Julia Ärzte zum Verlieben Band 111

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HABEN SIE KEIN HERZ, DR. WOLFE? von ROBERTS, ALISON
Als Dr. Thomas Wolfe mit seiner Ex-Frau Rebecca zusammenarbeitet, merkt er gleich: Er begehrt sie noch immer! Allerdings hat ihre Beziehung nur eine neue Chance, wenn er endlich um ihre tote Tochter trauert. Kann er es wagen, die schützende Mauer um sein Herz einzureißen?

EIN MANN, EIN BABY - EINE FAMILIE? von CARLISLE, SUSAN
Liebe? Saras Ehe mit dem reichen Arzt Grant Smythe ist eine rein geschäftliche Abmachung! Er bekommt das Sorgerecht für seine Halbschwester, sie hat keine Geldsorgen mehr. Doch leider ist Grant so umwerfend attraktiv, dass Sara sich trotzdem heimlich nach ihm verzehrt …

DIE FEURIGEN KÜSSE DES PLAYBOY-DOCS von NEIL, JOANNA
"Vielleicht könnten du und ich von vorn anfangen?" Der Vorschlag ihres Jugendfreunds Nate empört Sophie - und weckt gegen jede Vernunft heiße Sehnsucht nach seinen feurigen Küssen. Dabei weiß sie, dass sie auf Dauer nicht in die Luxuswelt des Playboy-Docs passt. Was nun?


  • Erscheinungstag 06.04.2018
  • Bandnummer 0111
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711436
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alison Roberts, Susan Carlisle, Joanna Neil

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 111

ALISON ROBERTS

Haben Sie kein Herz, Dr. Wolfe?

Was ist nur aus ihrem Ex Thomas geworden? fragt Rebecca sich traurig. Er ist so kühl und distanziert zu ihr wie nach dem Tod ihrer Tochter, und auch für seine kleinen Patienten hat er kein liebes Wort übrig. Beharrlich versucht sie, das Eis um sein Herz zum Schmelzen zu bringen. Natürlich nur, um besser mit ihm zusammenzuarbeiten – nicht weil sie ihn noch liebt! Oder?

SUSAN CARLISLE

Ein Mann, ein Baby – eine Familie?

Dr. Grant Smythe hat sich geschworen, immer für seine verwaiste kleine Halbschwester Lily da zu sein. Um jetzt das Sorgerecht zu bekommen, muss der überzeugte Junggeselle allerdings schleunigst heiraten. Nur wen? Zwar willigt Lilys hübsche neue Nanny Sara spontan in eine Scheinehe auf Zeit ein, aber plötzlich entwickelt er wahre Gefühle für sie …

JOANNA NEIL

Die feurigen Küsse des Playboy-Docs

Zärtliche Küsse, leidenschaftliche Liebkosungen … Als Kinderarzt Nate in seinen Heimatort zurückkehrt und seine Jugendliebe Sophie wiedertrifft, will er da anknüpfen, wo sie einst aufgehört haben. Doch seit Sophies Familie durch Nates skrupellosen Vater zu Schaden gekommen ist, scheint sie entschlossen, ihn zu meiden. Wie kann er nur ihr Herz zurückgewinnen?

1. KAPITEL

Es würde nicht leicht sein, das hatte er gewusst.

Auch, dass manche Fälle ganz besonders schwer sein würden.

Doch Dr. Thomas Wolfe hatte nach der dringend benötigten Pause ebenfalls gewusst, dass er bereit war, sich wieder seiner ersten Liebe zu widmen: der Kinderkardiologie.

Gebrochene kleine Herzen zu heilen …

Und natürlich auch die größeren. Das Paddington Children’s Hospital behandelte Kinder und Jugendliche jeden Alters, vom Neugeborenen bis zum Achtzehnjährigen. Nachdem er jahrelang nur mit Erwachsenen zu tun gehabt hatte, war Thomas im Umgang mit Heranwachsenden sicherer geworden, doch im Laufe der letzten Monate hatte er seine Faszination für Babys wiederentdeckt. Und für die Kinder, die alt genug waren, um zu begreifen, wie krank sie waren – tapfere Kinder, von denen sich viele Erwachsene eine Scheibe hätten abschneiden können.

Das Schicksal einiger Kinder berührte ihn besonders, was ihm vor Augen führte, wie wichtig es war, dass er seine Arbeit so gut wie möglich machte. Doch man musste vorsichtig sein. Wenn man die Dinge zu nah an sich heranließ, beeinträchtigte es nicht nur das eigene Urteilsvermögen, es bestand auch die Gefahr, dass es einen am Ende zerstörte.

Und das würde Thomas Wolfe nie wieder zulassen.

Er musste eine kurze Pause einlegen und blieb im Hauptkorridor der kardiologischen Station stehen, direkt neben den riesigen bunten Figuren von Pu dem Bären und seinen Freunden, die den Wandabschnitt zwischen den Fenstern der Patientenzimmer dekorierten. Tiger schien mitten im Sprung auf ihn herabzugrinsen, während Thomas so tat, als würde er eine neue Nachricht auf dem Pager lesen.

Dieser Fall hatte sich seit seiner Rückkehr nach Paddington als der schwierigste entpuppt. Ein kleines Mädchen, das es einem fast unmöglich machte, sichere Distanz zu wahren. Die sechsjährige Penelope Craig, von allen nur „Penny“ genannt, berührte nicht einfach nur die Herzen der Menschen in ihrer Nähe. Sie nahm sie regelrecht gefangen, dass es schmerzte.

Er musste sich nicht daran erinnern, wie wichtig es war, Distanz zu wahren, denn diese Fähigkeit hatte er von dem Augenblick an trainiert, als er erneut durch die Tür dieses erstaunlichen alten Krankenhauses getreten war. Sie war ihm bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie automatisch anwendete. Er musste nur sicherstellen, dass es in seiner inneren Barriere keine Lücken gab, ansonsten würde Penny sie finden und durchbrechen.

Und das durfte nicht geschehen.

Er nickte, als hätte er auf dem Pager eine wichtige Nachricht gelesen, hob den Kopf und ging zur nächsten Tür. Ohne zu zögern. klopfte er und betrat lächelnd den Raum.

Für den Bruchteil einer Sekunde geriet sein Lächeln ins Wanken, als ihm Pennys Mutter Julia Craig in die Augen sah. In ihrem Blick lag die allgegenwärtige, unausgesprochene Frage:

Ist es heute so weit?

Seine Antwort war ebenso lautlos:

Nein. Heute nicht.

Die Kommunikation zwischen ihnen war so routiniert, dass sie kaum länger als einen Wimpernschlag dauerte. Penny hatte es sicher nicht bemerkt.

„Sehen Sie, Dr. Wolfe! Ich kann tanzen.“

Die Tatsache, dass Penny aufgestanden war, bedeutete, dass heute einer ihrer guten Tage war. Noch immer war die Nasenkanüle mit Klebeband an beiden Wangen befestigt, der lange Plastikschlauch verlief über den Rücken bis zu der Stelle, wo er an die Sauerstoffzufuhr angeschlossen war, aber Penny war auf den Beinen.

Nein, eigentlich stand sie auf den Zehenspitzen und ließ die Arme anmutig über die Rüschen ihres hellrosa Tutus baumeln. Und dann versuchte sie, sich im Kreis zu drehen, doch der Schlauch war im Weg. Sie verlor das Gleichgewicht und setzte sich ruckartig hin, was andere Kinder wahrscheinlich verstört hätte.

Penny lachte einfach.

„Huch.“ Julia schloss ihre Tochter in die Arme, als sich das Gelächter in Keuchen verwandelte.

„Ich kann …“ Penny schnappte erneut nach Luft. „Ich kann … es schaffen. Seht nur!“

„Nächstes Mal.“ Julia setzte Penny aufs Bett. „Dr. Wolfe ist hier, um nach dir zu sehen, und er ist sehr beschäftigt. Er muss sich heute um viele Kinder kümmern.“

„Aber nur um eines, das tanzen kann.“ Thomas lächelte. „Wie ein Ballerinabär.“

Pennys Lächeln konnte einen ganzen Raum erhellen. Sie richtete ihre großen grauen Augen auf den Fernseher an der Wand, wo ihre Lieblings-DVD lief. Eine Truppe flauschiger Bären in Tutus führte einen Tanz auf, der eine Zeichentrickversion von „Schwanensee“ darstellte.

„Ich möchte nur dein Herz abhören, wenn das okay ist.“ Thomas nahm sich das Stethoskop vom Hals.

Penny nickte, wandte den Blick aber nicht vom Fernseher ab. Sie hob die Arme über den Kopf und krümmte einen Finger, während sie versuchte, die Bewegungen der tanzenden Bären zu imitieren.

Thomas fiel die bläuliche Farbe auf, die die Lippen seiner kleinen Patientin angenommen hatten. Er legte den Kopf des Stethoskops an ihre Brust, die Narben von mehreren großen Operationen trug, und lauschte den Klängen ihres Herzens, das sein Bestes gab, um den kleinen Körper ausreichend mit Blut zu versorgen, aber jeden Tag ein wenig mehr versagte.

Die neuen Medikamente halfen, doch es reichte nicht. Vor einigen Wochen war Penny auf die Warteliste für eine Herztransplantation gesetzt worden, und es war die Aufgabe von Thomas und seinem Team, sie bis dahin zu stabilisieren. Einerseits bekam sie Medikamente, die ihr Herz unterstützten, andererseits mussten Komplikationen überwacht werden wie die Ansammlung von Flüssigkeit im Gewebe und in ihrer Lunge. Leider war es mittlerweile notwendig, ihre körperliche Aktivität einzuschränken, und wenn Penny das Zimmer verlassen wollte, musste sie im Rollstuhl sitzen.

Die Chancen, dass rechtzeitig ein passendes Herz verfügbar wurde, standen nicht allzu gut. Doch so erschütternd diese Tatsache auch war, war es doch nicht der Grund, warum dieser spezielle Fall sich als so viel schwieriger erwies als die anderen Patienten, die auf der Transplantationswarteliste standen.

Penny war eine direkte Verbindung zu seiner Vergangenheit.

Der Vergangenheit, vor der er hatte fliehen müssen, um zu überleben.

Er hatte Penny vor mehr als sechs Jahren kennengelernt. Im Grunde schon, bevor sie auf die Welt kam – als sich bei Ultraschalluntersuchungen herausgestellt hatte, dass das Baby einen der schwersten angeborenen Herzfehler besaß: eine der Herzkammern war zu klein. Die erste Operation hatte sie im Alter von nur wenigen Wochen gehabt, und er war der Arzt gewesen, der sie davor und danach betreute.

Er hatte viel Zeit mit Pennys Eltern Julia und Peter Craig verbracht und dabei ihre Ängste so unmittelbar gespürt, als wären es seine eigenen.

