Julia Best of Band 272

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SCHNEE, EIS UND EIN TRAUMMANN
Ein gut aussehender Fremder mit einem Baby auf dem Arm stand eigentlich nicht auf Emmas Wunschliste. Aber in ihrer weihnachtlich geschmückten Pension ist noch ein Zimmer frei. Und in ihrem einsamen Herzen ein Platz für zwei besondere Menschen …

EIN GEHEIMNISVOLLER GELIEBTER
So romantisch sich der Advent in der kleinen Stadt präsentiert, so abweisend ist der reiche Geschäftsmann Morgan gegenüber. Dabei ahnt sie, dass Nate sie mag! Doch er verbirgt etwas vor ihr. Wenn sie mit ihm ein Fest der Liebe feiern will, muss sie sein Geheimnis lüften …

WIE BRINGT MAN EIN HERZ AUS EIS ZUM SCHMELZEN?
„Nein.“ Mit einem einzigen Wort schließt der bemerkenswert attraktive Jefferson Stone die Haustür vor Angies Nase. Das darf doch nicht wahr sein! Sie braucht den Job als Haushälterin bei ihm unbedingt! Und eigentlich auch Jefferson: sexy, stark – jemand, der sie beschützt …


  • Erscheinungstag 25.11.2023
  • Bandnummer 272
  • ISBN / Artikelnummer 0812230272
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Cara Colter

JULIA BEST OF BAND 272

1. KAPITEL

Hundert Liter heiße Schokolade.

Fünfzig Liter Glühwein.

Vierhundertzweiundsechzig liebevoll dekorierte Weihnachtsplätzchen.

Und niemand würde kommen.

Der Sturm rüttelte an den Fenstern des White Pond Inn, dem Bed & Breakfast, das Emma White gehörte und das sie erst am Morgen in White Christmas Inn umbenannt hatte.

Im Radio verglich man das Wetter bereits mit dem großen Eissturm von 1998, der in diesem Teil der kanadischen Atlantikküste immense Schäden angerichtet hatte, nicht zu vergessen in Quebec und Ontario, im US-Bundesstaat New York sowie in ganz New England.

Weihnachten würde eine Katastrophe werden.

„Wie immer eigentlich“, sagte Emma zu sich selbst und hörte ihre Stimme durch das leere Haus hallen.

Weder das fröhlich knisternde Feuer im Kamin noch der exquisite altmodische Weihnachtsschmuck, mit dem das große Gemeinschaftszimmer dekoriert war, erweckten ihren Optimismus zu neuem Leben. Auch die leuchtend rote Weihnachtsmannmütze auf ihrem Kopf und der hübsche rote Wollpullover mit vorn aufgesetzten kleinen Schneeflocken aus Angorawolle hoben ihre Stimmung nicht.

Erinnerungen an ihre Kindheit stiegen in Emma hoch.

Sie sah sich als kleines Mädchen mit langen dunklen Locken, wie sie ein geöffnetes Geschenk anstarrte. Es war eine Puppe mit fransigen Haaren und blauen Tintenklecksen im Gesicht. Das war eindeutig nicht die Puppe, die sie sich vom Weihnachtsmann so sehr gewünscht hatte, sondern abgelegtes Spielzeug von den Kindern der Familie, bei der ihre Mutter putzen ging.

„Schluss jetzt“, befahl sich Emma, aber das Bild hielt sich hartnäckig. Sie musste daran denken, wie sie ihre Enttäuschung mit Freude überspielt hatte. Ihrer Mutter zuliebe.

Ihre Mutter Lynelle hatte dieses Jahr tatsächlich zugesagt, über Weihnachten zu kommen. Emma konnte es kaum erwarten, ihr das renovierte Haus zu zeigen. Lynelle war in dem Haus aufgewachsen, hatte es aber mit sechzehn verlassen und war nie wieder zurückgekehrt. Nicht einmal, als Grandma gestorben war.

Emma wollte nicht darüber nachdenken, dass ihre Mutter eher gezwungen als begeistert geklungen hatte, als sie schließlich für Weihnachten zugesagt hatte. Sie würde erst Heiligabend kommen. Die geplante zehntägige Vorweihnachtsfeier Holiday Happenings würde sie verpassen. Aber immerhin wäre sie beim großen Ereignis am ersten Weihnachtstag da, den Höhepunkt, der Emma viel harte Arbeit und Planung gekostet hatte: Christmas Day Dream.

Das Radio riss Emma aus ihren Gedanken. Leider waren es keine guten Nachrichten: „Und gerade erreicht uns die Meldung, dass der Highway zwischen Harvey und der US-Grenze komplett gesperrt ist.“

Sie stand auf und schaltete das Gerät ab. Gern hätte sie auch die Gedanken an ihre Mutter und alle Erinnerungen einfach abgeschaltet. Sie versuchte, sich auf die Fakten zu konzentrieren und pragmatisch zu denken. Aber schon ihr Bed & Breakfast selbst war Beweis genug, dass darin nicht gerade Emmas Stärke lag. Offensichtlich war es das Projekt einer Träumerin.

Okay, dann werden heute Abend also keine Besucher aus Maine kommen. Das machte nun auch nichts mehr: Ihr Nachbar, der alte Tim Fenshaw, hatte zuvor angerufen und mitgeteilt, dass er seine Pferde bei diesem Wetter nicht aus dem Stall lassen könne. Damit fielen Fahrten im Pferdeschlitten flach. Bevor er sich verabschieden konnte, war die Verbindung abgerissen.

Und im letzten Abendlicht des Tages hatte Emma durchs Fenster gesehen, dass sich der Schnee auf dem zugefrorenen Teich immer höher auftürmte. Also war auch an Schlittschuhlaufen nicht zu denken.

„Holiday Happenings fällt aus“, verkündete Emma laut. Jedenfalls an diesem Abend. Es hätte die Eröffnung sein sollen, der erste von zehn Tagen mit Winter- und Weihnachtsaktivitäten für Jung und Alt.

Besorgt sah Emma ihre Einnahmen auf null zusammenschrumpfen. Kein Rodeln, kein Eislaufen, keine Fahrten im Pferdeschlitten. Folglich kein Verkauf von Eintrittskarten, Hotdogs, Kunsthandwerkssachen, Plätzchen. Dabei hatte sie auf all das gezählt, um das Bed & Breakfast endlich aus den roten Zahlen zu holen.

Und um den Christmas Day Dream zu finanzieren.

„Ist ein klitzekleines Wunder wirklich zu viel verlangt?“, fragte sie gereizt, den Blick zum Himmel gerichtet.

Mit Christmas Day Dream wollte Emma all jenen ein besonderes Weihnachtsfest schenken, die sich sonst keine schönen Weihnachten leisten konnten. Als Kind hatte sie sich zu dieser Zeit des Jahres immer am meisten nach einem Wunder gesehnt. Einem Wunder, das nie eingetreten war.

Letztes Jahr hatte sie geglaubt, all das hinter sich lassen zu können. Sie hatte sich wahnsinnig darauf gefreut, endlich das langersehnte perfekte Weihnachten erleben zu dürfen: Weihnachten mit der Familie ihres damaligen Verlobten Dr. Peter Henderson. Heute hatte die Erinnerung daran einen bitteren Beigeschmack: Es war schlimmer gewesen, als all die Jahre davor zusammengenommen!

Emma hatte ihre Lektion gelernt. Nie wieder würde sie ihren Traum in die Hände anderer Menschen legen – nicht in die ihrer Mutter und schon gar nicht in die eines Mannes!

Dieses Jahr war sie selbst verantwortlich. Sie würde dafür sorgen, dass dieses Fest fröhlich würde! Nicht nur für sie, sondern auch für andere.

Nach vertraulicher Absprache mit mehreren Kirchengemeinden und einem Obdachlosenheim hatte Emma ein Dutzend der bedürftigsten Familien der Region eingeladen, den ersten Weihnachtstag in ihrem Haus zu feiern. Die Familien hatten nicht viel, worauf sie hoffen konnten, und ein schönes Weihnachtsfest wäre ohne Hilfe für sie unerschwinglich gewesen.

So hatten sich für den ersten Weihnachtstag einundfünfzig Gäste angesagt, die in einem angemieteten Bus hierhergebracht würden. Emma wollte ihnen einen herzlichen Empfang bereiten.

Sie hatte sich genau angesehen, wer kam. Eine sechsundsiebzigjährige Großmutter war die Älteste der Gruppe. Sie war der Vormund ihrer drei Enkelinnen, von denen eine erst neun Monate alt war und die beiden anderen noch keine fünf Jahre. Die größte Familie war achtköpfig. Der Vater hatte letztes Jahr einen schweren Unfall gehabt und konnte seitdem nicht mehr arbeiten. Die kleinste Familie bestand nur aus einer alleinerziehenden Mutter und ihrem behinderten Sohn.

