Julia Exklusiv Band 301

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VERFÜHRT IM SCHLOSS DES STOLZEN SPANIERS von LAWRENCE, KIM
Schockiert erfährt Santiago Silva, dass sein Bruder sich in die berüchtigte Femme fatale Lucy verliebt hat. Er muss ihn vor ihr retten! Auch wenn er selbst zu diesem Zweck Lucy eiskalt verführen muss …

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MÄRCHENHAFTE NACHT IN DER TOSKANA von GREY, INDIA
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  • Erscheinungstag 17.08.2018
  • Bandnummer 0301
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711184
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence, Mira Lyn Kelly, India Grey

JULIA EXKLUSIV BAND 301

1. KAPITEL

„Lucy Fitzgerald …?“

Santiago hatte nur mit halbem Ohr hingehört, während sein Bruder begeistert seine neueste Freundin beschrieb, die wieder „die Richtige“ war. Stirnrunzelnd blickte er auf und versuchte, den Namen unterzubringen, der ihm seltsam bekannt vorkam.

„Kenne ich sie?“

Sein Halbbruder hatte sich vor den großen vergoldeten Spiegel gestellt, der über dem imposanten Kamin hing. Er warf einen selbstgefälligen Blick auf sein Spiegelbild, fuhr sich durch das schwarze Haar und drehte sich breit lächelnd zu Santiago um. „Wenn du Lucy schon einmal begegnet wärst, hättest du es nicht vergessen. Du wirst sie lieben, Santiago.“

„Nicht so sehr, wie du dich liebst.“

Ramon betrachtete kritisch sein Profil und strich sich über den sorgfältig gepflegten Dreitagebart. „Auch Vollkommenheit lässt sich stetig verbessern.“

In Wirklichkeit nahm er gelassen hin, dass er trotz seiner Bemühungen und trotz seines schönen Profils niemals die Anziehungskraft haben würde, die sein charismatischer Bruder auf Frauen ausübte und ungenutzt ließ. Nach Ramons Meinung gehörte es sich einfach nicht, die Frauen nicht einmal zu beachten, die bereitwillig den kleinen Höcker auf Santiagos Nase übersahen – eine Erinnerung an seine Zeit als Rugbyspieler – und seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten.

Forschend blickte Ramon seinen älteren Bruder an, der an seinem großen Mahagonischreibtisch saß. Auch wenn er viele Gelegenheiten nicht nutzte, lebte er nicht wie ein Mönch. Ebenso unvorstellbar war allerdings, dass er herumspielte.

„Hast du überhaupt vor, irgendwann wieder zu heiraten?“ Sofort bereute Ramon die unbedachte Frage. „Entschuldige, ich wollte nicht …“ Verlegen zuckte er die Schultern. Magdalena war vor acht Jahren gestorben. Obwohl er damals noch ein Teenager war, hatte er nicht vergessen, wie schrecklich der leere Blick seines Bruders gewesen war. Selbst jetzt noch konnte es genügen, ihren Namen auszusprechen, und der leblose Blick kehrte zurück. Nicht, dass Santiago nicht ständig an seine Frau erinnert wurde: Die kleine Gabriella war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Santiago merkte Ramon sein Unbehagen an, und aus Mitleid mit ihm verdrängte er die Schuldgefühle, die ihn bei jedem Gedanken an seine verstorbene Frau überkamen. Er zwang sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema.

„Diese Lucy bringt dich also dazu, ans Heiraten zu denken?“, fragte er und rechnete damit, dass Ramon das entsetzt verneinte. „Sie muss ja etwas ganz Besonderes sein“, fügte er spöttisch hinzu.

„Ja, ist sie. Heirat …?“ Einen Moment lang schien Ramon wie vom Donner gerührt zu sein, dann lächelte er herausfordernd. „Warum nicht?“ Als er sich das sagen hörte, wirkte er völlig schockiert.

Santiago unterdrückte ein Stöhnen und tröstete sich mit dem Schreck seines Bruders. „Warum nicht? Du bist dreiundzwanzig und kennst diese Frau wie lange?“

„Du warst einundzwanzig, als du geheiratet hast.“

Und das ist nicht gut gegangen. Sich bewusst, dass sich sein Bruder nur auf die Hinterbeine stellen würde, wenn er zu sehr dagegen anredete, zuckte Santiago lässig die Schultern. Ramons Leidenschaft kühlte oft so schnell ab, wie sie aufgeflammt war. „Vielleicht sollte ich deine Lucy kennenlernen?“

Das streitlustige Funkeln verschwand aus Ramons Augen. „Du wirst sie lieben, Santiago, du wirst gar nicht anders können. Sie ist perfekt, eine …“ Ramon machte eine schwungvolle Handbewegung und seufzte. „Eine Göttin.“

Belustigt zog Santiago die Augenbrauen hoch. „Wenn du das sagst.“ Bei seiner Rückkehr hatte ein Stapel Privatbriefe auf ihn gewartet. Er nahm den obersten Umschlag in die Hand, stand auf und ging um den Schreibtisch.

„Eine Frau wie sie habe ich noch nie getroffen.“

„Sie scheint … außergewöhnlich zu sein.“ Santiago, der keine Frau kannte, die perfekt oder eine Göttin war, ertrug Ramons Schwärmerei mit Geduld.

„Also hast du nichts dagegen?“

„Bring sie am Freitag mit zum Abendessen.“

„Im Ernst? Hierher?“

Santiago nickte, während er den Brief las, den er aus dem Umschlag gezogen hatte. Solche Nachrichten waren ihm vertraut. Ramon, schrieb seine Mutter, sei durch die Prüfungen gefallen. Und sie wollte von Santiago wissen, was er zu tun gedenke. Er blickte auf. „Du hast mir nicht erzählt, dass du dein zweites Jahr wiederholen musst.“ Woran im Grunde Santiago schuld war, wie seine Stiefmutter ihm zu verstehen gab, ohne es direkt zu sagen.

Vielleicht ist an dem Vorwurf etwas dran? grübelte er.

Wurde es Zeit, dass er hart durchgriff? Er wollte, dass sein Bruder die Freiheit genoss, die er selbst nach dem frühen Tod ihres Vaters nicht gehabt hatte. War er deshalb zu nachsichtig gewesen?

Ramon zuckte die Schultern. „Meeresbiologie ist nicht das, was ich erwartet hatte.“

„Archäologie war auch nicht das Richtige. Oder war es Ökologie?“

„Glaub mir, das hat wirklich nicht …“

„Du bist so intelligent. Ich verstehe einfach nicht, wie …“ Mühsam unterdrückte Santiago seine Wut. „Hast du überhaupt irgendwelche Vorlesungen besucht, Ramon?“

„Ein paar. Ja, ich weiß, aber ich werde mich dahinterklemmen, ehrlich. Lucy sagt …“

„Lucy?“ Er sah, was für ein Gesicht sein Bruder machte. „Die Göttin. Entschuldige, ich hatte es vergessen.“

„Eine gute Ausbildung kann einem niemand nehmen, sagt Lucy.“

Verwundert schüttelte Santiago den Kopf. Diese Lucy schien anders zu sein als die vielen Frauen, mit denen sich Ramon bisher eingelassen hatte. „Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.“ Möglicherweise war eine anständige junge Frau, die eine gute Ausbildung wichtig fand, genau das, was sein Bruder brauchte.

Sein Urteil stand noch nicht fest. Santiago entschied sich, gegenüber Ramons neuer Freundin aufgeschlossen zu bleiben.

An ihrem ersten Tag auf der Finca war Harriets Auto nicht angesprungen. Kein Problem, hatte Lucy gesagt und war zu Fuß in die Kleinstadt gegangen. Es war dann doch ein Problem gewesen. Nicht die Entfernung, sondern die glühend heiße andalusische Mittagssonne.

Eine Woche später war das Auto noch immer im Hof aufgebockt und wartete auf das Ersatzteil, das der Mechaniker hatte bestellen müssen, und die Haut auf Lucys Nasenrücken schälte sich noch immer. Aber die schmerzhafte Röte war abgeklungen, und Lucy hatte ihren Pfirsichteint wieder.

Heute hatte sie Harriets vernünftigen Vorschlag, ein Taxi zu nehmen, abgelehnt. Sie lief gern, war jedoch viel früher losgegangen. Und so hatte sie alles auf Harriets Liste rechtzeitig eingekauft, um den Rückweg durch eine wirklich wunderschöne Landschaft zu genießen, solange es noch angenehm kühl war. Trotzdem hatte Lucy Lichtschutzfaktor dreißig aufgetragen und sich von Harriet einen Strohhut geliehen.

Es war erst halb elf, als Lucy den Steg über dem Bach erreichte, der die Grenze zu Harriets Finca bildete. Das einstöckige Haus war nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Die gut anderthalb Hektar Land hatten Harriet gereizt. Nach ihrer Pensionierung hatte sie beschlossen, ihren Traum zu verwirklichen und in Spanien ein Tierheim für Esel zu eröffnen.

Lucy hatte ihr gesagt, sie halte sie für sehr mutig. Ihre frühere Universitätstutorin hatte erwidert, sie folge nur dem Beispiel ihrer ehemaligen Lieblingsstudentin. Lucy, die es nicht gewohnt war, als Vorbild hingestellt zu werden, hatte nicht darauf hingewiesen, dass sie ihren Lebensstil eher notgedrungen geändert hatte.

Spontan ging sie neben dem Steg das Bachufer hinunter und zog die Sandalen aus. Zuerst fühlte sich das Wasser auf ihrer heißen Haut so kalt an, dass sie nach Atem rang. Dann tastete sie sich vor Freude lachend vorsichtig über die glatten Steine und watete hinaus.

Schließlich reichte ihr das Wasser bis an die Waden. Lucy nahm den Strohhut ab und hielt mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonne. Herrlich!

Santiago trieb sein Pferd aus dem Schatten der Pinien, wo sie eine Pause gemacht hatten. Sein markantes Gesicht maskenhaft starr, ritt er auf den schnell fließenden Bach zu.

Jetzt wusste Santiago, warum ihm der Name bekannt vorgekommen war.

Die Verkleidung als aufreizender Engel war gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Nicht bei einer Frau, für die galt: einmal gesehen, niemals vergessen. Und Lucy Fitzgerald war so eine Frau!

Auf dem Bild, das vor vier Jahren von den Medien immer wieder verwendet worden war, trug sie ein elegantes, figurbetontes rotes Kostüm und Stilettos. Aber Santiago hatte keinen Zweifel, dass es dieselbe Frau war, die von einer empörten Öffentlichkeit in Bausch und Bogen verurteilt worden war.

Sie hatte kein Wort gesagt, um sich zu verteidigen. Andererseits war das der Zweck der Sache gewesen. Wenn sie die einstweilige Verfügung missachtet hätte, Stillschweigen zu bewahren, wäre sie im Gefängnis gelandet.

