. Griffins breitschultrige Gestalt an der Tür. Er griff in seine Kitteltasche, förderte eine Hand voll bunter Gummischlangen zutage und wedelte damit herum. Dann fing er an zu schielen, spitzte die Lippen und stieß einen trompetenden Laut aus, als wäre ein Elefant im Anmarsch.

Polly konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen. Blitzschnell blies er gelbe und grüne Gummischlangen auf und formte sie zu einem Schwan. Alle Kinder waren so fasziniert, dass sie prompt aufhörten zu brüllen und den Magier im weißen Kittel mit großen Augen anstarrten.

„Bitte schön, Karen. Hier hast du einen neuen Freund zum Spielen“, sagte Dr. Griffin.

Zu Pollys Erstaunen nahm Karen das Geschenk mit einem glücklichen Lächeln entgegen. Wären da nicht die Tränenspuren auf den nassen Wangen gewesen, niemand hätte vermutet, dass sie noch vor wenigen Minuten ergreifend geschluchzt hatte.

„Ich auch!“ Felicia streckte den gesunden Arm aus.

Dr. Griffin ging zu ihr ans Bettchen und tätschelte ihr die Hand. „Welche Farbe möchtest du?“

„Rot.“

„Möchtest du eine Krone oder ein Äffchen?“

„Beides!“

Sekunden später trug Felicia eine rote Ballonkrone und gab ihrem lila Äffchen einen quietschenden Kuss.

Als Dr. Griffin Polly ansah, blitzten seine dunklen Augen triumphierend. Der Mann strahlte einen rauen Charme aus, dem sie sich nicht entziehen konnte. Im Handumdrehen hatte er zwei weitere Luftballons aufgeblasen und sie geschickt zu lustigen Tieren geformt. Eins reichte er dem dritten Kind, das zweite legte er auf die Bettdecke des schlafenden Mädchens.

Auf dem Weg zur Tür blieb er bei Polly stehen, die Karen gerade wieder ins Bett gelegt hatte, und blies einen letzten Ballon auf. Ein himmelblaues Schwert entstand, das er Polly in die Hand drückte. „Nutzen Sie das, wenn Sie mal wieder Ihren Tag retten wollen.“ Zufrieden sah er sich um. Alle Kinder waren ruhig und friedlich. „So macht man das.“

Sie hätte schwören können, dass er es sich gerade noch verkniffen hatte, sie wieder „Küken“ zu nennen.

Er verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, und Polly kam sich mit dem blauen Ballonschwert in der Hand ein bisschen albern vor. Aus dem Flur drangen Stimmen herein, die eines Jungen und seiner Krankenschwester.

„Ich hab keine Lust, laufen zu üben“, beschwerte er sich.

Auch hier übernahm Dr. Griffin sofort. „Wetten, du traust dich nicht, noch zehn Schritte zu schaffen, Richie?“, sagte er aufmunternd. „Mal sehen, wer von uns schneller an der Wand da ist.“

War das wirklich der Mann, von dem alle behaupteten, er würde nie lächeln?

Leicht beschämt bei dem Gedanken daran, wie großartig der grimmige Doktor mit Kindern umging, widmete sich Polly ihren Pflichten. Sie verteilte Medikamente und badete drei ihrer vier Patientinnen. Am frühen Vormittag kam die Spieltherapeutin und nahm ihr Karen und Felicia für eine Stunde ab. Inzwischen war auch Erins Mutter gekommen, sodass sich Polly ganz auf ihr Dornröschen Angelica konzentrieren konnte.

Die Kleine litt an der Glasknochenkrankheit und war zur Schmerzkontrolle stationär aufgenommen worden. Außerdem war sie infolge der Erkrankung schwerhörig, was sicher erklärte, warum sie inmitten des Chaos vorhin einfach weitergeschlafen hatte.

Polly beschloss, die Dreijährige schlafen zu lassen, und verließ das Zimmer, um ihre morgendlichen Notizen in den Computer einzugeben.

„Na, wie steht’s?“, fragte Darren, ein Pflegehelfer mittleren Alters, der seine grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Das verblasste Tattoo auf seinem Oberarm verriet, dass er früher bei der Marine gewesen war.

„Sehr gut. Und selbst?“

„Alles wie immer. Hart arbeiten, Kindern helfen, anständig verdienen und sich auf die freien Tage freuen.“

Polly war nicht gerade begeistert von der Stimmung, die auf der Station herrschte. Sicher, sie war von erfahrenen Pflegekräften umgeben, die gewissenhaft ihrer Arbeit nachgingen. Doch obwohl sich alle duzten, schien die Freude zu fehlen, die Begeisterung. Eine Atmosphäre, die Polly nur schwer ertrug. Sie selbst hatte früh gelernt, sich die Sonne ins Leben zu holen. Reine Überlebenstaktik. Irgendwann, so nahm sie sich vor, würde sie einen Weg finden, auch hier mehr Licht in den Laden zu bringen.

Eine Krankengymnastin kam vorbei, begleitete einen ungefähr Zehnjährigen, der sich mit seiner Gehhilfe abmühte. Polly winkte ihnen fröhlich zu. Die Physiotherapeutin nickte kaum merklich, doch der Junge war so sehr in seine Aufgabe vertieft, dass er nicht einmal aufblickte.

Was hatte jemand während der Einführung noch gesagt? Das Angel’s ist der freundlichste Ort der ganzen Stadt.

Wirklich?

Polly wandte sich an Darren. „Zeigst du mir, wie der Patientenlifter funktioniert? Ich muss eine Patientin wiegen und ihr Bett neu beziehen.“

„Klar.“

„Das ist nett. Danke!“

„Jetzt?“

„Was du heute kannst besorgen …“, antwortete sie munter, speicherte ihre Eintragungen und ging mit Darren zu ihrem Zimmer.

Behutsam hoben sie Angelica aus dem Bett. Stumm blickte die Kleine sie dabei an. Der normalerweise weiße Teil um ihre hübschen grauen Augen war bläulich verfärbt, auch eine Begleiterscheinung ihrer Krankheit.

„Kommst du aus New York, Darren?“, fragte Polly.

„Ja, hier geboren und hier aufgewachsen. Und du?“

„Aus Dover, in Pennsylvania.“ Lächelnd dachte sie an ihr Heimatstädtchen. „Unsere größte Berühmtheit erlangten wir, als wir während des Sezessionskriegs praktisch über Nacht von den Konföderierten eingenommen wurden.“

Darren, der in seiner Haltung immer noch etwas Militärisches hatte, schmunzelte und wirkte plötzlich ziemlich entspannt.

„Bloß nicht blinzeln, wenn du durch den Ort kommst, du könntest ihn verpassen.“ Mit selbstironischem Humor ließ sich das Eis schnell brechen. Die Erfahrung hatte Polly schon oft gemacht.

Und tatsächlich, Darren stimmte in ihr Lachen ein, sodass sie das befriedigende Gefühl hatte, einen Schritt weiter zu sein. Ich schaffe das, dachte sie. Sie brauchte nur ein bisschen Zeit, und eines Tages würden die Kolleginnen und Kollegen wirklich miteinander reden und lachen.

Vergnügt begleitete Polly Darren zur Tür und setzte sich dann an den kleinen PC-Tisch mit dem Laptop, um weitere Notizen einzugeben.

„Hey, du … wie auch immer du heißt.“ Rafael, der Stationssekretär, lugte über den Rand seines Monitors. „Ich habe ein paar Laborergebnisse für dich.“

Rasch blickte sie nach links und nach rechts, um sich zu vergewissern, dass die Bahn frei war. Dann rollte Polly auf ihrem Schreibtischstuhl quer über den Flur zu Rafael. „Für mich? Wie schön. Ich liebe Post!“

Der Kollege sah sie an, als käme sie von einem anderen Planeten. Doch als Polly ihn strahlend anlächelte, besann er sich und ließ sich dazu hinreißen, ihr Lächeln zu erwidern. Zwar etwas argwöhnisch, aber immerhin.