So etwas konnte geschehen, wenn man selbst ein Kind hatte …

Gwen war nur etwas älter als Penny und wäre nun acht Jahre alt. Hätte sie die Ballerinabären genauso geliebt? Wäre sie womöglich zum Ballettunterricht gegangen und hätte sich ein rosa Tutu über ihre Sachen gezogen, sogar über den Pyjama?

Der Gedanke war kaum mehr als ein schwacher Stich in seinem Inneren. Thomas hatte gewusst, dass die Arbeit mit Kindern an dem Schmerz rühren würde, den er sorgfältig verdrängt hatte, doch er konnte damit umgehen.

Er wusste, dass er sich von der Gefahrenzone entfernen musste.

Er trat vom Bett zurück. „Heute ist ein schöner Tag“, fand er und hängte sich das Stethoskop wieder um den Hals. „Vielleicht kann Mummy mit dir für eine Weile nach draußen in die Sonne gehen.“

Während er sprach, kam eine Schwester ins Zimmer. Er sah die Nierenschale, die sie in einer Hand hielt, und das Glas Saft in ihrer anderen. „Nachdem du deine ganzen Tabletten geschluckt hast.“

„Haben Sie es eilig?“ Julia erhob sich ebenfalls. „Hätten Sie eine Minute?“ Sie warf ihrer Tochter einen Blick zu, die noch immer wie gebannt den tanzenden Bären zusah. „Ich bin in einer Minute zurück, Schatz. Sei ein gutes Mädchen und schluck die Tabletten für Rosie, okay?“

„Okay.“ Penny nickte abwesend.

„Natürlich macht sie das“, erwiderte Rosie. „Und dann will ich noch mal die Namen sämtlicher Bären hören. Wie heißt der mit dem glitzernden blauen Fell?“

„Saphir“, hörte Thomas Penny sagen, als er Julia die Tür aufhielt. Wenn sie sich um den Zustand ihrer Tochter sorgte, mussten sie woanders hingehen, um darüber zu sprechen.

Das Angehörigenzimmer, das sich ein Stück entfernt befand, war leer. Thomas schloss die Tür hinter ihnen und bedeutete Julia, auf einem der bequemen Stühle Platz zu nehmen.

„Sind Sie sicher, dass Sie Zeit haben?“

„Natürlich.“

„Ich wollte nur … Ich wollte Sie noch etwas zu dem fragen, was Sie gestern gesagt haben. Am Abend habe ich versucht, es Peter zu erklären, aber ich glaube, dass es sich aus meinem Mund sehr viel schlimmer angehört hat … als aus Ihrem …“ Julia kämpfte mit den Tränen.

Thomas schob die Schachtel Taschentücher auf dem Beistelltisch näher, und dankbar zog sich Julia mehrere heraus.

„Sie meinen das ventrikuläre Unterstützungssystem, das VAD?“

Sie nickte und drückte sich die zusammengeknüllten Taschentücher ins Gesicht. „Sie haben gesagt … Sie haben gesagt, es wäre der nächste Schritt, wenn … falls … es schlimmer wird.“

Thomas sprach mit sanfter Stimme. „Es klingt furchteinflößend, ich weiß, aber so etwas wird häufig als Überbrückung bis zur Transplantation verwendet, wenn ein Herzversagen mit medizinischen Mitteln nicht mehr verhindert werden kann, so, wie es bei Penny der Fall ist.“

„Und Sie glauben, dass es ihr damit in der Zwischenzeit deutlich besser gehen wird?“

„Es verbessert die Durchblutung und kann andere Organschäden rückgängig machen, die durch ein Herzversagen verursacht werden.“

„Aber es ist riskant, nicht wahr? Es ist ein großer Eingriff …“

„Ich würde es nicht vorschlagen, wenn eine Operation riskanter wäre, als so weiterzumachen wie bisher. Penny hat heute einen guten Tag, aber Sie wissen, wie schnell sich das ändern kann, und es ist von Mal zu Mal schwieriger zu beherrschen.“

Sie putzte sich die Nase. „Als sie das letzte Mal auf die Intensivstation musste, dachten wir … Wir dachten, wir würden sie verlieren …“

„Ich weiß.“ Er musste einen tiefen Atemzug nehmen. Innerlich auf Abstand gehen und sich wieder auf eine sichere Basis begeben. Eine professionelle Basis.

„Ein VAD könnte Penny wieder mobiler machen und ihren Gesamtzustand verbessern, sodass die Erfolgschancen höher wären, sobald ein Spenderherz verfügbar ist. Es ist eine Langzeitlösung, um ein Herzversagen zu verhindern, und es kann Jahre halten, aber ja, es ist ein großer Eingriff. Das Gerät wird am Herzen befestigt und übernimmt praktisch die Arbeit der linken Herzkammer. Lassen Sie uns einen Termin vereinbaren, damit ich mich mit Ihnen und Peter zusammensetzen und es Ihnen ausführlich erklären kann.“

Julia hatte mit dem Weinen aufgehört. Ihre Augen wurden groß. „Was meinen Sie mit ‚mobiler‘? Könnten wir Sie wieder mit nach Hause nehmen, während wir warten?“

„Das hoffe ich.“ Er nickte. „Sie wäre wieder in der Lage, alles zu tun, was sie normalerweise zu Hause gemacht hat. Vielleicht sogar mehr.“

Julia presste sich die Finger an die Lippen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Wie … Tanzstunden, vielleicht?“

Oh … Er musste den Blick von dem hoffnungsvollen Glanz hinter Julias frischen Tränen abwenden. Lieber sah er die Wand an.

„Ich werde es Peter erzählen, sobald er von der Arbeit kommt. Wann können wir einen Termin machen, um darüber zu sprechen?“

„Sprechen Sie mit Maria an der Stationsrezeption. Sie kennt meinen Terminkalender genauso gut wie ich.“ Er erhob sich und riskierte noch immer keinen direkten Blick in Julias Gesicht.

Im Augenwinkel sah er, wie sie den Kopf zur Seite wandte. Fragte sie sich, was ihn abgelenkt hatte?

Er war unhöflich und wandte sich wieder der Mutter seiner Patientin zu, doch nun starrte sie an die Wand.

„Mein Leben scheint voller Teddybären zu sein“, meinte sie.

Thomas blinzelte bei dieser zusammenhanglosen Bemerkung. „Sie meinen tanzende Bären?“

„Und hier, sehen Sie. Da geht es um die Teddybären in Regent’s Park. Nun, eigentlich auf Primrose Hill. Für Familien von Transplantationspatienten.“

Er hatte das Poster nur als verschwommenen Farbklecks an der Wand wahrgenommen, doch nun betrachtete er es aufmerksam. Und dann wünschte er sich, er hätte es nicht getan.

Genau in der Mitte einer heiteren Fotocollage war ein Bild von einer Chirurgin in einem grünen OP-Kittel, die ein kleines Kind in den Armen hielt. Es trug nur eine Windel, sodass die Narbe auf seiner Brust als deutlicher Beweis für seine große Herzoperation sichtbar war. Das engelhafte kleine Mädchen mit den großen blauen Augen und dem goldenen Lockenkopf strahlte zu seiner Ärztin hinauf, und aus deren Lächeln sprachen sowohl die Zufriedenheit darüber, ein kleines Leben gerettet zu haben als auch die tiefe Zuneigung zu ihrer kleinen Patientin.

„Das ist Dr. Scott“, sagte Julia. „Rebecca. Aber das wissen Sie natürlich.“

Natürlich wusste er es.

„Sie hat Penny operiert, als sie ein Baby war – aber auch das wissen Sie. Wie dumm von mir. Sie haben sie damals auch behandelt.“ Julia setzte eine bedauernde Miene auf. „Seitdem ist so viel passiert, dass manchmal alles verschwimmt.“

„Ja.“ Thomas starrte noch immer in Rebeccas Gesicht. Ihre hübschen schokoladenbraunen Augen waren ihm sofort aufgefallen, als er sie zum ersten Mal vor vielen Jahren in einer Vorlesung an der medizinischen Fakultät entdeckt hatte. Das glänzende glatte Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten hochgesteckt, wie immer, wenn sie arbeitete.

Ihr Lächeln …

Zuletzt hatte er sie so glücklich gesehen, bevor … bevor ihre gemeinsame Tochter gestorben war.

In den Monaten seit seiner Rückkehr ans Paddington hatte sie ihm zweifellos nicht einmal die Andeutung eines solchen Lächelns gezeigt.

Wusste Julia denn nicht, dass sie verheiratet gewesen waren, als sie Penny in den Wochen nach ihrer Geburt gemeinsam behandelt hatten?

Nun, warum sollte sie? Sie hatten ihre Nachnamen beibehalten, um Verwirrung am Arbeitsplatz zu vermeiden, und waren stets professionell geblieben. Dennoch waren sie freundlich miteinander umgegangen – ganz anders als die spannungsreiche Beziehung, die sie nun führten. Außerdem hatten Julia und Peter ganz andere Sorgen gehabt, als sich Gedanken über die Beziehung zweier Mitglieder des Ärzteteams zu machen, das versuchte, das Leben ihrer kleinen Tochter zu retten.

„Damals war sie nur Chirurgin.“

Thomas musste sich seinen Widerspruch verkneifen. Rebecca war niemals „nur“ Chirurgin gewesen. Sie war talentiert, brillant und hatte seit dem Abschluss ihres Medizinstudiums eine steile Karriere eingeschlagen.

„Ist es nicht toll, dass sie sich inzwischen auf Transplantationen spezialisiert hat?“

„Mhm.“ Manchmal konnten traumatische Ereignisse dem Leben eine neue Richtung geben, doch auch das durfte er nicht laut aussprechen. Wenn Julia nichts von dem persönlichen Hintergrund wusste, der Rebecca dazu veranlasst hatte, sich jahrelang auf einem neuen Gebiet zu qualifizieren, würde er es ihr gewiss nicht erzählen.

Es war absolut tabu, so etwas zu offenbaren, wenn man professionelle Distanz zu Patienten und deren Familien wahrte. Und zu seiner Exfrau.

„Jedenfalls ist es toll für uns“, fuhr sie fort. „Denn es bedeutet, dass sie Pennys Transplantation vornehmen kann, wenn wir das Glück haben, ein neues Herz für sie zu finden …“ Ihre Stimme klang zittrig. „Vielleicht gehen wir nächstes Jahr zu einem dieser Picknicks. Ich habe davon gehört. Haben Sie vor einiger Zeit die Fernsehsendung gesehen, wo all diese Leute darüber gesprochen haben, wie schrecklich es wäre, wenn das Paddington’s schließen muss?“

„Ich glaube nicht.“ In den Medien wurde so viel über die drohende Schließung berichtet, dass es schwer war, alles zu verfolgen. Erst recht, seit Scheich Al Khalil letzten Monat verkündet hatte, dass er im Anschluss an die Operation seiner Tochter eine beträchtliche Summe spenden würde.