Und natürlich würde Emmas Mutter da sein, die Weihnachten ohne Geld selbst gut kannte. In einem Jahr hatten sie nicht einmal einen Baum gehabt. Für jeden Gast gab es Geschenke. Neue Geschenke, keine kahlköpfigen und mit Tinte beschmierten Puppen. Aber wichtiger als die Weihnachtsgeschenke wog das Weihnachtsgefühl, die festliche Weihnachtsstimmung.

Emma hatte Schlittschuhe gesammelt und sie schleifen lassen, damit die Leute auf dem Teich eislaufen konnten. Tim würde seine Kaltblüter vor den Schlitten spannen und Fahrten anbieten. Mona, seine Schwiegertochter, und ihre beiden Töchter Peggy und Sue hatten ihr zahllose Stunden bei den Vorbereitungen für Holiday Happenings und Christmas Day Dream geholfen. Die drei wohnten zurzeit bei Tim senior, während Tim junior, Monas Mann, seinen Dienst bei der kanadischen Armee versah und im Ausland stationiert war.

Mit großer Vorfreude dachte Emma an dieses Geschenk, mit dem sie andere Menschen beglücken wollte.

Doch jetzt schienen ihre Träume plötzlich sehr unrealistisch. Naiv. Fast war ihr, als hörte sie Peters Stimme neben sich.

„Wie soll ich das bloß alles bezahlen?“, flüsterte sie. Wie sollte sie die Fenshaws bezahlen, die so viel Zeit für sie geopfert hatten? Und die Stapel von Geschenken, die sie voller Optimismus auf Kredit gekauft hatte? Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Holiday Happenings schiefgehen könnte. Seit sie Mitte November die Plakate aufgehängt hatte, erhielt sie mindestens ein Dutzend Anrufe am Tag.

Die Jugendgruppe der St.-Martin-Kirche schickte ihr das komplette Eintrittsgeld für zweiunddreißig Kinder, die heute Abend kommen sollten. Emma erinnerte sich noch gut daran, wie glücklich sie war, mit diesem Geld die Anzahlung auf den Bus leisten zu können.

Erst letztes Frühjahr erbte sie den Teich, das baufällige Haus und sieben Hektar verwildertes Land von ihrer Großmutter. Schnell war klar, dass sie es sich eigentlich nicht leisten konnte, Haus und Grundstück zu behalten.

Dennoch entschied sie sich dafür. Es gab hier etwas, das Teil ihrer Familie und ihrer Geschichte war. Etwas, das Lynelle verachtete. Emma hingegen fühlte sich davon stark angezogen. Also verwendete sie ihre bescheidenen Ersparnisse, die sie mit der Arbeit als Arzthelferin angesammelt hatte, auf das Haus.

Sogar ihre Verlobung setzte sie aufs Spiel. Diese hatte bereits seit Weihnachten einen Knacks gehabt und war durch Emmas Entscheidung, ihre Großmutter hier in ihrem Haus zu pflegen, noch zusätzlich belastet worden.

Mit kleinem Budget, festem Willen und harter Arbeit hatte Emma ihr Bestes getan, um das Haus instand zu setzen. Im vergangenen Sommer hatte sie dann das Bed & Breakfast eröffnet.

Aber schnell musste sie lernen, wie schwierig das Gastgewerbe war. Hoffentlich konnte sie mit Holiday Happenings die Fehler ihrer ersten Sommersaison ausbügeln.

Im Geist sah Emma ihren Ex-Verlobten und Chef, Dr. Peter Henderson, vor sich, wie er sein schmales Gesicht missbilligend verzog und die Arme vor der Brust verschränkte. „Emma“, ermahnte er sie, „du hast ja keine Ahnung, worauf du dich da einlässt.“

Wie sie es hasste, dass sich seine düstere Prophezeiung mit jedem Tag mehr zu erfüllen schien!

Sie betrachtete ihren Weihnachtsbaum, eine große Tanne, die wunderschön mit weißen Bändern, Kugeln und Lichtern dekoriert war. Der Engel an der Spitze streifte mit seinen Flügeln leicht die drei Meter hohe Decke. Emma ließ ihren Blick für einen Augenblick auf dem Engel ruhen.

Ein Wunder“, sagte sie ruhig. „Ich wollte schöne Weihnachten. Ich wollte den Leuten das schönste Geschenk überhaupt machen: Hoffnung.“

Der Engel starrte sie mit friedlichem Blick an.

„Ach“, murmelte sie verärgert, „du bist ja nicht einmal ein richtiger Engel. Mit Glasaugen und Papierflügeln würde ich auch so friedlich aussehen!“

Aber als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, verflog ihr Ärger. Das große Gemeinschaftszimmer des White Pond Inn wirkte wie aus einem Weihnachtsmärchen. Dieser Anblick war die Belohnung für ihre harte Arbeit und den dicken Stapel Rechnungen mehr als wert.

Ein knisterndes Feuer loderte in dem aus großen Flusssteinen gebauten Kamin. Bunte Wollstrümpfe baumelten am Kaminsims aus massiver Eiche, an der Deckenzierleiste liefen Girlanden aus echten Stechpalmenzweigen entlang. Weihnachtssterne mit weißen Blättern schimmerten sanft in den dunklen Zimmerecken.

Unter dem Baum stapelten sich die Geschenke, eingepackt in Papier mit verschiedenen Weißtönen und mit selbst gebastelten Schleifen verziert.

Das ständige Backen der letzten Tage hatte einen köstlichen Duft von Zimt, Muskat, Kürbis und Apfel im Zimmer hinterlassen, vermischt mit der einen oder anderen Rauchschwade des Holzfeuers. Man hätte diese Luft, so wie sie war, in Dosen füllen und unter der schlichten, aber treffenden Bezeichnung „Weihnacht“ verkaufen können.

Und wieder eine großartige Geschäftsidee von Emma White.

Aber finanzielle Probleme hin oder her, das Haus sah aus wie der Inbegriff von Weihnachten. Emma war sicher, dass es viele Menschen glücklich machen würde. Und wenn ihre Mutter es sah, würde sie augenblicklich all die furchtbaren Weihnachtsfeste, die sie zusammen erlebt hatten, vergessen.

„Holiday Happenings und Christmas Day Dream finden statt!“, sagte Emma trotzig vor sich hin. Trotzdem musste sie immer wieder an den Schneesturm von 1998 denken.

Das Unwetter damals hatte sechs Tage gedauert und Schäden in Höhe von mehreren Milliarden Dollar angerichtet. Millionen Menschen waren ohne Strom, manche für einige Tage, andere für Wochen. Viele Straßen wurden gesperrt. Der Sturm zerstörte zahllose Bäume und ließ Stromleitungen unter dem Gewicht des gefrierenden Regens reißen.

„Wir werden doch wohl nicht wieder einen sechstägigen Schneesturm bekommen?“, murmelte sie besorgt.

Die Antwort kam prompt: Der Sturm schleuderte kleine Eisstücke ans Fenster, und unter dem Dach heulte laut der Wind auf.

Durch das Heulen des Windes drang plötzlich das scheppernde Läuten der defekten Türglocke an Emmas Ohr. Sollte sie etwa doch Glück haben?

Emmas Blick flog zu der alten Standuhr. Acht Uhr – genau die Zeit, zu der es losgehen sollte! Ihre Gäste waren trotz allem gekommen! Das Wunder war tatsächlich wahr geworden!

Aber wieso hatte sie keine Motorengeräusche, zugeschlagene Autotüren oder Stimmen gehört?

Sie zügelte ihre Begeisterung. Vielleicht war es auch nur Tim, der nachfragen wollte, ob alles in Ordnung sei.

Die Fenshaws hatten sie mit großer Herzlichkeit aufgenommen und ihr das Gefühl gegeben, als hätte sie schon immer zu ihrer Familie gehört. Ursprünglich hatte Tim mit dem Gedanken gespielt, das White-Pond-Grundstück für seinen Sohn zu kaufen, doch als Emma ihren Entschluss verkündet hatte, es zu behalten, hatten Tim und seine Schwiegertochter Mona sich aufrichtig gefreut.

Doch was wäre, wenn Emma nun plötzlich kein Geld hätte, sie für ihre Hilfe bei der Verwirklichung ihrer Träume zu bezahlen? Ohne die Fenshaws hätte Emma ihr Bed & Breakfast nie betreiben können.

Kalt lief es ihr den Rücken hinunter. Oder noch schlimmer: Was wäre, wenn sie wegen dieser Träume – ihrer Spinnereien, in Peters Worten – das Haus verlieren würde?

Sie ging zur Tür und öffnete. Eiskalte Luft schlug ihr entgegen. Ihr Herz pochte erwartungsvoll. Vielleicht waren es ja doch Gäste – Einheimische aus Willowbrook oder dem Umland, die dem Wetter trotzten.

Aber es waren keine Einheimischen.

Und es war auch nicht Tim.

Ein Fremder stand vor der Tür.