„Nur für dich“, sagte er und drückte ihr einen Stapel Ausdrucke in die Hand. „Verlier sie nicht.“

Brooke trat zu ihr, während Polly die Unterlagen studierte. „Wie geht’s?“

„Großartig! Mir gefällt es hier. Natürlich ist das Angel’s ungefähr zehnmal größer als das Kleinstadtkrankenhaus, in dem ich die letzten vier Jahre gearbeitet habe.“

„Wir sprechen hier von kontrolliertem Chaos – an guten Tagen. Ich sage dir nicht, wie wir es an schlechten nennen.“ Die große schlanke Frau lächelte.

Wieder fiel Polly etwas aus der Einführungsveranstaltung ein: Teamwork ist am Angel’s der Schlüssel zum Erfolg.

Hmm. Vielleicht sollten alle auf dieser Station noch einmal die Themen aus der Einführung auffrischen?

„Solange wir uns gegenseitig helfen, schaffen wir das schon, oder? Teamwork.“

Brooke blickte sich um. Jeder war mit irgendetwas beschäftigt und arbeitete stumm vor sich hin. Die Stationsschwester zog eine Grimasse. „Manchmal frage ich mich, ob wir vergessen haben, was das Wort bedeutet.“

Polly kam ein Gedanke. Sobald Brooke weitergegangen war, überzeugte sie sich, dass in ihrem Patientenzimmer alles in schönster Ordnung war, und ging zu einer Kollegin, die ziemlich hektisch und angespannt wirkte.

„Kann ich dir bei irgendwas helfen?“

Abwesend blickte die andere von dem Testgerät auf, in dem ein Streifen zur Blutzuckerbestimmung steckte. „Also …“, begann sie verdutzt, so als hätte man ihr noch nie in ihrem Leben Hilfe angeboten.

„Braucht jemand eine Bettpfanne? Soll ich einen Patienten ins Bad begleiten?“

Da leuchteten die honigbraunen Augen auf, und die Schwester strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du könntest meinen Patienten mit der Hüftfraktur in 604 fragen. Der braucht vielleicht eine.“

„Kein Ding“, entgegnete Polly und bekam noch den verblüfften Blick mit, bevor sie in Zimmer 604 eilte.

Ihre Mittagspause verbrachte Polly mit zwei Krankenschwestern und einem Atemtherapeuten im Personalraum. Wie sie hatten sich auch die anderen drei ihr Essen von zu Hause mitgebracht. Polly war schnell klar geworden, dass sie jeden Cent mindestens zweimal umdrehen musste, wenn sie hier in New York mit ihrem Geld auskommen wollte.

„Sind das Naturlocken?“ Die jüngere Kollegin deutete auf Pollys Haare.

Polly ließ die Schultern sinken. „Ja. Meistens machen sie mich wahnsinnig.“

„Ist das dein Ernst? Manche bezahlen einen Haufen Geld, um sich solche Locken machen zu lassen.“

„Und manche blättern ordentlich was hin, um sich die Haare glätten zu lassen“, sagte die andere Schwester.

„Tja, ich kann nur viel Miete bezahlen“, sagte Polly. Die Krankenschwestern und der Atemtherapeut grinsten und nickten zustimmend. „Deshalb vertraue ich meinem Haarband und hoffe, dass es mich nicht enttäuscht.“

Sie war schon lange davon überzeugt, dass es auf dem gesamten Globus keine widerspenstigeren Haare gab als ihre. Und als wäre das nicht schon ein Fluch, musste es auch noch aschblond sein. Spülwasserblond, sagte ihre Tante immer. Wie oft hatte sich Polly gewünscht, dass sie sich Strähnchen leisten könnte, warme apricotfarbene oder platinblond schimmernde. Und dazu einen modischen Haarschnitt. Ach, einmal schick aussehen.

Träume sind Schäume, dachte sie. Niemand würde auf die Idee kommen, Polly Seymour als schick zu bezeichnen, und ein Friseurbesuch war absolut nicht drin.

Sie biss in ihr Sandwich und stellte fest, dass ihre Tischgenossen stumm ihren Gedanken nachhingen. Die Stille erinnerte sie zu sehr an ihre Kindheit, als sie von einem Onkel und einer Tante zum nächsten Onkel und zur nächsten Tante geschoben wurde. Bei allen war sie nur aus Pflichtgefühl mehr oder weniger geduldet worden. Um sich die traurigen Gedanken vom Leib zu halten, fing sie ein neues Gespräch an.

„Geht ihr manchmal nach der Arbeit einen trinken? Ich weiß, ich habe gerade gesagt, dass ich mein Geld zusammenhalten muss, aber heute ist mein erster Tag, und … na ja, ich fänd’s ganz nett, euch alle besser kennenzulernen. Ihr wisst schon, nicht hier auf der Station. So mehr in zwangloser Atmosphäre.“

Der Blick, den ihr auch diese drei zuwarfen, war ihr inzwischen vertraut. Ungläubig, als käme sie von einem anderen Stern. „Ein, zwei Drinks, das kann ja nicht die Welt kosten“, fuhr sie fort. „Außerdem sind die U-Bahnen nicht mehr so voll, wenn wir ein bisschen später nach Hause fahren.“

„Ich kann mich nicht erinnern, wann wir zuletzt zusammen losgezogen sind.“ Die junge Kollegin schob sich einen Bissen Enchilada in den Mund.

„Haben wir das überhaupt jemals gemacht?“, fragte die andere und trank von ihrer Dosenlimonade.

„Soweit ich weiß, haben wir vor Urzeiten mal zusammen gefrühstückt, und da hat jeder etwas mitgebracht …“ Der Atemtherapeut kratzte sich am Kopf. „Ich hätte nichts gegen ein Bier nach der Arbeit. Wie sieht’s bei euch aus?“

„Tolle Idee.“ Polly tat, als hätte er die Sache ins Rollen gebracht. „Ich bin dabei.“

„Wo gehen wir hin?“ Eine dritte Krankenschwester hatte den Raum betreten und die letzten Sätze gehört.

„Am besten zu O’Malley“, sagte die erste. „Sein Pub ist nur eine Straße weiter. Und montags soll es dort köstliche Chicken Wings geben. Lasst uns fragen, wer mitkommt.“

Auf einmal herrschte eine völlig andere Atmosphäre im Zimmer. Polly freute sich im Stillen darüber und beobachtete, wie die anderen über Lieblingsgetränke und Snacks plauderten, sich anlächelten, miteinander lachten.

Es fühlte sich jedes Mal wieder gut an, Menschen zum Lachen zu bringen, ihnen Freude zu machen. Diese Gabe war ihre Rettung gewesen, als sie unter mehr als trostlosen Bedingungen aufwuchs. Dunkelbraune Augen und eine Reibeisenstimme kamen ihr in den Sinn. „Und wer sagt Dr. Griffin Bescheid?“

Augenblicklich wurde es still. Polly sah von einem zum anderen. Jeder starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

„Was? Ihr ladet euren Chef nicht ein, wenn ihr euren Feierabend begießt?“

Eine Schwester räusperte sich. „Der will mit uns nichts zu tun haben.“

„Genau. Für den sind wir Luft. Wenn er uns nicht für seine Patienten bräuchte, würde er uns überhaupt nicht beachten.“

„Aber er genehmigt eure Gehaltserhöhungen, oder?“

Die Lippen fest aufeinandergepresst, nickten die Schwestern.

„Frag du ihn doch“, sagte die, die zuletzt hereingekommen war und sich gerade Suppe in der Mikrowelle aufwärmte. Die anderen lachten.

„Glaubt ihr, ich trau mich nicht?“

„Wer weiß?“ Die Kollegin kam mit ihrer Suppe an den Tisch und setzte sich. In ihren Augen blitzte es herausfordernd, als sie Polly ansah.

