Julia Ärzte zum Verlieben Band 87

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WER SEIN HERZ RISKIERT … von LOWE, FIONA
"Ich bin überzeugter Single." Tiefe Gefühle vermeidet Dr. Noah Jackson - bis er der schönen Hebamme Lilia begegnet. Gleich ihr erster heißer Kuss trifft ihn mitten ins Herz. Aber kaum will sich Noah näher auf Lilia einlassen, zieht sie sich plötzlich vor ihm zurück …

MEINE AFFÄRE MIT DR. BALLANTYNE von FRASER, ANNE
Ausgerechnet ihre ehemalige Affäre! Der attraktive Frauenarzt Leith Ballantyne ist der Einzige, an den Cassie sich wenden kann, als sie dringend einen Job in London sucht. Doch diesmal muss sie seiner verführerischen Anziehungskraft unbedingt widerstehen! Nur wie?

LIEBE GEGEN JEDE VERNUNFT von LENNOX, MARION
Ist es Schicksal? Als sich Kellys Sohn beim Surfen verletzt, sieht sie Dr. Matt Eveldene wieder, den verhassten Bruder ihres Ex. Gegen jede Vernunft sprühen statt Funken der Wut bald die Funken der Leidenschaft. Ist Matt doch nicht so herzlos, wie Kelly immer dachte?


  • Erscheinungstag 03.06.2016
  • Bandnummer 87
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707538
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Fiona Lowe, Anne Fraser, Marion Lennox

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 87

FIONA LOWE

Wer sein Herz riskiert …

Mit Männern hat Hebamme Lilia endgültig abgeschlossen. All ihre Liebe widmet sie stattdessen ihren Patientinnen. Bis ein überraschender Kuss von Vertretungsarzt Noah Jackson plötzlich längst vergessene romantische Sehnsucht in ihr weckt. Aber darf sie ihr Herz erneut riskieren? Ausgerechnet für einen Mann, der ihren Heimatort sowieso bald wieder verlässt …

ANNE FRASER

Meine Affäre mit Dr. Ballantyne

Scheu und dann wieder lebhaft: Die geheimnisvolle Kinderärztin Cassie reizt Dr. Leith Ballantyne unglaublich. Zu seinem Glück kann er sie in Afrika zu zärtlichen Liebesnächten verführen. Doch nach nur zwei Wochen trennt sie sich ohne Grund wieder von ihm. Da bekommt er nur wenig später überraschend eine zweite Chance, sie zu erobern. Diesmal für immer?

MARION LENNOX

Liebe gegen jede Vernunft

Als Dr. Matt Eveldene die schöne Kelly wiedersieht, kehrt sofort die Erinnerung an ihre schmerzvolle Vergangenheit zurück. Gleichzeitig erwacht ebenso neues wie unakzeptables Begehren in Matt. Dabei ist Kelly absolut tabu für ihn! Schließlich ist sie die Frau seines verstorbenen Bruders. Doch lange kann er der Versuchung des Verbotenen nicht widerstehen …

1. KAPITEL

„Möchten Sie schließen?“

Noah Jackson, chirurgischer Oberarzt am Melbourne Victoria Hospital, lächelte, als Begeisterung in den Augen seines Assistenten aufleuchtete.

„Genauso gut könnten Sie mich fragen, ob mein Herz für die Westies schlägt.“ Rick Stewarts Leidenschaft für den strauchelnden West Adelaide Football Club war krankenhausbekannt, und die Kollegen zogen ihn gnadenlos damit auf, wenn sein geliebter Club wieder einmal verloren hatte.

„Für Mrs. Levatti wünsche ich mir, dass Sie besser nähen, als Ihr Team spielt.“ Auch Noah ließ sich die Chance nicht entgehen, obwohl er vollstes Vertrauen in Ricks Fähigkeiten hatte.

An seine Patienten ließ er nur Chirurgen, die herausragende Kompetenzen bewiesen hatten. Rick erinnerte ihn an seine eigene Assistenzarztzeit. Auch Noah war getrieben gewesen von dem Willen, erfolgreich zu sein.

„Danke an alle.“ Noah trat vom OP-Tisch zurück und streifte sich die Handschuhe ab. „Es war eine lange Woche, vor mir liegt ein freies Wochenende.“

„Glückspilz“, murmelte Ed Yang, der Anästhesist. „Ich habe Dienst.“

Noah zeigte wenig Mitgefühl. „Es ist mein erstes freies Wochenende seit über einem Monat, und ich werde es in der Rooftop Bar mit einem kühlen Bier einläuten.“

„Vielleicht sehen wir uns später dort“, meinte Lizzy.

Der laszive Blick der grünäugigen OP-Schwester erinnerte ihn an ein paar nette Stunden, die er mit ihr verbracht hatte. „Jeder ist willkommen“, antwortete er, um klarzumachen, dass er seine Unabhängigkeit schätzte. „Ich werde eine Weile da sein.“

Damit verließ er den OP-Saal und ging zu den Umkleideräumen. Ein Gefühl neu gewonnener Freiheit durchströmte ihn und erfüllte ihn mit Vorfreude auf die nächsten Tage. Noah wollte ausschlafen, mit seinem Rennrad den Yarra entlangfahren, sich vielleicht im Melbourne Cricket Ground ein Spiel ansehen, in seinem Lieblingslokal essen und endlich den neuen französischen Thriller sehen, von dem alle redeten. Ja, er liebte Melbourne im Frühling und alles, was die Stadt zu bieten hatte!

„Noah?“

Eine vertraute tiefe Stimme ertönte hinter ihm, und er drehte sich zu dem distinguierten Mann um, den das Pflegepersonal ehrfürchtig „Silberfuchs“ nannte.

„Hätten Sie einen Moment Zeit?“, fragte Daniel Serpell.

Nein. Aber dieses Wörtchen behielt man als Assistenz- oder Oberarzt lieber für sich, wenn man mit dem Leiter der Chirurgie sprach. „Klar.“

Der Ältere nickte bedächtig. „Guter Job am Dienstag bei der Leberruptur. Beeindruckend.“

Noah konnte sich gerade noch zurückhalten, die Faust in die Luft zu stoßen. Sein strenger Vorgesetzter warf sonst nicht gerade mit Lob um sich. „Danke. Es stand auf Messers Schneide, und wir mussten die Blutbank plündern, aber wir haben gewonnen.“

„Niemand in diesem Krankenhaus zweifelt an Ihren chirurgischen Fähigkeiten, Noah.“

Die Betonung auf „chirurgisch“ verunsicherte ihn ein wenig. „Das ist doch gut, oder?“

„Das Royal Australasian College of Surgeons benennt neun Kompetenzbereiche, die einen guten Chirurgen ausmachen.“

Noah kannte jeden einzelnen in- und auswendig. Schließlich standen in wenigen Monaten seine letzten Facharztprüfungen an. „Hab sie alle im Griff, Prof.“

„Mag sein, dass Sie das denken, Noah, aber andere sind nicht dieser Meinung.“ Er griff in seine Jacketttasche, zog einen weißen Umschlag hervor und reichte ihn Noah.

„Was ist das?“

„Ihre Lösung für Kompetenzbereich Nummer zwei.“

„Ich kann Ihnen nicht folgen.“

Der Professor seufzte. „Noah, Ihre technischen und handwerklichen Qualitäten sind exzellent. Ich würde mich, meine Frau und meine gesamte Familie bei Ihnen unters Messer legen. Ihr Talent bei schlafenden Patienten ist unbestritten, doch es gab Beschwerden über Ihren Umgang mit Patienten, die wach sind.“ Er räusperte sich. „Und Bedenken aus dem Kollegenkreis.“

Noah verspürte ein Brennen im Magen, und der Umschlag wog plötzlich schwer wie Blei. „Ist das eine offizielle Verwarnung?“

„Nein, überhaupt nicht. Ich stehe auf Ihrer Seite, und wie gesagt, es gibt eine Lösung für Ihr Problem.“

„Ich wusste nicht, dass ich ein Problem habe“, konnte er sich ein Aufbegehren nicht verkneifen.

Dr. Serpell deutete auf das Kuvert. „Und ich hoffe, dass es aus der Welt geschafft ist, sobald Sie dies hinter sich haben.“

„Schicken Sie mich zu einem Kommunikationskurs?“ Die Vorstellung, mit völlig Fremden in einer Gesprächsrunde zu sitzen und über seine Gefühle zu reden, hatte etwas Erschreckendes.

„Alles, was Sie wissen müssen, steht da drin. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie am Montag pünktlich um acht Uhr starten können.“ Er klopfte Noah auf die Schulter. „Genießen Sie Ihr freies Wochenende.“

Während sein Chef davonging, nahm das mulmige Gefühl bei Noah nervtötende Ausmaße an, und der schneeweiße Umschlag erschien ihm wie eine tickende Zeitbombe. Um beim Lesen nicht beobachtet zu werden, eilte er ins Arztzimmer. Zum Glück war es leer.

Noah riss den Brief auf und überflog das kurze Schreiben.

Lieber Dr. Jackson,

Ihr vierwöchiges Praktikum am Turraburra Medical Centre beginnt am Montag, dem 17. August, um 8.00 Uhr. Eine Unterkunft können wir Ihnen, wenn gewünscht, im Ärzte-Wohnhaus an der Nautalis Parade anbieten. Sie müssten sich den Schlüssel bis Samstagmittag bei der Hausverwaltung in der Williams Street abholen. Zu Ihrer Orientierung lege ich eine Wegbeschreibung nebst Touristeninformationen bei.

Genießen Sie Ihren Aufenthalt in Turraburra – dem grünen Juwel von South Gippsland.

Mit freundlichen Grüßen

Nancy Beveridge

Vermittlung chirurgischer Praktikanten

Nein! Ausgeschlossen! Das konnten sie ihm nicht antun. Unerwartet erschien ihm die Vorstellung, einen Kommunikationskurs zu besuchen, ausgesprochen reizvoll.

Immer mit der Ruhe, vielleicht hast du nicht richtig gelesen. Noah versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken, und las die Zeilen noch einmal langsam von vorn bis hinten genau durch.

Leider änderte sich nichts. Das Urteil stand fest. Schwarz auf weiß.

Man schickte ihn ins Exil, und das Timing hätte nicht schlechter sein können. In weniger als sechs Monaten fanden seine letzten Prüfungen statt. Da brauchte er die Zeit am Victoria, um seine chirurgischen Fähigkeiten zu vervollkommnen, sich mit neuester Technologie vertraut zu machen, Fortbildungen zu besuchen und zu lernen.

Stattdessen sollte er sich in einer Feld-, Wald- und Wiesenklinik die endlosen Klagen von Patienten mit chronischen Krankheiten anhören, die mit chirurgischen Maßnahmen nicht zu beheben waren!

Allgemeinmedizin. Noah schüttelte sich nur bei dem Gedanken daran. Seine Karriere hatte er ganz bewusst so geplant, dass er um die langweilige Routine einer Allgemeinpraxis einen Riesenbogen schlagen konnte. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, eine Beziehung zu seinen Patienten aufzubauen, ihre Familien kennenzulernen oder ihren Hunden vorgestellt zu werden. Warum ich? Er fühlte sich zutiefst ungerecht behandelt. Keiner der anderen chirurgischen Oberärzte war für einen Monat aufs platte Land versetzt worden!