2. KAPITEL

Er war groß und hatte breite Schultern, sodass er den Schein der Lichterkette auf der Veranda fast komplett verdunkelte. Er wirkte irgendwie düster. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass er einen pechschwarzen langen Wollmantel und schwarze Handschuhe trug. Auf seinem glänzenden schwarzen Haar lagen einige weiße Schneeflocken.

Sein Gesicht lag im Schatten, aber auch so konnte Emma die perfekte Form seiner Nase, die ausgeprägten hohen Wangenknochen und das kräftige Kinn erkennen.

Der Fremde war atemberaubend attraktiv, auch wenn sein Mund grimmig zusammengepresst war und seine dunklen Augen sehr durchdringend, ja etwas bedrohlich wirkten.

Er musterte sie kühl von Kopf bis Fuß. Emma durchfuhr ein Zittern, als sein intensiver Blick an ihr hinunterglitt, von der albernen Mütze bis zu den roten Socken. Er presste den Mund noch schmaler zusammen.

Für einen Moment hatte sie das Gefühl, der Teufel persönlich stünde vor ihrer Tür, um ihr einen vorweihnachtlichen Besuch abzustatten. Augenblicklich verwandelte sie sich von einer starken, unabhängigen Frau mit eigenem Unternehmen in eine Frau, die sich nichts sehnlicher wünschte, als diesen furchtbar unförmigen Pullover loszuwerden. Gleiches galt für die lange Unterhose, die sie fürs Eislaufen und Schlittenfahren untergezogen hatte. Ihre Beine sahen sicher furchtbar plump aus.

Auch hätte Emma alles dafür gegeben, ihre desaströse neue Frisur rückgängig machen zu können. Sie hatte sich erst kürzlich ihre langen schwarzen Haare abschneiden lassen. Ihre schönen Haare hatten zu den wenigen Dingen gehört, die Peter an ihr gebilligt hatte. Mit dem radikalen Schritt hatte sie ein Zeichen setzen wollen. Sie hatte der Welt deutlich zeigen wollen, dass es ihr Leben war. Im Einklang mit Emmas Rebellion hatte sich ihr sanft gewelltes Haar in wilde unbändige Locken verwandelt. Auch wenn Emma gerade keineswegs glücklich über die lächerliche Weihnachtsmannmütze auf ihrem Kopf war, so verdeckte sie doch wenigstens teilweise das wilde Lockenchaos.

Von dem attraktiven Fremden ging eine gefährliche Faszination aus. Während sich Emmas Augen langsam an den dunklen Schatten gewöhnten, der ihn umgab, konnte sie seine Gesichtszüge genauer erkennen.

Er sah aus, als hätte er früher einmal gelacht. Aber das war lange her, und heute tat er es mit Sicherheit nicht mehr. Er gehörte zu den Männern, die ein dunkles Geheimnis in sich trugen. Und jede Frau würde sich danach verzehren, es zu ergründen. Trotz seiner abweisenden Miene – oder gerade deswegen – war er die Verlockung in Person.

Doch nicht für Emma! Sie hatte sich geschworen, ihre Liebe und Leidenschaft ausschließlich ihrem Bed & Breakfast und dem bevorstehenden Weihnachtsfest zu widmen. Das musste genügen, denn ihrem Urteilsvermögen für Männer war nicht zu trauen. Sie war wirklich überzeugt gewesen, dass Peter der Mann fürs Leben war!

Der geheimnisvolle Besucher ließ seinen Blick von Emma zu dem hübschen Kranz an der Haustür wandern. Er betrachtete die verflochtenen Kiefern- und Tannenzweige, die mit kleinen hellen Olivenzweigen und roten Glasperlen bespickt waren. Eine hübsche handgemachte Schleife aus weißem Satin prangte darauf. Schließlich blieb sein Blick an den kleinen roten Holzbuchstaben hängen, die auf den Kranz gesteckt waren und unter einem buschigen Zedernzweig hervorlugten: „Glaube“.

Seine Miene verhärtete sich. Mit abschätzigem Blick begutachtete er die Veranda: die durch das Geländer gewundenen Stechpalmenzweige, die roten Flickenteppiche, die Blumentöpfe mit Fichtenzweigen und roten Beeren.

Als er sie wieder anschaute, lag Verachtung in seinem finsteren Blick.

Mach sofort die Tür wieder zu, befahl sie sich. Wofür auch immer er hierhergekommen ist, du hast es nicht. Und er hat auch nichts, was du brauchst oder suchst.

Emma rief sich Regel Nummer eins ins Gedächtnis: Unabhängig bleiben! Dank der Männergeschichten ihrer Mutter und ihrer eigenen Erfahrung mit dem Herrn Doktor wusste sie nur zu gut, dass ein Mann eine sichere Garantie dafür war, die eigene Unabhängigkeit zu verlieren.

Doch das Wetter hatte ihr nachdrücklich vor Augen geführt, dass es nicht immer sie war, die die Regeln in ihrem Leben aufstellte. Nun erhielt sie eine weitere Lektion: Es war unmöglich, die Tür vor dem Fremden zu verschließen.

Ein leises Wimmern drang plötzlich an ihr Ohr. Völlig erstaunt sah Emma, dass er ein Baby hielt, das sich an seine breite Schulter kuschelte. Sie hatte es nicht bemerkt, weil es bislang keinen Mucks von sich gegeben hatte und außerdem in eine dunkle Decke eingewickelt war, die dieselbe Farbe hatte wie sein Mantel.

Nun wandte es Emma den Kopf zu und sah sie mit großen blauen Augen an.

Der Mütze nach zu urteilen, einem seltsam schiefen Häubchen aus dunkler Wolle, schien es ein Mädchen zu sein. Emma sah sofort, dass die Mütze falsch herum saß. Mochte der Mann auch noch so humorlos und bedrohlich wirken, beim Anblick der verdrehten Kopfbedeckung musste Emma unwillkürlich lächeln.

„Wir brauchen eine Unterkunft“, sagte er mit rauer Stimme.

Ihr Mund bewegte sich in lautlosem Protest. Er? Hier? Bei ihr? Mit seiner mysteriösen Anziehungskraft, die noch durch das süße Baby verstärkt wurde, das er schützend im Arm hielt?

„Die Polizei hat mich gerade von der Straße geschickt. Sie haben den Highway hinter mir gesperrt“, erklärte er.

Sag endlich etwas, befahl Emma sich selbst, aber sie bekam keinen Ton heraus.

„Mit etwas Glück“, fuhr er fort, „sind es nur ein paar Stunden, bis die Straßen wieder frei sind.“

Auf keinen Fall durfte sie ihn hereinlassen! Nicht mit dieser Stimme, die so sinnlich und sexy klang. Bei diesem Mann schrillten sämtliche Alarmglocken in ihr. Eine noch größere Bedrohung für ihre hart erarbeitete Unabhängigkeit konnte es kaum geben!

Vergiss nicht: Nie wieder um Anerkennung betteln! Und sich ausschließlich um das Bed & Breakfast kümmern! Trotzdem stand sie nun kurz davor, sich für ihn die dämliche Mütze vom Kopf zu reißen!

Es war völlig unmöglich, ihn hereinzulassen. Und doch war es noch unmöglicher, ihn nicht hereinzulassen – er hatte doch ein Baby! Sie konnte ihn nicht einfach abweisen, bloß weil sie ihre Selbstkontrolle durch ein zynisches, geheimnisvolles Gesicht bedroht sah. Oder weil es in ihr etwas gab, das sich von diesem Mann ungeheuer stark angezogen fühlte. Etwas, von dem sie noch vor Sekunden behauptet hätte, es fest im Griff zu haben.

Dieses primitive Verlangen machte ihr Angst. Wenn sie ihm nachgab, wäre sie auch nicht besser als ihre Mutter: bereit, alles für einen verführerischen Mund aufzugeben.

Emma versuchte, vernünftig zu denken. Er brauchte eine Unterkunft. Nur für ein paar Stunden. Das würde ihr Leben doch nicht gleich ins Chaos stürzen. Zumal sie doch jetzt eine Geschäftsfrau war, die auf eigenen Beinen stand.

Sie nahm die Mütze ab.

Beim Anblick ihrer Frisur schien sein zusammengepresster Mund kurz zu zucken. War das der Anflug eines Grinsens?

„Die Polizei hat gesagt, dass Ihr Haus die einzige Unterkunft in ganz Willowbrook und Umgebung ist.“ Es klang, als wäre er lieber woanders untergekommen, wenn er die Wahl gehabt hätte. Vielleicht in einem modernen Hotel mit kühlem, modernem Ambiente. Sie las es an seinen Augen ab, dass er ihre Dekoration grässlich kitschig fand. Aber wieso ließ sie sich vom Urteil eines völlig Fremden eigentlich so verunsichern? Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie im Winter keine Zimmer vermietete. Was ja auch stimmte.

Aber sie hatte genauso wenig eine Wahl wie er. Sie konnte dieses Baby unmöglich wieder hinaus in den Sturm schicken.