Er erinnerte sich an das verweinte Gesicht der betrogenen Ehefrau auf einem der Fotos. Was für ein Gegensatz zu Lucy Fitzgerald, die sich im Blitzlichtgewitter kühl und gefasst gezeigt hatte.

Normalerweise hätte Santiago so eine Story nicht weiter als bis zur ersten Zeile gelesen, aber er war gerade zu der Zeit in einer ähnlichen Situation wie der Werbeleiter gewesen, der vor Gericht gegangen war, um sich vor Lucy Fitzgerald zu schützen.

Die Frau, die Geld aus ihm hatte herausholen wollen – Santiago hatte vergessen, wie sie geheißen und wie sie ausgesehen hatte –, war eher opportunistisch als skrupellos gewesen. Und er war unverheiratet und machte sich nicht viel daraus, was die Leute von ihm dachten. Dadurch war er nicht so verwundbar gewesen wie Lucy Fitzgeralds Opfer. Der Werbeleiter hatte der Drohung seiner Geliebten, ihn bloßzustellen, nicht nachgegeben. Stattdessen hatte er eine einstweilige Verfügung beantragt, durch die ihr verboten worden war, sich zu äußern.

Erpressung war die Tat von Feiglingen, und eine Frau wie Lucy Fitzgerald verkörperte alles, was Santiago verachtete. Weshalb das Gesicht seiner eigenen Möchtegernerpresserin längst vergessen war, während das madonnenhafte Gesicht der hartherzigen Engländerin ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Und ihr Körper auch.

Mir und dem Rest der männlichen Bevölkerung ist sie ins Gedächtnis gebrannt, dachte Santiago und verzog spöttisch den Mund, während er den Blick über die üppigen Rundungen wandern ließ, die sich unter dem Top und dem Rock aus Baumwolle abzeichneten. Die Frau hatte einen Körper, der dazu aufforderte, sündhafte Vermutungen anzustellen.

Für seinen Geschmack machte sie es allzu auffällig, aber Santiago konnte verstehen, warum sein Bruder, der leicht zu beeindrucken war, sich in sie verliebt hatte.

Und er hatte gedacht, Ramons neue Freundin würde einen positiven Einfluss auf ihn ausüben! Santiago unterdrückte ein bitteres Lachen. Positiv? Wenn Lucy Fitzgerald auch nur ein bisschen ihrem schlechtem Ruf gerecht wurde, war sie durch und durch verdorben!

Fast wehmütig dachte Santiago an die hohlköpfigen, hübschen, aber im Grunde harmlosen Partygirls, vor denen sich sein Bruder bis jetzt hatte selbst retten müssen. Santiago war ihm nicht zu Hilfe gekommen, weil er meinte, dass Ramon aus seinen Erfahrungen lernen würde. Das hier war jedoch eine völlig andere Situation. Er durfte nicht zulassen, dass Ramon ein Opfer dieser Frau wurde.

Hatte sie sich Ramon gezielt ausgesucht?

Das hielt Santiago für wahrscheinlich. Eine Femme fatale wie sie sah in seinem jüngeren Bruder wohl eine leichte Beute.

Wusste Ramon über ihre Vergangenheit Bescheid? Oder kannte er zumindest ihre entschärfte Version davon, in der zweifellos sie das unschuldige Opfer war? Bestimmt konnte sie sehr überzeugend sein, und sie hatte ihm offensichtlich völlig den Kopf verdreht. Andererseits, warum sollte sie ihre Vergangenheit wieder aufleben lassen, wenn Ramon doch noch ein Teenager gewesen war, als die Story Schlagzeilen gemacht hatte?

Ein Teenager!

Wütend presste Santiago die Lippen zusammen. Sie war nicht nur eine habgierige, durch und durch verdorbene Frau, die nur hinter dem Geld der Männer her war, sondern sie hatte auch ein Verhältnis mit seinem Bruder angefangen. Wie alt war sie eigentlich? Sie musste … um die dreißig sein, oder?

Santiago musste seinem Bruder recht geben, als er sein Pferd am Bachufer anhielt. Er hatte nicht übertrieben: Es war berechtigt, wenn er sie „Göttin“ nannte. Zutiefst unmoralisch, aber atemberaubend schön, sogar barfuß und in einem einfachen Baumwollrock. Bei jeder anderen Frau hätte Santiago angenommen, dass sie nicht wusste, wie durchsichtig der Rock war, wenn die Sonne direkt darauf schien. Lucy Fitzgerald hingegen hatte mit Sicherheit einkalkuliert, dass sich ihre wohlgeformten Schenkel unter dem dünnen Stoff abzeichneten.

Dass sie ihn nicht bemerkte, nutzte Santiago aus, um sie zu mustern. Sie war groß, hatte lange Beine und eine Sanduhrfigur. Die Blondine verströmte Sex, und Santiago ärgerte sich darüber, dass sein Körper auf ihren Anblick reagierte.

Während er sie beobachtete, schob sie die Hand in den Ausschnitt ihres Tops und versuchte, den BH-Träger zu erwischen, der ihr über die Schultern gerutscht war. Dabei wirkte sie plötzlich weniger wie ein Pin-up-Girl und mehr wie eine natürliche, warme, begehrenswerte Frau. Sehr begehrenswert.

Die Sonne fing ihr taillenlanges Haar ein und ließ es wie gesponnenes Gold funkeln. Da erkannte Santiago, dass er schnell handeln musste, wenn er seinen Bruder vor den Machenschaften dieses betörenden Geschöpfs retten wollte. Lucy Fitzgerald war gefährlich schön. Eines Tages würde Ramon ihm dankbar sein.

Der Ledersattel knarrte, als Santiago ein Bein darüber schwang und leichtfüßig auf den Boden sprang. Die kleinen Steine, mit denen der Weg übersät war, knackten metallisch unter seinen Stiefeln.

Erschrocken drehte Lucy sich um. Ihr Blick verriet Angst, als sie die bedrohlich große männliche Gestalt sah, die sich als Silhouette gegen die Sonne abzeichnete. Das entsprechend große Pferd neben ihm trank aus dem Bach.

Als der Mann einen Moment später etwas sagte, hatte sich Lucy wieder unter Kontrolle und ließ sich nichts anmerken.

„Entschuldigen Sie, habe ich Sie erschreckt?“

Nur halb zu Tode, dachte sie. Der Fremde sprach mit schwachem spanischen Akzent und volltönender Stimme. Eine tiefe Stimme, die gleichzeitig samtweich und rau klang.

„Ich habe Sie nicht kommen hören.“ Lucy hielt eine Hand über die Augen und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. Sie wusste, dass sie die maskenhafte Miene aufgesetzt hatte, die ihr den Beinamen „eiskaltes Luder“ eingebracht hatte. Es war schwer, weil ihr der Abwehrmechanismus inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war.

Es hatte eine Zeit gegeben, als ihre Erfahrungen sie hart und zynisch zu machen gedroht hatten und – wie ihre Mutter behauptet hatte – zu verängstigt, um zu leben. Der besorgte Vorwurf hatte Lucy aufgerüttelt, und neuerdings bemühte sie sich, nicht immer gleich das Schlimmste zu vermuten.

Vorsicht war etwas anderes, und unter diesen Umständen nur vernünftig!

Den Blick auf ihre Füße gerichtet, damit sie im steinigen Bachbett nicht stolperte, watete Lucy ans Ufer. Sie stieg den kleinen Abhang hoch, sodass sie auf gleicher Höhe mit dem Mann stand. Und so nah, dass sie den Geruch nach Leder und Pferd wahrnahm. Reserviert lächelnd sah sie den Fremden an.

Er war außergewöhnlich groß, hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine. Sie gewann einen Eindruck von urwüchsiger Kraft. Seine Gesichtszüge wirkten wie aus Bronze gegossen, von einem Künstler, der mehr an einem männlichen Ideal als an der Wirklichkeit interessiert war. Der Reiter hatte eine Römernase, eine breite Stirn, ein energisches Kinn und hohe Wangenknochen. Lucys Blick fiel auf seinen sinnlichen Mund.

Der Mann war umwerfend attraktiv. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon völlig überwältigt dastand. Sie spürte, dass sie rot wurde, und mühte sich ab, ihm in die Augen zu sehen.

Sie verstand es meisterlich, ihre Gefühle zu verbergen, aber dieser Mann konnte es noch viel besser. Sein Blick war unergründlich. Die von langen Wimpern umrahmten dunklen Augen hatten goldene Einsprengsel und erinnerten sie an einen sternenklaren Nachthimmel.

Sternenklarer …? Lucy, du brauchst etwas Süßes für deinen Blutzuckerspiegel, dachte sie. Ihre beste Freundin Sally war der Meinung, dass sie etwas ganz anderes brauchte. Und das hatte sie ihr unverblümt gesagt, als Lucy ihr erzählt hatte, sie gehe nach Spanien.

„Grundsätze zu haben ist großartig, Lucy, und wahre Liebe ist ja gut und schön – aber nur im Märchen! Wie wäre es mit einem Kompromiss, während du darauf wartest, dass ein Prinz an deine Tür klopft? Genieß eine Zeit lang heißen Sex mit einem Spanier. Angebote wirst du genug bekommen. Mensch, wenn ich aussehen würde wie du …“

Lucy, die von heißem Sex nichts verstand und nur wusste, dass so etwas nichts für sie war, verdrängte die Erinnerung an das Gespräch. Aber da hatte sie den Blick schon zum sinnlichen Mund des Fremden schweifen lassen. Fast beneidete sie ihre Freundin um ihre sachliche Einstellung zum Sex, als sich plötzlich Hitze in ihr ausbreitete. Lucy räusperte sich, was nicht verhinderte, dass ihre Stimme heiser und atemlos klang.

„Woher sprechen Sie meine Sprache so gut?“, fragte sie, weil es das Erste war, das ihr in den Sinn kam.

Ihr Herz hämmerte, und sie hatte weiche Knie. War das die sogenannte animalische Anziehungskraft? Nun, was auch immer es war, er strahlte es aus! Und sie wäre ihm lieber nicht so nahe.

Santiago zog spöttisch die Augenbrauen hoch, während er ihr taillenlanges blondes Haar betrachtete, das ihr offen über die Schultern fiel. Auf allen Fotos, die Santiago gesehen hatte, trug sie einen eleganten Nackenknoten. Vermutlich änderte sie ihre Frisur je nachdem, welche Rolle sie gerade spielte. Und er konnte verstehen, dass die prachtvolle Lockenmähne seinen Bruder reizte. Alle Männer.

„Ich habe gleich erkannt, dass sie nicht von hier sind: Ihre Haut- und Haarfarbe ist nicht gerade die der Einheimischen“, wich er der Frage aus.