„Also, man hat einen Ausschnitt des letztjährigen Picknicks gesehen. Sie haben mit einer Mutter gesprochen, die ihren Sohn bei einem schrecklichen Unfall verloren und seine Organe zur Entnahme freigegeben hat. Angeblich hat sie sich nie getraut, Kontakt mit einer der Familien aufzunehmen, die seine Organe erhalten haben, aber sie ist zum Picknick gekommen und hat sich vorgestellt, dass sich ein paar davon unter den Besuchern befinden. Sie hat gesehen, wie die Kinder Wettrennen und Spiele veranstaltet haben und wie glücklich sie waren. Und wie glücklich ihre Familien waren …“

Julia musste sich unterbrechen, weil sie wieder weinte, obwohl sie zugleich lächelte. Thomas war mehr als erleichtert. Er hätte nicht länger zuhören können. Sie zog ihn in etwas hinein, das er mittlerweile vermied, so gut es ging.

„Ich muss jetzt wirklich mit meinem Rundgang weitermachen“, sagte er.

„Natürlich. Es tut mir so leid …“ Sie presste sich eine weitere Handvoll Taschentücher an die Nase, als er ihr die Tür des Angehörigenzimmers aufhielt.

„Kein Problem“, versicherte er. „Ich bin immer hier, wenn Sie mich brauchen. Und natürlich auch für Peter. Lassen Sie uns möglichst bald einen Termin vereinbaren, um über das VAD zu sprechen.“

Sie nickte, doch ihre Miene verfinsterte sich erneut, als ihre Gedanken zweifellos von dem Picknick für Transplantationspatienten zu etwas sehr viel Unerfreulicherem zurückkehrten. Der Drang, ihr als Trost und Beruhigung eine Hand auf die Schulter zu legen, war so groß, dass Thomas sie zur Faust ballen musste, um sich zurückzuhalten.

„Äh …“ Er räusperte sich. „Möchten Sie, dass ich jemanden hole, der sich eine Weile zu Ihnen setzt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich komme zurecht. Gehen Sie nur. Ich muss mich nur ein wenig sammeln, bevor ich zu Penny zurückkehre. Sie soll nicht sehen, dass ich geweint habe.“

Man sah der Frau schon von Weitem ihren Kummer an, doch es war die steife Körperhaltung des Mannes neben ihr, die sofort Dr. Rebecca Scotts Aufmerksamkeit weckte, als sie den Aufzug verließ und zur kardiologischen Station am anderen Ende des Korridors ging.

Sie seufzte, lief etwas langsamer und unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen und sofort wieder in den Aufzug zu steigen. Flucht war keine Alternative. Sie hatte einen Patienten in der kardiologischen Abteilung, der morgen früh operiert werden sollte, und wusste, dass die Eltern beruhigende Worte brauchten. Dieses kleine Zeitfenster in ihrem geschäftigen Tag war die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, also musste sie einfach hoch erhobenen Hauptes in Kauf nehmen, dass sich ihr Weg mit dem ihres Exmannes kreuzte.

Wie traurig war es, dass sie Thomas allein daran erkannt hatte, wie distanziert er gegenüber seiner Gesprächspartnerin wirkte!

Er mochte seine Arbeit am Paddington wieder aufgenommen haben, doch der Thomas Wolfe, den Rebecca gekannt und geliebt hatte, war nicht zurückgekehrt.

Oh, er sah noch immer genauso aus: schlank, fit und so groß, dass er sie um Haupteslänge überragte. Seine Augen waren noch dieselben – sie hatten sie von Anfang an fasziniert, weil sie je nach Stimmung die Farbe änderten. Sie waren blau, wenn es ihm gut ging und grau, wenn er wütend, besorgt oder traurig war.

Als sie sich zum ersten Mal nach so langer Zeit wiedergesehen hatten, hatten sie die Farbe eines Schieferdachs an einem verregneten Tag besessen, und seitdem war ihr keine Veränderung aufgefallen. Er blieb ihr gegenüber auf Abstand, wie er es auch bei seinen Patienten und deren Familien tat.

Es würde nicht leicht sein, das hatte sie gewusst. Doch als sie von Thomas’ Rückkehr ans Paddington hörte, glaubte Rebecca, dass sie damit zurechtkäme. Sie fragte sich tatsächlich, ob sie einen Teil der Vergangenheit hinter sich lassen und vielleicht sogar eine Art Freundschaft aufbauen könnten.

Diese Hoffnung starb, als sie sich zum ersten Mal begegneten, ohne vorher miteinander gesprochen zu haben. Als er sie mit einem kühlen Blick bedachte, als wäre sie nur irgendeine Kollegin, mit der er irgendwann mal zusammengearbeitet hatte.

Der alte Thomas war nie so gewesen. Er hatte ein unbefangenes Lächeln besessen, womit er Kollegen häufig zu einem kurzen Plausch einlud. Er hatte gescherzt, mit seinen jungen Patienten gespielt und sich immer gut mit den Eltern verstanden – erst recht, nachdem er selbst Vater geworden war. Sie liebten ihn, weil er ihnen das Gefühl gab, dass sich der beste Arzt für sie einsetzte. Jemand, der genau verstand, wie schwierig alles war. Jemand, der sich um ihr Kind kümmerte, als wäre es sein eigenes.

Der neue Thomas mochte immer noch ein begnadeter Arzt sein, doch er war nur ein schwacher Abglanz des Mannes, der er einmal gewesen war.

Er hatte gelernt, zu den Menschen in seiner Umgebung auf Abstand zu gehen. Bei seinem Anblick wurde Rebecca das Herz schwer, doch vor allem war sie wütend. Wahrscheinlich hatte sich die Wut in den letzten Monaten angestaut, als sie die Behandlung ihrer Patienten mit einem gegenseitigen professionellen Respekt besprochen hatten, der an Kälte grenzte.

Sie sagten „Thomas“ und „Rebecca“ zueinander. Anders als früher kam ihnen niemals ein „Tom“ oder „Becca“ über die Lippen. Sie diskutierten über Testergebnisse, Medikamente und Eingriffe, als hätten die Patienten weder ein Privatleben noch besorgte Angehörige.

Es war schlimm genug, dass er ihre Ehe zerstört hatte, indem er sich in seine kalte harte Schale zurückgezogen hatte, doch damit kam sie zurecht. Immerhin besaß sie darin jahrelange Erfahrung. Mitanzusehen, welche Wirkung es auf andere hatte, war jedoch weitaus schwieriger. Immerhin sprach er mit Pennys Mutter. Sie beide kannten Julia, seit sie mit ihrem ersten und einzigen Kind schwanger gewesen war. Während der ersten Wochen und Monate im Leben des Mädchens hatte sie sich zu tausend Prozent auf Thomas und Rebecca verlassen können. Damals war er noch der alte Thomas gewesen.

Doch dann hatte er sich ausgeklinkt. Pennys anschließende Operationen hatte er anderen überlassen, genauso wie die Termine während der erfreulichen Jahre, die zeigten, wie gut es dem kleinen Mädchen ging und wie glücklich und hoffnungsvoll die Familie war. Er war nicht dabei gewesen, als die Angst zurückkehrte und sich ihr Zustand erneut verschlechterte, doch nun war er wieder mittendrin und tat so, als wäre Penelope Craig einfach irgendeine Patientin. Als gäbe es keine persönliche Verbindung …

Wie konnte er Julia einfach so stehen lassen, obwohl sie so aufgebracht war, dass sie das Gesicht in einer Handvoll Taschentüchern begrub und erneut Zuflucht im Angehörigenzimmer suchte, um ungestört zu sein?

Rebecca blieb stehen, als Thomas näher kam. Sie war sich bewusst, dass sie ihn wütend anstarrte, doch dieses Mal würde sie ihre Gefühle nicht hinter einer ruhigen, professionellen Maske verbergen.

„Was ist los?“, fragte sie und klang dabei forscher als beabsichtigt. „Warum ist Julia so aufgebracht?“

Er sah sich um und wollte offenbar sichergehen, dass niemand in Hörweite war. Dann blickte er zur Sitzgruppe vor den Fenstern, wo erstaunlicherweise niemand saß. Sie war weit genug von den Aufzugtüren entfernt, damit man dort ein Gespräch unter vier Augen führen konnte.

Nun gut. Es wäre unprofessionell gewesen, über Details eines Falles zu diskutieren, wenn andere mithörten. Rebecca folgte ihm, ohne sich jedoch in einem der Sessel niederzulassen. Thomas tat es ihr gleich.

„Ich wollte dir ein Memo schicken“, begann er. „In den nächsten Tagen treffe ich mich mit Julia und Peter, um mit ihnen über die Möglichkeit zu sprechen, dass Penelope ein VAD erhält. Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor ihr Herz versagt.“

„Okay …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Kein Wunder, dass Julia so aufgelöst war. Ein VAD war ein enormer Eingriff. Rebecca vertraute auf Thomas’ Urteil, und es würde ihnen definitiv mehr Zeit geben.

Er sah ihr nur einen Herzschlag lang in die Augen, doch sie ertappte sich dabei, wie sie ihm ins Gesicht starrte und darauf wartete, dass er sie wieder ansah. Sicher verstand er doch die Wirkung dessen, was er Julia mitgeteilt hatte? Wie konnte er einfach so gehen und sie alleine lassen?

Thomas betrachtete die Londoner Innenstadt durch die großen Sprossenfenster. Wahrscheinlich sah er die geschäftigen Hauptstraßen mit den roten Doppeldeckerbussen und den Menschenmengen, die an Kreuzungen warteten oder versuchten, ein schwarzes Taxi zu rufen. Vielleicht glitt sein Blick auch über die grünen Baumwipfel im nahegelegenen Regent’s Park. „Hast du Erfahrung mit VADs?“, fragte er und riss sie aus ihren Gedanken. „Wärst du einverstanden, den Eingriff vorzunehmen?“

„Ja, natürlich. Es ist eine seltene Operation, aber ich war schon an einigen beteiligt. Möchtest du, dass ich bei dem Treffen mit Pennys Eltern dabei bin und es mit ihnen bespreche?“

„Lass uns damit warten, bis es nicht mehr anders geht. Ich kann ihnen erklären, was es bedeutet und warum es eine gute Alternative ist.“

Rebecca ließ ihren Blick ebenfalls zum Fenster schweifen. Sie trat näher und sah hinunter. Die Demonstranten standen noch immer vor den Toren und hielten ihre Schilder hoch. Sie waren schon seit Monaten da – seit die drohende Schließung publik geworden war. Der Wert dieses erstklassigen Grundstücks in der Londoner Innenstadt war so hoch, dass das Direktorium tatsächlich überlegte, das Paddington Children’s Hospital zu verkaufen und mit dem Riverside Hospital außerhalb der Stadtgrenze zusammenzulegen, worüber nicht nur das Personal entsetzt war.