Eigentlich war es sträflicher Leichtsinn, ihn ins Haus zu lassen: Sie war völlig allein und kannte diesen Mann überhaupt nicht. Die sonst üblichen Sicherheitsmaßnahmen, wie Voranmeldeformular und Identitätsprüfung per Kreditkarte, fielen in diesem Fall weg. Dennoch schien ihr die einzige Gefahr, die von ihm ausging, seine immense Anziehungskraft zu sein.

Die beschützende Art, mit der er das Baby hielt, verriet ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Es sei denn um ihr emotionales Gleichgewicht. Aber selbst, wenn sie dumm genug sein sollte, in seiner Nähe ihren Unabhängigkeitsschwur zu vergessen, so genügte ein Blick in sein verschlossenes Gesicht, um sicher zu sein, dass er seinerseits keinerlei Dummheiten zulassen würde.

In professioneller Hotelmanier trat sie zur Seite und sagte kühl: „Normalerweise vermiete ich im Winter keine Zimmer, aber hier handelt es sich ja offensichtlich um einen Notfall.“

Wenn sie gehofft hatte, durch ihr professionelles Verhalten ihre Gefühle unter Kontrolle halten zu können, so hatte sie sich getäuscht. Ein betörender Duft stieg ihr in die Nase, als er an ihr vorbeiging, eine verwirrende Mischung aus sehr maskulinem Seifen- und Aftershavegeruch, außerdem Babypuder.

Sorgfältig schloss sie die Tür hinter ihm. Wie sie fast schon befürchtet hatte, löste sich dabei der uralte Türknauf und fiel ihr in die Hand. Nicht jetzt! warnte sie das alte Haus in Gedanken und steckte den Knauf zurück in das Loch. Hoffentlich hatte er nichts bemerkt.

Aber als sie sich umdrehte, wusste sie, dass diesem Mann nichts entging. Er hätte es auch bemerkt, wenn der Knauf nicht sofort wieder herausgefallen und laut polternd auf dem Boden gelandet wäre.

Nervös bückte sie sich und hob ihn auf. „Der rustikale Charme ist im Preis inbegriffen“, sagte sie gespielt unbeschwert.

„Aha.“ Nicht die Spur eines Lächelns.

Er blickte sich im Flur um und ließ seinen Blick über den kleinen Weihnachtsbaum mit den weißen Engelchen gleiten, dann über die Girlanden aus Zweigen mit weißen Schleifen, die sich an der Treppe nach oben schlängelten.

Er stand genau unter dem Mistelzweig, den sie an der Decke aufgehängt hatte. Sie dachte an die alte Tradition, dass sich zwei Menschen, die sich zu Weihnachten unter einem Mistelzweig begegnen, küssen müssen. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf seine Lippen. Wie sich wohl ein Kuss von ihm anfühlen würde?

Aber welchen Preis müsste sie dafür zahlen? Er wäre auf jeden Fall zu hoch, viel zu hoch! Sie war immer noch nicht ganz über Peter hinweg, und trotzdem dachte sie jetzt darüber nach, wie sich die Lippen eines völligen Fremden anfühlten. Offensichtlich war sie nach wie vor zu sehr dummen Fehlern imstande.

Der Mann runzelte die Stirn. „Wenn Sie geschlossen haben, wieso haben Sie dann alles so aufwendig dekoriert? Zu Ihrem Privatvergnügen?“

„Eigentlich hatte ich heute Abend Gäste erwartet“, antwortete sie und unterdrückte den albernen Wunsch, die Maske der starken Frau fallen zu lassen und ihm ihr Herz auszuschütten. Seine Schultern waren mehr als breit genug, sich daran auszuweinen, aber seine Augen sahen nicht so aus, als seien sie zu Mitgefühl fähig.

Schon bei seinen nächsten Worten war sie froh, dass sie nichts gesagt hatte.

„Haben Sie auch Zimmer ohne Weihnachtskitsch?“, fragte er.

„Sie mögen Weihnachten nicht“, gab sie zurück, eher als Feststellung denn als Frage. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es völlig klar, dass er Weihnachten verabscheute. Und höchstwahrscheinlich auch Hundewelpen, Liebeslieder und romantische Filme.

Wie kann man nur Weihnachten nicht mögen? Besonders, wenn man ein Kind hat. Dann ist man doch praktisch dazu verpflichtet, Weihnachten schön zu finden!

Das Baby gluckste, zog ein Ärmchen unter der Decke hervor und steckte sich einen Finger in den Mund. Das Gesicht des Mannes blieb ungerührt. Dem Kind schien das nichts auszumachen. „Mama“, lallte es leise und schmiegte den Kopf an die Schulter des Mannes. Emmas erster Eindruck bestätigte sich: Ihr Gast mochte ein Zyniker und Weihnachtshasser sein, aber man konnte ihm vertrauen. Wie das Baby, das jetzt zufrieden am Daumen lutschte.

„Will sie zu ihrer Mama?“, fragte Emma. Natürlich – die Mutter! Was für ein Glück! Er war vergeben! Sofort fühlte sie sich dem prickelnden Gefühl, das sie heiß und immer stärker durchströmte, besser gewachsen.

Aber ihre Erleichterung währte nicht lange.

„Nein“, sagte er. Verwundert sah Emma, dass er rot wurde. Also steckte unter seiner harten Schale doch irgendwo ein weicher Kern.

Der Fremde zögerte. „Sie nennt mich so. Leider.“

Fast hätte sie laut losgelacht.

Natürlich ging es sie nichts an, aber sie musste es einfach wissen. „Wo ist ihre Mutter denn?“

Für einen kurzen Moment waren tiefe Trauer und Verzweiflung in seinen Augen zu sehen. Als hätte er jegliche Freude und Hoffnung verloren, als wäre das Leben für ihn nur noch eine nicht enden wollende Qual.

„Sie ist tot.“

Der harte und abweisende Blick kehrte zurück in seine Augen.

„Das tut mir sehr leid. – Hier, geben Sie sie mir, damit Sie sich den Mantel ausziehen können.“

Sie streckte ihm die Arme entgegen. In der einen Hand hielt sie immer noch den abgefallenen Türknauf.

Er verlagerte das Baby an seiner Schulter und nahm Emma mit der freien Hand den Knauf ab. Als seine Finger ihre Hand streiften, spürte sie durch seine Handschuhe die angenehme Wärme seines Körpers.

Mühelos steckte er den Knauf in die Tür und drehte ihn einige Male hin und her, bis er einrastete.

Seine Geschicklichkeit beschämte Emma. Sie kam sich dumm und inkompetent vor, keineswegs wie eine professionelle Geschäftsfrau.

„Die Garderobe ist gleich hinter Ihnen“, erklärte sie. „Haben Sie Gepäck?“

„Ich hoffe, wir bleiben nicht so lange, dass wir es holen müssen.“ Er gab ihr das Baby.

Das hoffe ich auch, dachte Emma.

In diesem Augenblick rüttelte ein heftiger Windstoß am Fenster. Möglicherweise müsste sie der Versuchung des gut aussehenden Fremden doch länger als ein paar Stunden widerstehen. Es war nicht auszuschließen, dass er mindestens bis morgen früh bleiben musste. Wie gut, dass sie ein Kinderbett besorgt hatte, damit die Babys am ersten Weihnachtstag zwischendurch ein Nickerchen machen konnten.

Das Baby sah sie misstrauisch an und verzog vorsorglich schon einmal das Gesicht, um im Zweifelsfall sofort losweinen zu können.

„Wie alt ist sie denn?“, erkundigte sich Emma.

„Vierzehn Monate.“

„Und wie heißt sie?“ Emma war dankbar, dass sie durch das Kind abgelenkt wurde und so nicht zu sehr darauf achtete, was unter dem Mantel des Fremden zum Vorschein kam, als er ihn auszog. Er trug ein maßgeschneidertes schwarzes Hemd, das sehr vorteilhaft seine breiten Schultern betonte. Die dunkle Hose aus feinem Stoff ließ lange muskulöse Beine erahnen.

„Tess“, antwortete er.

„Hallo, Tess“, sagte sie sanft. „Willkommen im White Christmas Inn. Ich bin Emma.“

„Das White Christmas Inn?“, entfuhr es ihm. „Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“

„Haben Sie das Schild an der Zufahrt nicht gesehen?“ Erst am Morgen hatte sie das Wort „Pond“ mit dem Wort „Christmas“ überdeckt.

„Ich habe ein Schild gesehen, aber es war zugeschneit.“

„Doch, das White Christmas Inn. Ganz im Ernst.“

Er stöhnte leise auf.

„Ist das ein Problem?“, fragte sie.

Er antwortete mit einer Gegenfrage: „Haben Sie manchmal das Gefühl, dass die Götter sich über die Menschen und ihre Pläne lustig machen?“

Emma war klar, dass er keine Antwort erwartete. Trotzdem sagte sie: „Oh ja, das habe ich.“

Ausgerechnet das White Christmas Inn.