Er musterte ihre zarten Gesichtszüge. Die helle, samtweiche Haut hatte einen fast opalartigen Schimmer; auf den rosigen Wangen war kein Make-up: Erstaunlicherweise war Lucy Fitzgerald ungeschminkt. Trotz ihrer hellen Haar- und Hautfarbe hatte sie dunkle Wimpern und Brauen. Ein Purist hätte bemängeln können, dass die sinnlichen Lippen für ihr zartes Gesicht zu üppig waren, aber selbst der schärfste Kritiker hätte an ihren Augen nichts auszusetzen gehabt. Sie waren groß und leuchtend blau.

„Oh …“ Lucy klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Auf ihr verlegenes Lächeln reagierte er mit einem starren Blick. Sie war sich der unerklärlichen Feindseligkeit in seiner Körpersprache bewusst. War der Mann immer so oder nur zu ihr? „Ich falle wohl ein bisschen auf“, räumte sie ein.

Er musterte ihre Figur.

Die zweifellos absichtliche Unverschämtheit brachte Lucy dazu, ihn wütend anzufunkeln. Der Typ hatte keine Manieren.

„Und Sie tun ja alles dafür, nicht beachtet zu werden.“

Sie gab einen erstickten Laut von sich. „Was ist eigentlich Ihr Problem? Ich bin nicht widerrechtlich auf dem Land, aber Sie wahrscheinlich.“ Er sah aus wie jemand, der Grenzen nicht anerkannte.

„Ich bin Santiago Silva.“

„Soll ich jetzt einen Knicks machen?“ Also das war der Gutsherr, dem alles hier gehörte, auch das Grundstück, das Harriet gepachtet hatte. Ihre Freundin hatte ihr erzählt, er sei „ein wundervoller Mann“. Seltsam. Normalerweise war Harriet eine gute Menschenkennerin.

Lucy stemmte die Hand in die Hüfte, ohne sich bewusst zu sein, wie aufreizend diese Pose war. Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das nicht seine Augen erreichte. Sein Blick war eiskalt.

„Ich hatte keine Ahnung, dass wir einen so berühmten – oder sollte ich sagen berüchtigten? – Gast in unserer Gegend haben, Miss Fitzgerald.“ Zufrieden nahm Santiago zur Kenntnis, dass sie zusammenzuckte. Jetzt hab ich dich! dachte er.

2. KAPITEL

Lucy spürte den vertrauten Druck im Magen. Ihre Miene wurde maskenhaft starr. Sie hätte sich selbst verfluchen können! Und zwar dafür, dass es sie schockierte, hier in Spanien von jemandem erkannt worden zu sein. Die Welt war klein, hieß es, und nach dem Aufkommen der sozialen Netzwerke noch kleiner.

Was Fremde von ihr dachten, war deren Problem, nicht ihres. Aber ganz gleich, wie oft sie sich das sagte, es tat trotzdem weh. Und es machte sie wütend, dass die abschätzigen Blicke und verächtlichen Bemerkungen sie dazu brachten, sich verstecken zu wollen. Was, wie von einigen behauptet wurde, genau das war, was sie schon seit vier Jahren tat.

Stolz blickte sie ihm ins Gesicht. Sie würde sich nicht mehr verstecken, sie hatte nichts Unrechtes getan. Die einstweilige Verfügung war lange aufgehoben, deshalb hinderte sie nichts daran, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich aus ihrer Sicht darstellte. Denn schließlich war sie das unschuldige Opfer, das niemandem irgendetwas erklären musste. Schließlich hatten die Menschen, die ihr wichtig waren, keine von den Lügen geglaubt, die über sie gedruckt worden waren.

„Wenn ich gewusst hätte, wie herzlich die Einheimischen einen Gast aufnehmen, wäre ich schon früher gekommen.“ Lucy lächelte ihn zuckersüß an und sah mit Genugtuung, dass er ärgerlich die Lippen zusammenpresste.

„Und wie lange wollen Sie bleiben?“

„Warum fragen Sie? Haben Sie vor, mich aus dem Dorf zu jagen?“, spottete sie.

Auf ihre flapsige Äußerung reagierte Santiago Silva mit einem eisigen Blick. Seine Feindseligkeit verwirrte Lucy. Hatte der Mann nichts Besseres zu tun?

Ihre Story war Schnee von gestern. Selbst wenn er sie für so verdorben hielt, wie man sie geschildert hatte, erklärte das kaum, warum er anscheinend persönlich etwas gegen sie hatte.

„Ich sollte keine Witze darüber machen. Wahrscheinlich können Sie mich tatsächlich davonjagen.“ Sie hatte den Eindruck, dass der Mann nur mit den Fingern zu schnippsen brauchte, und die Leute im Ort würden ihm helfen. Seit sie hier war, hatte Lucy den Namen Santiago Silva regelmäßig gehört. Alle in der Gegend sangen ein Loblied auf diesen vorbildhaften Menschen. Was Lucy erstaunlich fand, da er ein Banker war – und Banker waren ja heutzutage nicht gerade beliebt.

Der Mann, der vor ihr stand und die Nase über sie rümpfte, ähnelte überhaupt nicht dem warmherzigen, fürsorglichen Menschen, den man ihr beschrieben hatte. Er sah durch und durch wie der selbstherrliche, reaktionäre Gutsbesitzer aus, der von den Leuten erwartete, dass sie vor ihm katzbuckelten.

„Sie haben meinen Bruder kennengelernt.“

Lucy schüttelte den Kopf, dann fiel der Groschen. „Ramon.“ Kurz bevor sie heute Morgen losgegangen war, hatte er angerufen und sie zum Abendessen ins Schloss eingeladen. Meine Güte, war sie froh, dass sie Nein gesagt hatte. Wenn diese Begegnung mit seinem Bruder ein Vorgeschmack war, dann wäre der Abend ein Albtraum geworden! Er wirkte jetzt steif und förmlich. Wie würde er erst in Anzug und Krawatte aussehen? Außer großartig. Lucy verdrängte den Gedanken.

Dass sie den Zusammenhang nicht sofort hergestellt hatte, wunderte sie nicht. Ramon strahlte nicht die selbstherrliche Arroganz aus, die seinem Bruder zu eigen war. Er war ein netter junger Mann. Als Harriet und sie am Tag nach ihrer Ankunft auf dem Parkplatz der Klinik mit dem Auto liegen geblieben waren, hatte Ramon dem alten Wagen ihrer Freundin Erste Hilfe geleistet.

Seitdem war er zweimal auf der Finca gewesen. Beim letzten Mal, erinnerte Lucy sich lächelnd, hatte er ihr geholfen, einen Esel einzufangen. Dabei war Ramon der Länge nach in den Dreck gefallen und hatte seinen schönen Anzug ruiniert. Es war kaum zu glauben, dass er mit diesem Mann verwandt sein sollte.

„Sie werden ihn nicht wieder treffen“, sagte er sanft, fast im Plauderton, aber es war unverkennbar eine Drohung.

Die Wendung, die das Gespräch nahm, verwirrte Lucy. Was sollte das jetzt? Hatte sie einen Fauxpas begangen, als sie die Einladung ins Schloss abgelehnt hatte? Ihrer Freundin wegen war sie sofort beunruhigt. Harriet hatte sich sehr bemüht, hier Teil der Dorfgemeinschaft zu werden. Deshalb tastete Lucy sich vorsichtig vor.

„Nicht?“

„Nein, Miss Fitzgerald, werden Sie nicht.“

„Fährt Ramon weg?“

„Nein, Sie fahren weg.“

Ihr riss der Geduldsfaden. „Würden Sie bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen? Was wollen Sie mir eigentlich sagen?“

„Für eine Frau, die zweifellos clever ist, haben Sie schlecht recherchiert“, erwiderte Santiago Silva kalt. „Bis er fünfundzwanzig ist, kommt mein Bruder nur an sein Treuhandvermögen heran, wenn ich es genehmige. Und das werde ich nicht. Zurzeit liegt der Lebensstil meines Bruders ganz in meinem Ermessen.“

„Armer Ramon.“ Er tat ihr leid. Aber sie begriff nicht, warum Santiago Silva meinte, dass die Information für sie von Interesse sei.

„Also verschwenden Sie bloß Ihre Zeit.“

„Meine Zeit kann ich verschwenden, wie ich will.“

„Ich schlage vor, dass Sie weiteren finanziellen Verlusten vorbeugen und sich ein Objekt suchen, dass mehr einbringt.“

Völlig ratlos schüttelte Lucy den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“

Dass sie sich unwissend stellte, ärgerte ihn. „Ich möchte eine schnelle Lösung des Problems. Wenn Sie sofort abreisen, übernehme ich alle Kosten.“

Bestimmt war sie Gast im einzigen Luxushotel der Gegend. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau wie Lucy Fitzgerald in einer der einfachen ländlichen Frühstückspensionen wohnte.

„Großzügig …“, sagte Lucy spöttisch. „Aber ich weiß noch immer nicht, wovon Sie reden.“

„Ziehen Sie weiter, Lucy. Sie haben auf unschuldig gemacht, und Ihre schauspielerische Leistung ist erstklassig. Leider wird die Nummer mit der Zeit langweilig.“

Lucy richtete sich zu voller Größe auf. Selbst ohne Schuhe überragte sie die meisten und hatte einen Vorteil. Doch Ramons Bruder überragte sie nicht … Er war über ein Meter neunzig groß und hatte kein Gramm Fett zu viel am Körper. Muskeln und Testosteron hatte er dafür mehr als genug.

„Nur meine Freunde nennen mich Lucy.“

„Von denen Sie ja viele haben.“

Sie hatte sich nie für jähzornig gehalten, aber dieser Mann ließ sie ganz neue Seiten an sich entdecken.

„Die Hotelkosten und eine einmalige Zahlung.“ Verächtlich verzog Santiago den Mund. Welcher Preis galt heutzutage für eine Frau wie sie? „Aber nur, wenn Sie sofort verschwinden.“

„Sie wollen mich bezahlen, damit ich von wo verschwinde?“

„Aus Spanien und dafür, dass Sie sich von meinem Bruder fernhalten.“

Lucy sah rot. „Sie bieten an, mich dafür zu bezahlen, dass ich mich von Ihrem Bruder fernhalte? An wie viel dachten Sie denn? Nein, sagen Sie es mir nicht, ich könnte in Versuchung geraten.“

Er nannte die Summe, und ihre Augen weiteten sich.