Aha, die erste Mutprobe. Mal sehen, ob die Neue sich an den griesgrämigen Boss heranwagt. Doch Polly hatte heute Morgen eine andere Seite an ihm kennengelernt. „Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen. Einer, der Luftballontiere für seine kleinen Patienten zaubert, kann nicht so schlimm sein“, sagte sie.

Statt zu antworten, warfen sich die vier anderen nur bedeutungsvolle Blicke zu. Finde es selbst heraus, schienen sie zu sagen.

Der Nachmittag verging, und Polly stellte erstaunt fest, wie aufgedreht alle waren, seit sie beschlossen hatten, sich nach der Arbeit noch zu treffen.

Brooke sprach sie sogar darauf an. „Das war genau die Injektion Begeisterung, die uns hier gefehlt hat. Du hättest den Spitznamen Pollyanna verdient“, spielte sie auf die Filmfigur des kleinen Mädchens an, das überall Freude und Optimismus verbreitete.

Polly verzog das Gesicht. „Bitte nicht.“ Auch wenn es netter war als Arme Polly

Um vier Uhr endete der Frühdienst, und ein neues Team übernahm die Patienten. Inzwischen hatte sich überall herumgesprochen, dass man noch ins O’Malley’s gehen wollte. Die halbe Belegschaft wollte mitkommen. Und nicht wenige von der Spätschicht machten lange Gesichter, weil sie auch gern dabei gewesen wären.

Nicht schlecht für den ersten Tag Polly schlang sich ihre Jacke um die Hüften und verknotete entschlossen die Ärmel. „Okay, wir sehen uns in ein paar Minuten unten in der Halle.“

Sie hatte versprochen, Dr. Griffin einzuladen, und sie hielt ihre Versprechen. Immer.

Vor seiner Tür angekommen, holte sie tief Luft und hob die Hand.

Jemand klopfte an seine Tür. Unterbrach den Strom der Gedanken, die er heute immer wieder verdrängt hatte. Gäbe es nur einen Tag … Mehr wollte er nicht. Einen einzigen Tag, an dem ihn nicht die Erinnerungen an jenen Morgen vor dreizehn Jahren verfolgten. Wie hungrige Wölfe, bereit, ihn in Stücke zu reißen. Es klopfte zum zweiten Mal.

„Wer ist da?“, fragte er barsch.

Eine leise Stimme antwortete, flüsternd wie ein Kind, aber er verstand kein einziges Wort. Irritiert sagte er etwas lauter: „Herein!“ Dann warf er seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück.

Langsam wurde die Tür aufgeschoben. Als Erstes sah er große blaue Augen. Die blauen Augen. Sieh an, das Küken, dachte er. Die neue Krankenschwester, die er heute Morgen irrtümlicherweise für eine Patientin gehalten hatte. Zierlich, aber von einem sprudelnden Temperament, jung und voller Begeisterung. Jemand, der das Leben liebte – und das Letzte, was er am heutigen Tag gebrauchen konnte.

Schweigend blickte er ihr entgegen.

Als sie im Zimmer stand, eine Hand hinter dem Rücken verborgen, räusperte sie sich verhalten. „Hallo, Dr. Griffin.“

John rührte sich nicht. Natürlich hatte er davon gehört, dass man sich auf einen Drink nach Feierabend traf und der Neuzugang mit den strahlenden Augen den Stein ins Rollen gebracht hatte. Wie auch immer, das war absolut nicht sein Ding. Er hielt nichts davon, sich mit den Mitarbeitern zu verbrüdern. Abgesehen davon wäre heute der letzte Tag im Jahr, an dem er seinen Vorsatz über Bord werfen würde.

„Äh …“ Polly wagte sich einen winzigen Schritt vor. „Ein paar von uns gehen gleich zu O’Malley, auf ein Bier und Chicken Wings, wer mag, und …“ Sie wich seinem ungnädigen Blick aus, sah sich flüchtig um. „Nun ja, ich dachte … ich meine, wir dachten, vielleicht möchten Sie mitkommen?“

„Und warum sollte ich?“ Das kam selbst für seine Verhältnisse schroffer heraus, als er beabsichtigt hatte.

Sie inspizierte ihre Schuhe. „Um die Moral der Truppe zu stärken?“

„Moral? Inwiefern?“

„Weil man besser arbeitet, wenn man gern zur Arbeit kommt?“ Sie sah aus wie fünfzehn, wie sie so dastand mit ihren großen blauen Augen, den dichten dunkelblonden Locken, die ihr auf die Schultern fielen, den hinter dem Rücken verschränkten Händen. Trotz ihrer Unsicherheit hatte sie etwas Mutiges an sich.

„Und Sie sind das Opfer? Hat man Sie in die Höhle des Löwen geschickt, weil Sie neu in der Truppe sind?“

„Nein, Sir. Ich wollte Sie einladen. Es war meine Idee.“

Jetzt sah sie ihn direkt an, und unter ihrem intensiven Blick richteten sich die Härchen auf seinen Armen auf. Seine Frau hatte genau solche Augen gehabt. Die Augen waren ihm bei der neuen Krankenschwester als Erstes aufgefallen. Sonst besaß sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Frau. Nur die Augen. Himmel, Lisa fehlte ihm so sehr.

Aber er konnte es sich noch so sehr wünschen, nichts würde sie jemals zurückbringen.

„Brauchen sie moralische Unterstützung? Haben sie kein Leben nach der Arbeit? Brauchen sie mich auch noch als Seelentröster?“

„Nein. Wir wollten nur gern alle gemütlich zusammensitzen, das ist alles.“

Ihm entging nicht die sanfte Röte, die sich auf ihren Wangen und ihrem Hals ausbreitete.

Er war kein Ungeheuer. Und er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er sie am ausgestreckten Arm zappeln ließ. Aber irgendjemand hätte sie warnen sollen. Er suchte keine Geselligkeit, nein, er mied sie sogar wie die Pest. Wenigstens Brooke als Stationsschwester hätte sie freundlich darauf hinweisen müssen.

John wollte nur noch nach Hause, sich in seinem Zimmer vergraben und seinen Kummer in einem Glas Scotch ertränken. Niemand brauchte zu wissen, dass Lisa heute sechsunddreißig geworden wäre. Verdammt noch mal, wie könnte er ausgerechnet an diesem Tag plaudernd in einer Bar sitzen?

„Ich kann nicht.“ Er stand auf. Von seiner Seite war die Unterhaltung beendet.

„Sie trauen sich nicht.“

John verschränkte die Arme vor der Brust und hob fragend die Brauen. Hatte sie das wirklich gesagt?

Mit einem Ausdruck der Verzweiflung zog sie den rechten Arm hinter dem Rücken hervor und zielte mit dem albernen himmelblauen Ballonschwert, das er vorhin für sie gemacht hatte, auf ihn. „Ich hatte nur gehofft, dass ich dem Mann, der mir heute den Tag gerettet hat, einen ausgeben könnte. Ihnen … mit Ihren bunten Luftballons.“

Ihrer ernsten Miene nach zu urteilen konnte er nur ahnen, wie viel Mumm es sie gekostet hatte, in sein Büro zu kommen und ihn zu einem Drink mit seinen Mitarbeitern einzuladen. Mitarbeiter, für die er selten ein nettes Wort übrig hatte, obwohl er gleichzeitig von ihnen verlangte, dass sie ihren Patienten die beste Pflege in ganz New York angedeihen ließen. Bisher war er immer davon ausgegangen, dass ihre Gehaltsschecks Dank genug waren.

Vielleicht war die Idee des tapferen Kükens gar nicht mal so schlecht.

Natürlich wusste er nicht, wie sie überhaupt darauf gekommen war, und es interessierte ihn auch nicht. Aber ihre Kolleginnen und Kollegen saßen wahrscheinlich längst in der Bar und lachten sich kaputt darüber, dass sie die Neue gründlich vorgeführt hatten.