Dank der unglaublichen Spende von Scheich Idris Al Khalil, dessen Tochter im Paddington behandelt worden war, war die Gefahr einer Schließung erstmal gebannt. Die erstaunliche Geldsumme hatte einen Zufluss neuer Spenden verursacht, und die Presse stand hinter sämtlichen Mitarbeitern, Patienten und Familien, die fest entschlossen waren und hierbleiben würden. Trotz allem ließen die Demonstranten nicht locker. Sie wollten ausharren, bis der Erfolg sicher war. Die Slogans auf den Plakaten klangen inzwischen so vertraut wie die umgebenden Straßennamen.

Rettet unser Krankenhaus

Kindergesundheit vor Reichtum

Rebecca war froh, dass es bis zur Entscheidung nicht mehr lange dauern würde. Die Dinge wandten sich zum Guten – für Paddington und vielleicht auch für Penny.

„Es ist eine sinnvolle Alternative.“ Sie nickte. „Ich fände es schön, wenn sie eine Weile ohne Rollstuhl zurechtkäme.“

„Außerdem würde sie dadurch an die Spitze der Warteliste für ein Spenderherz rutschen. Hoffentlich ist rechtzeitig ein Organ verfügbar, bevor es zu Komplikationen kommt.“

Rebeccas Optimismus ebbte ab. Stattdessen lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie etwas Zustimmendes murmeln und sich dann entschuldigen und nach ihrem Patienten sehen sollte.

Ihr Herz sendete jedoch eine völlig andere Botschaft: einen fast verzweifelten, innerlichen Aufschrei und die Frage, wo der Mann geblieben war, der einst Thomas gewesen war. War in dieser Hülle nicht einmal ein Bruchteil von ihm übrig geblieben?

„Ja“, hörte sie sich in einem eigenartig leisen und grimmigen Tonfall sagen. „Drücken wir die Daumen, dass irgendein Kind in Pennys Alter einen schrecklichen Unfall erleidet und die Eltern tatsächlich zustimmen, dass er – oder sie – als Ersatzteillager benutzt wird.“

Thomas war schockiert, das spürte sie. Sie war es ja selbst. Für einen Transplantationschirurgen war eine solche Aussage höchst unprofessionell, doch sie war ihr als Privatmensch herausgerutscht. Nur jemand, der diese herzzerreißende Entscheidung einmal selbst hatte treffen müssen, konnte ihre Worte nachvollziehen.

Außerdem brach sie gerade die unausgesprochene Regel, dass es zwischen ihr und Thomas nichts Persönliches mehr gab. Und sie tat es nicht etwa durch eine beiläufig freundliche Frage wie: „Wie geht es dir?“ oder „Hattest du ein schönes Wochenende?“ Nein. Sie warf eine verbale Granate in den Bunker, der ihre intimsten und schmerzlichsten gemeinsamen Erinnerungen enthielt.

Und das öffentlich. Bei der Arbeit.

Was dachte sie sich nur dabei? Es war keine Entschuldigung, dass sie wütend auf Thomas war, weil er zu seinen Patienten und deren Eltern auf Distanz blieb. Vor allem, weil sie genau wusste, weshalb er so geworden war. Oder war dies das eigentliche Problem? Dass sie es gewusst und verzweifelt versucht hatte zu helfen, aber völlig gescheitert war?

„Entschuldige“, murmelte sie. „Für mich ist es nie ein anonymes Spenderorgan. Ich muss jedes Mal hinfahren, um es zu entnehmen, daher bin ich an beiden Seiten der Geschichte beteiligt.“

„Du hast dich dazu entschieden, es zu tun“, entgegnete Thomas. Seine Stimme war eisig. Er wollte also wirklich nicht darüber sprechen.

Er sah sie nicht einmal an, als er ihr den Vorwurf machte. Stattdessen starrte er wieder aus dem verdammten Fenster. Rebecca schämte sich wegen ihres Ausbruchs, doch ihre Wut war nicht erloschen.

„Und du hast dich dazu entschieden, die Augen zu verschließen.“ Ihr Flüstern klang fast wie ein Fauchen. „Wegzulaufen. Wie du es immer getan hast.“

Es hatte keinen Sinn, noch irgendetwas zu sagen. Vielleicht war ohnehin nichts mehr zu sagen.

Also wandte sie sich ab und ging.

2. KAPITEL

„Die Grenze ist überschritten.“

„Ach?“ Thomas rief am Laptop die PowerPoint-Präsentation auf, um sie auf die Leinwand des kleinen Besprechungsraums zu projizieren. „Welche Grenze, Rosie?“

Was ihn betraf, so wusste er zweifellos, welche Grenze überschritten worden war. Seit Rebeccas erstaunlichem Ausbruch war eine Woche vergangen, und noch immer hatte er sich nicht von dem Entsetzen darüber erholt, wie unglaublich unprofessionell sie gewesen war.

Was, wenn jemand mitgehört hatte? Die Presse war noch immer hinter jeder Story her. Man musste sich nur die Schlagzeile vorstellen, dass die führende Transplantationschirurgin des Paddington Children’s Hospitals Spenderorgane als „Ersatzteile“ bezeichnete.

Jemand anders hätte die Angelegenheit zweifellos weitergegeben. Vielleicht sogar eine förmliche Beschwerde eingereicht. War es das, worauf Rosie anspielte? Hatte es sich durch den Tratsch im Krankenhaus schon herumgesprochen?

Nein. Ihr Ausdruck wirkte viel zu fröhlich, es konnte unmöglich um einen Skandal unter den Mitarbeitern gehen. Er konzentrierte sich wieder auf ihre Worte.

„… und jetzt, wo die Grenze dank der Spendenflut überschritten ist, springt die Regierung ein, um das Defizit auszugleichen. Es fehlt nur noch die Unterschrift des Gesundheitsministers, und dann ist Paddingtons Existenz offiziell gesichert. Es wird keine Fusion geben.“

„Das sind gute Neuigkeiten.“ Thomas nahm den Laserpointer aus der Halterung an der Tafel. „Äußerst gute Neuigkeiten“, ergänzte er, als er merkte, dass Rosie über seine mangelnde Begeisterung enttäuscht war.

„Mhm.“ Sie wirkte skeptisch. „Es soll demnächst eine große Party geben, sobald alles endlich unter Dach und Fach ist, aber ein paar Mitarbeiter wollen sich am Freitag im Frog and Peach treffen, um vorab zu feiern. Ich hoffe, wir sehen Sie dort?“

Sie lächelte, wartete seine Antwort jedoch nicht ab. Inzwischen kamen Leute zur Besprechung, die noch nichts von der großen Neuigkeit des Tages gehört hatten und angemessener reagieren würden. Vielleicht einer der Physiotherapeuten. Oder Louise, die leitende Ernährungswissenschaftlerin des Krankenhauses. Eine der psychologischen Mitarbeiterinnen war ebenfalls gerade eingetroffen, und Thomas nickte dem Leiter der kardiologischen Intensivstation zur Begrüßung zu, der direkt hinter ihr durch die Tür kam.

Jeder im Team, der direkt in Penelope Craigs Fall involviert war oder es sein würde, war zu dieser Besprechung eingeladen worden, einschließlich Rosie als eine der Schwestern, die das Mädchen während seiner zahlreichen Krankenhausaufenthalte gepflegt hatten. Die Einzige, die zu Beginn des Termins um elf Uhr fehlte, war die Chirurgin.

Rebecca Scott.

Wenn er es sich genau überlegte, hatte er sie die ganze Woche über nicht gesehen. Nicht, dass er sich gewünscht hätte, dass sich ihre Wege kreuzten. Er war bei der letzten Unterhaltung nicht nur über ihren Mangel an Professionalität entsetzt gewesen. Oder darüber, dass sie so unerwartet die Grenzen ihrer neuen Beziehung überschritten hatte.

Nein. Thomas war es nicht gelungen, das Echo ihrer heftigen spitzen Abschiedsbemerkung abzuschütteln: dass er die Augen verschloss und weglief. Und dass er es schon immer getan hatte.

Hielt sie ihn wirklich für einen solchen Feigling?

Er war kein Feigling. Begriff Rebecca denn nicht, wie viel Kraft es ihn gekostet hatte, mit dem fertigzuwerden, was sie durchlitten hatten? Wie schwer es gewesen war, einen Schritt nach dem anderen zu tun und weiterzumachen? Offenbar nicht.

Kein Wunder, dass ihre Ehe so leicht zerbrochen war. Kein Wunder, dass er sich wie ein riesiger Versager fühlte – als Ehemann und als Vater.

Aber es erneut ans Licht zu zerren und es ihm so ins Gesicht zu schleudern … Das war unnötig gewesen. Sogar beleidigend. Und ja, er war wütend.

„Entschuldigen Sie unsere Verspätung …“ Die Tür ging auf, und Rebecca eilte gefolgt von ihrem Assistenzarzt herein, um ihren Platz am ovalen Tisch einzunehmen.

Thomas ertappte sich dabei, wie er den Nachzüglern einen wütenden Blick zuwarf.

Rebecca sah ihn ebenso wütend an. „Nach unserem letzten Fall sind wir im Aufwachraum aufgehalten worden. Ich konnte nicht gehen, bevor ich sicher war, dass mein Patient stabil ist.“

„Natürlich nicht“, antwortete jemand. „Das hätten wir nie von Ihnen verlangt.“

Thomas wandte sich als Erster ab. Gerade rechtzeitig, um die hochgezogenen Brauen und Blicke der anderen Anwesenden zu bemerken. „Kein Problem“, erwiderte er ruhig. „Aber lassen Sie uns jetzt anfangen. Wir alle sind sehr beschäftigt.“

Als er sich der Leinwand zuwandte und klickte, um die erste Folie einzublenden, war die Anspannung im Raum hinter ihm geradezu greifbar.

„Wie Sie wissen, sind wir hier, um einen Fall zu diskutieren, mit dem wir alle zu tun haben – Penelope Craig, die aktuell stationäre Patientin in unserer kardiologischen Abteilung ist. Für diejenigen von Ihnen, die in den letzten Jahren nicht direkt in den Fall involviert waren, ist hier eine kurze Krankengeschichte.“

Die Folie zeigte eine Liste von Stichpunkten – die Zusammenfassung eines klinischen Falls, auf knappe Stichwörter reduziert, sodass eine Krise nach der anderen wie bloße Markierungen auf einem Zeitstrahl wirkte.