„Wow, Sie müssen mich ja wirklich für gefährlich halten!“

Ein Nerv zuckte in seiner Wange, doch er ignorierte ihre Bemerkung. „Sie bekommen das Geld nur, wenn Sie sofort verschwinden und …“ Verärgert runzelte er die Stirn. „Was machen Sie denn jetzt?“

Lucy schob das Bein vor, um das Gewicht der Tasche auszugleichen, die sie sich umgehängt hatte, und blickte über die Schulter. „Was ich mache?“ Sie lachte. „Ich laufe. Ich laufe gern, aber abgesehen von Sponsoren für Wohltätigkeitssportveranstaltungen hat noch niemand angeboten, mich dafür zu bezahlen, dass ich irgendwohin gehe. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, Mr. Silva, und ich rufe Sie an, wenn ich das nächste Mal am Marathon teilnehme.“

Er sah so erstaunt aus, dass ihr Lachen diesmal echt war.

Frustriert beobachtete Santiago, wie Lucy Fitzgerald den staubigen Feldweg entlangging. Er hatte sein Angebot bewusst hoch angesetzt, damit sie gar nicht erst versuchte, den Preis höherzuschrauben. An die Möglichkeit, dass sie ablehnte, hatte er nicht gedacht.

Mit einem Fluch schwang sich Santiago in den Sattel und lenkte sein Pferd in die andere Richtung. Erst nachdem er sich beruhigt hatte, fragte er sich, was die Frau an der einsamen Stelle gewollt hatte. Das einzige bewohnte Grundstück in einem Umkreis von drei Kilometern war die Finca, die er an die englische Hochschullehrerin verpachtet hatte.

Er konnte sich kaum zwei Frauen vorstellen, die weniger gemeinsam hatten, als diese beiden. Wenn er also ausschloss, dass diese beiden etwas miteinander zu tun hatten, dann blieb … was übrig? Hatte Lucy Fitzgerald auf jemanden gewartet?

Als er das Schlosstor erreicht hatte, war er felsenfest davon überzeugt, dass er zufällig auf den Treffpunkt eines Liebespaars gestoßen war. Dass sie auf seinen Halbbruder gewartet hatte.

Santiago sah im Geiste diese leuchtend blauen Augen vor sich, und die Wut auf seinen Bruder legte sich. Zweifellos war Ramon nicht der einzige Mann, der in Lucy Fitzgeralds Nähe nicht rational handeln und über ihre schwelende Sinnlichkeit nicht hinwegsehen konnte. Doch zum Glück für Ramon gehöre ich nicht zu den Männern, die sich von dieser Frau das Hirn vernebeln lassen, dachte Santiago.

Glaubte sie, gewonnen zu haben?

Unter ihm reagierte Santana auf den ermunternden leichten Fußtritt und begann zu galoppieren.

Wenn man einen Schlauen fangen wollte, durfte man keinen Dummen schicken!

Zitternd vor Wut schaffte Lucy den Rest der Strecke in Rekordzeit. Vor der Haustür hielt sie inne, um sich zu beruhigen. Ihre Freundin konnte die Neuigkeit jetzt nicht gebrauchen, dass ihr Gast sich mit Santiago Silva gestritten hatte.

Harriet würde sich verpflichtet fühlen, sie zu verteidigen, und Lucy konnte sich vorstellen, dass das bei ihrem despotischen Gutsbesitzer nicht gut ankommen würde. Der Mann hielt es wahrscheinlich für völlig berechtigt, einen Pächter, der nicht seiner Meinung war, zur Räumung zu zwingen. Er war der Typ, der es genoss, seine geerbte Macht auszuüben.

Nein, am besten erwähnte sie den Vorfall überhaupt nicht. Warum sollte sie auch? Santiago Silva wusste nicht, dass sie bei Harriet wohnte. Und wenn sie ihm aus dem Weg ging, musste sie den Mann nie wiedersehen.

Der Gedanke tröstete Lucy. Sie holte tief Luft, setzte ein Lächeln auf und klopfte sich auf die Wangen. Entsetzt spürte sie, dass sie tränenfeucht waren. Santiago Silva hatte erreicht, was einem Heer von Journalisten nicht gelungen war: Er hatte sie zum Weinen gebracht.

Harriet, die normalerweise beunruhigend aufmerksam war, bemerkte nicht, dass Lucy geweint hatte. Was den Verdacht nahelegte, dass sie nicht nur – wie sie behauptete – leichte Schmerzen hatte, nachdem sie während Lucys Abwesenheit mühsam in den Stall gehopst war und nach einem schon älteren Esel gesehen hatte.

Energisch verbot Lucy ihrer Freundin noch mehr Kunststückchen und schickte sie zurück ins Bett. Als sie später wieder aufstand, sah Harriet so viel besser aus, dass Lucy ihr am nächsten Morgen wieder ein Nickerchen vorschlug. Und die ältere Frau sträubte sich nicht dagegen.

Lucy nutzte die Zeit, um den Tieren auf der verdorrten unteren Weide Heu zu bringen. Auf dem Weg über das Feld störte Motorenlärm in der Ferne den Frieden. Während Lucy das Futter an die Tiere verteilte, kam das Geräusch hörbar näher, bis … Bei dem lauten Knall fuhr sie zusammen, und die Esel liefen davon. Die anschließende Stille ließ nichts Gutes ahnen.

Besorgt rannte Lucy den Hang hoch und sah unten auf dem Feldweg ein Quad liegen, das Vorderteil in einem Graben und die Hinterräder im Gestrüpp verborgen. Den Fahrer konnte sie nicht sofort entdecken. War er heruntergeschleudert worden? Lucy wirbelte eine Staubwolke auf, als sie den Abhang hinunterschlitterte. Innerhalb von Sekunden hatte sie die Unfallstelle erreicht, aber ihr kam es wie eine Ewigkeit vor.

„Ist da jemand? Geht es Ihnen gut?“

„Nein, es geht mir nicht gut. Ich sitze fest. Ziehen Sie mich bitte heraus“, war eine jung klingende Stimme mit nur einem ganz leichten spanischen Akzent zu hören.

Die Hand eines Kindes tauchte unter dem Quad hervor auf. Lucy sank auf die Knie und beugte sich vor. Soweit sie erkennen konnte, war es ein dunkelhaariges kleines Mädchen. „Du solltest dich besser nicht bewegen, bis …“

„Ich habe mich schon bewegt. Ich bin nicht verletzt. Meine Jacke hängt fest …“ Einem leisen Schrei folgte ein erleichtertes „Endlich!“, als sich das Mädchen selbst unter dem Quad hervorzog und neben Lucy auftauchte. Staubbedeckt und heil geblieben bis auf eine blutige Schramme auf der Wange. Zumindest war sonst nichts zu sehen.

Das Mädchen, das ungefähr elf oder zwölf war, setzte sich auf und begann zu lachen. „Oh Mann, das war ja ein tolles Ding!“

Ich werde alt, dachte Lucy bei dieser Reaktion auf den Unfall. „Ich würde eher sagen, dass du großes Glück gehabt hast.“ Sie stand auf und streckte die Hand aus. „Trotzdem solltest du zum Arzt und dich durchchecken lassen.“

Das Mädchen ignorierte Lucys ausgestreckte Hand und sprang auf die Füße. „Nein, mir fehlt nichts, ich …“ Es verstummte und wirkte plötzlich gar nicht mehr so munter. Zum ersten Mal schien ihm aufzufallen, in welchem Zustand das umgekippte vierrädrige Motorrad war. „Meinen Sie, wir kriegen das auf den Weg zurück?“

„Ich glaube nicht. Setz dich wieder hin …“ Bevor du umfällst, dachte Lucy, während sie das blasse Gesicht des Mädchens musterte.

„Wenn mein Vater das sieht, wird er an die Decke gehen. Ich soll das Quad nicht fahren, aber eigentlich soll ich überhaupt nichts tun, was Spaß macht. Wissen Sie, wie es ist, wenn einem jemand nicht einmal zutraut, dass man sich selbst die Schnürsenkel zubinden kann?“

Lucy unterdrückte ein Lächeln. „Nein, weiß ich nicht.“ Wenn sie jedes Mal einen Penny bekommen hätte, wenn ihr Vater gesagt hatte „Hör auf zu jammern, Lucy, mach einfach weiter!“, hätte sie mit neun in den Ruhestand gehen können.

„Deshalb bin ich jetzt zu Hause. Mein Vater hat mich aus dem Internat rausgeholt. Dagegen habe ich ja nichts. Ich hasse die Schule. Er behauptet immer, dass Bildung wichtig sei. Und Amelie hat keine!“

„Keine was?“, fragte Lucy, die nicht mehr mitkam.

„Meningitis.“

„Deine Schulfreundin hat Meningitis?“

„Nein, hat sie nicht, das habe ich doch gerade gesagt! Und sie ist nicht meine Freundin. Ich habe keine Freundinnen.“

„Ich bin sicher, dass das nicht stimmt.“

„Es stimmt. Ist ja kein Wunder mit einem Vater wie meinem. Die Skireise durfte ich nicht mitmachen, und alle anderen sind gefahren. Und jetzt hat der Direktor allen Eltern erklärt, dass Amelie gar keine Meningitis hat, dass es bloß ein Virus war. Und was tut mein Vater? Hört er zu? Nein.“ Das Mädchen blickte Lucy verbittert an. „Genau in der Mittagspause, wenn alle zusehen, landet er mit seinem Hubschrauber und holt mich da weg. Nachdem er erst noch den Direktor zusammengestaucht hat. Können Sie sich das vorstellen?“

Lucy, die es konnte, biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. „Das muss aufregend gewesen sein.“

„Es war peinlich, und jetzt soll ich zurück, dabei sind es sowieso nur noch zwei Wochen bis zum Ende des Halbjahrs.“

„Was sagt denn deine Mutter dazu?“

„Sie ist tot.“ Die Augen des Mädchens weiteten sich, während es beobachtete, wie ein Auto den Hügel hinunter auf die Unfallstelle zuraste und wenige Meter entfernt mit kreischenden Bremsen anhielt.

Das hätte ich mir denken können, dachte Lucy, als Santiago Silva ausstieg.

Von der Kuppe des Hügels hatte Santiago zuerst das umgekippte Quad und erst ein paar Sekunden später Gabby daneben stehen sehen. In diesen Sekunden war sein Albtraum Wirklichkeit geworden. Einen schrecklichen Moment lang spürte er den leblosen Körper seiner Tochter in den Armen, ebenso wie er damals den ihrer Mutter gespürt hatte. Es war seine Aufgabe, Gabby vor Gefahren zu schützen, und er hatte versagt.

Dann entdeckte er sie, erkannte selbst aus der Ferne die vertraute trotzige Haltung, und Schuld und Trauer wichen einer riesigen Erleichterung, die nahtlos von heftiger Wut abgelöst wurde. Eine Wut, die sich schnell gegen die große blonde Frau richtete, die neben seiner Tochter stand.

Er hätte sich denken können, dass sie etwas damit zu tun hatte!