Vage tauchte die Erinnerung an eine Auseinandersetzung auf. Oliver Evans hatte ihm vor ein paar Monaten die Meinung gegeigt, aber das hier war sicher nicht die Folge davon, oder? Chefärzte pfiffen ihre Oberärzte schon mal an, vor allem in stressigen Situationen, wenn das Leben eines Patienten auf dem Spiel stand. Hitzige Wortwechsel, saftige Flüche – alles schon da gewesen, aber am Ende des Tages wieder vergessen.

Und noch etwas fiel ihm ein: Der Prof hatte ihn gebeten, in zwei Wochen einen Workshop für die neuen Assistenzärzte zu halten. Also musste die Innenstadt von Melbourne von diesem Turraburra aus recht gut zu erreichen sein. Vielleicht schickte man ihn nur in ein Randgebiet der stetig wachsenden Millionenstadt. Eine Weile zu pendeln, damit kam er klar. Während der Fahrt konnte er seine Lern-Podcasts hören.

Optimistisch suchte er auf der beigelegten Straßenansicht den markierten Punkt.

Noah fluchte laut. Das war am Ende der Welt. Seiner Welt!

Lilia Cartwright, niemals Lil und für ihre Freunde immer Lily, stand im milden Licht der aufgehenden Sonne am Pier und blickte zum Horizont. Sie genoss den Wind in den Haaren und atmete den Duft der salzigen Meeresluft tief ein.

„Ein neuer Tag, Chippy“, sagte sie lächelnd zu ihrem braun-weißen Windhund, der mit seelenvollen dunkelbraunen Augen zu ihr aufblickte. „Na, komm schon, Junge, du könntest ein bisschen mehr Begeisterung zeigen. Nach diesem langen Spaziergang kannst du dich darauf freuen, den ganzen Tag auf der faulen Haut zu liegen und gestreichelt zu werden.“

Chippy zerrte an der Leine wie jeden Morgen, wenn sie am Hafenbecken standen, weil er es nicht erwarten konnte, ins Haus zu kommen.

Lily war gern draußen, aber sie verstand, dass ihr Hund eine sichere Umgebung brauchte – nach den Erfahrungen, die er in seinen ersten Lebensjahren gemacht hatte. Widerstrebend wandte sie sich von der aquamarinblauen See ab und ging auf das Turraburra Medical Centre zu.

Das Natursteingebäude war vor hundertdreißig Jahren als Arzthaus auf dem Grund eines kleinen Buschkrankenhauses errichtet worden. Heute, vollständig restauriert und ausgebaut, beherbergte es eine moderne Klinik. Lily liebte vor allem den Anbau mit der geburtshilflichen Abteilung. Obwohl sie zum Medical Centre gehörte, gab es einen separaten Eingang und einen eigenen Wartebereich, sodass ihre werdenden Mütter nicht mit hustenden, schniefenden Patienten zusammensitzen mussten.

Es war der beste Tag ihrer Karriere gewesen, als die Entbindungsstation des Melbourne Victoria Hospital ihrem Antrag entsprochen und Turraburra ins Förderprogramm für Frauen in isolierten ländlichen Gebieten aufgenommen hatte. Die Entbindungsklinik war Lilys Baby, und sie hatte viel Zeit und Mühe darauf verwandt, die sanften Pastelltöne für die Wände und die Innendekoration auszusuchen. Statt in eine sterile Krankenhausatmosphäre zu kommen, sollten sich ihre Patientinnen und deren Familien wie zu Hause fühlen.

Auf den ersten Blick erinnerten die Geburtsräume an die Zimmer eines Viersternehotels: breites Doppelbett, passende Nachtschränkchen, bequeme Ruhesessel, Flachbildfernseher, Kühlschrank und ein geräumiges Bad. Bei näherem Hinsehen entdeckte man, dass Sauerstoff, Absauger und Lachgas in Wandschränken und weitere medizinische Ausrüstung in einem Schrank verstaut waren, der wie ein Kleiderschrank aussah.

Auf Risikogeburten war Turraburra jedoch nicht vorbereitet. Da ging Lily auf Nummer sicher und schickte ihre Patientinnen nach Melbourne. Bei allen anderen Babys empfand sie es wie ein Geschenk und eine persönliche Ehre, sie auf die Welt holen zu dürfen.

Und da Turraburra eine kleine Stadt war, hörte es damit nicht auf. In den drei Jahren, seit sie in ihren Heimatort zurückgekehrt war, hatte sie nicht nur viele Geburten begleitet, sondern auch eine Menge Kindergeburtstage erlebt. Sie liebte es, die Kleinen aufwachsen zu sehen, und konnte es kaum glauben, dass sie die Dreijährigen in Turraburra als winzige Säuglinge in den Händen gehalten hatte. Und da sie nie eine eigene Familie haben würde, genoss sie die Zeit mit ihren Schützlingen umso mehr.

„Guten Morgen, Karen“, sagte sie automatisch, als sie das Foyer betrat. Erst dann bemerkte sie, dass der Empfang nicht besetzt war. Karens Abwesenheit erinnerte Lily daran, dass heute ein neuer Arzt in der Klinik anfing.

Nichts Ungewöhnliches – leider. Seit der allseits beliebte und geschätzte Dr. Jameson vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen war, hatten sich hier acht Ärzte die Klinke in die Hand gegeben. Den ersten hatten sie fast auf Händen getragen, was allerdings nichts genützt hatte, denn er verschwand nach drei Monaten wieder.

Längst war der Glanz des Neuen stumpf geworden, und die Willkommensgesten schwächten sich mit der Zeit ab. Keiner machte sich noch große Hoffnungen, dass dieser Arzt endlich länger bleiben würde.

Wie in so vielen Kleinstädten auf dem Land fehlte auch in Turraburra ein Arzt, der sich dauerhaft niederlassen wollte. Zwar mangelte es nicht an Praktikanten aus ganz Australien und anderen Ecken der Welt, doch die hakten die Zeit hier als Zwischenstadium ab, bevor sie sich eine Stelle in Melbourne oder Sydney suchten.

Lily konnte der Großstadt nichts abgewinnen. Es hätte schon einer mittleren Katastrophe bedurft, damit sie freiwillig wieder nach Melbourne ging. Die Narben von ihrem letzten Versuch waren noch nicht verblasst.

Zwei Geburten hatten Lily ein volles Wochenende beschert, sodass sie nicht dazu gekommen war, die E-Mail zu lesen, die am späten Freitagabend bei ihr eingegangen war und nähere Informationen zu „Arzt Nr. 9“ enthielt. Jetzt fragte sie sich, ob die Neun Turraburras Glückszahl werden würde.

Chippy zog wieder an der Leine.

„Ja, ja, ich weiß, wir sind da.“ Sie bückte sich und schob die Hand unter das breite Halsband, das eine Patientin für ihn genäht hatte. Ein elegantes Stück aus silbernem und indigoblauem Brokat, das an russische Adlige erinnerte und den anmutigen Schwung von Chippys langem Hals betonte. Lily löste die Leine, und der Windhund flitzte zu seinem großen Korb im Wartebereich. Mit einem hörbaren Hundeseufzer rollte er sich auf dem weichen Polster zusammen.

Er war der Begleithund der Klinik und wurde von kleinen und großen Patienten gleichermaßen geliebt und bewundert. Chippy genoss die täglichen Streicheleinheiten, und Lily hoffte, dass sie ihn für die dunkle Zeit entschädigten, als er noch in den Händen eines zwielichtigen Rennstallbesitzers ein trübes Dasein fristen musste. Sie tätschelte ihm den schlanken Hals. „Viel Spaß und bis heute Abend.“

Chippy lächelte auf eine Art, wie nur Windhunde es können.

Sie ging durch den Wartebereich zu den Fächern, um ihre Post zu holen, als sie plötzlich hörte: „Was zum Teufel tut der hier?“

Lily zuckte beim Klang der scharfen Männerstimme zusammen, weil sie genau wusste, dass Chippy sich jetzt zitternd in sein Körbchen duckte. Wie einen Schutzschild presste sie die Patientenakten an die Brust und marschierte zurück in den Warteraum. Dort stand ein großer Mann mit glänzendem braunem Haar.

Zwei Dinge verrieten ihr auf Anhieb, dass er nicht von hier war. Erstens: Sie war ihm noch nie begegnet. Zweitens: Er trug ein weißes Hemd und eine Seidenkrawatte, die in einem untadelig gebundenen Windsorknoten unter seinem markanten, frisch rasierten Kinn saß. Sie war rot und bot einen augenfälligen Kontrast zu dem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug.

Niemand in Turraburra trug einen Anzug – es sei denn, er musste zu einer Beerdigung. Und selbst dann sähe keiner der Männer so elegant, so stattlich und attraktiv aus wie dieser.

Attraktiv oder nicht, Chippy schrumpfte buchstäblich vor Furcht, und Lily straffte die Schultern. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie antwortete ruhig: „Dasselbe könnte ich auch fragen.“

Kastanienbraune Brauen zogen sich zusammen, bis eine steile Falte auf der hohen Stirn erschien. „Ich darf mich hier aufhalten.“

Täuschte sie sich, oder hatte er ein „Leider“ gemurmelt? Jetzt streckte er ihr abrupt eine große Hand mit kurzen, gepflegten Nägeln entgegen, und in einem ersten Impuls wäre sie beinahe zurückgewichen. Lily starrte auf die ausgestreckte Hand.

„Noah Jackson“, sagte er knapp. „Chirurgischer Oberarzt am Melbourne Victoria Hospital.“

Sie erkannte den Namen sofort. Als sie ihn zum ersten Mal hörte, hatte sie ihre Freundin Ally angerufen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Chirurg nach Turraburra kommen würde. Hier wurde nicht mehr operiert. Ally kannte Dr. Noah Jackson vom Victoria Hospital und hielt es für ausgeschlossen, dass der freiwillig auf dem Land praktizieren würde.

Warum stand er dann hier, eine imposante, hochgewachsene Gestalt mit breiten Schultern und einem noch breiteren Ego?

Lily fing seinen ungeduldigen Blick auf und bemerkte erst jetzt, dass er ihr immer noch seine Hand hinhielt. Langsam löste sie ihre von dem Aktenstapel an ihrer Brust. „Lilia Cartwright, Hebamme.“

Ihre Handflächen berührten sich, sie spürte seine Wärme, und dann umschlossen lange, starke Finger ihren Handrücken. Ein fester Händedruck, der schnell vorbei war und doch ein feines Kribbeln auf ihrer Haut hinterließ. Lily wollte nicht darüber nachdenken. Nicht, weil es unangenehm war. Im Gegenteil. Aber sie gestattete es sich nicht, an warme Hände auf ihrer Haut zu denken. Niemals.

Sie umfasste wieder die Akten und konzentrierte sich auf die Frage, was dieser Mann hier zu suchen hatte. „Ist unsere Klinik unerwartet zu Geld gekommen? Wird die Chirurgie wieder in Betrieb genommen?“

Er presste die vollen Lippen zusammen. „Schön wär’s“, murmelte er.