Für Ryder Richardson bestand kein Zweifel, dass die Götter gerade herzhaft auf seine Kosten lachten. Als er heute losgefahren war, hatte er nur einen Wunsch gehabt: Weihnachten, so gut es ging, zu vergessen. Er setzte seine Nichte Tess ins Auto und packte den riesigen Berg Sachen ein, ohne den eine Reise mit Baby nicht möglich zu sein schien. Vor Einbruch der Dunkelheit wollte er in seiner Hütte am See sein.

In der Hütte gab es mit Sicherheit weder „Hohoho“ noch bunte Lichterketten, keine Weihnachtslieder, keinen Baum, keine anderen Menschen und vor allen Dingen kein Telefon. Sein Handy hatte er absichtlich zu Hause gelassen.

Ryder Richardson hasste Weihnachten.

Freimütig gestand er sich ein, dass er sich feige verstecken wollte, bis alles vorüber war. Bis der letzte Baum geschreddert, die Weihnachtsbeleuchtung abgehängt und das letzte Weihnachtslied verklungen war. Bis er wieder durch die Stadt gehen konnte, ohne dass er Glockengebimmel hörte oder wildfremde Menschen ihn anlächelten und ihm ein frohes Fest wünschten.

Ryder sehnte sich den tristen grauen Januar herbei. Dann würde die Zahl der mitfühlenden Anrufe und ständigen Erinnerungen endlich abnehmen. Auch die Einladungen zu allen möglichen Weihnachtsessen und Partys, die ihn aufmuntern sollten, würden aufhören.

Das einzig Weihnachtliche, das er dieses Jahr zuließ, waren die Geschenke für Tess. Er hatte ein weiches Stoffpony in einem furchtbaren Lila für sie gekauft, außerdem rosa Wildlederschuhe. Als drittes Geschenk hatte er ein kleines Spielzeugklavier für sie, dessen Kauf er wahrscheinlich bald bereuen würde.

Er hatte die Geschenke nicht eingepackt und würde sie Tess wahrscheinlich nicht wie üblich am 25. Dezember geben, sondern an einem anderen Tag. Eiskalt würde er es ausnutzen, dass sie mit vierzehn Monaten noch nichts über weihnachtliche Traditionen wusste.

Dieses Jahr blieb er also noch verschont. Doch nächstes Jahr wäre Tess zu Weihnachten schon zwei. Dann würde es nicht mehr so einfach sein, Weihnachten klammheimlich ausfallen zu lassen. Bis dahin hätte sie längst gelernt, was Weihnachten bedeutete und dass es Geschenke gab.

Als er den Mantel an die Garderobe gehängt hatte und sich umdrehte, fiel sein Blick durch den bogenförmigen Durchgang zwischen Flur und Gemeinschaftszimmer auf das prasselnde Feuer im Kamin und den riesigen Baum.

Ryder erstarrte. Er hatte geglaubt, gegen alle weihnachtlichen Gefühle immun zu sein, aber nun fühlte er sich von dem Bild, das sich ihm bot, für einen kurzen Augenblick wie verzaubert. Der prachtvolle Baum schien etwas zu verheißen, das er bitter nötig hatte: Hoffnung.

3. KAPITEL

Bei dem Wort „Hoffnung“ fühlte Ryder einen quälenden Schmerz in der Brust. Er musste dieses trügerische Gefühl ein für alle Mal in sich auslöschen. Es gab keine Hoffnung mehr für ihn!

Die Weihnachtsstrümpfe am Kamin … Ohne Vorwarnung tauchte ein verdrängtes Bild aus der Vergangenheit vor seinen Augen auf. Vor knapp einem Jahr hatte er solche Strümpfe an einem anderen Kamin gesehen. Sie waren rot gewesen, mit weißem Pelzbesatz. Und es hatten Namen darauf gestanden: Drew, Tracy, Tess.

Ryder erinnerte sich an seinen Bruder Drew, wie er vor dem Kamin stand und das winzige Baby hoch über sich in der Luft hielt. Dann ließ er es langsam sinken, drückte den Mund auf den kleinen runden Bauch, blähte die Backen auf und presste kitzelnde Luft zwischen Lippen und Bauch hindurch. Das Baby gluckste vor Vergnügen. Noch nie hatte Ryder seinen Bruder so glücklich gesehen.

In wenigen Tagen wäre es genau ein Jahr her. Der Schmerz wütete immer noch in Ryder. Sein Leben konnte niemals wieder so sein wie vor dem Feuer, das in der Nacht zum ersten Weihnachtstag das Haus seines Bruders in ein flammendes Inferno verwandelt hatte.

„Hol das Baby!“, hatte Drew ihn angeschrien, als er aus dem Gästezimmer gestürzt kam. „Ich hole Tracy!“

Niemand, der nicht schon selbst einmal in einem brennenden Haus gewesen war, konnte sich vorstellen, was für eine Hölle es war. Ein loderndes Flammenmeer, in dem keine Orientierung möglich war. Sengende Hitze und beißender Rauch. Dazu ein Brüllen und Kreischen, als wäre das Feuer ein lebendiges Wesen, ein wild gewordenes Monster.

Irgendwie war es Ryder gelungen, das Baby zu finden und es aus dem Haus zu bringen. Tracy war bereits draußen gewesen, mit schweren Verbrennungen und völlig verwirrt. Zunächst hatte Ryder geglaubt, sein Bruder hätte sie rausgeholt und alle wären nun in Sicherheit. Aber dann wurde ihm schlagartig klar, dass Drew immer noch im Haus war und nach seiner Frau suchte.

Ryder war zurück in Richtung Haustür gerannt, aus der mittlerweile hohe Flammen schlugen. Er achtete nicht darauf. Er musste seinen Bruder finden! Fast hätte er es ins Haus geschafft, aber in letzter Sekunde hatten ihn einige Männer aus der Nachbarschaft zurückgerissen, erst vier, dann sechs und mehr. Er hatte mit ihnen gekämpft, wild mit den Fäusten auf sie eingeschlagen. Schließlich hatten sie ihn überwältigt.

Manchmal wachte er nachts schreiend auf, schweißgebadet und mit pochendem Herzen. „Lasst mich los … Mein Bruder … Lasst mich los, zum Teufel!“

Beim Gedanken daran fühlte Ryder wieder die rasende Wut von damals in sich aufsteigen. Sie schien im Laufe der Zeit noch stärker geworden zu sein. Wie hatte er so furchtbar versagen können? Warum hatte ihn seine Kraft gerade in dem Moment im Stich gelassen, als er sie am meisten gebraucht hatte? Er hätte die Männer abschütteln können oder versuchen, sie zu überzeugen …

Vor drei Monaten war Tracy schließlich nach langem tapferem Kampf ihren schweren Verletzungen erlegen. Seitdem waren sein Schmerz und seine Selbstvorwürfe unerträglich geworden.

Wenn es ein Gefühl gab, das Ryder mehr hasste als alles andere, dann war es das Gefühl der Hilflosigkeit. Er hatte hilflos zusehen müssen, wie Tracy gestorben war. Und genauso hilflos hatte er sich gefühlt, als die Männer ihn daran gehindert hatten, seinen Bruder zu retten.

Damals hatte er eine feste Mauer aus Stein um sein Herz errichtet, aber anstatt sie mit der Zeit abzubauen, baute er sie immer höher und dicker. Was geschehen war, fraß ihn innerlich auf, zerstörte ihn. Seit Langem funktionierte er nur noch und empfand nichts mehr.

Es machte ihn wütend, dass die Mauer anscheinend immer noch nicht hoch und dick genug war. Die aufflackernde Hoffnung, die er beim Anblick des Weihnachtsbaums empfunden hatte, war mühelos hindurchgedrungen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Emma.

„Ja“, log er.

Sein Plan war es gewesen, Weihnachten – Symbol für sein ungeheures Versagen – zu verdrängen. Und was hatte das Schicksal ihm stattdessen beschert? Es hatte ihn an einen Ort geführt, der weihnachtlicher war als das Haus des Weihnachtsmannes am Nordpol! Wäre da nicht das Baby gewesen, er hätte seinen Mantel gegriffen und wäre in den Sturm hinaus geflohen.

„Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst erblickt“, bemerkte Emma. „Angeblich gibt es hier welche, aber mir ist noch keins begegnet.“

„Ich glaube nicht an Geister“, gab er schroff zurück. Und das war nur der erste Punkt einer langen Liste mit Dingen, an die er nicht glaubte.

„Ich schon“, erwiderte sie stur und errötete. „Ich glaube, dass es hier Geister gibt, die dieses alte Haus und die Leute, die darin leben, beschützen. Und ich glaube übrigens auch, dass es so etwas wie das Christkind gibt.“

Er musterte sie. Ohne die Mütze war er schon etwas weniger geneigt zu fragen, ob denn ihre Mutter zu Hause sei. Wie alt mochte sie wohl sein? Anfang zwanzig, schätzte er. Zu jung, um dieses Bed & Breakfast zu führen, und zu alt, um diesen Quatsch zu glauben.

Sie fuhr sich unsicher mit der Hand durch die wilden Haare.