Grimmig näherte er sich ihnen mit langen Schritten, und Lucy konnte verstehen, dass das Kind verängstigt wirkte. Sie hätte es eigentlich erraten können, als das Mädchen von dieser Sache mit dem Hubschrauber erzählt hatte. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie sich Santiago Silva nicht verheiratet vorgestellt und schon gar nicht als Witwer oder Vater.

In seinem Zorn war er Furcht einflößend, aber auch, gestand sich Lucy erschauernd ein, irgendwie großartig!

Er rauschte geradewegs an ihr vorbei, sie spürte nur kurz seinen Blick wie einen eisigen Hauch auf ihrem Gesicht. Sie beobachtete, wie er seiner Tochter die Hände auf die Schultern legte und vor ihr in die Hocke ging.

„Gabby, du …“ Hin- und hergerissen zwischen der Wut auf seine eigensinnige Tochter und dem Wunsch, sie zu umarmen, holte er erst einmal tief Luft. „Bist du verletzt?“, fragte er rau.

Selbst Lucy, die diesem schrecklichen Mann jede normale menschliche Gefühlsregung absprechen wollte, konnte nicht leugnen, dass seine Sorge echt klang.

„Mir geht es gut, Papá. Sie …“ Gabby lächelte Lucy an, „… hat mir geholfen.“

„Eigentlich nicht.“

Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, presste die Lippen zusammen und erhob sich mit einer Eleganz und Geschmeidigkeit, die Lucy elektrisierte.

„Papá …“

„Warte im Auto, Gabriella.“

Mit gesenktem Kopf ging sie zum Auto.

Santiago Silva sprach bereits in das Handy, das er aus der Brusttasche seines Hemds gezogen hatte.

Lucy konnte gut genug Spanisch, um zu verstehen, dass er einen Arzt bat, ins Schloss zu kommen. Zwar fand sie den Mann unmöglich, aber er war ein besorgter Vater. „Ihre Tochter war nicht bewusstlos oder so.“

Er klappte das Telefon zu, machte einen Schritt auf sie zu und kam mit seinem Gesicht dicht an ihres. „Wenn ich Ihre medizinischen Fachkenntnisse brauche, werde ich darum bitten“, erwiderte er verächtlich. „Was den Kontakt zu meiner Tochter betrifft …“ Die Adern an seinem Hals traten hervor, als er mühsam seine Wut unterdrückte. „Versuchen Sie nicht, Kontakt mit ihr aufzunehmen, oder es wird Ihnen leidtun.“

Das war zweifellos eine Drohung. Lucys Mitgefühl schwand. „Wenn ich sie das nächste Mal eingeklemmt unter einem Spielzeug für Erwachsene liegen sehe, gehe ich also einfach vorbei, Mr. Silva? Das ist vielleicht Ihr Stil, aber nicht meiner.“

„Ich weiß genau Bescheid über Ihren ‚Stil‘, und ich möchte nicht, dass meine Familienangehörigen unter Ihren schlechten Einfluss geraten. Immerhin wollten Sie meiner Tochter helfen. Dafür danke ich Ihnen.“

Dass es ihn schmerzte, sich bei ihr bedanken zu müssen, war klar. „Ihre Tochter hätte vielleicht nicht das Bedürfnis, gegen die Vorschriften zu verstoßen, wenn Sie die Zügel ein bisschen lockerer lassen würden. Ist Ihnen der Gedanke schon einmal gekommen?“

Ungläubig blickte Santiago Silva sie an. „Sie geben mir einen Rat, wie ich mein Kind erziehen soll? Wie viele Kinder haben Sie denn, Miss Fitzgerald?“

Was hatte der Mann eigentlich davon, so überheblich zu sein? „Wenn ich eines hätte, wäre ich bestimmt nicht zu beschäftigt, um zu bemerken, dass es mit einem Quad losgefahren ist!“

Sein gequälter Blick ließ sie ihren spöttischen Vorwurf fast bereuen, doch sie unterdrückte das Schuldgefühl. Sie würde sich ihr Mitleid für jemanden aufsparen, der es verdient hatte. Santiago Silva war ein Tyrann, daran gewöhnt, dass sich die Leute alles von ihm gefallen ließen.

Tja, sie würde es nicht tun.

„Halten Sie sich von meiner Familie fern, oder Sie werden sich wünschen, Sie wären nie geboren worden.“ Er drehte sich um und ging zum Auto.

So wütend, dass sie am ganzen Körper zitterte, kam Lucy auf der Finca an.

„Lucy, was hast du? Was ist passiert?“ Besorgt musterte Harriet ihre ehemalige Studentin.

„Nichts. Mir geht es gut. Bleib sitzen“, fügte sie hinzu, als Harriet sich aus dem Sessel zu stemmen versuchte. „Der Arzt hat gesagt, du sollst das Bein hochlegen, damit es nicht wieder anschwillt.“

„Ich bleibe hier sitzen, wenn du mir erzählst, was los ist, Lucy.“

„Der selbstgefällige, scheinheilige Mr. Silva ist los!“

Harriet wirkte verwirrt. „Ramon scheint doch ein netter Junge zu sein, wenn auch ein bisschen von sich eingenommen. Was hat er denn getan?“

Ungeduldig schüttelte Lucy den Kopf. „Nicht Ramon. Sein Bruder.“

„Santiago? Er ist hier? Du hast ihn getroffen …“

„Ja, ich hatte dieses Vergnügen jetzt schon zweimal.“ Lucy griff nach dem Telefon und tippte die Nummer ein, die sie auf den Notizblock daneben geschrieben hatte. „Ramon? Das Dinner heute Abend …?“

Als sie Harriet die ganze Geschichte erzählte, reagierte ihre ehemalige Dozentin zwar mitfühlend, neigte aber dazu, Santiago Silva in Schutz zu nehmen. „Er hat voreilige Schlüsse gezogen, und das war falsch von ihm.“

„Im Grunde hat er mich ein Flittchen genannt und droht mir sogar!“, schimpfte Lucy. Allein an den Mann zu denken machte sie so wütend, dass sie etwas kaputt schlagen wollte.

„Lass mich ihm die Situation erklären.“

„Warum sollte man ihm irgendetwas erklären? Er ist derjenige, der unrecht hat.“

„Er liebt Gabby über alles, und sie ist sehr eigensinnig. Außerdem beschützt er seinen jüngeren Bruder. Ich habe gehört, dass Ramon noch ein kleiner Junge war, als der Vater gestorben ist, und Santiago hat sehr jung das Gut geerbt. Seine Stiefmutter hätte sich gern als graue Eminenz gesehen, die im Hintergrund über alles bestimmt. Nach dem, was ich über sie weiß, wäre das eine Katastrophe geworden. Santiago musste vom ersten Tag an klarstellen, wer das Sagen hat. Nicht einfach für einen jungen Mann. Vielleicht ist er deshalb ein bisschen …“

„Von sich eingenommen?“, schlug Lucy sarkastisch vor. „Der Mann braucht jemanden, der ihm einen Denkzettel verpasst.“ Und nicht Leute, die ihn verteidigten, nur weil er reich war und in einem Schloss wohnte.

„Du meine Güte! Sei vorsichtig, Lucy. Es geht das Gerücht, dass er skrupellos sein kann. Ich habe dem keinen Glauben geschenkt, weil erfolgreiche Männer oft Neid wecken und sein Ruf hier … Nun, hier in der Gegend hat noch nie jemand ein schlechtes Wort über ihn verloren. Aber wenn ich bedenke, was du gerade erzählt hast …?“

Lucy lächelte. „Mir passiert schon nichts.“

3. KAPITEL

Obwohl Lucy ein erfolgreiches Model gewesen war, hatte sie sich nie sonderlich für Mode interessiert. Was nicht hieß, dass sie für schicke Kleidung nichts übrighatte. Doch im Moment brauchte sie vor allem bequeme Sachen. High Heels eigneten sich einfach nicht zum Ställe ausmisten.

Manchmal hatte sie die Arbeitskleidung und die praktischen Schuhe jedoch satt. Dann öffnete sie den Schrank und stolzierte in einem der Outfits, die sie aus ihrem früheren Leben behalten hatte, in ihrem Schlafzimmer herum. Einfach, um sich wieder ganz als Frau zu fühlen.

Und das leuchtend rote Designerkleid, das sie für das Dinner im Schloss ausgewählt hatte, machte wirklich erstaunliche Dinge mit ihrer Figur. Es ließ ihre Taille winzig und ihre Rundungen üppig erscheinen.

Schmal geschnitten, schmiegte sich der Seidenstoff bei jeder Bewegung an ihre Schenkel. Das wirkte sexy und herausfordernd, was ja richtig war, da sie an diesem Abend doch provozieren wollte! Nur war es ungewohnt für sie, nachdem sie in den vergangenen vier Jahren immer versucht hatte, nicht durch ihr Aussehen aufzufallen.

Vor ihrem geistigen Auge tauchte das arrogante Gesicht von Santiago Silva auf, was ihren Zweifel im Keim erstickte. Lucy nickte ihrem Spiegelbild zu. Genau diesen Look wollte sie. Jetzt war nicht die Zeit, Bedenken zu haben.

„Mensch, du siehst …“, Ramon schluckte, „… anders aus.“

„Anders gut oder anders schlecht?“, neckte Lucy ihn.

Ramon lachte und öffnete die Tür seines schnittigen Sportwagens. „Oh, eindeutig gut. Aber es ist ein Glück, dass du nicht so ausgesehen hast, als ich dich kennengelernt habe.“

„Warum?“, fragte Lucy neugierig.

„Weil ich mich nicht an dich herangetraut hätte. So, wie du heute Abend aussiehst, bist du für mich unerreichbar.“

„Ich bin immer noch ich.“ Lucy war unbehaglich zumute. Seine Bewunderung grenzte ja an Verehrung!

Das Gefühl, zu Recht empört zu sein, und die Vorfreude auf den Abend verschwanden während der Fahrt. Was soll das eigentlich? fragte Lucy sich, als sie sich dem großen Tor des Landguts näherten. Die ganze Idee war verrückt! Und gemein. Fest entschlossen, dem schrecklichen Bruder eins auszuwischen, hatte sie keine Sekunde lang in Erwägung gezogen, dass sie dabei vielleicht dem netten Bruder wehtat.

Lucy schämte sich so sehr, dass sie nur noch den Gedanken hatte, auszusteigen und zurückzulaufen. Sie griff nach dem Sicherheitsgurt. „Halt an!“, schrie sie.

Sofort bremste Ramon scharf, und Lucy, die sich abgeschnallt hatte, wurde gegen die Windschutzscheibe geschleudert.

„Ist dir was passiert?“

Lucy lehnte sich im Sitz zurück und rieb sich die Stirn. „Nein“, erwiderte sie.