„Wie bitte?“

„Ich bin nicht als Chirurg hier.“

So wie er die Worte hervorstieß, wirkte er aufgewühlt. Der grimmige Gesichtsausdruck passte dazu. War er vielleicht doch wegen einer Beerdigung in Turraburra? Sie ließ den Blick über seinen Anzug gleiten und registrierte ungewollt, wie die Hose seine schmalen Hüften und den flachen Bauch betonte und das maßgeschneiderte Jackett wie angegossen an seinem athletischen Oberkörper saß.

Lily schluckte unwillkürlich, bevor sie antworten konnte. „Als was dann?“

In einer heftigen Geste streckte er den linken Arm zur Eingangstür aus. „Ich darf in den nächsten vier Wochen den Landarzt spielen.“

„Nein!“, rutschte es ihr heraus.

Turraburra brauchte einen Allgemeinarzt. Chirurgen zeichneten sich durch übertriebenen Ehrgeiz, Arroganz und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein aus. Dazu zählte eine eingeschränkte Sichtweise auf den Patienten, die darin mündete, das Problem „herauszuschneiden“. All das war von dem, was Turraburra brauchte, so weit entfernt wie der Mond von der Erde.

Was hatten die im Melbourne Victoria sich dabei gedacht, ihnen einen Chirurgen als Allgemeinarzt zu schicken? Das konnte ja heiter werden!

Goldenes Feuer blitzte in seinen braunen Augen auf. „Eins können Sie mir glauben, Ms. Cartwright. Wäre es nach mir gegangen, hätten mich keine zehn Pferde hierhergebracht. Aber mich hat niemand gefragt, also Augen zu und durch.“

Gut, diese Feindseligkeit hatte sie sich zum Teil verdient, nachdem sie so entsetzt reagiert hatte. Das war unhöflich und nicht gerade ein freundlicher Willkommensgruß gewesen. Und jetzt war passiert, was sie immer zu vermeiden versuchte: Männer wütend zu machen. Dabei achtete sie darauf, unauffällig zu bleiben, was Männer betraf. Und auf keinen Fall wollte sie sie verärgern.

Bebend holte sie tief Luft. „Ich war nur überrascht, dass man uns einen Chirurgen schickt. Und wie Sie angedeutet haben, müssen wir uns mit den Tatsachen arrangieren.“ Lily zwang sich zu einem Lächeln. „Also willkommen in Turraburra, Dr. Jackson.“

Ein mürrischer Laut war die einzige Antwort, bevor der Arzt seinen kritischen Blick wieder auf Chippy lenkte. „Schaffen Sie den Hund hier raus. Der hat in einem Krankenhaus nichts zu suchen.“

Ihr schlechtes Gewissen löste sich augenblicklich in Luft auf. „Chippy ist unser Therapiehund. Er bleibt.“

Noah musterte die große, gertenschlanke Frau, die vor ihm stand und einen Stapel leuchtend rosa Aktendeckel an die Brust presste, als hinge ihr Leben davon ab. Auf ihren blassen Wangen prangten zwei hektisch rote Flecken, und ihre himmelblauen Augen sprühten Silberblitze. Noch immer klang ihm ihr entschiedenes „Nein“ in den Ohren. Auch wenn er an diesem gottverlassenen Ort nicht arbeiten wollte, wer war sie, dass sie sich anmaßte, ihn zu beurteilen, bevor er überhaupt angefangen hatte?

„Was zur Hölle ist ein Therapiehund?“

„Er sorgt für etwas Normalität im Krankenhaus.“

„Normalität?“ Ihm entfuhr ein spöttisches Lachen. Noah erinnerte sich nur zu gut daran, wie seine Mutter nach der Diagnose darum gekämpft hatte, auch nur annähernd ein normales Leben zu führen. Unzählige Stunden verbrachten sie in verschiedenen Praxen und Krankenhäusern – diesem hier nicht unähnlich –, in der Hoffnung auf Heilung, die ihr letztendlich versagt blieb. „Dies ist eine Klinik für kranke Menschen, und daran ist nichts normal. Außerdem wirkt auch dieser Hund alles andere als normal auf mich.“

Sie schürzte die Lippen, und ihm entging nicht, was für einen verlockenden roten Mund sie hatte. Unter anderen Umständen hätte er bei einem so sexy Anblick seinen Charme voll aufgedreht, aber bei dieser stacheligen Frau mit dem tadelnden Blick würde er das tunlichst bleiben lassen.

„Chippy ist ein Windhund“, erwiderte sie spitz. „Das sind schlanke Tiere.“

„Das nennen Sie schlank? In meinen Augen ist er magersüchtig, und was soll diese Borte um den Hals? Stammt er vom Zaren ab?“

Noah wusste, dass er sich unmöglich aufführte, aber Lilia Cartwright mit ihrer überheblichen Art brachte ihn auf die Palme. Oder lag es daran, dass er die Nacht im unbequemsten Bett der Welt verbracht hatte und, nachdem er endlich eingeschlafen war, eine Stunde später vom morgendlichen Gekreisch schwefelgelber Kakadus geweckt wurde? Ich hasse das Landleben!

„Sind Sie fertig?“, fragte sie mit einer Kälte in der Stimme, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn in ihrem aschblonden Haar Eiskristalle gewachsen wären. „Chippy beruhigt ängstliche Patienten, und gerade die Älteren im angeschlossenen Pflegeheim lieben ihn. Einige von ihnen haben sonst niemanden, und Chippy lässt sich gern von Liebesbeweisen überschütten. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass tierische Gefährten den Blutdruck senken und emotionalen Stress abmildern. Wie ich sagte, er ist unverzichtbar.“

Eine kindische Regung, auf etwas einzuschlagen, erfasste ihn. Noah fühlte sich tatsächlich, als wäre er wieder im Kindergarten, wo er wegen schlechten Betragens in die Ecke geschickt wurde. „Sollte ich auch nur eine Beschwerde hören oder von einem einzigen Flohbiss erfahren, muss der Köter weg.“

„Relativ betrachtet, sind Sie, Dr. Jackson, im Handumdrehen wieder verschwunden. Chippy ist jetzt schon länger bei uns, als Sie es je sein werden.“

Im Handumdrehen? Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? „Mich erwarten hier siebenhundertzwanzig sehr lange Stunden.“

Blaue Augen blickten ihn verblüfft an. „Sie haben sie tatsächlich gezählt?“

„Was sollte ich sonst machen – um drei Uhr morgens, als fauchende Opossums mit Springerstiefeln an den Pfoten auf dem Dach ihr Unwesen trieben? Ich habe kein Auge zugetan.“

Sie lachte hell auf, und in ihren Wangen bildeten sich bezaubernde Grübchen. Flüchtig war er versucht mitzulachen, doch da verstummte sie und nahm wieder ihre angespannte, abweisende Haltung ein.

Noah verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war nicht lustig.“

„Zufällig weiß ich, dass einen auch in den grünen Vororten von Melbourne rivalisierende Opossums wach halten können.“

Waren sie Leidensgenossen? Bedauernswerte Opfer einer Krankenhauspolitik, die sich ihm nicht erschloss und die sie und ihn dorthin geschickt hatte, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagten? Seine Antipathie für Hebamme Cartwright wurde von Mitgefühl überlagert. „Sind Sie auch gezwungenermaßen hier?“

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass der dicke französische Zopf hin und her flog. „Turraburra ist meine Heimat. Melbourne war nur ein schmuddeliger Boxenstopp, um den ich während meiner Ausbildung zur Hebamme nicht herumkam.“

Er dachte an sein sonnendurchflutetes Apartment mit Blick über den Yarra Bend Park. „Mein Melbourne ist nicht schmuddelig.“

„Mein Turraburra ist keine öde Kleinstadt.“

„Na, wenigstens sind wir uns einig, dass wir uns nicht einig sind.“

„Wollen Sie die ganze Zeit so grantig bleiben?“

Die direkte Frage ärgerte und amüsierte ihn zugleich. „Rechnen Sie damit.“

„Schön, dass Sie mich vorwarnen.“ Sie wollte sich abwenden, als ihr etwas einzufallen schien. „Ach, und noch etwas – falls Sie in der Lage sind, einen guten Rat anzunehmen. Verscherzen Sie es sich nicht mit Karen. Sie managt diese Klinik seit fünfzehn Jahren und hat zahlreiche Mitarbeiter überdauert.“

Noah verkniff sich eine bissige Antwort. Zwar hatte er bisher keinen einzigen Patienten gesehen, doch wenn die letzten fünfzehn Minuten mit Hebamme Lilia Cartwright ein Vorgeschmack auf seine Zeit in Turraburra waren, dann lagen noch quälend lange, schwierige siebenhundertneunzehn Stunden und fünfundvierzig Minuten vor ihm!

2. KAPITEL

„Ich bin zu Hause!“, rief Lily, um den Fernseher zu übertönen.

Ein hagerer Arm tauchte über der Sofalehne auf, und ihr Großvater winkte ihr zu. „Marshmallow und ich sehen uns Wiederholungen von ‚The Doctors‘ an. Es erinnert mich daran, dass es vor fünfzig Jahren wesentlich mehr Telefonzellen gab.“

Lily gab ihm einen Kuss auf den Kopf und streichelte die dösende Katze. Chippy ließ sich zu Füßen ihres Großvaters nieder. „Solange der Handyempfang hier zu wünschen übrig lässt, bleibt uns die Telefonzelle in Turraburra erhalten.“

„Ich hoffe, ich lebe noch, wenn der Breitbandausbau abgeschlossen ist. Heute war das Internet so lahm, dass ich drei Versuche brauchte, bis ich auf meine Tippspiel-Seite kam.“

„Definitiv eine Tragödie“, neckte sie. Ihr Großvater liebte jede Art von Sport, doch um diese Jahreszeit konnte er es kaum erwarten, bis die Football-Endspiele begannen. „Warst du heute im Gemeindehaus?“

Er brummte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Gramps?“ Eine ungute Ahnung befiel sie. Er war doch nicht etwa mit dem Auto gefahren?

Nachdem er in letzter Zeit zwei Mal ein Taubheitsgefühl in den Füßen gehabt hatte, hatte sie ihm widerstrebend ins Gewissen geredet, dass er sich und andere in Gefahr brachte, wenn er sich ans Steuer setzte. Natürlich reagierte er ziemlich unwirsch, und sie musste all ihre Überzeugungskraft aufbieten, bis er sich endlich bereit erklärte, ein Elektromobil anzuschaffen. Ausgesucht hatte er sich ein knallrotes Modell. Wahrscheinlich wollte er wenigstens die Illusion erzeugen, dass er mit einem roten schneller war.

Doch dann blieb das „Kriechtier“, wie er das E-Mobil abfällig nannte, in der Garage. Lily redete sich den Mund fusselig. Dass es nur für Fahrten in Turraburra sei. Dass er die Stadt sowieso kaum verließ. Es nützte alles nichts, und Lily konnte nur hoffen, dass er bald müde wurde, jeden Gang zu Fuß zu unternehmen. Immerhin war ihr Großvater schon fünfundachtzig.