Was für ein mieser Trick. Einige Schwestern schickten die Jüngeren gern mal aufs Glatteis. Und jung war diese Polly. Jung, ein Gesicht wie ein Engel, erfrischend, bezaubernd. Ach, verdammt, ehrlich gesagt, war sie sogar sehr attraktiv. John lächelte zögernd.

Und wurde augenblicklich mit einem strahlenden Lächeln belohnt. John war verloren. Wie konnte er ihr ihre Bitte abschlagen und sie damit zum Gespött hämischer Kollegen machen?

Lisa würde das verstehen.

„Okay“, sagte er.

„Das ist ja super!“

„Ein Bier, und Sie bezahlen.“

Sie nickte eifrig, ein triumphierendes Funkeln in den leuchtend blauen Augen. „Sehr gern, Sir.“ Mit dem Gummischwert wies sie ihm den Weg zur Tür.

„Das bleibt hier“, befahl er, als er an ihr vorbeiging.

Ihr leises Lachen verstummte, als er ihr einen ernsten Blick zuwarf.

Aber eins hatte sie ihm bewiesen. Dieses Mädchen … diese Frau namens Polly hatte Mut. Das gefiel ihm.

Das frisch gezapfte Bier schmeckte wundervoll, das musste John zugeben. Seine neueste Krankenschwester hatte ihr Versprechen gehalten und die Zeche bezahlt, sodass es noch besser schmeckte. Sie meinte es ernst, sie wollte, dass er hier dabei war.

Wann hatte man ihn das letzte Mal dabeihaben wollen – außerhalb des Operationssaals der Orthopädie?

Die verblüfften Gesichter der Krankenschwestern und Pfleger waren es wert gewesen. Als er die Bar betrat, verstummten seine Mitarbeiter für einen Moment, bevor sie sich wieder ihrer Unterhaltung zuwandten. John fragte sich, ob sie vielleicht sogar Wetten abgeschlossen hatten.

Auf dem Weg hierher hatten ihm die Ohren gebrannt, weil Polly übersprudelnd wie ein Wasserfall davon erzählt hatte, wie glücklich sie sei, in New York zu sein und in einem so berühmten Krankenhaus wie dem Angel’s einen Job bekommen zu haben.

Schön für sie. Krankenschwestern mit ihrem Enthusiasmus konnte die Welt gut gebrauchen. Dennoch sehnte er sich nach der Stille in seiner Wohnung, um im Dunkeln zu sitzen und über die benachbarten Gebäude zu blicken – hin zu der Stelle, wo die Zwillingstürme gestanden hatten. Die Lücke hatte ein abgrundtiefes Loch in sein Herz gerissen, das auch der Scotch, den er in sich hineinschüttete, nie füllen würde.

John lenkte seine Gedanken ins Hier und Jetzt, trank einen Schluck Bier und betrachtete Polly mit ihren frischen roten Wangen und den leuchtenden Augen, um die Bilder der Vergangenheit zu verdrängen.

Sie saß neben ihm auf einem Barhocker, nippte an ihrem hellen Bier, das einen Hauch von Orangen in ihren Atem mischte, während sie immer noch ununterbrochen redete. „Orthopädie ist eigentlich meine zweite Wahl. Zuerst wollte ich Unfallschwester werden.“ Ihre Augen wurden groß. Selbst in der schummrig beleuchteten Bar hatten sie etwas faszinierend Strahlendes an sich. „Jedenfalls, bis ich meinen ersten Dienst hatte, bei Vollmond und als die Hölle los war.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht, schüttelte den Kopf und lugte dann zwischen den langen schlanken Fingern mit den klar lackierten Nägeln hervor. „Ich dachte, ich sterbe!“

Waren alle so lebhaft, oder nahm er es einfach nicht wahr? Er müsste schon tot sein, um nicht zu bemerken, dass sie wirklich süß war und einfach liebenswert. Jetzt zog sie ihre Jacke aus. Darunter trug sie nicht mehr den Schwesternkittel mit den Koalabärchen darauf, sondern ein eng anliegendes perlrosa Top, das dezent, aber gut sichtbar den Ansatz ihrer Brüste enthüllte.

John trank noch einen Schluck und versuchte, nicht auf die samtweiche Haut zu starren. Polly nahm ihr Haarband ab und verstaute es in einem kleinen Außenfach ihrer Umhängetasche. In schimmernden Wellen umrahmten die dunkelblonden Haare ihr Gesicht, fielen ihr auf die Schultern und lenkten Johns Blick wieder auf ihre Brüste.

Nein, tot war er auf keinen Fall. Nur seit Langem … inaktiv.

Das gab ihm jedoch nicht das Recht, lüstern auf ihr Top zu starren. John musste sich ablenken. „Die nächste Runde für diese Gruppe geht auf mich“, sagte er zu dem Barkeeper.

Beifall und anerkennende Pfiffe ertönten, und John hob zufrieden das Glas an den Mund. Allmählich fühlte er sich wieder menschlich, nicht mehr wie ein Automat, der Tag für Tag funktionierte und seine Arbeit erledigte.

Polly berührte seinen Arm. „Danke!“

„Bitte.“ John blickte stur geradeaus, während ihm genau bewusst war, wie unwirsch seine Antwort geklungen hatte. So nahe war er einer Frau nicht mehr gekommen, seit … nun ja, das war länger her, als er sich eingestehen konnte.

Sie schien seine Anspannung gespürt zu haben und nahm die Hand weg. Doch dann rückte sie näher an ihn heran. „So, Dr. Griffin, jetzt wissen Sie schon eine ganze Menge über mich, aber ich habe keine Ahnung, wo Sie herkommen.“

Der Barkeeper stellte die Getränke auf den Tresen und füllte die Schüsseln mit Salzbrezeln und Nüssen auf.

„Ich bin New Yorker.“

„Dann lebt hier auch Ihre Familie?“

„Meine Eltern sind vor ein paar Jahren nach Florida gezogen, und meine Schwester wohnt in Rhode Island.“

„Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?“

Wäre Lisa nicht umgekommen, hätte er jetzt ein zwölfjähriges Kind. Doch seine Welt hatte am 11. September 2001 aufgehört zu existieren, als er mit anderen Ersthelfern unter Trümmern und Schutt nach Überlebenden suchte. Seine Gefühle, die immer unter der Oberfläche brodelten, kochten hoch. „Hören Sie, ich bin hier, weil Sie mich darum gebeten haben“, herrschte er sie an. „Mein Privatleben geht Sie nichts an, verstanden?“

Ihr fröhliches Lächeln fiel in sich zusammen. Hatte sie eben noch vor Lebensfreude gesprüht, wirkte sie nun verletzt, gedemütigt. Gut gemacht, Johnny, dachte er. Du kannst eben nicht mit Menschen umgehen.

Sie fing sich schnell wieder, straffte die Schultern, ihre Miene wurde undurchdringlich. „Tut mir leid, dass ich Ihnen zu nahe getreten bin, Doktor.“ Polly rutschte vom Barhocker, nahm ihre Sachen und ihr Glas. „Danke für das Bier.“ Ohne ihm einen weiteren Blick zu gönnen, gesellte sie sich zu einer Gruppe Kolleginnen und mischte sich unbefangen ins Gespräch.

John stürzte den Rest Bier hinunter, rührte das zweite Glas jedoch nicht an. „Wie viel schulde ich Ihnen?“, fragte er den Mann hinter dem Tresen.

Er brauchte sich nichts vorzumachen. Er gehörte nicht dazu. Er hätte nie zulassen dürfen, dass die hübsche kleine Krankenschwester ihn dazu überredete, mitzukommen. Er taugte nur noch für eins: gebrochene Kinderknochen zu richten.

Was den Rest seines Lebens betraf, so hatte es an dem Tag geendet, als seine schwangere Frau zur Arbeit gegangen und aus ihrem Büro im zweiundzwanzigsten Stockwerk des World Trade Centers nicht zurückgekehrt war.