„Was hast du denn? Ich hätte langsamer fahren können, du hättest mich nur darum zu bitten brauchen“, scherzte er. „Du bist mit dem Kopf gegen die Scheibe geknallt.“

„Nicht der Rede wert.“

„Also? Wo liegt das Problem, abgesehen von meinem Fahrstil?“

Sie blickte Ramon an und erkannte, wie beunruhigt er war. Ihre Schuldgefühle wurden noch stärker. Keinesfalls konnte sie so weitermachen, deshalb war es am besten, jetzt gleich alles zu gestehen.

„Nein, mir geht es gut, aber ich bin ein Miststück!“ Nicht ein so großes Miststück, wie Santiago Silva dachte, aber viel fehlte nicht. „Es war ein Fehler, dich anzurufen. Es tut mir leid. Ich weiß, ich habe dich glauben lassen … Aber auf die Art bin ich nicht an dir interessiert …“

Ramon war nicht so schockiert, wie sie erwartet hatte.

„Ich habe mich schon gefragt … Du bist nicht in mich verliebt?“

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. „Es tut mir wirklich leid.“

„Bist du sicher, dass du mich nicht liebst?“, fragte er lächelnd.

Lucy musste lachen. „Bitte sei nicht nett zu mir! Ich fühle mich so schon schrecklich genug.“

„Reg dich ab, ich werde es überleben. Ich bin früher schon zurückgewiesen worden.“ Ramon grinste. „Nein, noch nie. Ich frage mich, warum.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Und warum hast du mich dann angerufen und gesagt, du hättest es dir anders überlegt?“

„Ich war wütend, es sollte ein Denkzettel sein für …“

„Für mich?“

„Nein, natürlich nicht. Die Sache ist die, dass ich deinen Bruder getroffen habe, und er hat mich rasend gemacht.“

„Santiago hat dich rasend gemacht?“, wiederholte Ramon erstaunt. Er sah ihre Augen vor Wut funkeln und wurde neugierig. Das war normalerweise nicht die Wirkung, die sein Bruder auf Frauen hatte. „Wann hast du Santiago getroffen? Was hat er denn getan?“

„Ich bin ihm gestern begegnet und dann noch einmal heute Morgen.“ Einen Moment lang dachte Lucy daran, Ramon die Wahrheit zu erzählen, doch sie hielt sich zurück. Wie kam es, dass dieser Mann sie in eine engstirnige, rachsüchtige Frau verwandelte? Was hatte Santiago Silva an sich?

Andere Leute hatten schon Schlimmeres von ihr gedacht und über sie gesagt. Warum war er ihr so unter die Haut gegangen?

„Im Grunde war es nichts“, gab Lucy zu. „Dein Bruder hat mich gestern erkannt. Vor ein paar Jahren war ich …“

„Ach, die Sache mit der einstweiligen Verfügung, meinst du.“

Verblüfft blickte Lucy ihn an. „Du weißt davon?“

Ramon lächelte amüsiert. „Natürlich.“

„Aber woher?“

Er schwenkte sein Smartphone. „Ich habe deinen Namen gegoogelt. Eigentlich wollte ich nachsehen, wie alt du bist“, gestand er. „Für den Fall, dass … Nicht, dass ich ein Problem mit einer Frau habe, die älter ist als ich“, fügte er hastig hinzu. „Tatsächlich ist so etwas doch heutzutage egal. Stell dir meine Überraschung vor, als ich nicht nur dein Alter, sondern auch den anderen Kram gelesen habe.“

„Oh.“ Lucy kam sich dumm vor, weil sie die Möglichkeit nicht einkalkuliert hatte.

„Also das“, Ramon zeigte mit einer schwungvollen Handbewegung auf die Seide, die sich wie eine zweite Haut an Lucys Körper schmiegte, „ist für Santiago, nicht für mich.“

„Natürlich nicht!“ Sie ging in sich. „Na ja, nicht auf diese Art.“

„Und was hat mein großer Bruder getan? Hat er dir gedroht? Hat er dir Geld angeboten, damit du das Land verlässt?“

Lucy sah schnell weg, aber nicht schnell genug.

„Er hat versucht, dich auszuzahlen?“ Ramon, der nur Spaß gemacht hatte, wurde schlagartig ernst.

„So ähnlich, ja“, gab Lucy zögernd zu. Sie petzte nur ungern.

„Das darf doch nicht wahr sein“, flüsterte Ramon fassungslos.

„Ich nehme an, dein Bruder will dich beschützen. Das ist ganz normal.“ Warum verteidige ich diesen Kontrollfreak? dachte sie.

„Tust du mir einen Gefallen, Lucy?“

„Das kommt darauf an“, erwiderte sie vorsichtig.

„Führ deinen Plan durch, Santiago einen Denkzettel zu verpassen.“

Zum ersten Mal hörte sie Wut aus Ramons Stimme heraus. „Er hat geglaubt, das Richtige zu tun …“

„Du verteidigst ihn noch?“

„Nein, natürlich nicht“, widersprach Lucy empört. „Ich finde, dein Bruder ist der schrecklichste …“ Sie bemerkte Ramons Gesichtsausdruck und sprach nicht weiter.

„Er scheint dich ja ziemlich beeindruckt zu haben, nicht wahr?“

Lucy setzte eine amüsierte Miene auf und log. „So schnell beeindruckt mich niemand, auch dein Bruder nicht.“

„Dass er einen Denkzettel verdient hat, bestreitest du aber nicht, oder?“

„Nein.“ Wie könnte sie?

„Warum bieten wir ihm dann nicht einen unvergesslichen Abend? Sonst war dein ganzer Aufwand vergeblich. Bitte … mir zuliebe. Oder um ganz altmodisch Rache zu nehmen. Ich habe es satt, dass Santiago immer zu wissen glaubt, was für mich das Beste ist. Ich möchte, dass er mich einmal wie einen Mann behandelt. Er meint es nur gut, und meine Mutter gibt dauernd ihm die Schuld, wenn ich Mist baue, aber es ist demütigend und …“

„Und du willst ihm eine Lektion erteilen?“

Ramon nickte. „Diesmal ist er zu weit gegangen. Und es betrifft eine gute Freundin. Was wird er das nächste Mal tun? Mich in meinem Zimmer einsperren? Heute Abend soll er derjenige sein, der manipuliert wird, damit er weiß, wie sich das anfühlt.“

„Das werde ich wahrscheinlich bereuen“, sagte Lucy seufzend.

„Ach, du meine Güte, ist das groß!“ Ehrfürchtig saß Lucy auf dem Beifahrersitz, während Ramon neben der offenen Tür stand. „Gewaltig!“ Starr schaute sie das einschüchternd prächtige Schloss an, das von geschickt platzierten Spotlights beleuchtet wurde.

Ramon warf einen gleichgültigen Blick über die Schulter. „Ja, es ist groß.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht.“

„Nein, du wirst jetzt nicht kneifen. Es war deine Idee.“ Ramon zog sie aus dem Auto.

So schwungvoll, dass Lucy ihm in die Arme taumelte. „Eine wahnsinnig blöde Idee“, flüsterte sie ihm ins Ohr, und er lachte.

„Willst du mich deinem Gast nicht vorstellen?“

Beim Klang der samtweichen tiefen Stimme standen ihr die Haare zu Berge. Wenn Ramon nicht ihre Hand ergriffen hätte, wäre Lucy mit einem Satz von ihm abgerückt.

„Natürlich.“

Ihr Herz schlug noch schneller, als Santiago Silva aus der Dunkelheit hervortrat. Er ist umwerfend, dachte sie und bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Doch sie konnte den Blick nicht von dem großen Mann abwenden, der einen eleganten dunklen Anzug und ein weißes Hemd trug. Santiago Silva sah durch und durch wie der selbstherrliche aristokratische Schlossherr aus.

Er nickte ihr höflich zu, aber seine Augen funkelten vor Wut. Nervös befeuchtete Lucy sich mit der Zungenspitze die Lippen. Sofort fiel sein Blick auf ihren Mund.

Furcht flackerte in ihr auf. Harriet hatte sie gewarnt, dass Santiago Silva ein Mann sei, mit dem man sich besser nicht anlegte. Doch sie hatte sich mit ihm angelegt. War sie verrückt? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sich Erregung unter ihre Angst gemischt hatte. Ja, sie war offensichtlich verrückt!

Santiago ärgerte sich nicht mehr darüber, dass Wut in ihm aufgewallt war, als er die beiden neben dem Auto hatte stehen sehen. Aber er wollte sich nicht eingestehen, dass er eifersüchtig war. Außerdem machte es ihn einfach fuchsteufelswild, dass Ramon nur an das eine denken konnte und sich von der sensationellen Schönheit der Frau in seinen Armen blenden ließ.

Er dagegen konnte trotz seiner Erregung klar denken. Lucy Fitzgerald ist wirklich die Verkörperung der Sünde, entschied er, während sein Blick über ihre kurvenreiche Figur schweifte.

„Lucy, das ist mein großer Bruder Santiago … Santiago, das ist Lucy.“

Mit einem Klaps auf den Po, wogegen sie unter anderen Umständen energisch protestiert hätte, schob Ramon sie vorwärts. Sie verbarg ihre Furcht hinter einem gekünstelten Lächeln. „Guten Abend“, murmelte sie und ignorierte die innere Stimme, die ihr riet, wegzulaufen.

Santiago beugte sich zu ihr hinunter – etwas, was einer Frau nicht oft passierte, die barfuß einen Meter achtundsiebzig groß war – und legte ihr die Hände auf die Schultern. Lucy keuchte leise, als sie seine Lippen flüchtig auf ihrer Wange spürte. Ein Beben durchlief ihren Körper.

Und Santiago, der es spürte, lächelte spöttisch. „Großartige Arbeit“, sagte er bewundernd. „Aber das Kleid ist vielleicht nicht erste Wahl. Es ist ein bisschen zu … deutlich. Die heisere, sexy Stimme ist eine hübsche besondere Note, mir gefällt es …“

„Was? Heiser, sexy? Ich habe nicht …“ Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Lucy an ihre Rolle als herzlose Geliebte. Schnell zauberte sie ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Nach meinen Erfahrungen …“

„Zweifellos sehr viele.“ Santiago nahm einen Hauch ihres Parfüms wahr. Es war ein leichter, blumiger und überaus femininer Duft.

„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele.“

Eine scherzhafte Bemerkung ihres Anwalts fiel ihr wieder ein: „Wir können Ihren Namen vor Gericht nur reinwaschen, wenn wir ein ärztliches Attest vorlegen, das beweist, dass Sie noch Jungfrau sind.“

Dass sein Witz der Wahrheit sehr nahe kam, hatte er nicht geahnt.

„Nach meinen Erfahrungen gibt es in Bezug auf Männer ‚zu deutlich‘ nicht. Und wenn Sie meinen, das eben sei sexy gewesen, dann passen Sie mal gut auf“, hauchte sie vielsagend und sah zufrieden, dass er verärgert die Lippen zusammenpresste.