„Die Diagnose eines hypoplastischen Linksherzsyndroms wurde vor der Geburt gestellt, also kam Penelope per Kaiserschnitt zur Welt und wurde direkt auf die kardiologische Intensivstation verlegt. Ihren ersten Eingriff hatte sie im Alter von dreizehn Tagen.“

Er hatte der Operation von der Galerie aus zugesehen. Rebecca war damals chirurgische Herz-Lungen-Assistenzärztin gewesen, und es war der schwierigste Fall, an dem sie zu dem Zeitpunkt mitgewirkt hatte. Zuvor war sie die halbe Nacht wachgeblieben und war immer wieder die einzelnen Schritte des Eingriffs durchgegangen. Thomas war mit ihr aufgeblieben und hatte versucht, ihr Selbstvertrauen zu stärken. Als er eine kurze Atempause machte, trat ihm eine weitere Erinnerung kristallklar vor Augen.

Er hatte damals in der vordersten Reihe der Galerie gesessen und auf das winzige Wesen auf dem OP-Tisch hinabgeblickt, über das sich große Menschen mit Mundschutz und Kitteln beugten. Durch den Lautsprecher hörte er, wie der chirurgische Facharzt Rebecca auftrug, die winzige Brust zuzunähen. Sie tauschten die Plätze, Rebecca blickte für einen Sekundenbruchteil auf und sah Thomas durch das Fenster in die Augen – wie um sich zu versichern, dass er noch immer da war und sie bei jedem Schritt begleitete. Und er hatte gelächelt, genickt und ihr die stille Botschaft übermittelt, dass er an sie glaubte. Dass sie es schaffen und es gut machen würde.

Dass er stolz auf sie war …

Rebecca durfte damals den Großteil jenes Eingriffs vornehmen, und darauf war sie sehr stolz gewesen. Sie hatten einen Babysitter für Gwen besorgt und waren ausgegangen, um ihren Erfolg mit einem Abendessen, Champagner und einem ausgiebigen Tanz in ihrem Lieblingsrestaurant zu feiern.

Diese gemeinsamen Abende hatten stets einen besonderen Zauber besessen. Es spielte keine Rolle, wie hektisch die Stunden und Tage zuvor gewesen waren oder wie müde sie waren, wenn sie aufbrachen. Irgendwie gelang es ihnen immer, an die Verbundenheit anzuknüpfen, die sie seit ihrem allerersten Rendezvous empfanden – das Gefühl, dass ihre Liebe unbesiegbar war. Dass es in ihrem Leben nie jemand anderen geben könnte.

Damals wäre es ihnen unmöglich erschienen, dass sie am Abend nach dem Eingriff zum letzten Mal miteinander ausgehen würden. So unmöglich wie der Verlust ihres kostbaren Kindes.

Er wusste nicht, ob Rebecca auch den letzten großen Eingriff vorgenommen hatte, um die Funktion von Penelopes Herz zu verbessern. Zu dem Zeitpunkt war er bereits gegangen und hatte nach der privaten Tragödie, die ihr gemeinsames Leben zerstört hatte, eine neue Stelle in der Erwachsenenkardiologie eines großen Krankenhauses im Norden angenommen.

Er war weggelaufen … Wie er es immer tat …

Thomas räusperte sich, während er rasch die Liste der neueren Krankenhausaufenthalte durchging. „Im Laufe der letzten Woche hat sich Penelopes Zustand zusehends verschlechtert, daher besteht dringender Handlungsbedarf.“

Die anschließende Folie zeigte das Bild eines Geräts, das wie eine kleine Saugglocke aus Gummi aussah. Oben war ein einzelner Schlauch befestigt, und unten ragten zwei weitere heraus.

„Für diejenigen von Ihnen, die nicht damit vertraut sind: Dies ist ein VAD, ein ventrikuläres Unterstützungssystem. Die Eltern sind einverstanden, und Penelope erhält ein VAD, sobald ein OP-Saal frei wird.“ Er atmete tief durch. „Dr. Scott? Vielleicht möchten Sie erklären, was bei der Operation gemacht wird?“

Die Verwendung ihres offiziellen Titels brachte die Leute am Tisch erneut dazu, die Brauen hochzuziehen und einander vielsagende Blicke zuzuwerfen. Bildete er es sich ein, oder war diese Besprechung für alle Anwesenden äußerst unangenehm?

„Natürlich.“ Rebecca musterte kurz alle am Tisch – außer Thomas. „Simpel ausgedrückt handelt es sich um schlichte Klempnerarbeit. Das Gerät ist eine Pumpe, die die Spitze der linken Herzkammer als Einfluss benutzt und einen Ausfluss zur Aorta ermöglicht, indem es die fehlerhafte Herzkammer umgeht.“

Thomas runzelte die Stirn. Es war in Ordnung, es für die Teammitglieder ohne medizinischen Hintergrund, wie zum Beispiel die Ernährungswissenschaftlerin und die Psychologin, mit allgemeinverständlichen Begriffen zu erklären, doch für seine Ohren klang es so simpel, dass es fast schon respektlos war. Wie die Bezeichnung eines Spenderorgans als Ersatzteil?

Die Wut saß ihm wie ein schwerer Stein im Magen. Kein Wunder, dass er in den letzten Tagen keinen Appetit gehabt hatte. Würde es noch schlimmer werden, wenn er so eng mit Rebecca an Penelopes Fall arbeitete? Vielleicht waren die unerwünschten Erinnerungen, die ihn während seines kurzen Vortrags eingeholt hatten, eine Warnung, dass die Zusammenarbeit mit seiner Exfrau zunehmend schwerer werden würde. Die Aussicht war mehr als beängstigend, erst recht, weil sich anscheinend jeder hier der Spannung zwischen ihnen bewusst war.

„Natürlich ist es in Wahrheit nicht ganz so simpel“, fuhr Rebecca fort. „Es ist ein großer und potenziell schwieriger Eingriff, und es gibt Komplikationen, die wir hoffentlich vermeiden können.“

„Welche zum Beispiel?“ Die Frage kam von einem der Physiotherapeuten.

„Blutungen. Schlaganfälle. Infektionen. Herzrhythmusstörungen.“ Rebecca zählte die möglichen Katastrophen an den Fingern ab. „Manche würden vielleicht nicht gleich auftreten, wie zum Beispiel Nierenversagen oder Leberfunktionsstörungen. Aber wir tun unser Bestes, um intraoperative Komplikationen wie Luftembolien zu vermeiden. Was ich damit ausdrücken will, ist, dass es zwar Risiken gibt, doch alle sind der Meinung, dass in Pennys Fall die potenziellen Vorteile überwiegen.“

Sie lächelte gerührt. „Wie die meisten von Ihnen wissen, ist Penny Craig eine dieser Patientinnen, die man einfach ins Herz schließen muss, und wir kennen sie schon seit ihrer Geburt. Ich bin mir sicher, dass wir alles für sie tun werden.“ Ihr Lächeln verblasste etwas. „Zumindest weiß ich, dass ich das tun werde.“

Das zustimmende Murmeln am Tisch klang für eine Besprechung wie diese ungewöhnlich betroffen. Alle nickten feierlich. Rosie blinzelte, als würde sie mit den Tränen kämpfen.

Um Himmels willen … Begriff denn niemand, wie destruktiv es sein konnte, wenn man sich zu tief in etwas verwickeln ließ? Bemerkte die psychologische Mitarbeiterin diese Atmosphäre und machte sich im Geiste eine Notiz, dass in nicht allzu ferner Zukunft einige Leute eine Therapie brauchten, falls die Dinge nicht so liefen wie erhofft?

Thomas erhob die Stimme. „Das Teamwork ist zweifellos entscheidend, und wir hoffen darauf, innerhalb kürzester Zeit eine dramatische Verbesserung des Zustands dieser Patientin zu sehen.“ Er schaltete den Laserpointer aus. „Ich danke Ihnen allen fürs Kommen. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

Ein Stimmengewirr erhob sich, und mehrere Pager piepsten. Rasch leerte sich der Raum, denn auf alle warteten anderswo wichtige Aufgaben. Thomas packte den Laptop ein und war in Gedanken bereits beim nächsten Patienten.

Er war sehr überrascht, als er sich umdrehte und feststellte, dass er nicht allein im Zimmer war. Rebecca stand am anderen Ende des Tisches.

„Wir müssen reden“, sagte sie.

Thomas erwiderte nichts. Da ihre letzte private Unterhaltung recht verstörend gewesen war, war er sich nicht sicher, ob er ein weiteres Gespräch wollte, das alles noch schlimmer machte.

„Sicher stimmst du mir zu, dass wir mit diesen Spannungen zwischen uns nicht zusammenarbeiten können. Erst recht nicht in einem Fall wie diesem. Jeder ist sich dessen bewusst, und es wirkt sich destruktiv auf das ganze Team aus.“

Dem konnte er nicht widersprechen. Und zu seiner Schande wusste er, dass er zum Teil daran schuld war. Es gab keinen Grund, Rebecca wegen ihrer Beteiligung an Penelopes Fall böse zu sein. Er ließ zu, dass persönlicher Ballast seine Beziehung zu einer Kollegin in einem solchen Ausmaß beeinträchtigte, dass es sogar schwierig war, ihr in diesem Moment in die Augen zu sehen.

Er blickte auf den Laptop in seinen Händen. „Und was schlägst du vor? Dass wir einen anderen Kardiologen holen? Falls du es nicht bemerkt hast: Seit der drohenden Fusion ist man hier unterbesetzt. Darum habe ich zugestimmt, wieder eine feste Stelle anzunehmen.“

Er hob kurz den Kopf und stellte fest, dass Rebecca ihn anstarrte. Ununterbrochen und unerbittlich. Einen Herzschlag lang sah er ihr in die Augen. Und dann noch einen, als ihre dunklen Augen mit der Erinnerung verschmolzen, die ihm während seines Vortrags in den Sinn gekommen war: an den Moment, als Rebecca zu ihm aufgesehen hatte, um sich im Angesicht ihrer größten Herausforderung seiner Unterstützung zu versichern.

In einem anderen Leben.

Als es so normal wie Atmen gewesen war, einander den Rücken zu stärken. Als sie auf gemeinsame Erfolge stolz waren und Fehlschläge als Erfahrungen werteten, die sie zu besseren Menschen machten. Ein Leben, in dem es so viel Lachen gegeben hatte.

So viel Liebe …

Es war lange her, dass ihn dieser Verlust zuletzt so schwer getroffen hatte. Die Traurigkeit nahm seiner Wut die Schärfe.