2. KAPITEL

Polly hatte auf der ganzen U-Bahnfahrt nach Hause über Dr. Griffins seltsames Verhalten nachgegrübelt. Was hatte sie ihm getan? Er war doch einverstanden gewesen, mit in den Pub zu kommen. Sie erinnerte sich an den kurzen gemeinsamen Spaziergang im Licht der späten Nachmittagssonne, an die milde Luft, die entspannte Stimmung. Im O’Malley’s hatte sich Dr. Griffin von ihr ein Bier ausgeben lassen und sogar großzügig eine Runde für alle bestellt.

Alles friedlich und harmonisch, genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Dann hatte sie ihn nach seiner Familie gefragt, und das war’s dann. Als wäre die Tür zu einer Gruft dumpf zugefallen, veränderte sich schlagartig die Atmosphäre. Polly erinnerte sich noch genau an den Ausdruck in seinen dunklen Augen. Nicht irritiert, nicht verwundert, nein, es war blanker Zorn gewesen, der ihr daraus entgegenschlug.

Während sie sich in ihrem winzigen Zimmer des fünfstöckigen Gebäudes in der Lower East Side, wo sie sich Bad und Küche mit anderen teilte, bettfertig machte, drehten sich ihre Gedanken immer noch um den Moment im Pub, als sie die Stimmung gründlich verdorben hatte. Auf jeden Fall war sie Dr. Griffin zu nahe getreten. Wenn sie nur wüsste, womit? Redete nicht jeder gern über sich und seine Familie?

Na ja, jeder außer denen vielleicht, die sich wie sie selbst ungeliebt und unerwünscht gefühlt hatten. Polly war erst sechs gewesen, als ihre Mutter starb, und danach hatte ihre Kindheit unter keinem guten Stern gestanden.

Sie legte sich ins Bett mit dem dünnen Kopfkissen und der klumpigen Matratze und versuchte, eine einigermaßen bequeme Lage zu finden. Wie konnte ich nur so blind sein? dachte sie. Der Mann legte keinen Wert auf Geselligkeit, war bekannt dafür, dass er seine Mitarbeiter wie lästige Statisten behandelte. Und sie hatte ihn dazu gebracht, unter Menschen zu gehen, und ihm dann auch noch persönliche Fragen gestellt. So wie er reagiert hatte, musste er etwas Schlimmes erlebt haben. Wer war schon freiwillig so griesgrämig und barsch?

Wie kam sie dazu, anzunehmen, dass alle anderen ein tolles Familienleben führten? Dass sie die Einzige war, die als Kind unter Liebesentzug und fehlender Nestwärme gelitten hatte? Anscheinend hatte auch Dr. Griffin familiäre Probleme, und mit ihrer Fragerei war sie ihm gehörig auf die Nerven gegangen. Vielleicht hatte er eine schreckliche Scheidung hinter sich. Oder seine Frau hatte ihn betrogen. Wie auch immer, es musste ihn übel getroffen haben, sonst hätte er nicht so reagiert.

Polly verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke, auf die Risse im Putz und die Stellen, wo die Farbe abgeblättert war und darunter der kahle Beton zum Vorschein kam. Sie wollte es sich nicht mit Dr. Griffin verscherzen. Er war ein großartiger Arzt und ging wunderbar mit seinen kleinen Patienten um. Irgendwie musste sie ihren Fauxpas wiedergutmachen.

Ihr wurden die Lider schwer, was nach den zwei Bier kein Wunder war. Bevor ihr die Augen endgültig zufielen und sie in den Schlaf glitt, setzte sich hartnäckig ein letzter Gedanke fest: Sie musste sich bei Dr. Griffin entschuldigen.

Gleich morgen früh bei Dienstbeginn.

Allerdings war ihr Chef am nächsten Morgen nirgends zu sehen. Sie fand jedoch schnell heraus, dass er dienstags und donnerstags den ganzen Tag lang operierte. Einerseits erleichtert, verspürte sie jedoch auch eine unterschwellige Ungeduld, weil sie es endlich hinter sich bringen wollte, sich bei ihm zu entschuldigen. Nie wieder wollte sie ihn zu geselligen Treffen mit den anderen einladen, auch wenn alle schon von dem nächsten gemeinsamen Pub-Besuch in zwei Wochen redeten.

Und noch etwas fiel ihr auf. Kolleginnen und Kollegen lächelten sie freundlich an, sodass sie sich sehr viel mehr zum Team zugehörig fühlte als gestern. In diesem Punkt war es ihr wenigstens gelungen, das Eis zu brechen.

Die Arbeit war anstrengend, obwohl ihr nur zwei Patienten zugeteilt waren. Aber die brauchten rund um die Uhr Pflege. Der sechzehnjährige Charley hatte sich bei einem waghalsigen Sprung mit seinem Skateboard das Becken und noch ein paar andere Knochen gebrochen. Annabelle, fünfzehn Jahre alt, war zurzeit noch im OP und würde danach, genau wie Charley, in einem Einzelzimmer untergebracht werden. Man musste ihr das rechte Bein oberhalb des Knies abnehmen, nachdem ein bösartiger Knochentumor festgestellt worden war.

Polly war voller Mitgefühl für das Mädchen. Sie war bereits informiert worden, dass sich ein Team aus Sozialarbeiterin, Psychologin, Beschäftigungs- und Physiotherapeuten und Wundpflegespezialisten um Annabelle kümmern würde. Polly war für den pflegerischen Part zuständig. Heute beschränkte sich ihre Arbeit auf die postoperative Pflege, also medikamentöse Schmerzkontrolle, Schutz vor Komplikationen wie Blutungen oder Infektionen. Außerdem musste sie dafür Sorge tragen, dass die Vitalzeichen der Patientin im grünen Bereich blieben.

Ab morgen dann würde das Team mit vereinten Kräften alles tun, um einem Teenager, der nicht nur körperlich mit einer Beinamputation fertig werden musste, den Lebensmut und die Beweglichkeit zurückzugeben.

„Hier, Charley.“ Sie reichte ihm einen Waschlappen. „Du wäschst dir Gesicht, Hals und Brust. Ich übernehme dann deinen Rücken, sobald du fertig bist, okay?“

Sie hielt nichts davon, ihren Patienten etwas abzunehmen, das sie sehr gut selbst erledigen konnten. Zum Glück war Charleys rechter Arm unverletzt geblieben, sodass er sich mithilfe des Bettgalgens gerade so weit aufrichten konnte, bis Polly das Laken gewechselt hatte.

„Na, fehlt dir die Schule?“

Er lachte spöttisch. „Eher meine Freunde.“

„Wie willst du den Stoff nachholen?“

Charley rieb sich Gesicht und Hals ab. „Wahrscheinlich mit Nachhilfe. Bald sind sowieso Sommerferien. Was viel blöder ist … ich wollte nächsten Monat mit Fahrstunden anfangen.“

„Wer fährt denn freiwillig in New York?“

„Ich wohne in Riverdale.“

Polly hatte keinen blassen Schimmer, wo Riverdale lag, vermutete aber, dass es ein Vorort war. In New York selbst wäre sie nie auf die Idee gekommen, Auto zu fahren. Hier lebte man schon als Fußgänger gefährlich genug.