„Ich habe das Kriechtier genommen“, murrte er. „Zufrieden?“

„Es freut mich, dass du zu deinem Kurs gekommen bist.“

„Na, ich konnte Muriel doch nicht auf den Computer loslassen. Sie hätte mir alles verstellt. Außerdem war ich heute dran, den Oldies zu zeigen, wie man Fotos bearbeitet.“

Lily presste die Lippen zusammen, um nicht loszulachen. Aus Erfahrung wusste sie, dass das nicht gut ankam. Er mochte Mitte achtzig sein, aber im Herzen war ihr Großvater jung geblieben und sein Verstand scharf wie eh und je. Es tat ihr in der Seele weh, wie er darunter litt, dass sein Körper ihn allmählich im Stich ließ. Das Autofahren aufzugeben, war ein harter Schlag gewesen.

Die „Oldies“ wohnten im nahe gelegenen Seniorenheim. Einige waren jünger als er. Lilys Großvater interessierte sich für alles und jedes, begeisterte sich für neue Technologien und liebte seine hochmoderne Spiegelreflex-Digitalkamera. Er langweilte sich nie. Verglichen mit seinem kam ihr das eigene Leben oft blass und fade vor.

Gramps war ihre Familie, und sie liebte ihn von ganzem Herzen. Und sie schuldete ihm mehr, als sie jemals zurückgeben könnte.

„Muriel hat uns einen Eintopf rübergeschickt“, sagte er und stand auf.

„Wie lieb von ihr.“ Muriel und Gramps waren eng befreundet und verstanden sich großartig, solange sie nicht an seinen Computer ging und er nicht versuchte, in ihrer Vorratskammer Ordnung zu schaffen.

Er ging in die Küche. „Sie hat von den Hawker- und De’Bortolli-Babys gehört, die du geholt hast, und dachte sich, dass du müde bist. Keine Neuzugänge heute?“

Lily dachte an den hochgewachsenen, dunkelhaarigen und sehr schlecht gelaunten Chirurgen, dem sie am Morgen begegnet war.

Gut aussehend hast du vergessen.

Nein. Gut aussehend passt nur zu jemandem, der lächelt.

Wirklich? Trent hat oft gelächelt, und du weißt ja, was dabei herausgekommen ist.

Sie verdrängte die Gedanken, weil ihr Seelenfrieden davon abhing, nicht an Trent zu denken. „Wir haben einen neuen Doktor.“

Seine wässrig blauen Augen leuchteten auf. „Männlich oder weiblich?“

„Tut mir leid, Gramps. Ich weiß, wie gern du mit den Ärztinnen flirtest, aber diesmal wird nichts daraus. Abgesehen davon ist mit dem nicht gut Kirschen essen“, fügte sie mit einem Seufzer hinzu.

Das brachte ihr einen besorgten Blick ein. „Was hat er dir getan?“

Seit ihrer albtraumhaften Beziehung zu Trent hütete Gramps sie wie seinen Augapfel. „Nein, nein, nichts“, versicherte sie rasch. „Außerdem bin ich stärker geworden. Ich lasse mir nichts mehr gefallen. Aber ich glaube nicht, dass der Mann nach Turraburra passt.“

„Jeder von uns hat mal einen schlechten Tag. Gib dem armen Kerl ein bisschen Zeit, sich einzugewöhnen. Karen und du werdet ihm schnell zeigen, wie der Hase hier in Turraburra läuft.“

Schön wär’s. „Da bin ich mir nicht so sicher, Gramps. Sicher weiß ich nur eins: Es wird ein langer Monat.“

Noah stand am Strand und sog die frische salzige Luft in die Lungen, als wäre es der letzte Sauerstoff auf dem Planeten. Nicht dass er an diesen Unsinn mit den positiven Ionen glaubte, aber er musste den Geruch von Raumlufterfrischer und Urin loswerden. Er haftete in seiner Nase, an seiner Kleidung, auf seiner Haut.

Sein Herz klopfte wie nach einem Sprint. Er versuchte, seine Atemzüge zu kontrollieren, bewusst tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder auszuatmen, um das klaustrophobische Gefühl abzuschütteln, das ihn vor zehn Minuten wie aus dem Hinterhalt gepackt hatte. Seit Jahren war ihm das nicht mehr passiert, und er hatte schon geglaubt, diese Zustände von Platzangst überwunden zu haben.

Zwei Stunden im Pflegeheim von Turraburra hatten alles wieder hochgeholt. Oh Mann, er hasste diese Stadt!

Als er um acht Uhr morgens zum Dienst kam, teilte ihm die supertüchtige Karen mit, dass dienstags Besuche im Pflegeheim anstanden. Also war er über das Krankenhausgelände hinübergegangen, vorbei an buttergelben Narzissen, die ihn mit ihrer fröhlichen, Optimismus verbreitenden Farbe zu verspotten schienen. Noah war alles andere als fröhlich, und optimistisch schon gar nicht.

Die diensthabende Schwester drückte ihm einen Stapel Patientenakten und Medikamentenformulare in die Hand und vereitelte damit seinen Plan, nur eine Stippvisite zu machen.

Anscheinend war vor drei Wochen zuletzt ein Arzt in Turraburra gewesen. Die erste Stunde verging noch relativ problemlos, während er die Unterlagen studierte. Danach jedoch war sein Vormittag endgültig den Bach hinuntergegangen.

Er hatte jeden einzelnen Bewohner untersucht. Männer, einst groß und kraftvoll, die nach einem Schlaganfall steif, mit leeren Gesichtern und sabbernd im Bett lagen. Frauen mit einem hoffnungslosen Ausdruck in den Augen, der ihn an seine Mutter erinnerte. Hoffnungslos, weil der Mensch dahinter wusste, dass Noah nichts für ihn tun konnte.

Und diese Ohnmacht hasste er am meisten. Deshalb war er Chirurg geworden. Am OP-Tisch konnte er wenigstens etwas bewirken, konnte heilen, Leben retten. Doch heute im Pflegeheim verspürte er wieder die Ohnmacht, die er auch während des langen, traumatischen Leidens seiner Mutter empfunden hatte. Was tat er schon außer Rezepte zu schreiben, Physiotherapie anzuordnen und Eiweißdrinks zu empfehlen?

Noah hatte gerade den letzten Patienten untersucht, als eine Geruchskeule mit den Noten Kohl auf Rindfleisch gekocht, Kernseife, Lavendelwasser und Pfirsich-Raumspray ihm auf den Magen schlug. Das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. In dem verzweifelten Versuch, frische Luft zu schnappen, verließ er fluchtartig die Klinik. Bei den Schwestern war es sicher nicht gut angekommen, dass er ihr freundliches Angebot, mit ihnen einen Tee zu trinken und ein paar Kekse zu essen, rüde abgelehnt hatte.

Das erleichterte nicht gerade die künftige Zusammenarbeit, aber das war ihm herzlich egal. In sechshundertneunundsechzig Stunden würde er wieder in Melbourne sein. Noah zog sein Smartphone aus der Tasche, setzte einen Countdown und nannte ihn T-Zero. Jetzt brauchte er nur die App aufzurufen, wenn ihm hier die Decke auf den Kopf fiel, und sah auf einen Blick, wie weit sich seine Zeit in Turraburra der erlösenden Null angenähert hatte!

Die Seeluft und die tiefen Atemzüge hatten ihm gutgetan, und Noah joggte mit neuer Energie die Stufen zur Promenade hinauf. Dort setzte er sich auf die Befestigungsmauer und streifte die Schuhe ab, um die Sandkörnchen herauszuschütteln.

„Juhu, Dr. Jackson!“

Er blickte hoch und entdeckte einen Schwarm älterer Frauen in fluoreszierenden Neontrikots, der auf Rennrädern direkt auf ihn zusauste. Die Frau an der Spitze winkte freudig, doch wegen des Helms und der Sonnenbrille konnte er nicht erkennen, wen er vor sich hatte.

Noah nickte knapp.

Anscheinend merkte sie, dass er keine Ahnung hatte, wer sie war, denn sie bremste dicht vor ihm ab. „Linda Sampson, Doktor. Sie waren gestern bei mir im Laden. Ich habe Ihnen den Weg zur Klinik beschrieben und Ihnen einen Kaffee verkauft.“

Ungenießbare Brühe. „Stimmt, ja.“

„Wie schön, dass Sie unsere herrliche Gegend erkunden. Turraburra hat den schönsten Strand von Wilsons Promontory, finden Sie nicht auch?“ Er öffnete den Mund, um zu sagen, dass er sich mit den Stränden auf der Halbinsel nicht auskannte, doch sie plauderte munter weiter: „Das Städtchen hat viel zu bieten, vor allem den Familien. Sind Sie verheiratet, Dr. Jackson?“

„Nein.“ Er klopfte seinen Schuh stärker als nötig gegen die Mauer und sehnte sich nach der Anonymität der Großstadt. „Ich bin überzeugter Single.“

Falls er gehofft hatte, dass diese Auskunft sie zufriedenstellte, täuschte er sich. „Vom glücklichen Junggesellen zum glücklichen Ehemann ist es oft nur ein winziger Schritt“, zwitscherte sie. „Und Sie haben Glück. In Turraburra leben ein paar bezaubernde junge Frauen. Heather Barton, die Röntgenassistentin zum Beispiel, ist Single.“

Eine der anderen Radlerinnen mischte sich ein: „Die ist jetzt mit Emma Trewella zusammen.“

„Ach wirklich? Tja, nun wird mir einiges klar“, entgegnete Linda lachend. „Bleibt noch die Physiotherapeutin, ein hinreißendes Mädchen und passionierte Triathletin. Treiben Sie Sport, Doktor?“

Noah blickte sie irritiert an. In welchem Film war er gelandet, einem aus den 1950ern? Er konnte nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich verkuppeln wollte.

„Vielleicht haben Sie aber mehr mit unseren Krankenschwestern gemeinsam“, fuhr die agile Mittsechzigerin fort. „Ich bin sicher, dass drei von ihnen zurzeit solo sind.“

Ungewollt blitzte eine Erinnerung in ihm auf: an helle, unberingte Hände, die sich an pinkfarbene Akten klammerten, und himmelblaue, Silberfunken sprühende Augen in einem zarten Gesicht.

„Lucy, Penny und …“ Linda stutzte und wandte sich an ihre Gruppe. „Wie heißt noch mal die süße Kleine mit dem blonden Haar?“

Lilia. Entschlossen band Noah sich die Schuhe zu und ermahnte sich, dass er nicht die Absicht hatte, jemanden kennenzulernen. Und diese Lilia schon gar nicht. Sie mochte wie ein Engel aussehen, ihr Wesen hatte jedoch nichts dergleichen an sich. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie in ihrem Schuh einen Pferdefuß und im Spind einen Dreizack verbarg!