Sie ignorierte die innere Stimme, die sie davor warnte, mit dem Feuer zu spielen. Anstatt die Spannung aus der Situation zu nehmen, heizte Lucy die Atmosphäre zwischen ihnen weiter auf, indem sie Santiagos wütenden Blick mit einem langsamen, triumphierenden Lächeln erwiderte.

Daraufhin umfasste er fest ihren Arm, aber die Genugtuung, dass sie auf den harten Griff reagierte, wollte sie ihm nicht verschaffen. Mit Ramon auf der anderen Seite neben ihr, lotste Santiago sie zu der geschwungenen Schlosstreppe.

Lucy kam sich nicht geführt, sondern eher abgeführt vor. So graziös, wie sie konnte, hob sie das knöchellange Kleid an und machte den ersten Schritt nach oben.

4. KAPITEL

Die große Tür wurde weiter aufgezogen, und eine Gestalt erschien oben an der Treppe. Im ersten Moment dachte Lucy, es wäre ein Kind. Dann trat die Gestalt in den Lichtkegel eines der Spots, und Lucy erkannte, dass es eine junge Frau war.

Sie war zierlich und gertenschlank und trug einen langen schwarzen Seidenpullover zu schwarzen Leggings. Ein Look, den sich nur wenige leisten konnten, aber diese junge Frau hatte die Figur dafür!

Ramon schob sich an Lucy vorbei. „Carmella!“

Während Lucy zusah, wie sich die beiden umarmten, war sie sich bewusst, dass Santiago sie scharf beobachtete. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen – soweit das möglich war, wenn doch ihr Körper wie unter Strom stand vor Feindseligkeit und Erregung. Der schreckliche Mann machte sie ganz nervös.

Vermutlich hatte er das grazile Geschöpf als Konkurrentin eingeladen. Zweifellos war diese Carmella völlig anders als sie, umso mehr, weil sie flache Schuhe trug und Lucy Stilettos mit acht Zentimeter hohen Absätzen!

Sie fühlte sich groß, drall und schwerfällig, sobald sie auf gleicher Höhe mit der zarten jungen Frau war, die ganz verwirrt zu sein schien, als sie sich aus Ramons Umarmung löste.

„Lucy, das ist Carmella. Sie ist für mich wie die kleine Schwester, die ich nicht habe. Was tust du denn hier, Melly?“

Verlegen blickte sie Santiago an, der ruhig sagte: „Muss es einen Grund geben?“

Noch immer hatte er die Hand auf ihrem Arm. Lucy trat ihm mit ihrem acht Zentimeter hohen spitzen Absatz auf den Fuß. „Oh, entschuldigen Sie vielmals!“ Es musste wehgetan haben, aber abgesehen von einem kaum hörbaren Ächzen hatte Santiago sich nichts anmerken lassen.

Er akzeptierte ihre Entschuldigung mit einem Nicken und einem grimmigen Lächeln, das Vergeltung versprach.

Nicht Angst, sondern eine prickelnde Erregung durchlief sie. „Ich bin ja so ungeschickt“, flötete sie.

Ungeschickt! Santiago atmete scharf ein. Jede ihrer Bewegungen war geschmeidig, sinnlich, verführerisch und anmutig. Ja, Lucy Fitzgerald verkörperte alles, was er verabscheute und verachtete, doch selbst mit dem übertriebenen Hüftschwung war sie der Inbegriff der Anmut.

Mühsam riss Lucy sich von seinem unwiderstehlichen, fast hypnotischen Blick los und begrüßte lächelnd die junge Frau. „Hallo, Carmella.“ Nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie Ramon anschaute, hegte sie keine schwesterlichen Gefühle für ihn. Sie war offensichtlich verrückt nach ihm, und sein Bruder musste es bemerkt haben. Dennoch benutzte er sie. Anscheinend kümmerte es ihn nicht, wessen Gefühle er mit Füßen trat.

Ramon hatte recht: Es war an der Zeit, dass Santiago es mit gleicher Münze heimgezahlt bekam.

„Carmella ist Balletttänzerin“, verkündete Ramon.

„Letzte Reihe des Corps de Ballet“, sagte sie.

Inzwischen hatten sie eine Eingangshalle von gewaltigen Ausmaßen durchquert. Wohnlich konnte man dieses Schloss nicht nennen, aber es war beeindruckend.

„Wie interessant“, sagte Lucy und meinte es ernst. Sie hatte selbst Ballettunterricht gehabt, bis klar wurde, dass sie zu groß und schwer werden würde.

Santiago hatte leise mit einem dunkel gekleideten Mann gesprochen, der geräuschlos aufgetaucht war. „Danke, Josef“, murmelte Santiago jetzt und drehte sich wieder zu ihnen um. „Unser Essen ist fertig. Was machen Sie beruflich, Miss Fitzgerald?“

Ich lebe auf Kosten leicht beeinflussbarer Jungs, hätte sie fast erwidert, antwortete dann aber: „Ich weiß schon, mich zu beschäftigen.“

„Und Sie wohnen im Hotel? Ich liebe das Spa dort“, schwärmte Carmella.

„Ich wohne bei einer Freundin.“ Staunend sah Lucy sich um.

Der Raum, den sie betreten hatten, war so groß wie ein Prunksaal. An den Wänden hingen Gobelins, die wahrscheinlich unbezahlbar waren. Es fehlte nur jemand, der die Laute auf der Spielmannsgalerie spielte. Auf dem mit Tafelsilber und funkelnden Kristallgläsern gedeckten antiken Eichentisch waren die Kerzen angezündet. Man würde ein Megafon brauchen, um mit einer Person zu reden, die am anderen Ende des Tisches saß.

„Wie … gemütlich“, sagte Lucy sarkastisch.

„Bei einer Freundin?“ Santiago richtete die Frage an seinen Bruder, während er für Lucy einen Stuhl herauszog und sicherstellte, dass sie nicht neben Ramon saß. Nicht, dass Santiago überrascht gewesen wäre, wenn die Frau über die Tischplatte gerutscht wäre, um sich an ihr Opfer zu hängen.

Plötzlich sah er sie im Geiste auf dem Tisch liegen, das blonde Haar um sich ausgebreitet. Das hochgezogene Kleid entblößte ihre langen Beine, flehend hob sie den Arm. Santiago verdrängte die Vorstellung, aber ihm war heiß geworden.

Drei Augenpaare richteten sich auf ihn, als er sich räusperte. „Welche Freundin?“

„Harriet Harris“, antwortete Ramon.

Zweifelnd blickte sein Bruder Lucy an. „Die Cambridge-Dozentin?“

Lucy hätte sich über seinen Snobismus amüsiert, wenn er ihn nicht ständig an ihr ausgetobt hätte. „Ja, das ist richtig.“ Tut mir leid, dass ich nicht in die Schublade passe, in die du mich stecken willst, dachte sie. Wahrscheinlich vermutete er, dass Harriet und sie nichts gemeinsam hatten.

„Woher kennen Sie Harriet Harris?“

„Sie war in Cambridge meine Dozentin.“ Es war ihr eine Genugtuung zu sehen, dass Santiago seine Überraschung nicht verbergen konnte.

„Sie haben in Cambridge studiert?“

Lächelnd nickte Lucy, aber sein skeptischer Unterton machte es schwer, ihre wachsende Wut im Zaum zu halten.

„Haben Sie einen akademischen Grad erworben?“, fragte Santiago.

Er klang, als wäre das höchst unwahrscheinlich. Lucy, die ihre überragende Intelligenz aus alter Gewohnheit herunterspielte, hätte ihm in diesem Moment gern ihre Abschlusszeugnisse vorgelegt.

Ramon bewahrte sie davor, weiter von Santiago ausgefragt zu werden: „Sie ist Harriet zu Hilfe gekommen.“

„Noch jemandem“, sagte Santiago spöttisch, was ihm einen verwirrten Blick seines Bruders eintrug. „Wobei braucht Harriet Hilfe?“ Anfangs hatten die Einheimischen die Engländerin argwöhnisch beäugt, die vor zwei Jahren hierher gezogen war. Wegen ihres bunt gefärbten Haars und ihrer Liebe zu den Eseln wurde sie noch immer für exzentrisch gehalten, aber die Leute mochten sie inzwischen, weil sie Spanisch gelernt und sich in die Gemeinde eingefügt hatte.

„Sie hat sich das Bein gebrochen.“

„Um Himmels willen!“, rief Santiago.

Dass er besorgt war, nahm Lucy diesem Mann nicht ab. Sie schrieb seine Reaktion einem übertriebenen Bedürfnis zu, alles in der Hand zu haben. Er war ein Kontrollfreak.

„Warum wusste ich das nicht?“

Ja, ein Kontrollfreak!

„Und warum hat Anton mich nicht informiert?“

Lucy hatte keine Ahnung, wer Anton war, dennoch hatte er ihr Mitgefühl. Bei Santiago Silva angestellt zu sein musste sein, als würde man für einen Feudalherrn arbeiten. Einen sehr gut aussehenden Feudalherr, musste sie einräumen, während sie seinen schlanken, durchtrainierten Körper musterte.

„Ist sie im Krankenhaus?“ Sein Verwalter kümmerte sich um alle täglich anfallenden Aufgaben auf dem Gut, aber Santiago war kein Grundbesitzer, den niemand zu Gesicht bekam. Er kannte alle seine Pächter und beteiligte sich aktiv am Dorfleben, wie sein Vater es getan hatte. Santiago nahm die Verantwortung ernst, die zu seiner Rolle hier gehörte.

Die ersten Jahre waren nicht leicht gewesen. Während er noch um seinen Vater getrauert hatte, war von ihm erwartet worden, dass er dessen Stelle einnahm. Damals hatte er mit Magdalena in der Großstadt gewohnt. Sie hatte ihn wirklich unterstützt, und für ihn war es ganz normal gewesen, sie zu bitten, mit ihm zusammen ins Schloss zu ziehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Magdalena ihm einen Heiratsantrag machen würde. Irgendwann heiraten wir ohnehin, also warum nicht jetzt? hatte Santiago nach dem ersten Schock gedacht.

Jetzt war ihm klar, dass es sehr wahrscheinlich nie dazu gekommen wäre, dass sie geheiratet hätten. Sie hätten sich nämlich schließlich auseinandergelebt.

„Harriet war nur für einen Tag im Krankenhaus. Und gib nicht Anton die Schuld. Als er zur Hochzeit seines Cousins gefahren ist, habe ich zu ihm gesagt, ich würde es dir bei deiner Rückkehr erzählen“, gestand Ramon. „Aber es ist nichts passiert“, fügte er fröhlich hinzu. „Lucy hilft Harriet, bis sie wieder gesund ist.“

Santiago blickte die Frau an, die neben ihm saß. Glaubte sein Bruder im Ernst, dass sie irgendetwas machen würde, bei dem sie sich den Nagellack abstoßen könnte? Sein höhnisches Lächeln erstarb, als Santiago ihre Hände betrachtete. Die Nägel waren kurz geschnitten und nicht lackiert. Kopfschüttelnd tat er die Ungereimtheit ab. Lucy Fitzgerald war für körperliche Arbeit nicht geschaffen.