Sie wusch ihm den Rücken und wechselte dann das Bettlaken. Dabei plauderte sie freundlich weiter. „Hast du eine Freundin?“

„Nö. Wir haben Schluss gemacht.“

Oh, oh, wieder ein Fettnäpfchen, das sie übersehen hatte … Würde sie es denn nie lernen, dass sie auch mit gut gemeinten persönlichen Fragen andere in Verlegenheit bringen konnte? Wenigstens hatte Charley ihr nicht die rote Karte gezeigt wie Dr. Griffin. „Tut mir leid.“

„Ist schon okay. Sie wollte sowieso nur, dass ich ihr ständig Sachen kaufe.“

Oha. „Manche Mädchen können ganz schön oberflächlich sein.“

„Wem sagen Sie das?“

Als Polly das Laken in den Schmutzwäschesack stopfte, ging die Tür auf. „Hey, perfektes Timing“, meinte sie fröhlich. „Da kommt dein Mittagessen!“

Der braun gebrannte, muskulöse Diätassistent stellte das Tablett ab. Polly wusch sich die Hände und vergewisserte sich, dass Charley das richtige Essen bekommen hatte, mit zusätzlichen Proteinen und Kalorien, die ein Heranwachsender brauchte. Dann ließ sie ihn allein, um seine mittägliche Medikation zu holen.

Als sie von ihrer Mittagspause kam, informierte der Stationssekretär sie, dass Annabelle auf dem Weg vom Aufwachraum zur Station sei. Polly eilte in das Einzelzimmer, um sich zu vergewissern, dass alles vorbereitet war, sah kurz nach Charley und verließ ihn beruhigt wieder. Dem Jungen ging es gut, er spielte ein Computerspiel.

Sie kam gerade aus Charleys Zimmer, als die Fahrstuhltüren sich öffneten. Das Bett mit der frisch operierten Patientin erschien, gezogen von einem Pfleger. Und am Fußende war Dr. Griffin in OP-Kleidung. Pollys Magen flatterte, verkrampfte sich leicht. Ob ihr Chef immer noch sauer auf sie war?

„Ich übernehme jetzt gern, Dr. Griffin“, sagte sie munter.

Er überließ ihr das Bett, folgte ihr jedoch ins Krankenzimmer.

„Vorsichtig“, mahnte er den Pfleger, als dieser das Seitengitter herunterließ.

Polly flitzte auf die andere Seite, kniete sich auf die Matratze und beugte sich vor, damit sie Annabelle mittels des Tragelakens zu sich ziehen konnte. Zu ihrer Überraschung stellte sich Dr. Griffin neben sie, um mitzuhelfen.

„Bei drei.“ Polly zählte, und gemeinsam hoben sie Annabelle rasch und sicher auf das Bett. Das Mädchen stöhnte leise, öffnete kurz die Augen, schlief dann aber sofort weiter.

Der Pfleger verließ das Zimmer, und Dr. Griffin nannte Polly die Vitalzeichen – etwas, das normalerweise die Krankenschwester im Aufwachraum telefonisch erledigte. Es zeigte Polly nur, wie wichtig es diesem Chirurgen war, dass seine Patientin die beste Pflege bekam.

Polly hörte aufmerksam zu, als er sie über Antibiotika und Schmerzmitteldosierung informierte, und rückte dabei das Kissen unter Annabelles Kopf zurecht. Danach legte sie den Beinstumpf erhöht auf ein Kissen, überprüfte den dicken Verband auf Anzeichen von Blutungen oder Wundflüssigkeit, überzeugte sich, dass die Wunddrainage richtig saß und deckte das Mädchen zu.

Behutsam strich Dr. Griffin seiner Patientin über die Stirn und nahm ihr dann die OP-Haube ab. Dichtes, schimmerndes braunes Haar ergoss sich auf das Kissen.

„Ich sehe später noch einmal nach ihr“, sagte er und warf Annabelle einen letzten, ernsten Blick zu, bevor er zur Tür ging. Hätte er ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben, Polly hätte sich kaum darüber gewundert. Ein Vater hätte seine Tochter nicht liebevoller ansehen können.

Wie konnte sie einem solchen Mann überhaupt etwas übel nehmen?

„Ich werde mich gut um sie kümmern, Doktor“, versprach sie leise.

Er blickte über die Schulter und nickte knapp.

In OP-Kleidung, die OP-Kappe noch auf dem Kopf, mit dem Mundschutz, der ihm um den Hals hing, sah er fit und energiegeladen aus. Unter dem Stoff zeichneten sich die starken Muskeln an Schultern und Armen ab. Für einen Mann, der auf die Vierzig zuging, war er atemberaubend gut in Form. Polly gönnte sich noch einen Blick auf seine große athletische Gestalt, bevor er aus der Tür verschwand.

„Hey, Dr. G., Sie haben meinen Gips noch nicht signiert!“, rief Charley aus dem Zimmer nebenan.

„Ich unterschreibe gern auf allen dreien, Charley, mein Junge.“ Stimme und Tonlage klangen verändert, fröhlicher. Niemand hätte vermutet, dass Dr. Griffin gerade eben noch sorgenvoll eine andere Patientin betrachtet hatte.

Wie konnte ein Mann, der so wunderbar mit Kindern umging, bei Erwachsenen so grandios versagen? Das ergab doch keinen Sinn.

Für Polly verflog der Nachmittag im Nu. Ehe sie sich’s versah, war ihr Dienst beendet. Nur noch die Übergabe, dann konnte sie nach Hause gehen. Nein, erst musste sie sich bei Dr. Griffin entschuldigen. Das hatte sie sich fest vorgenommen.

Auf dem Weg zu seinem Büro tummelte sich wieder ein ganzer Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch, die aufgeregt durcheinanderflatterten. Vor seiner Tür holte sie tief Luft und klopfte entschlossen.

„Herein.“

Etwas mutiger als gestern Abend betrat sie sein Zimmer.

„Alles in Ordnung mit Annabelle?“

„Ja, den Umständen entsprechend.“ Vor Nervosität kitzelte ihre Oberlippe, und Polly kratzte sich abwesend. „Weshalb ich hier bin … Also, ich meine, ich bin gekommen, um … Sie wissen schon, weil ich Ihnen gestern Abend … nun ja, ich wollte mich bei Ihnen …“

„Entschuldigen?“ Er trug wieder Hemd, Krawatte und Anzughose und darüber seinen Arztkittel. Ungnädig und mit kaum verhohlener Ungeduld blickte er sie an.

Was hast du denn erwartet?

„Äh … ja.“ Der Mann machte sie ungewohnt verlegen. Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen! „Ja, ich möchte mich entschuldigen. Es ist mir sehr unangenehm, dass Sie sich gestern Abend über mich geärgert haben.“ Heiß stieg ihr das Blut in die Wangen, weil er einfach dasaß und sie anstarrte. Und nichts tat, um sie aus ihrer peinlichen Lage zu erlösen. „Meine Frage war gedankenlos, Ihre Familie geht mich nichts an.“

Als er weiterhin schwieg, merkte sie, wie ihre Beine anfingen zu zittern. Bevor sie ihr den Dienst versagten und sie sich hier zum Narren machte, setzte sie sich auf die Kante seines Besucherstuhls. „Und ich hoffe wirklich, dass Sie meine Entschuldigung annehmen. Ich möchte zu Ihrem Team gehören. Ich möchte Ihnen die Arbeit erleichtern, auch bei besonderen Patienten wie Annabelle. Ich möchte eine sehr gute Krankenschwester für Sie sein, Sir.“ Mehr Unterwürfigkeit ging kaum noch …

„Hören Sie schon auf.“ Mit einer knappen Handbewegung wischte er ihre aufgeregte Rede beiseite. „Gestern Abend war ich unnötig schroff zu Ihnen. Ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen.“

„Aber ich habe angefangen, Sir.“

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Okay, ich nehme Ihre Entschuldigung an. Tun Sie mir nur einen Gefallen und lassen Sie das Sir-Getue. Sagen Sie Johnny zu mir. Wie meine Freunde.“

Polly verschlug es für einen Moment die Sprache. „Johnny?“, brachte sie schließlich atemlos heraus. Wie konnte sie den Chef der Orthopädie Johnny nennen? So wurden kleine Jungen genannt, die John hießen. Nur in der Familie würde man einen erwachsenen Mann Johnny nennen. Doch er hatte gesagt, dass seine Freunde ihn so riefen. Bedeutete das, dass er jetzt ihr Freund war?