„Grace“, sagte jemand. „Aber ob das Blond echt ist?“

Noah stand auf und klopfte sich den Sand von der schwarzen Hose. „Das ist eine beachtliche Liste, aber haben Sie nicht jemanden vergessen?“

„Ich glaube nicht.“

„Was ist mit der Hebamme?“

Ihm war, als schnappte die Truppe kollektiv nach Luft. Lindas Lächeln verblasste. „Lily ist mit ihrem Beruf verheiratet, Doktor. Sie suchen sich besser jemand anderes.“

Der warnende Unterton war ihm nicht entgangen. Bevor er nachhaken konnte, ertönte ein schrilles Konzert von Fahrradklingeln, die Frauen riefen ihm muntere Abschiedsgrüße zu, und ab ging’s, die Straße hinunter, eine wogende grellgelbe Masse in der Mittagssonne.

Lily starrte auf ihren Terminplan und stöhnte auf. Wie hatte sie das vergessen können? Für heute war die zweimonatlich stattfindende Arztsprechstunde angesetzt. Warum nicht im nächsten Monat, wenn Noah Jackson längst wieder weg war?

Als Hebamme der Stadt arbeitete sie weitgehend unabhängig in enger Abstimmung mit der MMU, der Entbindungsstation des Victoria Hospital in Melbourne. Wenn eine Schwangere zu ihr kam, übernahm Lily die Untersuchung und das Erstgespräch. Bei Risikofaktoren wie Diabetes oder einer Mehrlingsschwangerschaft verwies sie die Frau sofort an die Fachärzte im Victoria oder im Bezirkskrankenhaus von Dandenong. Die meisten konnte sie allerdings unter ihre Fittiche nehmen.

Diese Entscheidung traf sie jedoch nicht ganz allein. Alle werdenden Mütter mussten im frühen Stadium ihrer Schwangerschaft außerdem von einem Arzt, in diesem Fall dem lokalen Allgemeinarzt, untersucht werden. Diese Termine legte Lily alle zwei Monate auf denselben Nachmittag. Und heute war dieser Tag.

Ihr Computer meldete eine Mail von Karen.

Griesgram ist unterwegs. Viel Glück! Ich habe Dir Schokoladenkekse in die Küche gelegt. Du brauchst mindestens drei, nachdem Du einen Nachmittag mit ihm zusammengearbeitet hast.

Während der letzten Kaffeepause hatte sich Karen bitter über Dr. Jackson beklagt. Sie fand ihn kalt, unsensibel und bezeichnete ihn als Kontrollfreak.

„Fertig?“

Bei der barschen Frage schwang Lily in ihrem Schreibtischsessel herum. Noah stand an der Tür, die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgerollt, eine Hand am Türrahmen. Lilys Blick fiel auf muskulöse Unterarme mit feinen dunklen Härchen. Tief in ihrem Bauch regte sich etwas, ein Gefühl, das sie seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte. Die Furcht folgte automatisch, und sie verdrängte es rasch. Zu ihrer eigenen Sicherheit hatte sie vor drei Jahren ihren sexuellen Bedürfnissen abgeschworen, und dabei sollte es auch bleiben.

Hatte Noah gestern noch wie ein eleganter Städter ausgesehen, so wirkte er heute … leicht zerzaust. Durch sein dichtes dunkles Haar war der Wind gefahren, die Krawatte steckte zwischen dem dritten und vierten Knopf seines Businesshemds, und an seiner schwarzen Hose klebte Sand. Hatte er die Mittagspause am Wasser verbracht? Sie liebte die beruhigende Wirkung des Ozeans und gönnte sich oft zehn Minuten draußen am Meer, um zwischen zwei Terminen Energie aufzutanken. Vielleicht war er gar nicht so hochnäsig, wie sie gedacht hatte. „War’s schön am Strand?“

Ein Schatten verdunkelte seine schokoladenbraunen Augen. „Das würde ich nicht behaupten.“

Beinahe hätte sie die Augen verdreht. Müßig der Gedanke, er könnte irgendetwas Positives an Turraburra finden! „In der Sprechstunde heute …“, begann sie, entschlossen, mit ihm nur noch über die Arbeit zu reden.

„Geht es um Schwangere“, unterbrach er sie. „Ja, ich weiß. Sie kümmern sich um Blutdruck, Urinproben, Gewicht und so weiter und überlassen den Rest mir.“

Von wegen. Sie stand auf, um auf Augenhöhe zu gehen. Vor drei Jahren hatte sie sich geschworen, nie wieder einem anderen Menschen gegenüber machtlos und verletzlich zu sein. „Diese Frauen sind meine Patientinnen, und Ihre Untersuchung ist eine reine Formalie, damit sie am staatlichen Geburtshilfeprogramm teilnehmen können.“

„Da ich der Arzt bin, entscheide ich doch wohl darüber.“

Teamfähigkeit schien für ihn ein Fremdwort zu sein. „Verzeihen Sie, ich dachte, Sie wären Chirurg, und jetzt praktizieren Sie auf einmal im Nebenberuf als Gynäkologe und Geburtshelfer?“

Er atmete scharf ein, und sie zwang sich, ihr Temperament zu zügeln. Was war an diesem Mann, dass sie immer wieder ihre eigenen Regeln brach? Provoziere nie einen Mann. Bring dich nicht in Gefahr. Außerdem wollte sie Noah Jackson nicht die geringste Gelegenheit geben, sie als verrückte Hebamme abzustempeln und damit vielleicht ihr Programm zu gefährden.

„Ich nehme das zurück. Aber nach fünf Jahren Erfahrung als Hebamme von Turraburra kann ich einschätzen, wer für das Programm geeignet ist und wer nicht. Alle anderen habe ich bereits an die zuständigen Stellen verwiesen.“

Ihre Blicke trafen sich, seiner missmutig und deutlich unzufrieden. „Unterm Strich verschwende ich mit dieser Sprechstunde also nur meine Zeit?“

„Sie ist Bestandteil des Programms.“

„Okay.“ Er wandte sich ab, marschierte den Flur hinunter und verschwand im Untersuchungszimmer.

Lily seufzte und eilte ihm nach.

„Bec“, sagte sie zu der Schwangeren, die im Besuchersessel saß. „Dies ist Dr. Jackson, zurzeit unser Allgemeinarzt. Wie ich Ihnen erklärt habe, wird er Sie heute untersuchen.“

Bec Sinclair, ein fröhlicher sommersprossiger Rotschopf, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Na klar. Schön, Sie kennenzulernen, Doc.“

Noah nahm hinter dem Schreibtisch Platz, nickte knapp und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Computerbildschirm, um ihre Daten zu lesen. Zwischen seinen Brauen erschien eine steile Falte. „Sie haben vor acht Monaten entbunden und sind schon wieder schwanger?“, fragte er, ohne aufzublicken.

Bec lachte. „Es war eine kleine Überraschung, das können Sie mir glauben.“

„Vermutlich haben Sie es versäumt, für Verhütung zu sorgen.“

Lily fiel fast die Kinnlade herunter. Hatte er das tatsächlich gesagt?

Die junge Mutter schien sich nicht daran zu stören. „Das Kondom ist gerissen, aber das macht nichts. Wir wollten ein zweites Kind. Dass es nun ein Jahr früher kommt als geplant, ist keine große Sache.“ Sie beugte sich vor, um Noah auf ihrem Handy ein Foto ihres kleinen Jungen zu zeigen. „Lily hat Harley geholt, und Jase und ich wollen unbedingt, dass sie bei diesem auch dabei ist.“

„Sehr gern. Harley ist so niedlich, stimmt’s, Noah?“ Lily hoffte, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl verstand und ein paar freundliche Worte mit der Patientin wechselte.

Noah ignorierte Frage und Foto. Er stieß sich vom Schreibtisch ab, stand auf und klopfte auf die Untersuchungsliege. „Hoch mit Ihnen.“

Bec warf Lily einen vielsagenden Blick zu. Ist der immer so? Doch sie erhob sich und hievte sich auf die Liege.

Lily half ihr, sich bequem hinzulegen, und stellte sich dann ans Kopfende. Schweigend horchte Noah ihr Herz ab, untersuchte ihre Brüste und ihren Bauch. Da er keinen Ton von sich gab, begann Lily, ihr zu erklären, warum er was tat.

Als Bec hinterher wieder in ihrem Sessel saß, sagte Noah knapp: „Es scheint alles in Ordnung zu sein, aber Sie sind zu dick.“

Bec wurde blass.

„Dr. Jackson meint, dass von Ihrer letzten Schwangerschaft noch Gewicht geblieben ist“, beeilte Lily sich zu sagen, während sie ihm einen giftigen Blick zuwarf.

„Ich meine nichts dergleichen.“ Noah rief eine BMI-Tabelle auf, drehte den Monitor zu Bec und zeigte auf die Stelle, wo der gelb markierte Bereich für Übergewicht in den roten für Adipositas überging. „Im Moment rangieren Sie knapp unterhalb der Grenze zur Fettleibigkeit. Wenn Sie während dieser Schwangerschaft nicht aufpassen, rutschen Sie in die rote Zone. Damit riskieren Sie schwerwiegende Komplikationen wie Diabetes, Präeklampsie und Thrombosen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass das Baby eine falsche Position einnimmt wie zum Beispiel eine Steißlage. Alles Faktoren, die dagegen sprechen, dass Sie bei Lilia im Geburtszentrum entbinden.“

„Aber ich möchte mein Baby hier bekommen“, sagte Bec mit ungewohnt zitternder Stimme.

„Dann sorgen Sie für mehr Bewegung, und ernähren Sie sich gesund. So einfach ist das.“ Noah wandte sich an Lily. „Sie haben sicher entsprechende Informationen für Ihre Patientinnen?“

Sie nickte nur, ohne ihn weiter zu beachten. „Kommen Sie, Bec, ich gebe Ihnen die Broschüren mit und dazu den Terminplan für die Aquafitness-Kurse. Die machen Spaß, und im Schwimmbad wird auch eine Kinderbetreuung angeboten.“

Lily begleitete sie nach draußen, versorgte sie mit den versprochenen Informationen und einem Päckchen Papiertücher. „Wir können uns gern morgen wieder treffen und alles im Einzelnen besprechen. Okay?“

„Ja, danke.“ Bec schniefte. „Ich weiß, dass ich ordentlich zugelegt habe, aber zu hören, dass es so schlimm ist …“

Lily hätte Noah erwürgen können. „Es tut mir leid.“

„Nein, nein, es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich schätze, das musste mir mal jemand deutlich sagen. Mir war nicht klar, dass mein Übergewicht für mein Baby und mich gefährlich werden kann. Und ich möchte es auf keinen Fall in Melbourne bekommen. Mandy Carmichael ist auch wieder schwanger und ziemlich füllig. Vielleicht können wir zusammen etwas unternehmen, uns gegenseitig helfen?“

„Das hört sich großartig an.“ Lily lächelte ermutigend.

Nachdem Bec gegangen war, meldete sich Karen bei ihr. „Kat Nguyen hat ihren Termin verschoben, du hast also eine Pause.“

Schon während Lily auflegte, wusste sie ganz genau, wie sie die unverhofft freie halbe Stunde nutzen würde!

Noah blickte auf, als Lilia ins Sprechzimmer kam. Sie war allein, ihre Miene angespannt, die Lippen zusammengepresst. Unerwartet wünschte er sich, sie lächeln zu sehen.