Zum zweiten Mal fühlte Ryder, wie der Anblick ihrer Haare in ihm etwas auslöste. Ein Lächeln? Nur Tess brachte ihn zum Lächeln. Allerdings war Emmas Frisur noch chaotischer als die von Tess – und das sollte etwas heißen. Emmas dunkle und seidig glänzende Haare waren ein plattgedrücktes Wirrwarr aus spiraligen Locken. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment wieder in ihren entspannten Ausgangszustand zurückspringen.

Ryder ertappte sich bei dem Wunsch, ihre Locken mit dem Finger anzustupsen, damit sie sich wieder lang streckten. Kurz schoss ihm durch den Kopf, dass sie mit voll entfalteter Lockenpracht sehr sexy aussehen würde.

Jetzt ähnelte sie allerdings einem wilden Kätzchen, das ihn mit seinen kleinen, aber scharfen Krallen erbarmungslos zerkratzen würde, sollte er es wagen, die Existenz des Christkinds anzuzweifeln.

Ihre Art, Tess zu halten und mit ihr zu sprechen, ließ auf einen liebevollen und ungekünstelten Charakter schließen. Zweifellos war sie ein bisschen exzentrisch und glaubte an das Gute in der Welt, an Weihnachten und an beschützende Geister. Sein Typ war sie ganz sicher nicht.

Auch vor dem Brand, als er sich noch für solche Dinge interessiert hatte, war es ein anderer Frauentyp gewesen, der ihn fasziniert hatte. Elegante Frauen, die etwas aus sich machten. Frauen mit Diamantringen und Designerkleidern. Frauen, die diesen Ort herablassend als kitschig bezeichnet und sich über Emmas Naivität mokiert hätten.

Allerdings hatte sich Ryder letztes Jahr beim Zusammensein mit Drew und seiner Familie durchaus gefragt, ob er sich nicht eigentlich auch eine Familie wünschte.

Aber das war vor dem Feuer gewesen. Jetzt mied er solche Wünsche und Gefühle wie die Pest. Es würde ihn einfach zu verletzlich machen, sich einem anderen Menschen zu öffnen. Seine sorgsam errichtete Mauer würde einstürzen, und das wäre äußerst riskant. Hinter der Mauer lauerten so viel Trauer und Wut, dass er selbst und jeder, der ihm nahe war, erbarmungslos zerstört würden.

Und außerdem: Was konnte er anderen Menschen schon geben? Nichts. Die einzige Ausnahme, so hoffte er jedenfalls, war seine Nichte.

„Sie betreiben das Bed & Breakfast doch nicht allein, oder?“, erkundigte er sich. Die Frage schien ihm plötzlich sehr wichtig. Der Gedanke, mit dieser hübschen Frau hier allein zu sein, gefiel ihm überhaupt nicht, besonders nach dem plötzlichen Wunsch von eben, ihre Haare zu berühren.

Hoffentlich war es ein Familienbetrieb, und die Eltern waren nur gerade woanders im Haus. Oder noch besser: ihr Ehemann. Jedenfalls irgendjemand, dessen Anwesenheit ihm helfen würde, diesen unerwarteten Reiz der Anziehung unter Kontrolle zu halten. Jemand, mit dem er sich über Eishockey unterhalten konnte, um sich abzulenken.

Ryders Blick fiel auf Emmas Ringfinger. Ihre Fingernägel waren rot lackiert – wahrscheinlich gehörte das zur Weihnachtskostümierung. Wie war es nur möglich, dass er ausgerechnet diese Frau, die all das verkörperte, wovor er weglief, anziehend fand?

Sie trug keinen Ring.

„Doch, das Haus gehört nur mir“, sagte sie stolz. „Ich habe es von meiner Großmutter geerbt. Nach ihrem Tod habe ich es instand gesetzt und das White Pond Inn daraus gemacht.“

„Ich dachte, es heißt White Christmas Inn“, warf er trocken ein.

„Weihnachten verwandelt alles“, erklärte sie mit würdevollem Ernst. „Alles wird irgendwie verzaubert, selbst mein kleines Bed & Breakfast.“

„So, so.“ Er wollte nicht darauf eingehen, wollte nichts weiter über sie wissen. Und auf gar keinen Fall wollte er Gefallen daran finden, dass sie trotz ihrer chaotischen Frisur, die jeden Moment explodieren konnte, und dem defekten Türknauf so standhaft ihre Würde verteidigte.

„Wieso nimmt eine junge Frau wie Sie so ein Projekt auf sich?“, fragte er dennoch.

Ryder war Architekt. Er und sein Bruder hatten häufig Pläne für die Instandsetzung von alten Gebäuden entworfen. Hinter der schönen Fassade des Hauses verbarg sich, da hätte er wetten können, vor allem eins: ein Haufen Probleme. Der Türknauf war ein erster Hinweis darauf gewesen. Unmöglich, dass diese zierliche Frau derartigen Problemen tatsächlich gewachsen war.

„Ich bin eine Träumerin“, sagte sie mit fester Stimme, aus der er verletzten Stolz herauszuhören glaubte. Als ob jemand sie für ihre Träume ausgelacht habe.

Oh Mann, sei bloß still jetzt. Er biss sich auf die Zunge. Dieses Haus brauchte ganz sicher keinen Träumer. Eher schon einen Zimmermann. Und dann einen Elektriker. Wahrscheinlich auch einen Installateur.

„Ich war zum ersten Mal hier im Haus, als Grandma krank wurde. Meine Mutter und sie hatten sich … na ja … auseinandergelebt, und so rief einer der Nachbarn mich an und fragte, ob ich sie nicht pflegen könnte. Das Haus war für mich Liebe auf den ersten Blick! Außerdem gehört es schon seit Generationen unserer Familie. Nach Grandmas Tod musste ich mir überlegen, wie ich das Geld aufbringe, um es zu halten. Daher die Idee mit dem Bed & Breakfast.“

Das war eine Warnung, wie sie deutlicher nicht hätte sein können. Frauen, die an Liebe auf den ersten Blick glaubten, waren ihm suspekt. Auch mit Träumern tat er sich schwer. Nachdem all seine Träume zerstört worden waren, fand er ihren Optimismus unerträglich.

Aber hinter ihren Worten erahnte er noch mehr. Für einen Augenblick sah er in ihrem Blick einen dunklen Schatten. Was war es? Hatte etwas in ihrer Familie gefehlt, wonach sie sich immer noch sehnte? Es musste einen Grund geben, warum sie sich dieses Haus aufbürdete. Er hätte wetten können, dass es weniger mit Familientradition zu tun hatte, aber umso mehr mit einem gebrochenen Herzen. Ja, wahrscheinlich war es das. Ein Haus war einfacher zu lieben als ein Mensch.

Seit dem Feuer hatte Ryder manchmal das Gefühl, als sähe er die Menschen klarer als vorher – klarer, als es ihnen und ihm selbst lieb war. Er erahnte die Wahrheit, die sich hinter dem verbarg, was die Menschen sagten. Er hasste diese Fähigkeit, denn was er sah, ging ihm häufig nah und berührte ihn.

Vor dem Brand war Ryder ein typischer Mann gewesen, oberflächlich und auf sich selbst fixiert. Er hatte mit seinem Bruder eine Firma geleitet, traf sich mit seinen Kumpeln und spielte Eishockey. Seine Beziehungen zu Frauen waren unverbindlich gewesen, zu etwas Ernstem hatte er es nie kommen lassen. Er war ein glücklicher Egoist gewesen und hatte sein sorgenfreies Leben in vollen Zügen genossen.

Für nichts und niemanden hatte er je tief empfunden. „Unempfindlich“ wäre wohl die treffende Bezeichnung für ihn gewesen. Jetzt aber ging er an völlig fremden Menschen vorbei und las an den Sorgenfalten in ihrem Gesicht und den Schatten in ihren Augen die Tragödien ab, die ihnen im Leben widerfahren waren. Es war ein Segen gewesen, diese Dinge nicht zu sehen, aber das war ihm erst später bewusst geworden.

Noch vor einem Jahr hätte Ryder den Schmerz, der sich tief in den Schatten von Emmas Augen andeutete, nie und nimmer bemerkt. Zusätzlich stellte er jetzt beunruhigt fest, dass ihre Augen trotz der dunklen Schatten wunderschön waren.

Überhaupt war Emma eine sehr attraktive Frau. Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht mit einer leicht nach oben zeigenden Stupsnase. Ihre Lippen waren voll und sinnlich, während ihre Augen in einer weichen Mischung aus Grau und Grün schimmerten, wie Nebel und Moos. Unter ihrer weiten Kleidung zeichneten sich wohlgeformte Rundungen ab. Auf dezente Weise wirkte sie sehr verführerisch.