„Das meine ich nicht“, antwortete sie leise. „Penny hat die bestmögliche Behandlung verdient, und von der eigentlichen Operation abgesehen, bist du derjenige, der sie ihr bieten kann.“

„Und du bist diejenige, die sie am besten operieren kann“, erwiderte er. „Auch das hat sie verdient.“ Er blinzelte langsam und sah ihr wieder in die Augen. „Was schlägst du also vor?“

„Dass wir reden. Nicht hier“, fügte sie rasch hinzu. „Irgendwo, wo es …“ Sie räusperte sich. „Irgendwo anders.“

Hatte sie einen privateren Ort vorschlagen wollen? Wie das Haus, in dem sie mit Gwen gelebt hatten – das Haus, das Rebecca sich geweigert hatte zu verkaufen?

Das konnte er nicht. Was, wenn noch immer die Bilder an den Wänden hingen? Am Ende stand sogar noch der alte Korb mit den Spielsachen dort.

„Nach der Arbeit gehe ich spazieren“, sagte sie. „Durch den Regent’s Park und über Primrose Hill. Es ist ein schöner Tag. Warum begleitest du mich nicht?“

Ein Spaziergang. An einem öffentlichen Ort. Genug Platz, dass niemand mithören würde, und die Chance zu fliehen, wenn sie aufgrund der Spannungen auf keinen gemeinsamen Nenner kamen.

Doch es musste ihnen gelingen, wenn sie zusammenarbeiten wollten, nicht wahr?

Wenn nicht, musste Thomas die Unfähigkeit, professionell zu bleiben, der Liste seiner Unzulänglichkeiten hinzufügen. Und diese wäre nicht privater Natur – sie würde für Klatsch sorgen und ihnen beiden beruflich schaden.

Und seine Karriere war alles, was ihm noch geblieben war.

„Gut.“ Er nickte. „Pieps mich an, wenn du Feierabend machst. Ich werde hier sein.“

Eine Besprechung schloss sich direkt an die nächste an.

Rebecca blieb gerade genug Zeit, um einen Ordner aus ihrem Büro zu holen, bevor sie sich auf den Weg ins Café im Erdgeschoss machte, wo das Organisationskomitee des Teddybärenpicknicks bereits auf sie wartete.

Die jährliche Veranstaltung, bei deren Gründung Rebecca vor vier Jahren eine entscheidende Rolle gespielt hatte, stand kurz bevor, und dieses Mal versprach es, die bisher größte und beste zu werden.

Die Vorsitzende des Komitees – die Mutter eines Kindes mit Mukoviszidose, das vor sechs Jahren eine doppelte Lungentransplantation erhalten hatte – winkte Rebecca freudig zu, während sie sich einen Weg durch das volle Café gegenüber der Apotheke im Erdgeschoss bahnte.

„Wir mussten leider ohne Sie anfangen.“

„Kein Problem, Janice. Tut mir leid, dass ich zu spät komme.“ Es schien ihr heute ständig zu passieren, doch wenigstens warf ihr hier niemand böse Blicke zu. Janice strahlte regelrecht.

„Ich habe gute Neuigkeiten. Ihr Vorschlag, den Präsidenten der World Transplant Games Federation zu kontaktieren, hat sich wirklich gelohnt. Es wird uns schwerfallen, eine Wahl unter den zahlreichen Rednern zu treffen.“

„Das ist fantastisch.“ Rebecca nickte, konnte sich aber noch nicht ganz auf die neue Besprechung konzentrieren. Wie Thomas sie angesehen hatte – nachdem er gefragt hatte, ob sie für Pennys Fall einen neuen Kardiologen heranziehen wollte …

Die Spannung war noch immer vorhanden. Ebenso die unterschwellige Wut, weil sie ihm vorgeworfen hatte, dass er immer weglief. Doch da war noch etwas anderes gewesen. Eine Traurigkeit, die in ihr den Wunsch geweckt hatte, den Tisch zu umrunden und ihn in die Arme zu schließen.

Ihm zu sagen, wie leid es ihr tat. Und zwar alles.

Das an sich war schon ein kleiner Schock. Sie war längst über ihre zerbrochene Ehe hinweg. Und über Thomas.

Welcher vernünftige Mensch würde bei einem Partner bleiben, der einfach nicht da war, wenn es darauf ankam?

„Okay.“ Janice atmete hörbar durch. „Fahren wir mit der Tagesordnung fort. Wir haben viel zu besprechen. Ist die Hüpfburg gemietet?“

„Ja. Sie ist riesig. Ich habe ein Foto hier …“

„Oh, sie ist perfekt“, meinte jemand. „Und wie passend, da Paddington doch die Spitznamen ‚die Burg‘ oder auch ‚das Schloss‘ trägt.“

Das Paddington Children’s Hospital war ein altes viktorianisches Gebäude aus rotem Backstein und verfügte tatsächlich über eigene Türme – der größte war eine markante Kuppel mit Schieferdach, die über dem Empfangsbereich am Haupteingang aufragte.

„Wichtiger ist es, einen Platz für sie zu finden. Ich bin mir nicht sicher, ob die Aufteilung letztes Jahr ideal war, und dieses Mal haben wir so viele zusätzliche Attraktionen. Der Zoo hat angeboten, ein Ponyreiten zu organisieren.“ Janice ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. „Ich weiß, dass der Londoner Zoo einer unserer größten Sponsoren ist. Darum gehen wir auf die andere Straßenseite nach Primrose Hill, aber wird das ausreichen? Müssen wir das Fest in einen Teil von Regent’s Park verlegen?“

„Ich bin heute Abend dort“, erzählte Rebecca. „Ich nehme den Entwurf des Lageplans mit und sehe es mir an, aber ich glaube, es wird funktionieren. Letztes Jahr hatten wir jede Menge Platz, und es war schön, auf der Spitze des Hügels zu stehen und alles überblicken zu können. Ein paar der Fotos waren sagenhaft, oder?“

Sie biss sich auf die Unterlippe, und erneut schweiften ihre Gedanken ab, während die anderen Komiteemitglieder an den letztjährigen Erfolg zurückdachten. Hätte sie Thomas den Grund verraten sollen, weshalb sie heute nach Feierabend vorhatte, im Park spazieren zu gehen?

Nein. Wenn er wüsste, dass es etwas mit den Kindern und Familien von Spendern und Empfängern transplantierter Organe zu tun hatte, würde er sofort die Flucht ergreifen.

Sie mussten wirklich miteinander reden, wenn sie zusammenarbeiten wollten, aber er brauchte nicht den wahren Grund für ihre Anwesenheit dort zu erfahren, oder? Es war Sommer, und die Abende waren lang. Sie konnte jederzeit länger bleiben als er, sich mit dem Plan in den Händen auf die Spitze des Hügels setzen und Notizen machen, wo Änderungen nötig waren.

Es war wichtig, dass sie etwas Zeit miteinander verbrachten. Bevor die Dinge zwischen ihnen noch komplizierter wurden.

Und sie freute sich darauf. Irgendwie. In rein beruflicher Hinsicht natürlich. Sie würde sich besser fühlen, sobald sie die Chance erhielt, sich für den verbalen Angriff zu entschuldigen. Thomas hatte ihn nicht verdient. Sie wusste, er gab auf seine Art sein Bestes, wahrscheinlich schon die ganze Zeit. Doch er war traurig und erkannte nicht, dass er sich auf dem falschen Weg befand. Dass er deshalb umso mehr litt, und zwar mehr als alle anderen.

Allerdings gab es einen triftigen Grund, warum es vielleicht keine so gute Idee gewesen war, Thomas zu diesem Spaziergang einzuladen. In dem Moment war ihr nicht bewusst gewesen, dass ein Spaziergang in Primrose Hill wehmütige Erinnerungen an ihr allererstes Rendezvous wecken würde.

Vielleicht wusste er es nicht mehr. Und wenn doch, spielte es keine Rolle. Allein schon, dass sie und Thomas dieselbe Luft atmeten, weckte so viele Erinnerungen, und irgendwie mussten sie einen Weg finden, damit umzugehen.

3. KAPITEL

Der warme Sommerabend trug nicht viel dazu bei, die eisige Atmosphäre aufzutauen, die zwischen Thomas und Rebecca herrschte.

Während sie zügig zum Regent’s Park liefen, ging ihr Schweigen im Straßenlärm unter, doch als sie einem Pfad in die weitläufige grüne Anlage folgten, fiel die Stille zunehmend auf.

„Danke, dass du bereit warst mitzukommen“, begann Rebecca schließlich.

„Wie du schon sagtest, müssen wir einen Weg finden zusammenzuarbeiten, ohne dass unser persönlicher Ballast die Behandlung der Patienten erschwert.“

Es klang, als hätte er diese kleine Ansprache geprobt. Vielleicht hatte er sie im Laufe des Tages mehrmals im Geiste wiederholt. Hatte er innerlich mit sich gerungen, ob er es ertrug, Zeit mit ihr zu verbringen?

Sie atmete tief durch und gab sich Mühe, nicht laut zu seufzen. Er war hier und lief neben ihr, das war ein guter Anfang. Vielleicht war es zu früh, in das Wespennest zu stechen, das ihren „persönlichen Ballast“ darstellte. Wenn es Thomas gelang, sich ein wenig zu entspannen, würde das alles sehr viel einfacher machen. Und wer entspannte sich nicht bei einem Spaziergang wie diesem?

Der See neben ihnen war an einem so warmen und sonnigen Abend ein beliebtes Ausflugsziel. Zahlreiche Boote schwammen darauf – klassische hölzerne Ruderboote und blaugelbe Paddelboote. Am grasbewachsenen Ufer hatten Familien und Grüppchen ihre Handtücher und Klappstühle verteilt und bereiteten sich auf ein Picknick vor. Hunde jagten Bällen nach, und Kinder spielten am Wasser.

Und es gab Enten.

Natürlich. Wie oft waren Rebecca und Thomas mit Gwen an den seltenen Tagen hergekommen, an denen sie weder bei ihrem Kindermädchen noch im Kindergarten gewesen war? Schon bevor sie laufen oder den Enten Brotstücke zuwerfen konnte, waren sie regelmäßig mit ihr hier gewesen.

Nicht, dass sie Thomas an diese Zeiten erinnern würde. Oder zugeben würde, dass sie noch immer Brotstücke in einer Tüte im Gefrierfach sammelte, bis ihr einfiel, dass sie inzwischen weder Zeit noch Lust zum Enten füttern hatte. Niemand, der sie sah, würde ahnen, welche gemeinsame Geschichte sie verband. Man würde den hochgewachsenen Mann mit der Aktentasche und seine Begleiterin mit der Laptoptasche über der Schulter für Arbeitskollegen halten, die nach Feierabend zufällig zusammen nach Hause gingen.

Genau so war es auch, seit Thomas wieder nach Paddington zurückgekehrt war und ihre Beziehung sich innerhalb fester Grenzen bewegte.

Bis auf die Tatsache, dass Thomas lächelte. Fast. Er hob die Hand, um sich vor der blendenden Sonne zu schützen, und beobachtete die Bootsszene auf dem See. Seine Lippen bildeten definitiv keine gerade Linie. Dann atmete er hörbar aus, was vielleicht ein unterdrücktes Lachen darstellte. „Heute schwimmt niemand“, murmelte er.