Wozu? fragte er sich ärgerlich. Weil du neugierig bist, wie sie aussieht, wenn ihre Augen vergnügt aufleuchten, wenn sich Grübchen in ihren Wangen bilden, wenn die Lachfältchen ihr Gesicht hübscher machen? Noah versuchte, das Bild einer glücklichen, lebensfrohen Lilia Cartwright abzuschütteln. Bisher war sie ihm nur auf die Nerven gegangen, und dabei würde es sicher bleiben. „Wo ist die nächste Patientin?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Die kommt später.“

„Ach, deshalb sehen Sie aus, als hätten Sie in eine Zitrone gebissen. Allmählich müssten Sie wissen, dass in der Medizin nicht immer alles nach Plan läuft.“

Ihre Augen wurden so groß, dass er das Gefühl hatte, von den azurblauen Tiefen verschluckt zu werden. „Sind Sie gestresst oder krank?“

„Nein.“ Verwundert sah er sie an. „Wie kommen Sie darauf?“

Sie baute sich vor seinem Schreibtisch auf. „Dann sind Sie von Natur aus grob.“

Noah zügelte den aufflammenden Zorn. Was ihn selbst überraschte. Normalerweise brüllte er los wie ein Löwe, wenn eine Krankenschwester oder ein Assistenzarzt es wagte, so mit ihm zu sprechen. „Warum die Aufregung? Haben Sie sich über etwas geärgert, als Sie draußen waren?“

„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ Ihre sonst rauchige Stimme stieg um ein paar Noten höher. „Wollen Sie wissen, warum ich mich aufrege? Sie haben Bec Sinclair gesagt, dass sie dick ist!“

„Und? Stimmt doch.“

Mit beiden Händen stützte sie sich auf seiner Schreibtischplatte ab, und Noah nahm einen zarten Duft nach Frühlingsblumen wahr. „Richtig, aber das hätten Sie etwas freundlicher formulieren können. Denken Sie jemals nach, bevor Sie den Mund aufmachen?“

„Selbstverständlich.“ Noah schoss von seinem Sessel hoch, damit sie nicht mehr auf ihn hinunterblicken konnte. „Fakt ist, dass sie ihre und die Gesundheit ihres Kindes aufs Spiel setzt. Ich habe ihr lediglich die Wahrheit gesagt.“

„Unsensibel und grob.“

„Nein, ich nehme nur kein Blatt vor den Mund.“

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass er ein Schleudertrauma befürchtete. „Oh nein, so leicht kommen Sie mir nicht davon. Es gibt andere Möglichkeiten, jemandem die Wahrheit beizubringen. Man müsste sich nur Gedanken machen, statt wie ein Elefant im Porzellanladen aufzutreten.“

Jetzt hatte sie die rote Linie endgültig überschritten. „Hören Sie, Miss Oberlehrerin“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Es steht Ihnen nicht zu, hier hereinzustürmen und mir haltlose Beschuldigungen an den Kopf zu werfen.“

Hebamme Cartwright straffte die Schultern wie eine Amazone, die zum Angriff überging. „Wenn es meine Patientinnen betrifft, schon! Sie haben es geschafft, dass eine Frau, die ich nur entspannt, fröhlich und optimistisch kenne, fast in Tränen ausgebrochen wäre.“

Sein Unmut fiel in sich zusammen. „Ist das wahr?“

„Was dachten Sie denn? Sie war völlig durch den Wind.“

Noah rieb sich den Nacken. „Das war mir nicht klar.“

Lilia ließ sich in den Besuchersessel sinken und starrte ihn ungläubig an. „Sie machen Witze, oder?“

Nein. Oh Mann, er hasste Allgemeinmedizin mit dem ganzen Gefühlskram und Regeln, die er nicht kannte. Er war Chirurg, und zwar ein verdammt guter! Er diagnostizierte Probleme und entfernte sie mit dem Skalpell. Damit verschaffte er anderen Menschen mehr Lebensqualität. Was ihm wesentlich leichter fiel, als im trüben Gewässer der inneren Medizin zu fischen, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Bangen.

Das hatten seine Mutter und er schmerzlich erfahren müssen. Es hatte sein Leben verändert, und danach schwor er sich, seinen Patienten immer die Wahrheit zu sagen. Schwarz ist schwarz, und weiß ist weiß. Die Leute brauchten Informationen, damit sie Entscheidungen treffen konnten.

Wie ein Echo im Kopf ertönte die Stimme des Professors: Es gab Beschwerden über Ihren Umgang mit Patienten, die wach sind.

Seine Knie zitterten, und in seinem Magen ging es rund. Noah setzte sich wieder hin. Hatte der Prof so etwas wie mit Bec Sinclair gemeint? Hatte Lilia recht? Sosehr sich alles in ihm dagegen sträubte, aber anscheinend ließ sein Auftreten Patienten gegenüber wirklich zu wünschen übrig. Und, wie es aussah, bildete es eine gewaltige Hürde auf seinem Weg zum chirurgischen Facharzt.

„Noah?“

Keine Spur mehr von Ärger oder Sarkasmus. Sie klang aufrichtig besorgt. Noah blickte hoch, und sein Blick blieb an ihren vollen Lippen hängen. Rosige, glänzende Lippen, leicht geöffnet. Unwillkürlich fragte er sich, wie sie sich anfühlen, wie sie schmecken würden …

Es dauerte nur einen winzigen Moment, als sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen strich, doch es genügte, dass Verlangen in ihm aufflammte. Heiß und gierig, als wäre er ein hormongesteuerter Teenager. Noah holte tief Luft, froh darüber, dass er hinter dem Schreibtisch saß.

Zur Sicherheit richtete er den Blick auf ihre Nase, die weder niedlich noch sexy war. Gleich darauf hatte er seinen verräterischen Körper wieder unter Kontrolle. Er wollte sich nicht zu Lilia Cartwright hingezogen fühlen, sondern nur die verdammte Zeit in Turraburra hinter sich bringen und wieder nach Melbourne verschwinden. Zu seinem Job am Victoria, den er über alles liebte.

„Noah, ist alles in Ordnung?“ Ihre Stimme klang nicht mehr eisig, sondern weich und warm.

Nichts ist in Ordnung. Sollte er ihr den wahren Grund nennen, warum das Victoria einen Chirurgen nach Turraburra geschickt hatte? Ihr anvertrauen, dass er seinen Facharzt vergessen konnte, wenn er diese Kommunikationsschwäche nicht in den Griff bekam? Dass dann zehn Jahre harter Arbeit für die Katz sein würden?

Zum ersten Mal, seit er ihr begegnet war, las er Interesse und Empathie in ihren Augen. Und er konnte Hilfe gebrauchen, wenn er nicht gemerkt hatte, wie er einer Patientin zusetzte.

Sie wird Verständnis haben.

Das weißt du nicht. Sie könnte es gegen dich verwenden.

Während der langen Ausbildung, für die er viel Energie und Zeit aufgewendet hatte, um sich gegen starke Konkurrenz auf dem Gebiet der Chirurgie zu behaupten, war er nie von jemandem abhängig gewesen. Und er würde jetzt nicht damit anfangen. Nachdem er das für sich geklärt hatte, brauchte er trotzdem noch eine Lösung. Er fand sie, als er sich daran erinnerte, wie Lilia mit Bec umgegangen war. Da konnte er nur von ihr lernen.

Natürlich würde er sie nicht um Hilfe bitten, die Blöße wollte er sich nicht geben. Aber er konnte sie genau beobachten, ihr Verhalten studieren und davon profitieren.

Noah lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Hände am Hinterkopf. „Kommen heute noch mehr dicke Frauen?“

Das trug ihm einen misstrauischen Blick ein. „Eine.“

„Sind Sie meiner Meinung, dass ihr Gewicht ein potenzielles Risiko darstellt?“

„Ja, aber …“

„Gut.“ Er beugte sich so schnell vor, dass der Stuhl klapperte. „Diesmal leiten Sie die Untersuchung, was bedeutet, dass Sie ihr erklären werden, dass ihr Gewicht ein Problem ist.“

Überrascht sah sie ihn an, fing sich und musterte ihn wie ein Sprengstoffexperte, der einen Bombenfund inspizierte. „Und?“

„Dann werde ich Ihren Auftritt unter die Lupe nehmen so wie Sie meinen. Schließlich ist das Victoria ein Lehrkrankenhaus – also gleiches Recht für alle.“

Er konnte nicht anders, er musste grinsen, als sie ihn verblüfft anstarrte.

3. KAPITEL

Lily drehte die Musik laut auf, sang aus voller Kehle mit, während sie über die Hügel zurück zur Küste und nach Turraburra fuhr, und versuchte, den Blick auf die herrliche Landschaft zu genießen.

Alles, um ihre unruhigen Gedanken im Zaum zu halten, die sich immer wieder in eine Richtung aufmachten, die ihr gar nicht gefiel.

Auf smaragdgrünen, vom Frühlingsregen saftigen Weiden grasten schwarzweiße Kühe. Im Januar würde das Gras braun werden, und grün war dann nur noch das gefiederte Laub der Eukalyptusbäume mit ihrer leuchtend weißen Rinde.

Lily war zu einem Nachsorgetermin bei den Hawkers gewesen. Jess und dem Baby ging es gut. Richard hatte Scones gebacken und bestand darauf, dass Lily zum zweiten Frühstück blieb. Sie traute ihren Augen nicht, als der bullige Farmer ein Blech köstlich duftender Brötchen aus dem Ofen zog. Die wenigen Männer, die ihren Weg gekreuzt hatten, konnten weder kochen noch backen.

Richard lachte, nachdem sie überrascht nachgefragt hatte. „Wenn ich mich darauf verlassen würde, dass Jess kocht, wären wir beide schon vor Jahren verhungert.“

„Ich habe eben andere Talente“, meinte Jess lächelnd. Sie war Turraburras Rechtsanwältin.

„Genau“, erwiderte Richard und blickte seine Frau liebevoll an.

Lily wurde die Kehle eng. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, wie sehr ihre Eltern einander geliebt hatten, doch sie erinnerte sich nicht daran. Irgendwie war es immer wie ein Märchen gewesen, nicht greifbar, nicht wirklich. Natürlich stand das Foto von ihrer Hochzeit auf Lilys Nachttisch, aber sie hatte oft von Scheidungen und Trennungen gehört. Ob ihre Eltern überhaupt noch zusammen wären, wenn sie länger gelebt hätten?

Ihr Großvater liebte sie sehr, doch sie hatte nie die Art Liebe kennengelernt, die Jess und Richard verband. Sie hoffte darauf, als sie Trent begegnete, und wurde bitter enttäuscht. Wie eine Seifenblase zerplatzte ihr Märchentraum an den scharfen Kanten der Realität. Um sich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen, wagte sie es nicht, sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Ab und zu gab es jedoch Augenblicke, in denen sie mit ihrem Entschluss haderte. Zum Beispiel, wenn sie echte Liebe sah wie heute bei den Hawkers.