„Genau. Johnny. So, und jetzt raus mit Ihnen. Ich muss arbeiten.“

Polly störte sich nicht an den knappen Worten. Vielleicht war sie ja zu ihrem grantigen Chef durchgedrungen.

„Sehr schön.“ Das hatte sie nicht laut sagen wollen und musste sich ein Lächeln verkneifen. „Danke, Doktor. Also, ich meine … Johnny. Vielen Dank.“ Unbeschreiblich erleichtert stand sie auf.

„Ich möchte übrigens, dass Sie sich für den Rest der Woche um Annabelle kümmern.“

„Wirklich?“ Er musste großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Krankenschwester haben!

„Ja. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden. Sonst komme ich heute Abend gar nicht mehr nach Hause.“

Mit einem strahlenden Lächeln sah sie ihm in die Augen. Er blickte immer noch streng, doch sie bildete sich ein, dass er nicht mehr ganz so abweisend wirkte. „Ja, Sir.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Bis morgen, Johnny.“

Längst wieder auf seine Arbeit konzentriert, schrieb er weiter, ohne aufzusehen. „Der Name bleibt unter uns.“

Klar, kein Problem. Dass es ihr so unglaublich wichtig war, ihm zu gefallen, musste aufhören. Aber im Moment war sie einfach glücklich, dass sie das mit der Entschuldigung gut hinter sich gebracht hatte. Polly fragte sich, wie viele Mitarbeiter ihren Chef beim Vornamen nennen durften – selbst nur im Geheimen.

John gestand sich ein, dass die lebhafte junge Krankenschwester etwas seltsam Anziehendes hatte. Vielleicht weil sie hübsch anzusehen und voller Leben war, ein faszinierendes Temperament und einen süßen Po hatte? Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm so etwas das letzte Mal bei einer Frau aufgefallen war. Ihre aufrichtige und gefühlvolle Entschuldigung hatte jedoch in ihm etwas angerührt.

Verdammt, er hätte sich bei ihr entschuldigen müssen. Er hatte sie im Pub mies behandelt und gesehen, wie Ärger in ihren babyblauen Augen aufblitzte. Doch statt ihn anzugiften, hatte sie ihn hocherhobenen Hauptes einfach stehen lassen.

Sie hatte Haltung bewahrt, was ihm ziemlich imponierte.

Er zog die unterste Schreibtischschublade auf, nahm eine Flasche Wasser heraus und trank einen Schluck. Im Gegensatz zu ihm gab sich Polly Seymour große Mühe, zu jedem nett zu sein. Wahrscheinlich kaschierte sie damit ihre Unsicherheit. John lachte selbstironisch auf. Ihm stand es nun wirklich nicht zu, die seelischen Befindlichkeiten anderer zu analysieren! Außerdem hatte sie eine besondere Art, mit den Kindern umzugehen. Und mit Kolleginnen und Kollegen. Sympathisch irgendwie, gewinnend.

Als er sich erinnerte, wie sie mit der kleinen Karen mit ihrem sperrigen Gips durchs Zimmer getanzt war, musste er unwillkürlich lächeln. Die Kleinen hatten es ihr an dem Morgen wirklich nicht leicht gemacht. Und er kannte seine Patienten. Pädiatrie war sein Gebiet, der einzige Bereich seines Lebens, in dem er sich uneingeschränkt wohlfühlte.

Erwachsene waren das Problem. Er mochte die wenigsten, duldete sie nur. Um die Orthopädie zu leiten, musste er mit ihnen klarkommen, und seit dreizehn Jahren sagte er sich immer wieder: Tu, was du tun musst, um zu überleben. Die Kinder brauchen dich.

Wie hatte er all die Jahre ohne Lisa überlebt? Unerwartet und unwillkommen schlich sich ein Gedanke in sein Bewusstsein. Polly sprüht vor Lebenslust. Etwas, das ihm völlig fehlte. Trotzdem faszinierte ihn ihre fröhliche Art. Vielleicht war er doch noch nicht völlig abgestorben.

Heute Nachmittag, als er aus dem OP zurückkam, hatte er die veränderte Atmosphäre auf der Station sofort wahrgenommen. Seine Mitarbeiter redeten miteinander, halfen sich gegenseitig, scherzten sogar. Er hatte sie noch nie so gut gelaunt erlebt.

Lag es an ihm, hatte bisher sein mürrisches Verhalten auf sie abgefärbt? Und brachte Polly, die Neue, frischen Wind in seine Abteilung … mit ihrem immer strahlenden Lächeln und ihrem fröhlichen Geplapper?

Ihre großen blauen Augen, die bebenden Lippen kamen ihm in den Sinn. Warum drängte es ihn, mit dem Daumen über diesen Mund zu streichen, um herauszufinden, wie weich er war? Mehr noch, er wollte Polly an sich ziehen, ihre Lippen kosten …

Wann zuletzt hatte er einer Frau angeboten, Johnny zu ihm zu sagen? Was hatte das zu bedeuten? Und dann diese verrückten erotischen Gedanken, die sie in ihm auslöste!

Vielleicht war Pollyanna gar nicht so unschuldig, wie sie wirkte. Tja, Küken, das bin ich auch nicht …

John trank noch mehr Wasser und rieb sich die Brust, erstaunt, wie schnell sein Herz plötzlich schlug. Er schob die sexy Tagträume beiseite und konzentrierte sich wieder auf seine OP-Berichte. Bevor er nach Hause ging, wollte er noch einmal nach seinen kleinen Patienten sehen – wie jeden Abend.

Mit einer Ausnahme. Gestern hatte er es versäumt, weil Polly ihn in den Pub geschleppt hatte. Ja, ihm fehlte etwas, wenn er seinen Schützlingen nicht Gute Nacht sagen konnte.

Das war der Grund gewesen, warum er so gereizt auf ihre Frage reagiert hatte. Nicht, weil sie neugierig gewesen war, oder weil er nach Hause wollte, um allein zu sein – was, wie er zugeben musste, selbst ihn allmählich langweilte.

John war noch nicht bereit, sich einzugestehen, dass er sich krampfhaft an seine Vergangenheit klammerte. An die Toten. So sehr, dass er einen Horror davor hatte, sich unter die Lebenden zu mischen. Gesellig zu sein, Small Talk zu machen.

Er hatte den Rundgang zu den Kindern ausfallen lassen müssen, das hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht.

Nichts anderes.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen stand Polly im Fahrstuhl, als ihr Handy vibrierte. Eine SMS.

Bin in zwei Wochen in NY. Essen wir zusammen? Greg

Genau dieser Greg hatte sie vor einem Jahr wegen einer anderen sitzen lassen. Polly erinnerte sich noch, wie enttäuscht und wie wütend sie gewesen war. Sie konnte einen mürrischen Laut nicht zurückhalten, während sie verärgert ihr Handy zuklappte.

„Schlechte Nachrichten?“, ertönte eine vertraute Stimme hinter ihr.

„Oh, Dr. Griffin.“ Sie fuhr herum. „Ich hatte Sie gar nicht gesehen.“

Der Fahrstuhl war voll, aber sie war auch in Gedanken versunken gewesen. Ihr tat alles weh von ihrer durchgelegenen Matratze, in der überfüllten U-Bahn war ihre Laune durch das Schubsen und Drängeln nicht besser geworden, und jetzt eine unwillkommene Stimme aus der Vergangenheit – nein, sie konnte beim besten Willen kein fröhliches Gesicht machen.

John schob sich näher an sie heran. „Sie sehen nicht besonders glücklich aus.“

Sie lächelte matt. „Bin ich auch nicht. Mein Exfreund hat mir geschrieben.“

„Das tut mir leid“, sagte er ernst.

„Das mit dem Ex, oder dass ich nicht glücklich bin?“

„Beides.“

„Ist das wahr?“

„Tun Sie nicht so schockiert.“ John Griffin lächelte. Allerdings erinnerte seine verhaltene Art zu lächeln eher an eine Grimasse.