Es war kein See, in dem die Leute schwammen. Außer natürlich, sie hatten Pech und fielen aus dem Boot. Wie es ihr an jenem Tag passiert war …

Großer Gott. Sie hatte es bewusst vermieden, in das Wespennest namens „gemeinsame Erinnerungen“ zu stechen, doch Thomas hatte nicht eine Sekunde gezögert.

Gut, rückblickend war es lustig, aber in dem Moment war es das nicht gewesen. Thomas hatte die romantische Idee gehabt, bei einer Verabredung mit seiner Freundin über einen schönen See zu rudern, und Rebecca hatte zu der Gelegenheit ein leichtes Sommerkleid und einen Strohhut mit breiter Krempe getragen.

Es war ein sonniger Tag, aber es gab eine ordentliche Brise. Stark genug, um ihr den Hut vom Kopf und ins Wasser zu wehen. Thomas gab sich Mühe, nah genug hinzurudern, damit sie sich aus dem Boot lehnen und den Hut zurückholen konnte, doch es gelang ihm nicht. Und sie lehnte sich ein Stück zu weit hinaus.

Das Wasser war seicht genug, um darin zu stehen, doch sie war komplett durchnässt, das dünne Kleid klebte ihr am Körper und war so durchsichtig, dass man ihre Unterwäsche sah. Der Schreck über den Sturz ließ sie in hilfloses Gelächter ausbrechen, doch sie verstummte, als sie Thomas’ Blick sah. Die nassen Sachen loszuwerden und ein heißes Bad zu nehmen waren nicht die wahren Gründe gewesen, weshalb sie danach nicht schnell genug nach Hause hatten fahren können.

Und nun, als Thomas die Erinnerung hervorholte, hatte Rebecca den Eindruck, als wäre eine Jalousie hochgezogen worden. In seinem Blick lag ein Glanz, der ihr das Gefühl gab, als wäre sie in die Vergangenheit gereist. Als wäre alles, was sie miteinander erlebt hatten, noch immer da – und würde einfach darauf warten, wieder zum Leben erweckt zu werden.

Es war das Letzte, womit Rebecca gerechnet hatte. Es war zu viel. Nicht das, was sie beabsichtigt hatte. Sie wollte sich dieser Stelle in ihrer Erinnerung und ihrem Herzen nicht nähern, denn sie jagte ihr Angst ein.

Sie musste den Blickkontakt unterbrechen. Die Erinnerung entschieden dorthin verbannen, wo sie hingehörte – in die Vergangenheit.

„Kein vernünftiger Mensch würde das tun“, hörte sie sich sagen. „Aber wir machen alle Fehler, nicht wahr?“

Sie hatte nicht schnell genug weggeschaut und noch gesehen, wie der Glanz in seinen Augen verblasste. Ihre Worte hingen in der Luft, während sie weiterliefen, und nahmen eine ganz neue Bedeutung an – dass der Fehler, der passiert war, ihre ganze Beziehung umfasste?

Die milde Abendluft kam ihr durch die wachsende Anspannung zunehmend stickig vor. Rebecca begriff, dass es ihre Schuld war. Sie hatte die Chance gehabt, das Eis zu brechen und ihr Verhältnis zueinander deutlich zu entspannen, doch sie hatte sie ruiniert, weil sie so entschieden zurückgewichen war. Vielleicht war es an ihr, eine andere Möglichkeit zu finden, um die Spannung zu entschärfen.

„Willst du durch Queen Mary’s Garten laufen?“

„Warum nicht? Er ist wunderschön. Die Rosen blühen gerade.“

Thomas ging voran durch das verschnörkelte Tor und wählte einen Weg durch Gärten mit makellos geschnittenen Hecken, die ein wahres Farbenmeer umrahmten. Rebecca atmete den betörenden Duft altmodischer Rosen ein, doch Thomas schien von der Schönheit, die sie umgab, keine Notiz zu nehmen.

„Wie sieht es bei dir Ende der Woche mit OP-Terminen aus?“

„Ganz gut, aber das kann sich jeden Moment ändern, sobald ein Transplantationsorgan verfügbar wird – besonders, wenn ich irgendwo hinfliegen muss, um es abzuholen. Ich habe zwei Kinder mit Mukoviszidose auf der Station, die verzweifelt auf eine neue Lunge hoffen, und ich kann auch bei anderen Fällen gerufen werden. Vor langer Zeit habe ich meine Ausbildung mit der Transplantation von Nieren und Lebern begonnen. Noch immer helfe ich liebend gern bei solchen Operationen, wenn ich gebraucht werde.“

„Vor langer Zeit? Fünf Jahre sind nicht lang.“

„Mhm.“ Der Laut war neutral. Fünf Jahre konnten wie eine Ewigkeit sein, oder?

Ein junges Paar kam auf dem breiten Weg an ihnen vorbei, wie um ihre Gedanken in eine ungünstige Richtung zu lenken. Die Frau schob einen leeren Kinderwagen. Der Mann hielt die Beine des kleinen Kindes fest, das auf seinen Schultern saß und die Balance hielt, indem es sich vergnügt mit den Fäustchen an den Haaren seines Vaters festklammerte.

Vor fünf Jahren hätten sie und Thomas eher wie dieses Paar und nicht wie Kollegen ausgesehen. Sie waren glücklich verheiratet gewesen und hatten eine bezaubernde dreijährige Tochter gehabt. Beide hatten sie versucht, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen und mit ihrem Lebensstil Erfolg gehabt, obwohl er häufig an Chaos grenzte.

Natürlich hatten sie nicht geplant, so früh ein Kind zu bekommen, doch die Überraschung über die Schwangerschaft, während Rebecca für ihren Abschluss an der medizinischen Hochschule lernte, hatte sich rasch in Vorfreude verwandelt. Es war Schicksal – genauso, wie es ihnen vorherbestimmt gewesen war, sich zu begegnen und total ineinander zu verlieben. Die Schwangerschaft hatten sie auf der bescheidenen Hochzeitsfeier vor Freunden und Familienmitgliedern verkündet und sämtliche Bedenken abgetan, wie sie die stressigen Anfangsjahre ihrer Arztausbildung mit einem Baby bewältigen würden.

„Wir schaffen das schon“, antworteten sie mit voller Überzeugung. „Wir haben doch uns.“

Und sie schafften es auch. Sie wussten genau, worin sie sich spezialisieren wollten. Rebecca folgte ihrem Traum, Herz- und Thoraxchirurgin zu werden, und Thomas investierte genauso viel Leidenschaft in sein Aufbaustudium der pädiatrischen Kardiologie. Dass sie selbst Eltern waren, hatte sie nur in dem bestärkt, was sie bereits gewusst hatten: dass sie dazu bestimmt waren, mit Kindern zu arbeiten.

Ja, im Augenblick erschienen die vergangenen fünf Jahre wie eine Ewigkeit. Und es war lange her, dass Thomas sich von dem Spezialgebiet abgewandt hatte, in dem er so brillant gewesen war.

„Wie gefällt es dir, wieder in Paddington zu sein?“, fragte sie.

Er warf ihr einen geradezu bestürzten Blick zu.

„Ich meine, wieder mit Kindern zu arbeiten“, ergänzte sie eilig. „Es muss ganz anders sein als das, was du im Norden gemacht hast …“ Oje. Sie war nicht gerade besonders gut darin, eine Unterhaltung anzustoßen, oder?

„Es war … eine große Veränderung …“ Thomas klang vorsichtig – unsicher, wie viel er erzählen wollte. „Ich wusste, dass es nicht leicht sein würde.“

Wow.

Dass er sich ins Persönliche vorwagte, kam genauso unerwartet wie seine – wenn auch indirekte – Anspielung auf die Verabredung, bei der sie aus dem Boot gefallen war. Rebecca hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Sollte sie ihr Mitgefühl ausdrücken, was das Gesprächsthema augenblicklich auf die Gründe lenken würde, weshalb es nicht leicht gewesen war? Ihm erzählen, wie schwer es auch ihr gefallen war, in den traurigen Monaten nach Gwens Verlust unter Kindern zu sein?

Selbst jetzt noch spürte sie die aufkommenden Tränen, die damals stets unter der Oberfläche gelauert hatten. Wie oft musste sie um ihre Selbstbeherrschung kämpfen? Wann immer sie das Weinen eines Kindes und die beruhigende Stimme einer Mutter hörte. Oder wenn sie das Lächeln eines Kleinkindes sah oder ein Babylachen vernahm. Und am schwersten war es, wenn sie selbst einen ihrer kleinen Patienten im Arm hielt. Oder wenn ihr ein kleines Kind die Ärmchen entgegenstreckte und gedrückt werden wollte, was sie niemals ablehnte.

Nein. Sie war nicht bereit, darüber zu reden. Und es wäre das Letzte, was Thomas hören wollte. Er hatte diesem Gespräch nur zugestimmt, um so weit reinen Tisch zu machen, damit sie zusammenarbeiten konnten. Vielleicht war es nötig, die Vergangenheit klarer abzugrenzen, damit sie beide jeweils ihr Leben weiterleben konnten.

„Nein“, sagte sie schließlich leise. „Aber alle sind froh, dass du zurückgekommen bist.“

Für einen Moment herrschte Schweigen. Fragte er sich, ob sie mit „alle“ auch sich selbst meinte?

„Und du bist während einer so wichtigen Zeit für das Krankenhaus hier“, ergänzte sie rasch. „Du bist genau zu dem Zeitpunkt gekommen, als wir alle dachten, es wäre das Ende, aber nach dem schlimmen Brand in der Westbourne Grove-Grundschule haben die Medien das Thema aufgegriffen, und schließlich kam die Wende.“

„Ja. Ich dachte schon, ich würde eine feste Stelle in einem Krankenhaus annehmen, das es nicht mehr lange geben würde. Zu der Zeit kam es mir ein wenig verrückt vor.“

„Aber jetzt sieht es aus, als ob alles gut wird. Ich weiß, dass es noch nicht offiziell ist, aber es klingt, als ob es jederzeit beschlossen wird. Gehst du am Freitag zur Party im Frog and Peach?“

Er zuckte die Achseln. „Ich muss abwarten, wie der Tag läuft.“

„Ich auch. Oft komme ich erst ziemlich spät raus, wenn ich den Papierkram und das alles erledigt habe.“

„Geht mir auch so.“

Arbeiteten sie beide so lange, weil es nichts gab, was sie nach Hause zog? Rebecca waren keinerlei Gerüchte zu Ohren gekommen, dass es in Thomas’ Leben vielleicht jemand Neues gab. Tatsächlich wusste sie nicht einmal, wo er wohnte.