Auf einmal kam ihr das laute Singen wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde vor. Seit Noah Jackson in Turraburra aufgetaucht war, hatte sie ihre Gefühle nicht mehr richtig im Griff. Sie wurde aus ihm nicht schlau. Der Mann war rüde, überheblich, selbstgerecht, kurzum: zum Verzweifeln. Sie sollte keinen einzigen Gedanken mehr an ihn verschwenden. Wäre da nicht gestern der Moment gewesen, als er sichtlich erstaunt und betroffen gewesen war, nachdem sie ihm wegen Bec Sinclair die Leviten gelesen hatte. Das passte nicht zu ihm.

Du musst aus ihm nicht schlau werden. Aus keinem Mann. Du weißt, dass das sicherer für dich ist.

Aber es ließ ihr keine Ruhe, wie seine Fassade „Ich bin Chirurg, verneigt euch gefälligst“ einen Riss bekommen hatte. Mit dem arroganten Noah konnte sie besser umgehen als mit dem nachdenklichen, der ruhig danebengesessen und zugehört hatte, als sie mit Mandy Carmichael über ihr Gewicht sprach. Widerstrebend gestand sie sich ein, dass dieser Noah etwas in ihr anrührte.

Lily bremste an der Kreuzung, bog rechts ab und passierte das Ortsschild von Turraburra. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihr vor der Nachmittagssprechstunde noch Zeit blieb, nach ihrem Großvater zu sehen.

Ihr Handy meldete sich, wie immer, wenn sie die Stadt und damit die Nähe eines Sendemasts erreichte. Statt einer oder zwei Nachrichten vibrierte das Gerät sechs Mal in schneller Folge. Lily fuhr an den Straßenrand.

11.00 Uhr Ortsfremde Patientin in den Wehen. Fahr ins Krankenhaus. Karen

11.15 Besucherin aus der Stadt mit fortgeschrittener Wehentätigkeit in der Notaufnahme. Ich würde Ihre Unterstützung begrüßen. N. Jackson

„Wer sind Sie, und was haben Sie mit dem Noah Jackson gemacht, der mich immer auf die Palme bringt?“ Karens Text wirkte im Vergleich mit Noahs höflicher Formulierung fast barsch. Umgekehrte Vorzeichen, dachte sie lächelnd.

11.50 Wehen alle zwei Minuten. Das letzte Baby habe ich vor sechs Jahren geholt. Erbitte sofortige Unterstützung. NJ.

12.10 Wo zum Teufel bleiben Sie? N.

„Und da ist er wieder!“ Allerdings musste sie Noah zugestehen, dass sie in seiner Lage auch gestresst wäre. Lily legte den Gang ein, blickte über die Schulter und fuhr zurück auf die Straße.

Drei Minuten später rannte sie in die Notaufnahme und hörte schon von Weitem das Stöhnen einer Frau, die in den Wehen lag.

Zum ersten Mal, seit er in Turraburra war, freute sich Noah aufrichtig, die Hebamme zu sehen, die ihn von Anfang an mit ihrer hochnäsigen, zitronensauren Art geärgert hatte: Lilia Cartwright.

„Sie schreiben nicht, Sie rufen nicht an“, meinte er bemüht locker. In Wirklichkeit war sein Hals wie zugeschnürt, und er hätte sie am liebsten angebrüllt. Wo zur Hölle waren Sie? Ich war hier kurz vor einer Panikattacke!

„Tut mir leid“, antwortete sie munter. „Ich hatte keinen Empfang.“

„Ernsthaft?“ Das hatte er nicht erwartet. „Sie sind nicht erreichbar, sobald Sie die Stadt verlassen? Das ist nicht gut für Ihre Patienten. Was ist, wenn ein Kind kommt, während Sie irgendwo da draußen sind?“

„Willkommen auf dem Land, Noah. Wir wären liebend gern so gut versorgt wie Sie in der Großstadt, aber unsere Infrastruktur macht da nicht mit.“

„Wie können Menschen nur so leben?“, murmelte er und hatte noch einen Grund gefunden, warum das Landleben nichts für ihn war.

„Ich sage Karen immer Bescheid, wo ich bin, und ihre Nachrichten erreichen mich irgendwann.“

„Oh, wie beruhigend!“

Sie verdrehte die Augen. „Jetzt bin ich ja da. Sie können die Panik wegpacken.“

So etwas hörte er gar nicht gern. „Ich bin nicht in Panik.“

„In Ihrem geliebten OP-Saal wären Sie das nicht, aber dies hier ist nicht Ihr Fachgebiet. Da ist es nur normal, dass Sie nervös werden.“

Nichts in ihrer Miene deutete darauf hin, dass sie auf ihn herabsah. Verständnis war alles, was er in ihren blauen Augen las, und das verwirrte ihn. Machte ihn misstrauisch. Schließlich hatte die Arbeit in der Chirurgie ihn eins gelehrt: Das Leben ist ein einziger Konkurrenzkampf. Jedes geringste Zeichen von Schwäche, und ein anderer kletterte auf der Karriereleiter an einem vorbei. Deshalb hatte er auch erwartet, dass Lilia die Gelegenheit nutzte, ihn mit der Nase auf sein Versagen zu stoßen. So wie gestern. Aber nichts dergleichen.

Als sie sich eine Einmalschürze umband, warf sie ihren Zopf auf eine Seite, und Noahs Blick fiel unwillkürlich auf ihren schlanken, cremehellen Hals. Ein Duft nach Äpfeln, Kirschen und Mango hüllte ihn ein und weckte Erinnerungen an längst vergangene Sommer seiner Kindheit, an sonnenreife Früchte und Eis, das süß auf der Zunge schmolz.

Flüchtig bedauerte er, dass Hebammen nicht mehr wie früher Kittelschürzen trugen. Dann hätte er sie ihr hinten zusammenbinden müssen, dabei ihren warmen weiblichen Körper berührt. Bei der Vorstellung schlug sein Herz einen Takt schneller, Hitze durchströmte ihn.

Was soll das? Sie ist nicht dein Typ, und du magst sie nicht einmal.

Die Frauen, mit denen er ausging, flirteten gern und wollten einfach ihren Spaß. Eine gute Zeit miteinander, die nach zwei, drei Wochen spätestens endete. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass Lilia nicht zu diesen Frauen gehörte.

Sie hob den Kopf und ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte. Hastig strich sie sich über die Wangen. „Was ist? Habe ich noch Marmelade oder Quark vom Frühstück am Mund?“

„Nein.“ In seiner Verlegenheit stieß er das Wort fast barsch hervor, und augenblicklich war Lilia angespannt. Seufzend bereute er seinen Tonfall. „Entschuldigung. Kann ich Sie bitte über die Patientin informieren?“

„Ja.“ Sie klang so erleichtert, wie er sich fühlte. „Was liegt an?“

Froh darüber, sich wieder auf vertrautem Gebiet zu bewegen, gab er einen detaillierten Bericht. „Jade Riccardo, Erstgebärende, siebenunddreißigste Woche. Sie hat Verwandte in der Stadt besucht und kam vor einer Stunde mit deutlicher Wehentätigkeit hier an. Fetaler Herzschlag ist stark, und wenn ich meinen eingerosteten Palpationsfähigkeiten glauben darf, ist das Hinterhaupt vorn liegend. Mrs. Riccardos Mann ist bei ihr, und beide sind verständlicherweise nervös, weil das Baby eigentlich in Melbourne zur Welt kommen sollte.“

Ein tiefes Stöhnen ertönte hinter der Tür. „Sieht ganz so aus, als wollte es in Turraburra zur Welt kommen, und zwar bald.“ Lilia strahlte ihn an, mit zauberhaften Grübchen in den Wangen und Augen so strahlend blau wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag. Sie schien voll in ihrem Element zu sein, während er seit Stunden Magendrücken hatte. Lilia zog ihn am Arm. „Kommen Sie, wir werden bei einer Geburt gebraucht.“

Ihre Berührung war nur kurz, und doch vermisste er ihre Wärme, als sie die Hand wieder wegzog. Noah folgte ihr ins Zimmer und stellte sie vor. „Jade, Paul, das ist Lilia Cartwright, die Hebamme von Turraburra.“

Jade, auf die Vorgänge in ihrem Körper konzentriert, antwortete nicht. Sie war im Vierfüßlerstand, wiegte sich vor und zurück und saugte Lachgas in ihre Lungen, als hinge ihr Leben davon ab.

Paul, der seiner Frau den Rücken rieb, warf Lilia und Noah einen dankbaren Blick zu. „Sind Sie sicher, dass alles okay ist? Sie stöhnt so viel.“

Lilia lächelte. „Das ist sehr gut. Es bedeutet, dass sie mit ihrem Körper geht und für die Geburt bereit ist.“ Sie legte Jade die Hand auf die Schulter. „Hi, Jade. Ich weiß, dass Sie sich das anders vorgestellt haben, aber wir haben hier in Turraburra schon viele Babys auf die Welt geholt. Nicht wahr, Noah?“

„Ja.“

Sie verdrehte die Augen.

Noah spürte, wie sich Schweißperlen auf seinen Brauen bildeten. Ihr resignierter Blick sprach Bände, also musste er irgendetwas falsch gemacht haben. Noah sah den Ehemann an, dessen Miene vor Sorge wie versteinert wirkte. „Viele Babys“, wiederholte er in, wie er hoffte, beruhigendem Tonfall. „Zwar sind Sie nicht wie geplant in Melbourne, aber in sehr guten Händen.“ Lilias Händen.

Paul entspannte sichtlich. „Das ist gut zu wissen.“

Lilia legte eine Hand auf Jades Bauch, die andere auf ihren Po. „Mit der nächsten Wehe möchte ich, dass Sie pressen, Jade.“

Die werdende Mutter stöhnte auf.

„Ich spüre die Kontraktion schon.“

Jade nahm einen Atemzug Lachgas und presste.

Lilia zog sich Handschuhe an. „Das machen Sie wunderbar, Jade. Ich sehe schon schwarze Haare.“

„Hast du das gehört, Honey?“ Paul strich seiner Frau übers Haar.

Als die Wehe abgeklungen war, sank Jade auf die Kissen. „Ich kann das nicht.“

„Sie sind bereits voll dabei, Jade“, sagte Lilia ruhig. „Jede Wehe bringt Sie näher zu dem Moment, in dem Sie Ihr Baby in den Armen halten.“

Noah, der sich nutzlos vorkam wie ein Fahrrad ohne Räder, tat das, was er am besten konnte, und beschäftigte sich mit medizinischem Besteck. Er streifte Handschuhe über, riss das sterile Entbindungsset auf, legte Schüssel, Zange und Schere bereit und die Nabelschnurklemmen dazu. Und die ganze Zeit lauschte er Lilias besänftigender Stimme.

Bald waren sie ein eingespieltes Team: Paul, der Jade beruhigte, Lilia, die den Weg des Babys beobachtete, und Noah, der nach jeder Kontraktion die kindlichen Herztöne überprüfte. Jedes Mal, wenn das rauschende Hufgetrappel ertönte, grinste Paul ihn an, und Noah ertappte sich dabei, wie er zurücklächelte.