„Interessieren Sie sich eigentlich für die Stimmungen anderer Leute?“

„Normalerweise nicht.“

Was soll das denn heißen? Hatte er Mitleid mit ihr? Vielleicht hatte sie es gestern Abend mit ihrer Entschuldigung übertrieben?

Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Meinetwegen brauchen Sie nicht ständig ein fröhliches Gesicht aufzusetzen.“

Hatte er sie schon durchschaut? „Na, vielen Dank.“ Sie wollte nicht respektlos klingen, aber hatte er ihr nicht gerade eben erlaubt, ihre wahren Gefühle zu zeigen? Polly sah ihn an. Da war es wieder, dieses Grimassenlächeln, aber auch ein verschmitztes Funkeln in seinen Augen. Wie süß!

Süß? John Griffin?

Vielleicht lag es an seinem Mund, so wie er die Lippen schürzte, ein bisschen spöttisch … Polly ertappte sich dabei, wie sie sich vorstellte, an seiner vollen Unterlippe zu knabbern, sanft und spielerisch …

Hör auf, Polly. Der Typ ist viel zu alt für dich. Fast vierzig. Und knurrig wie eine Bulldogge. Wer brauchte das schon? Und außerdem interessiert er sich nie im Leben für dich.

Trotzdem … dieses verhaltene Lächeln war echt süß. Fast schon charmant.

Der Lift hielt im fünften Stock, alle anderen stiegen aus. Als die Türen sich wieder schlossen, lehnte sich John mit der Schulter gegen die Wand und sah Polly direkt an. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, flüsterte er verschwörerisch. „Ich zeige Ihnen meine, wenn Sie mir Ihre zeigen.“

Immer noch gefangen in der Vorstellung, seine Lippen zu liebkosen, blickte sie von ihren weißen Schwesternclogs auf. „Wovon reden Sie?“

„Von unseren Stimmungen.“

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Dr. Griffin, aber Ihre Stimmungen kenne ich schon. Ein Brummbär ist nichts gegen Sie, oder ein Rumpelbold …“, zählte sie an den Fingern ab.

Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Jetzt hatte sie ihm tatsächlich ein echtes Lächeln entlockt!

„Schlaukopf.“ Kleine Teufelchen tanzten in seinen dunklen Augen. „Wenn Sie schon die sieben Zwerge aufzählen müssen, vergessen Sie nicht Pimpel und Schlafmütze.“

„Und Chef. Das passt auf jeden Fall.“ Polly seufzte. Was auch immer dieses alberne Spiel sollte, das sie hier gerade mit Johnny spielte, ihre Niedergeschlagenheit hatte sich in Luft aufgelöst. Hmm, hatte er „Pimpel“ gesagt?

„Sie und schüchtern?“

„Oh ja, bin ich.“

„Das glaube ich nicht.“

„Sie würden sich wundern.“

Die Fahrstuhltüren glitten auseinander, und jeder ging seiner Wege. Polly lächelte strahlend, und er … nun, das nicht, aber sein Gang hatte etwas mehr Schwung als sonst. Der Blick, den er ihr zugeworfen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Es war kein offenes Flirten gewesen, höchstens ein Hauch von einem Ansatz! Dennoch zauberte er ihr immer wieder ein verträumtes Lächeln ins Gesicht, begleitet von einem leisen, erregenden Kribbeln.

Dr. John Griffin … schüchtern? Ein Mann, der darauf wartete, dass die Frau den ersten Schritt machte? Sie würden sich wundern. Wie sollte er es sonst gemeint haben?

Als Polly zum Schwesternumkleideraum ging, fiel ihr noch etwas ein. Johnny roch gut, nach einem teuren Aftershave und frisch gewaschenen Haaren. Dazu die markanten männlichen Züge … für einen Mann, der schon eine Menge silbergrauer Haare hatte und außerdem Chefarzt der pädiatrischen Orthopädie war, brachte er sie ganz schön durcheinander. Polly stellte sich vor, wie es wäre, ihn zu küssen – und stolperte prompt auf der Türschwelle.

Wie auch immer, Johnny Griffin war es gelungen, ihre Stimmung beträchtlich zu heben.

„Wie geht’s meinem Mädchen?“, fragte John, als er mittags Annabelles Zimmer betrat, kurz nachdem Polly bei dem Mädchen Puls und Blutdruck gemessen hatte.

„Sehr gut, danke“, antwortete sie. „Annabelle geht es auch gut.“ Ihr entging nicht der flüchtige verwirrte Ausdruck in seinen Augen, und sie freute sich über ihren gelungenen Scherz.

„Was für ein Naseweis deine Krankenschwester doch ist, Annabelle.“ Wie ein besorgter Vater nahm er ihre Hand, und die Geste ging Polly zu Herzen.

Annabelle lächelte schwach und schloss die Augen. Polly hatte ihr ein Schmerzmittel gespritzt und berichtete ihm davon.

„Heute Nacht war sie sehr unruhig, klagte über Phantomschmerzen. Als sie gerade wieder davon anfing, wollte ich ihr etwas mehr Ruhe gönnen.“

Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust. „Gut. Wir lassen sie schlafen, aber am späten Nachmittag möchte ich, dass sie aufsteht und wenigstens eine Stunde im Sessel sitzt.“

„Verstanden.“

„Morgen fängt sie mit der Krankengymnastik an. Wenn ihre Eltern heute Abend hier sind, sollte der Wundpflegespezialist mit ihnen über den Verbandswechsel sprechen, den sie dann zu Hause vornehmen, sobald sie entlassen ist.“

„Ja, Sir.“

„Lassen Sie das.“

„Wollen Sie nicht, dass ich Ihre Anweisungen befolge, Sir?“ Warum machte es ihr solchen Spaß, ihren Chef zu necken?

Er holte tief Luft. „Versuchen Sie, mir auf die Nerven gehen?“

„Habe ich es geschafft, … Sir?“

„Und wie.“

„Schön.“ Polly strich die Bettdecke glatt und überprüfte die Infusionsgeschwindigkeit. Zwar wagte sie es nicht, über die Schulter zu sehen, aber sie spürte, dass ihm das Geplänkel gefiel.

„Aus der OP-Wunde tritt kein Sekret mehr aus“, berichtete sie sachlich. „Und zu Beginn meiner Schicht habe ich dreißig Milliliter Drainageflüssigkeit ausgeleert.“

John hob die Decke an und sah, dass der Beutel fast leer war. „Gut.“ Er blieb am Bett stehen.

Nach ihrer mehr oder weniger gestammelten Entschuldigung und nach der gemeinsamen Fahrstuhlfahrt war sie zu dem Schluss gekommen, dass er ein guter Kerl war. Mit einer Engelsgeduld hatte er ihrem ausschweifenden Monolog zugehört und sie noch damit belohnt, indem er ihr anbot, ihn Johnny zu nennen. Wer von den Kollegen durfte das außer ihr wohl noch?

„Hey, Johnny.“ Ein Arzt kam herein.

So viel zu ihrem speziellen Privileg!

„Hallo, Dave. Willst du deine Arbeit bewundern?“

„Natürlich.“

Dave Winters stand auf dem Namensschild. Gefäßchirurgie. Er hatte also bei Annabelles Operation assistiert.

„Ich wollte den Verband erst später wechseln, aber warum nicht jetzt?“, sagte John und zählte auf, was Pol...

Autor

Lynne Marshall
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Lynne Marshall war beim Schreiben eine Spätzünderin: Lange dachte sie, sie hätte ein ernsthaftes Problem, weil sie so oft Tagträumen nachhing. Doch dann fand sie heraus, dass sie diese einfach niederschreiben konnte und daraus tolle Geschichten entstanden! Diese Erkenntnis traf sie erst, als ihre Kinder schon fast erwachsen...
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Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
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