Widerstrebend musste Ryder sich eingestehen, dass Emma seit dem Feuer die erste Frau war, bei der sich in ihm ein gewisses Interesse regte. Seltsam, dass es ausgerechnet bei ihr so war. Die Frauen, die ihn sonst interessiert hatten, waren genauso oberflächlich gewesen wie er. Seine Vorliebe hatte eindeutig auf Frauen in hautengen Kleidern und Push-up-BHs gelegen, die viel Make-up, Schmuck und teure Parfüms trugen.

Emma hatte wahrscheinlich deshalb sein Interesse wecken können, weil er in ihrem Fall gar nicht erst auf den Gedanken gekommen war, sich dagegen zu wappnen: völlig chaotische Frisur, kein Make-up, ausgewaschene Jeans und ein Pulli, den sie wahrscheinlich zusammen mit dem Haus von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Aber wie auch immer, es war passiert. Seine Gefühle schienen aus einem langen Schlaf zu erwachen.

Das durfte er auf keinen Fall zulassen! Er war noch nicht wieder bereit für Lachen und Liebe. Er fühlte sich schlecht dabei, als ob das, was Drew und Tracy ihm bedeutet hatten, dadurch entwertet würde.

Früher, als er noch der alte Ryder gewesen war, hätte er es mit Emma vielleicht darauf ankommen lassen, nur um zu sehen, wohin es führte. Aber er war nicht mehr der alte. Emma war eine verletzte Frau, und er selbst war so von Trauer und Wut zerfressen, dass er sie nur noch mehr verletzen würde.

Schuld an seinen quälenden Gedanken waren die Weihnachtsgerüche in diesem Haus, der Baum und die Dekoration. Normalerweise wehrte Ryder diese Dinge souverän ab. Aber hier war irgendetwas anders. Bereits wenige Augenblicke nach der Ankunft waren seine Gedanken und Gefühle in hellem Aufruhr gewesen.

Schon als er unter das Vordach des Hauses getreten war, hatte er das ungute Gefühl gehabt, dass hier etwas auf ihn lauerte, das dem Schutzwall seines Herzens sehr gefährlich werden konnte. Dieser Verdacht erhärtete sich, als er das Wort „Glaube“ zwischen den Zweigen des Kranzes entdeckt hatte. Instinktiv hatte er zurück zum Auto laufen wollen, um sich eine andere Unterkunft zu suchen. Denn woran konnte er noch glauben?

Wäre er allein unterwegs gewesen, hätte er sich ins Auto gesetzt und sich auf den Weg zum nächstbesten Pub gemacht, vorzugsweise mit Billardtisch und großem Fernseher. Dort hätte er sich die Zeit vertrieben, bis die Straßen wieder frei gewesen wären.

Aber er war nicht allein. Bei allem, was er tat, musste er auch an Tess denken und daran, was das Beste für sie war. Ein Pub mit Billardtisch kam da wohl kaum infrage.

Aber was war das Beste für Tess, zumal auf lange Sicht? Einige Leute meinten, er sei als Vormund für Tess denkbar ungeeignet. Manche der älteren unter ihnen hatten sogar durchblicken lassen, dass sie es für besser hielten, wenn man Tess in eine richtige Familie geben würde. Eine Familie mit einer Mutter, die mit Tess’ Haaren zurechtkam und sich für berüschte Kinderkleidchen begeistern konnte.

Aber sein Bruder und Tracy hatten gewollt, dass Tess zu ihm kam. Überrascht hatte er erfahren, dass sie ihn im Testament als Vormund angegeben hatten.

Ryder hätte Tess nie im Leben hergegeben. Zwar hatte er sich anfangs in seiner Rolle als Ersatzvater sehr unbeholfen gefühlt, aber dieses Gefühl war schnell absoluter Liebe und Hingabe gewichen. Sie war alles, was ihm von seinem Bruder geblieben war. Sie war das Kind der unermesslichen Liebe zwischen Drew und Tracy, die er so bewundert hatte. Er würde Tess beschützen, selbst wenn es ihn das eigene Leben kostete.

Eine Kinderfrau half ihm mit Tess und kümmerte sich besonders ums Kämmen, Baden und Kleiderkaufen. Aber Mrs. Markle hatte über Weihnachten frei, da sie mit ihrer eigenen Familie feierte.

„Ich kann Ihnen jetzt sofort ein Zimmer geben, oder wir gehen erst mal in die Küche, und ich mache Ihnen etwas zu essen“, unterbrach Emma seine Gedanken.

Tess hatte im Auto ihr Fläschchen getrunken, aber etwas feste Nahrung konnte nicht schaden. Außerdem war Ryder selbst hungrig. „Essen klingt gut“, sagte er.

„Das Autofahren muss bei diesem Wetter ein Alptraum sein“, bemerkte Emma, die immer noch Tess auf dem Arm hatte. Sie führte ihn durch einen schmalen Korridor zu einer Schwingtür, die sie mit der Hüfte aufstieß.

„Ja, ein Alptraum“, stimmte er zu. „Die Hölle – nur die kalte Version, ganz in Weiß geschmückt.“ Wie hier.

Er sah, dass Emma seine Anspielung auf die weiße Dekoration verstanden hatte. Sie wirkte gekränkt, als habe er sie persönlich beleidigt.

„Nichts gegen weiße Dekoration“, fügte er rasch hinzu, machte es damit aber nicht besser.

Am liebsten hätte er gesagt, dass er doch keinen Hunger habe, und sich dann auf sein Zimmer geschlichen, das hoffentlich nicht allzu weihnachtlich dekoriert war.

Aber selbst wenn er keinen Hunger gehabt hätte – Tess musste etwas essen.

In der Küche duftete es intensiv nach Weihnachten. Der Raum war rustikal eingerichtet, mit leuchtend gelben Wänden, weißen Schränken und glänzendem Linoleumboden. Wie der kaputte Türknauf deutete auch hier einiges auf bauliche Probleme hin. Die Fenster waren von innen vereist, der Wasserhahn tropfte.

Ein langer massiver Tisch stand mitten im Raum. Dicht an dicht standen Schüsseln mit Weihnachtsgebäck darauf: Plätzchen mit rosa Zuckerguss oder Schokolade, kleine Bäume, bunte Weihnachtsmänner, Lebkuchenmänner und Lebkuchenhäuser.

„Offensichtlich erwarten Sie wirklich Gäste“, sagte er. „Wie viele kommen denn?“

„Ich hatte auf hundert gehofft.“

Er hörte die Enttäuschung in ihrer Stimme und sah sie an. „Sie haben für heute Abend hundert Leute erwartet?“

„Es ist der Eröffnungsabend von Holiday Happenings“, antwortete sie. Er tat sein Bestes, sich nicht anmerken zu lassen, wie grauenhaft er den Namen fand. Da er nichts sagte, redete sie weiter, wobei ihre Stimme etwas belegt klang.

„Hinter dem Haus ist ein Teich, auf dem die Leute Schlittschuh laufen sollten. Ich wollte ein großes Feuer machen, und der Nachbar sollte mit seinem Pferdeschlitten kommen.“

Hoffentlich würde sie nicht anfangen zu weinen. Nichts brachte seine innere Mauer so ins Wanken wie die Tränen einer Frau. Tess hatte das bereits erkannt und nutzte es bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihrem Vorteil aus.

„Tut mir leid“, sagte er etwas schroff.

„Morgen beruhigt sich das Wetter schon wieder“, gab sie entschieden zurück. „Holiday Happenings findet statt!“

Es klang wie eine Warnung an ihn – oder an die Götter –, ihr ja nicht zu widersprechen. Er würde es nicht tun, aber bei den Göttern war er sich nicht so sicher.

Schließlich war es Tess, die sie auf ein anderes Thema brachte. Sie zappelte auf Emmas Arm herum und gab quietschende Laute von sich. Dabei zeigte sie immer wieder auf die Plätzchen.

„Wilda.“

„Will das?“, riet Emma. „Sie hat Hunger.“

„Selbst nach einem Zehn-Gänge-Menü wäre noch Platz für Süßigkeiten in ihrem kleinen Bäuchlein“, bemerkte er, dankbar dafür, dass die Tränengefahr gebannt war.

„Darf sie einen haben, Papa? Oder muss sie erst etwas Gesundes essen?“

Er runzelte die Stirn. Sollte er richtigstellen, dass er nicht Tess’ Vater war? Eigentlich war es egal, denn er würde nicht lange genug dafür bleiben, dass es eine Rolle spielte.

Andererseits war das vielleicht besser, als zu riskieren, dass das Gespräch wieder auf das Wetter und ihre vernichteten Pläne zurückkäme. Er legte wirklich keinen Wert darauf, mehr über Holiday Happenings zu erfahren. Oder sie weinen zu sehen.

Ihm fiel ein, dass er sich nicht vorgestellt hatte.

„Ich bin Ryder Richardson“, sagte er. „Ich bin ihr Onkel. Ihr Vormund.“

„Oh, das wusste ich nicht.“

Er streckte die Hand aus. Emma nahm das Baby auf den anderen Arm und gab ihm die Hand. Augenblicklich wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Ihre Hand schmiegte sich weich und angenehm in seine, obwohl ihr Griff überraschend kräftig war.