Zwanzig Minuten später war es so weit. „Mit der nächsten Wehe ist Ihr Baby da.“ Lilia ertastete mit den Fingern den Kopf des Kindes. „Hecheln, Jade, hecheln Sie.“

Jade versuchte es, stöhnte dann laut auf. „Kann ich nicht.“ Mit einem tiefen Grunzen presste sie, was ihre Kräfte hergaben. Einen Moment später erschien der Kopf des Babys mit dem runzligen, überrascht wirkenden Gesicht.

„Der Kopf ist draußen. Gut gemacht.“

„Unser Baby ist gleich da, Honey.“ Pauls Stimme klang rau. „Ich sehe sein Köpfchen.“

„Ich kann nicht mehr“, schluchzte Jade. „Das schaffe ich nicht.“

Noah betrachtete die junge schwitzende, erschöpfte Frau, die so kurz vor dem Ziel am Ende ihrer Kräfte war. Das erinnerte ihn an einen Marathonlauf, bei dem er beinahe aufgegeben hätte, weil jeder Atemzug, jeder Schritt, jede Bewegung unerträglich wehtaten. Einer der freiwilligen Helfer an der Strecke rief ihm zu: „Das Schlimmste hast du hinter dir, Mann! Mach weiter, der Preis winkt schon.“ Genau das hatte er hören müssen. Noah mobilisierte die allerletzten Reserven und erreichte sein Ziel.

„Das Schwierigste haben Sie geschafft, Jade“, sagte er ruhig. „Sie können das. Nur noch eine Presswehe.“ Er fing Lilias Blick auf, las Überraschung, aber auch Anerkennung darin. Noah verspürte das alberne Gefühl, jemandem ein High five zu geben wie nach einem hart erkämpften Sieg.

Jade packte seine Schulter, sah ihm mit wilder Entschlossenheit in die Augen. „Versprochen?“

„Versprochen.“

„Noah hat recht, Jade“, bestätigte Lilia. „Mit der nächsten Wehe helfe ich bei den Schultern, und der Rest kommt ganz von selbst.“

„Okay. Ich spüre sie schon …“ Und sie presste mit aller Kraft.

Das Baby glitt in Lilias Arme, und der Anblick rührte tief in Noah etwas an. Es war Jahre her, dass er bei einer Geburt dabei gewesen war. Er hatte vergessen, wie bewegend es sein konnte zuzusehen, wie ein neues Leben das Licht der Welt erblickte.

Lilia klemmte die Nabelschnur ab. „Möchten Sie die Nabelschnur durchschneiden, Paul?“

„Ja.“ Er tat es mit bebenden Händen und sagte dann zärtlich zu seiner Frau: „Wir haben eine kleine Tochter, Jade. Unsere Jasmine.“

Noah rieb das Neugeborene mit einem Handtuch ab, checkte Atmung, Farbe und Muskeltonus, um die Apgarwerte für die erste Lebensminute zu vergeben. Das winzige Mädchen hatte noch nicht geschrien, aber seine dunklen Augen glänzten lebhaft. Ihm wurde die Kehle eng, und er versuchte, die Gefühle abzuschütteln. Emotionen machten einen Mann schwach und verletzlich.

Paul nahm ihm das Baby ab, während Lilia sich um die Nachgeburt kümmerte. Endlich konnte Jade ihr Kind im Arm halten. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie das Tuch aufschlug und die winzigen Finger und Zehen zählte. „Hey, Sweetie, hier ist deine Mummy.“

Noah trat zu Lilia, die in einer Ecke des Zimmers stand und das junge Familienglück betrachtete. Er sah sie an. Ihre schönen blauen Augen schimmerten verräterisch, doch ihr Gesicht strahlte. Ein Leuchten ging von ihr aus, und zum ersten Mal erlebte er sie richtig glücklich. Wie von einem unsichtbaren Magneten gezogen lehnte er sich zu ihr, bis ihre Köpfe sich fast berührten. Ihr zartes, fruchtiges Parfüm stieg ihm in die Nase, und plötzlich musste er sich sehr zusammenreißen, um sie nicht in die Arme zu nehmen und leidenschaftlich zu küssen.

„Sie waren großartig“, sagte er stattdessen. „Sehr beeindruckend.“ Die Worte klangen knapp, ja fast barsch in seinen Ohren, und er richtete sich hastig auf, um wieder Abstand zu wahren.

„Danke.“ Sie putzte sich die Nase. „Entschuldigung, ich werde jedes Mal zur Heulsuse.“

„Verständlich.“

Lilia wandte sich ihm zu und musterte ihn. „Sie waren auch okay.“

Bei seinen Maßstäben war „okay“ nicht annähernd gut genug. „Nur okay?“

Sie lachte. „Wollen Sie Komplimente angeln, Noah?“

Das brachte ihn zum Schmunzeln. „Kann sein.“

„Lassen Sie es mich so ausdrücken: Heute waren Sie besser als gestern.“

„Und?“

„Empathie zu zeigen fällt Ihnen nicht leicht.“

Sie ging zurück zu Mutter und Kind, und er bewunderte dabei den sanften Schwung ihrer Hüften. Einerseits behagte es ihm gar nicht, wie mühelos sie ihn durchschaute, andererseits war er irgendwie erleichtert. Alles in allem verwirrte sie ihn. Warum reagierte er so widersprüchlich auf sie? Sie konnte ihn zur Weißglut treiben, und dann wieder wollte er sie küssen, bis sie beide alles um sich herum vergaßen.

Vier Wochen lang in Turraburra zu überleben, erschien ihm auf einmal aus vielerlei Gründen noch schwieriger.

Zwei Tage später winkte Lily den Riccardos nach, als sie mit der kleinen Jasmine das Krankenhaus verließen. Sie hoffte, dass die beiden vorbeikamen, wenn sie das nächste Mal in der Stadt waren. Lily liebte es, die Babys, die sie auf die Welt geholt hatte, wachsen und gedeihen zu sehen. Und Jasmine war eine besonders Süße.

„Ach, Lily …?“ Karen stand am Türrahmen zu Lilys Büro, als sie sich gerade auf ein Treffen mit ihrer neuen Müttergruppe nach dem Mittagessen vorbereitete.

Verwundert blickte Lily auf. Es kam äußerst selten vor, dass die Arzthelferin ihren angestammten Platz verließ und sich auf den Weg zum Anbau machte. Für gewöhnlich benutzte sie die Wechselsprechanlage.

Lily zermarterte sich den Kopf, ob sie vergessen hatte, wichtige Unterlagen weiterzugeben. „Hi, Karen. Was immer ich verbrochen habe, es tut mir leid“, meinte sie lachend. „Sag mir, wie ich es wiedergutmachen kann.“

Karen schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um die Arbeit, Lily. Aus der Notaufnahme kam gerade ein Anruf. Dein Großvater ist eingeliefert worden.“

Oh nein! Ihre Gedanken rasten. Er war fünfundachtzig, es konnte ein Schlaganfall sein, ein Herzinfarkt, ein böser Sturz. Lily mochte gar nicht daran denken.

Karen drückte ihr die Handtasche in die Hand und schob Lily zur Tür. „Du gehst jetzt ins Krankenhaus, und mach dir keine Gedanken wegen deiner Termine. Ich rufe die neuen Mums an, dass der Nachmittagskurs ausfällt.“

„Danke, Karen, du bist die Beste.“ Sie lief aus dem Zimmer, aus dem Gebäude, quer über den Rasen und durch den Hintereingang in die Notaufnahme – in Gedanken bei ihrem geliebten Großvater.

Außer Atem blieb sie am Empfang stehen. „Wo ist er?“

„Raum eins“, antwortete Stationsschwester Bronwyn Patterson freundlich.

„Danke.“ Lily eilte weiter, riss die Tür zum Schockraum auf und fiel fast ins Zimmer. Ihr Großvater lag, mit Kissen gestützt, auf einer schmalen Rollliege und war fast so weiß wie das Laken, mit dem man ihn zugedeckt hatte. „Gramps? Was ist passiert?“

„Beruhige dich, Lily. Mir geht’s gut.“

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung und sah Noah, der jetzt von einem EKG-Ausdruck aufblickte.

„Hallo, Lilia.“

Der leicht amüsierte Unterton war ihr nicht entgangen. Weil sie einfach hereingeplatzt war und Noah nicht beachtet hatte? Zugegeben, hätte Noah das getan, wäre er um einen Rüffel von ihr nicht herumgekommen. „Hallo, Noah. Was hat mein Großvater?“

„Er ist ohnmächtig geworden.“

„Hast du nicht gefrühstückt, Gramps?“ In ihrer Angst um ihn klang sie vorwurfsvoll.

„Natürlich habe ich gefrühstückt! Und bevor du fragst – ich habe auch alle meine Tabletten genommen. Ich bin nur zu schnell aufgestanden.“

Du kannst von Glück sagen, dass du dir keine Hüfte gebrochen hast, dachte sie halb erleichtert. „Was hast du da am Arm?“ Sie zeigte auf den Verband.

„Nur ein oberflächlicher Schnitt. Reg dich nicht auf.“ Er blickte sie mürrisch an. „Musst du nicht ein Baby holen?“

Lily ließ sich auf dem Stuhl neben der Liege nieder. „Ich gehe nirgendwohin, bevor ich nicht sicher bin, dass mit dir alles in Ordnung ist!“

„Na schön, aber mach mich nicht verrückt.“ Ihr stets gut gelaunter Großvater verschränkte die Arme vor der mageren Brust und machte ein missmutiges Gesicht.

„Sagen Sie Bescheid, wenn Sie meine Meinung hören wollen“, meinte Noah trocken.

Gramps lachte, und seine schlechte Stimmung verflog. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass er Humor hat, Lily.“

Ich wusste nicht, dass er welchen hat. Verlegen wurde sie rot, weil Noah nun wusste, dass sie mit ihrem Großvater über ihn gesprochen hatte.

Noah warf ihr einen herausfordernden Blick zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Enkelin meinen Sinn für Humor genauso einschätzt wie Sie, Mr. Cartwright.“

„Sagen Sie Bruce zu mir. Also, warum bin ich umgekippt?“

„Ihre Herzfrequenz ist sehr niedrig.“

„Das ist doch gut, oder? Heißt, dass ich fit bin für mein Alter.“

Noah hielt den Ausdruck hoch. „Das EKG verrät mir, dass es eine Blockade in der elektrischen Erregungsleitung Ihres Herzens gibt, also in dem Teil, der die Geschwindigkeit der Herzschläge kontrolliert. Das bewirkt, dass Ihr Herz zu langsam schlägt und nicht genug Blut in den Kreislauf gepumpt wird. Als Folge wird Ihnen schwindlig bis zur Ohnmacht.“

Bruce wirkte nachdenklich. „Hört sich an, als müsste ich neu verkabelt werden.“

Diesmal lachte Noah. „Sie brauchen eher einen neuen Starter, aber Kabel sind auch dabei. Er nennt sich Schrittmacher und wird Ihnen bei einem kleinen Eingriff eingesetzt. Ich kann Ihnen eine Klinik in Melbourne empfehlen.“

Autor

Marion Lennox
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