„Ich hoffe, ich führe dich nicht zu weit von deinem Heimweg fort“, sagte sie höflich. „Ich möchte dich auch nicht von etwas abhalten, das du an einem so schönen Sommerabend lieber machen würdest.“

„Kein Problem“, antwortete er. „Und bis nach Hause habe ich es nicht weit. Ich habe eine Wohnung in South Hampstead.“ Er räusperte sich. „Und du? Immer noch in Primrose Hill?“

„Mhm.“ Noch ein schwieriges Thema. Es war ein großer Schritt für sie beide gewesen, die Souterrainwohnung in einer so guten Gegend zu kaufen. Ohne das unerwartete Geschenk aus dem Erbe ihres Großvaters hätten sie es nicht tun können. Thomas hatte sich in der Scheidungsvereinbarung geweigert, etwas von dem Geld anzunehmen, also war er quasi leer ausgegangen.

„Behalte es“, hatte er gesagt. „Behalte alles. Ich will keine Erinnerungen.“

Welche Erinnerungen hatten an der Spitze der Liste gestanden?

Der Abend, an dem sie die Wohnung übernommen und auf dem Boden des leeren Wohnzimmers ein Picknick mit Fish and Chips und einer Flasche Champagner gemacht hatten? Waren ihnen die unbequemen Holzdielen aufgefallen, als sie sich geliebt hatten, um die Schlüsselübergabe zu ihrer ersten gemeinsamen Wohnung zu feiern?

Später beschlossen sie, dass dies der Abend war, an dem Gwen gezeugt wurde, und es war so perfekt gewesen wie alles in ihrem Leben.

Sie sah zur Seite, und ihrer und Thomas’ Blicke trafen sich für einen Moment. Sie entdeckte den überraschten Glanz in seinen Augen. Hatte er erkannt, woran sie gerade gedacht hatte? Schließlich hatte auch sie bemerkt, wie er sich an ihren Sturz in den See und an ihr Aussehen erinnert hatte, als das Kleid ihr durchsichtig am Körper geklebt hatte.

Es war so einfach, zu viel in diese Blicke zu interpretieren. Es gab zu viele Erinnerungen. Und ja, ein paar davon waren die besten Momente ihres Lebens gewesen, doch sie waren unter sehr viel mächtigeren begraben worden.

Vielleicht waren die intensivsten Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit in dem Haus diejenigen, die sich um Gwen nach ihrer Geburt drehten? Wie sie durch die kleine Wohnung gewandert waren und versucht hatten, ihr Baby zum Schlafen zu bringen. Der Boden war ein Hindernisparcours aus verstreutem Spielzeug gewesen. Das Lachen eines kleinen Mädchens, das zwischen polierten Dielen und hohen Decken widerhallte …

Sie hatte mit diesen Erinnerungen leben müssen, und lange Zeit hatten Tränen nicht geholfen, den Schmerz zu lindern. Doch nach und nach – so langsam, dass Rebecca es kaum bemerkte – hatte sich etwas verändert, und manchmal fand sie Trost in ihnen.

Inzwischen war Gwens Zimmer ein Büro, doch manchmal, wenn Rebecca dort bis spät nachts arbeitete, erinnerte sie sich daran, wie sie hineingegangen war, um Gwen einen Moment lang beim Schlafen zuzusehen. Das warme weiche Wunder der Liebe umfing sie wie eine Decke. Manchmal war auch Thomas dabei. Dann standen sie dort Hand in Hand, und die warme Decke umfing sie beide. Sie hatte sie begleitet, wenn sie sich auf das große alte Sofa setzten, das das kleine Wohnzimmer dominierte, oder im antiken Messingbett, das so groß war, dass es fast die Wände des Schlafzimmers berührte.

Das Sofa war immer noch da.

Und das Bett.

Hatte Thomas auch vor den Erinnerungen fliehen wollen, die nach so langer Zeit noch immer lebendig waren?

Rebecca hatte beschlossen zu bleiben. Mit den Erinnerungen zu leben.

Und mit der Einsamkeit, nachdem sie all die Liebe verloren hatte …

4. KAPITEL

Sie gingen nun schon eine Weile schweigend nebeneinander her.

Thomas sah Rebecca aus den Augenwinkeln an. Woran dachte sie gerade?

Worüber hatten sie gerade gesprochen?

Oh, richtig – darüber, wo sie wohnten.

Sie lebte noch immer in dem Haus, das sie gemeinsam ausgesucht hatten. Erinnerte sie sich noch daran, wie sie nach der Schlüsselübergabe gefeiert hatten, weil sie endlich in ihrem ersten richtigen Zuhause alleine gewesen waren? Vielleicht bildete er es sich nur ein, dass er eine Spur der Erinnerung in ihren Augen hatte aufblitzen sehen, doch selbst, wenn es so war, konnte sie keinesfalls den übrigen Erinnerungen entfliehen.

Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, selbst dazu fähig zu sein. Wie konnte man Erinnerungen verdrängen, obwohl man ständig von ihnen umgeben war und allein schon beim Gedanken daran das Gefühl hatte, als würde einem das Herz aus der Brust gerissen? Obwohl von den Wänden noch das Geschrei eines neugeborenen Babys, das Gelächter eines Kleinkindes und die ersten Worte eines kleinen Mädchens widerhallten?

Genauso unbegreiflich war ihm die Entscheidung, sich beruflich auf ein Gebiet zu spezialisieren, das immer wieder an diesen schmerzlichen Erinnerungen rührte. Ein Kind in einen OP-Saal zu bringen, um Organe zu entnehmen, obwohl man wusste, welche Trauer die Eltern durchlebten, musste bedeuten, dass man sich total abschotten konnte.

Konnte man so gleichgültig sein, dass man diese Organe als „Ersatzteile“ betrachtete?

Thomas’ Kiefermuskeln verkrampften sich, bis ihm die Zähne schmerzten.

Kein Wunder, dass ihre Ehe gescheitert war.

Vielleicht hatten sie einander nie wirklich verstanden.

Ihr Spaziergang hatte sie direkt durch den Regent’s Park geführt, und nun liefen sie am Londoner Zoo entlang. Der Schrei eines aufgeregten Tieres war zu hören – vielleicht ein Orang-Utan? Thomas war seit fünf Jahren nicht mehr in der Nähe eines Zoos gewesen, und er fühlte sich hier nicht wohl. Überall lauerten Erinnerungen – wie die an einen gemütlichen Sonntagnachmittag, an dem er Gwens Kinderwagen geschoben und versucht hatte, ihren Gesichtsausdruck einzufangen, als sie die Tiere und Vögel erblickte. Die Pinguine waren ihre absoluten Lieblinge gewesen, und sie hatte jedes Mal freudig aufgeschrien, wenn sie in die Nähe des Zauns gewatschelt waren.

Im Souvenirladen des Zoos hatten sie ihr einen Plüschpinguin gekauft, der fast so groß war wie sie. Am Abend wollte sie ihn ins Bett mitnehmen und war lächelnd eingeschlafen …

Thomas stellte sich auf den Schmerz ein, der stets auf solche Erinnerungen folgte. Er versteifte die Muskeln und verzog das Gesicht, als ob es ihn irgendwie davor schützen könnte.

Rebecca schien davon nichts mitzubekommen. Sie ging zur anderen Seite der Prince Albert Road, weil sie zweifellos nach Primrose Hill wollte, und das war gut. Je weiter sie sich vom Zoo entfernten, desto besser. Dann würde er nicht ständig mit aufkommenden Erinnerungen kämpfen müssen.

Wie zum Beispiel daran, wie sich Rebeccas Miene beim Anblick der Otter vor Freude erhellt hatte. Sie waren ihre absoluten Lieblinge.

Er erinnerte sich auch noch an das Foto, das sie zu dritt zeigte. Jemand hatte sie neben der großen bronzenen Gorillastatue direkt am Eingang des Zoos geknipst. In einem Arm hielt er Gwen, den anderen hatte er um Rebecca gelegt. Ihre Köpfe befanden sich auf Höhe seiner Schultern, und er musste irgendetwas Lustiges gesagt haben, denn auf dem Foto schauten beide zu ihm auf, und alle drei lächelten bis über beide Ohren.

Sie hatten so glücklich ausgesehen …

Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als sie den Eingang des Primrose Hill Parks erreichten, weil sie nun am Kinderspielplatz vorbeikamen.

Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Er wusste, dass sie dasselbe dachten: Beim letzten Mal war ihre Tochter dabei gewesen.

Gleichzeitig wandten sie wieder die Blicke voneinander ab.

Hier lauerten noch mehr Erinnerungen. Noch mehr Schmerz, auf den er sich gefasst machen musste.

Doch bisher spürte er nichts.

Eigenartig. Wie konnte er ein so klares Bild von Gwen mit ihrem Plüschpinguin im Bett im Kopf haben, ohne von dem unerträglichen Verlustgefühl gelähmt zu werden, das ihn bei solchen Erinnerungen stets heimsuchte?

Er rief sich das Bild erneut ins Gedächtnis, wie um zu prüfen, ob die Wunde auf wundersame Art geheilt war. Er sah Gwens dunkle Locken auf dem hellen Kissen, ihre Wange an den flauschigen Stoff des Pinguins gedrückt. Ihre Wimpern hörten auf zu zucken, als sie einschlief, und er sah ihre Grübchen, als sie im Schlaf lächelte.

Und ja, er spürte den Verlust und war traurig darüber, doch es war kein richtiger Schmerz. Er ertappte sich dabei, wie sich seine Mundwinkel leicht hoben.

Doch statt Erleichterung brachte die Erkenntnis, dass sich etwas verändert hatte, eine sehr viel unangenehmere Empfindung mit sich.

Schuldgefühle?

Ließ er Gwen im Stich, wenn er beim Gedanken an ihren Verlust weniger traumatisiert war?

Vielleicht war ihm das Gefühl, ein Versager zu sein, so vertraut, dass es ihm lieber war als diese seltsamen, neuartigen Empfindungen.

In den letzten Jahren hatte er sich oft genug mit dem Vorwurf gequält, Gwen als Vater im Stich gelassen zu haben, weil er es nicht geschafft hatte, sie zu beschützen.

Und er hatte Rebecca als Mann enttäuscht, weil er es nicht geschafft hatte, ihre Ehe zu retten.

Aber wie hätte es funktionieren sollen, wenn sie so verschieden waren? Zwei Menschen, die einander nie wirklich verstanden hatten?

„Stört es dich, wenn wir kurz stehen bleiben?“

„Geht dir etwa schon die Puste aus? Wir sind noch nicht mal auf der Spitze des Hügels angekommen.“ Eine weitere ungebetene Erinnerung überfiel ihn. „Ich erinnere mich, wie du hier beim letzten Mal hochgerannt bist. Schneller als ich.“

Autor

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