Eine seltsame Energie durchfuhr ihn, warm und kribbelnd. Er biss die Zähne zusammen, um sich dagegen zu wappnen.

Auch Emma musste etwas gefühlt haben, denn sie blickte ihm in die Augen und erstarrte für einen Moment. Dann blinzelte sie erschrocken und zog ihre Hand rasch zurück.

Sein Blick senkte sich auf ihre Lippen. Vor langer Zeit, als er noch ein anderer Mann gewesen war, hätte er diese Lippen jetzt vielleicht geküsst. Stattdessen streckte er jetzt die Arme nach Tess aus, und Emma gab sie ihm zurück.

Ryder setzte seine Nichte auf den Tisch und wickelte sie aus der Decke. Dann zog er ihr den kurzen Mantel aus und begann, an ihrer Mütze herumzufummeln. Wieso kam man bloß immer so schwer an den Verschluss heran? Manchmal war er schon fast ein wenig übervorsichtig, wenn es um Tess ging. Er hatte eine zusätzliche Mütze im Auto, nur für den Fall. Andererseits diente die Mütze auch dazu, das wirre Durcheinander auf ihrem Kopf zu verstecken.

„Diese Mütze macht mich noch wahnsinnig“, murmelte er.

„Warum?“, fragte Emma.

„Irgendwie passt sie nicht richtig.“

„Aha“, sagte sie und musste sich das Lachen verkneifen.

Ryder sah sie scharf an. Sie grinste und bemühte sich, nicht zu kichern. Er mochte es nicht, wenn man sich über ihn lustig machte, schon gar nicht, wenn es um seine Fähigkeiten im Umgang mit Tess ging.

„Was ist so lustig?“, fragte er gereizt.

Sie hob eine Hand, um zu zeigen, dass sie sich gleich wieder im Griff haben würde. Aber je mehr sie versuchte, das Lachen zu unterdrücken, desto mehr drängte es aus ihr heraus.

„Sie … hat … die Mütze … verkehrt … herum auf.“

Ryder trat einen Schritt zurück und besah sich die Mütze auf Tess’ Kopf mit finsterer Miene. „Verdammt, sie sitzt tatsächlich verkehrt herum. Kein Wunder, dass ich damit nicht zurechtkomme.“

Was war nur los mit ihm? Er war ein erfolgreicher Architekt, aber nicht in der Lage, einem Kind die Mütze richtig aufzusetzen? Wie demütigend. Versuchsweise drehte er die Mütze um.

„Der Bommel sitzt so aber auch ungewöhnlich. Das hat mich irritiert“, sagte er ernst.

„Natürlich“, pflichtete sie ihm bei, weit weniger ernst als er.

„Wenigstens brauche ich jetzt keine neue Mütze zu kaufen.“

Emmas Blick verriet, dass sie ihn falsch verstanden hatte. „Nicht, weil ich es mir nicht leisten könnte“, fügte er eilig hinzu, überrascht, wie sehr er sich in seinem Stolz verletzt fühlte. „Aber Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, der einzige Mann in der Babyabteilung zu sein.“

Tess versuchte mit wütendem Gesicht, sich die Mütze vom Kopf zu ziehen.

„Es sieht nicht so aus, als würde sie Mützen mögen“, sagte Emma.

„Solange sie mich nicht an ihre Haare lässt, trägt sie eine Mütze“, erwiderte Ryder bestimmt. Er nahm Tess die Mütze ab und trat zur Seite, damit Emma sehen konnte, was er meinte.

Wenn sie ihn jetzt wieder auslachte, würde er das Baby nehmen und verschwinden – Schneesturm hin oder her. Er würde an der Tür des erstbesten Hauses in Willowbrook klopfen und um Unterschlupf bitten. Das erstbeste Haus ohne Weihnachtsdekoration.

Aber Emma lachte nicht. Ihr blieb vor Schreck die Luft weg.

Dabei sieht ihre Frisur auch nicht viel besser aus, dachte Ryder.

Tess’ hellblonde Haare sahen aus, als seien sie seit der Geburt nicht ein einziges Mal gekämmt worden. In Wirklichkeit waren es nur zwei Tage. Sie sah aus wie ein kleines Monster mit einer wilden Mischung aus Dreadlocks und Korkenzieherlocken auf dem Kopf. Hinten hatte sich ein dicker Haarklumpen gebildet, groß genug, dass Mäuse darin hätten wohnen können. Links und rechts standen zwei kleine Hörner ab.

„Die Kinderfrau hat seit zwei Tagen Urlaub“, erklärte er resigniert. Seine eigene Unfähigkeit war ihm peinlich. „Und in Tess’ Welt ist es dem Onkel streng verboten, die Goldlöckchen auch nur zu berühren.“

Emma sah nicht so aus, als würde sie ihm glauben.

Er streckte einen Finger aus und berührte ganz leicht eine der Locken. Sofort brüllte Tess los, als hätte man ihr ein glühendes Stück Kohle in die Windel gesteckt. Das Brüllen ging durch Mark und Bein. Ryder zog seinen Finger zurück, und sofort hörte es auf. Unschuldig sah Tess ihn an.

„Ha“, sagte er. Wieder näherte er sich mit dem Finger, zog ihn weg, Tess brüllte, stoppte, brüllte, stoppte.

Emma prustete vor Lachen.

Was tat er hier eigentlich gerade? Er hatte nicht gewollt, dass Emma weinte, so viel war klar. Aber sie lachen zu sehen, war noch viel gefährlicher! Hätte er gewusst, wie hübsch sie dabei aussah, hätte er das Spiel mit Tess nicht angefangen. Emmas Lachen klang herrlich, es erfreute ihn und öffnete sein Herz. Doch er verdiente keine Freude! Er hatte den Tod seines Bruders verschuldet. Diese Schuld würde für immer auf ihm lasten, und keine Frau durfte daran etwas ändern.

4. KAPITEL

„Darf Tess ein Plätzchen haben?“, wiederholte Emma ihre Frage von vorher.

„Lassen Sie es mich erst mit Babynahrung versuchen.“ Er wühlte in der Tasche mit den Babysachen, die er aus dem Auto mitgebracht hatte. Eine Flasche fiel heraus und rollte weg. Offensichtlich fiel der Boden zu einer Seite ab – ein weiterer Hinweis auf die ernsten baulichen Probleme dieses Hauses.

Doch damit hatte er Gott sei Dank nichts zu tun.

Schließlich fand er ein Glas mit Babynahrung, aber natürlich wollte Tess davon nichts wissen. Sie warf sich in dem Kinderstuhl, den Emma geholt hatte, hin und her, völlig fixiert auf die vielen Plätzchen. Ryders Versuch, sie mit pürierten Möhren zu füttern, endete damit, dass Tess wild um sich schlug.

„Dabei ist es beste Bio-Qualität“, bemerkte er ironisch. Er wischte sich einen Spritzer Karottenpüree vom Hemd. „Sie hat im Auto ein Fläschchen gehabt. Na los, geben Sie ihr ein Plätzchen.“

Emma hob Tess aus dem Stuhl und zeigte ihr die einzelnen Schüsseln. „Was für eins möchtest du?“

Tess entschied sich für einen großen Lebkuchenmann.

„Sie müssen doch auch Hunger haben“, wandte Emma sich an Ryder. „Ich kann Ihnen nichts Großartiges anbieten, aber ich habe Hotdogs. Die waren eigentlich für Holiday Happenings gedacht. Sie können auch Glühwein oder heiße Schokolade haben. Davon habe ich literweise draußen am Unterstand.“

„Hotdogs finde ich prima“, antwortete Ryder.

Er sah Tess zu, wie sie den Mund weit öffnete und dem Lebkuchenmann den Kopf abbiss. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war sie von dem Geschmack nicht begeistert. Mit lautem „bäh“ spuckte sie den angekauten Kopf auf den Boden und warf den Mann hinterher. Dann langte sie nach einem anderen Plätzchen.

Emma schien das lustig zu finden, aber für Ryder warf es die üblichen bohrenden Fragen auf. Wie sollte er Tess erziehen? War es noch zu früh, um ihr Manieren beizubringen? Würde sie womöglich, wenn er nichts tat, später ein verwöhntes, verzogenes Kind werden?

Ryder rieb sich die Stirn. Im Großen und Ganzen fand er, dass er alles richtig machte: Tess hatte bei ihm ein gutes Zuhause und eine Kinderfrau, die sich liebevoll um sie kümmerte. Aber solche Details wie Plätzchen und Mützen verunsicherten ihn immer wieder.

Einige Freunde hatten ihm geraten, sich eine Frau zu suchen, damit es in Tess’ Erziehung auch weiblichen Einfluss gäbe. Aber dieser Ratschlag zeigte lediglich, dass es ihm offensichtlich gut gelang, seine innere Verletztheit und Gefühlsleere vor anderen zu verstecken.

Oft fühlte er sich wie der einzige Men...

Autor

Cara Colter

Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel.
Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...

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