„Bei ihr ist Harriet in guten Händen“, sagte Ramon.

„Ich bezweifle sehr, dass Miss Fitzgerald …“

„Oh, wie förmlich. Bitte nennen Sie mich Lucy.“ Sie lächelte weiter zuckersüß, obwohl ihr inzwischen die Gesichtsmuskeln schmerzten.

Santiago, der ihr ganz andere Namen gegeben hätte, erwiderte das Lächeln.

Ihre Blicke begegneten sich. Lucy war fest entschlossen, nicht als Erste wegzusehen. Im Hintergrund hörte sie Ramon und Carmella lachen und plaudern. Viel lauter war das Blut, das ihr in den Ohren rauschte.

Auf der anderen Seite des Tisches warf Ramon ein Glas um. Es klang wie ein Pistolenschuss, als das Kristall auf dem Boden aufschlug. Wer von ihnen beiden zuerst wegschaute, war schwer zu sagen. Für Lucy war nur noch wichtig, dass das kleine Missgeschick die wachsende Spannung zwischen Santiago und ihr hatte abklingen lassen.

„Sprecht englisch …“, hörte sie ihn das junge Paar tadeln. „Miss Fitzgerald wird sich ausgeschlossen fühlen.“

Als würde es nicht genau darum gehen. „Kein Problem“, sagte sie auf Spanisch. „Ich muss üben.“

Er wirkte verärgert. „Sie können Spanisch?“

Vermutlich war er irritiert, weil in seiner Welt Habgier die einzige Sprache war, die ein blondes Flittchen verstehen durfte. Deshalb antwortete sie auf Englisch. „Ein bisschen.“

„Mehr als ein bisschen. Außerdem spricht sie Französisch, Italienisch, Deutsch und … Gälisch?“, warf Ramon ein.

Lucy nickte.

„Nicht nur ein schönes Gesicht und ein perfekter Körper“, fuhr Ramon fort, die Augen auf ihre Brüste geheftet. „Sie hat auch Köpfchen. Ich weiß eben, wie man sie aussucht, stimmt’s?“ Er lächelte seinen Bruder sonnig an, bevor er von seinem Stuhl aufstand. Das Hausmädchen war hereingekommen, um die Scherben des zerbrochenen Glases zu beseitigen.

„Sehr sprachbegabt.“

„Meine Familie ist über die ganze Welt verstreut, deshalb kann ich so viele Sprachen. Aber Ramon will nur nett sein. Mein Spanisch ist ziemlich dürftig“, gab Lucy zu, bevor ihr einfiel, dass ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und ehrlich zu sein nicht zu ihrer Rolle passte. Also rettete Lucy die Situation. „Ich hoffe, dass sich mein Wortschatz während meines Aufenthalts beträchtlich vergrößert“, säuselte sie heiser und schenkte Ramon den erotischen Blick, mit dem sie als Model für alles Mögliche geworben hatte, von Shampoo bis Versicherungen. „Und Ramon ist solch ein guter Lehrer.“

Dass er gegen ihre verführerische Stimme nicht immun war, machte Santiago noch wütender als die offene Provokation. Er stellte sein Weinglas so heftig ab, dass es zerbrach.

Bei dem Geräusch sah Lucy zur Seite und bemerkte seinen drohenden Blick. Du kannst es noch, Lucy, dachte sie.

„Das bist du auch, querida.“ Ramon starrte unverwandt auf ihre Brüste. „Ich lerne so viel von dir“, fügte er rau hinzu.

Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Er spielte seine Rolle etwas zu überzeugend. Wenn er nicht aufpasste, würde sein Bruder Verdacht schöpfen. Sie bezweifelte, dass Santiago der Sache eine komische Seite abgewinnen würde.

Gab es eine komische Seite? Lucy griff nach ihrem Glas und trank es aus. Wenn die anderen bemerkten, dass ihr Gesicht glühte, konnte sie es dem Alkohol zuschreiben. Herzlose Verführerinnen erröteten nicht.

„Es macht immer Spaß, einen willigen Schüler zu unterrichten.“ Besorgt, dass sie jetzt auch übertrieben hatte, blickte sie verstohlen den Mann neben ihr an. Er saß völlig still da. Still wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Sie hätte keine Angst zu haben brauchen. Er schien nur allzu gern zu glauben, dass sie ein Flittchen war.

„Haben Sie eine große Familie, Lucy?“, fragte Carmella, die die unterschwelligen Spannung am Tisch offensichtlich nicht bemerkte.

Lucy lächelte. „Riesengroß. Ich habe neun Geschwister. Mein Vater hatte drei Ehefrauen.“ Ihre Mutter war seine letzte gewesen.

„Nicht gleichzeitig, vermutlich“, sagte Santiago.

Durch seinen amüsierten, verächtlichen Ton fühlte Lucy sich beleidigt. Was für ein selbstgefälliger Mistkerl! Plan oder nicht, sie würde nicht hinnehmen, dass er ihre Angehörigen beleidigte. Sie alle hatten sich schützend um sie geschart, als sie sie gebraucht hatte.

Ja, zu seinen Lebzeiten hatten ihr Vater und sie durchaus Meinungsverschiedenheiten gehabt. Sie hatten in dem heftigen Streit gegipfelt, der schließlich dazu geführt hatte, dass Lucy von zu Hause ausgezogen war. Sie hatte nicht den Lebensweg einschlagen, den ihr Vater ihr vorbestimmt hatte.

Fest entschlossen, ihm zu zeigen, dass sie es allein schaffen konnte, begann sie als Model zu arbeiten. Ihre Absicht war es, genug zu verdienen, um ihren Hochschulabschluss zu finanzieren. Dass sie so einen unglaublichen Erfolg haben würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte die Welt der Designer und Models nie wirklich geliebt, aber sie war froh über die Unabhängigkeit gewesen, die ihr das viele Geld gebracht hatte.

Das tat es noch immer. Mit einem hatte ihr Vater recht gehabt: Sie hatte seinen finanziellen Scharfsinn geerbt. Ihre Kapitalanlagen hatten die globale Rezession überstanden, und sie konnte von den Einkünften gut leben.

Trotz des Streits war ihr Vater wie alle ihre Angehörigen für sie da gewesen, als sie ihn gebraucht hatte. Das allein zählte. Und Lucy wollte nicht zulassen, dass Santiago Silva über ihre Verwandten die Nase rümpfte.

„Teilen Sie die Einstellung Ihres Vaters zur Ehe?“

„Meine Mutter sagt, ich sei ihm sehr ähnlich.“ Lucy zuckte mit den Schultern und fügte ruhig und würdevoll hinzu: „Ich selbst kann das nicht beurteilen, aber ich hoffe sehr, dass ich sowohl ihre als auch die Werte meines Vaters übernommen habe.“

Sah Santiago verblüfft aus? Anscheinend hatte sie es sich eingebildet, denn er reagierte mit diesem boshaften Lächeln, das sie inzwischen so gut kannte.

„Ich bin sicher, sie sind beide stolz auf Sie.“ Zweifellos war Lucy nicht so leicht durchschaubar, wie er gedacht hatte. Es steckte mehr dahinter. Er war überzeugt gewesen, dass er sie mühelos aus Ramons Leben drängen konnte. Weshalb er sich gar keine Mühe gemacht hatte, etwas über den Skandal zu recherchieren – ein schwerer Fehler.

Wenn sie außer Habgier charakterliche Schwächen aufwies, würde er das herausfinden. Aber ihre Gier würde Lucy Fitzgerald zwangsläufig ins Verderben stürzen.

Plötzlich erinnerte Santiago sich an eine Schlagzeile unter einem Foto, das sie zeigte, wie sie wegen des Blitzlichtgewitters eine Hand vor die Augen hielt, während ihr ein Mann in eine Limousine half.

„Ihr Vater ist Patrick Fitzgerald!“

„Das wusstest du nicht?“ Ramon grinste. „Und ich dachte, du weißt alles“, spottete er.

„Wer ist Patrick Fitzgerald?“, fragte Carmella.

„Melly liest keine Bücher, stimmt’s, Schatz? Nur Promizeitschriften.“

Sie trat ihm unter dem Tisch auf den Fuß, und Ramon schnappte ihr lachend den Teller weg, auf dem ein kleines Brötchen lag. „Vorsichtig, du könntest dreißig Gramm zunehmen, indem du es ansiehst. Lucys Vater hatte überall seine Finger drin. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende. Aber eigentlich war er Verleger. Der einflussreichste Verleger der Welt. Er war …“ Ramon blickte Lucy an.

„Mein Vater ist im vergangenen Jahr gestorben“, erklärte sie Carmella. „Er hatte sich schon vom Geschäft zurückgezogen.“

Santiago ärgerte sich über sich selbst, weil er die Verbindung nicht früher hergestellt hatte. Er war dem Mann nie begegnet, doch Ramon hatte recht. Patrick Fitzgerald war in Finanzkreisen eine Legende gewesen. Er hatte einen Verlag gegründet, der zum größten und erfolgreichsten der Welt geworden war und sich noch immer im Besitz der Familie befand.

Unerwartet hatte Santiago Mitleid mit dem Mann, der sein Privatleben streng abgeschottet hatte. Es musste die Hölle für ihn gewesen sein, dass seine Tochter öffentlich gedemütigt worden war und jedermann ihre schmutzigen Geheimnisse erfahren hatte. Und natürlich waren am Lebenswandel der Kinder natürlich immer die Eltern schuld!

Santiago konnte schon nicht mehr zählen, wie viele Nächte er wach gelegen und seine Entscheidungen als Vater im Nachhinein bedauert hatte. Und Gabriella war noch nicht einmal ein Teenager!

Wenn Patrick Fitzgerald noch am Leben wäre, hätte er ihn vielleicht angerufen und gefragt, wie er seine Tochter erzogen hatte. Damit er genau das Gegenteil davon tun konnte.

Was aber auch immer Lucy Fitzgerald antrieb, Geld war es also offenbar nicht. Santiago blickte sie an, gerade als das Hausmädchen neben ihrem Stuhl stehen blieb.

Autor

India Grey
India Grey liebte schon als kleines Mädchen romantische Liebesgeschichten. Mit 13 Jahren schrieb sie deshalb das erste Mal an den englischen Verlag Mills & Boon, um die Writer's Guidelines anzufordern. Wie einen Schatz hütete sie diese in den nächsten zehn Jahren, begann zu studieren … und nahm sich jedes Jahr...
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