Julia Extra Band 579

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

CINDERELLAS PRICKELNDE NACHT IN VENEDIG von SHARON KENDRICK

In einem geliehenen Kleid schleicht sich Grace wagemutig auf den Maskenball in Venedig. Mit sinnlichen Folgen! Denn um Mitternacht küsst sie der umwerfend attraktive Milliardär Odysseus Diamides heiß – der nie erfahren darf, dass sie nur ein armes Hausmädchen ist …

WINTERZAUBER MIT DEM ITALIENISCHEN MILLIONÄR von LORRAINE HALL

„Ein Wagen wird Sie abholen.“ Ungläubig liest Diego Folliero die E-Mail. Seit einem Schicksalsschlag meidet der Millionär jede Gesellschaft! Aber seine Assistentin Amelia lockt ihn in ein verschneites Alpenchalet. Wo er ihr in einer sternenhellen Winternacht sein Herz öffnet …

ICH HABE SIE NIE VERGESSEN, PRINZESSIN! von JUSTINE LEWIS

Damals hat Hightech-Unternehmer Rowan James die Prinzessin seines Herzens verlassen: Der öffentliche Druck war zu groß. Als er Isabella von Monterossa jetzt in einem Londoner Club wiedersieht, flammt die Liebe zwischen ihnen erneut auf – diesmal mit einem Happy End?

DIE INSEL DER ERFÜLLTEN TRÄUME von KARIN BAINE

Es könnte ein toller Job sein: Auf einer paradiesischen Südseeinsel betreut Jo die Matriarchin der reichen Familie Stroud. Doch deren gut aussehender Enkel Taylor behandelt sie unerträglich arrogant – bis sie gemeinsam einen Tropensturm überstehen müssen …


  • Erscheinungstag 06.01.2026
  • Bandnummer 579
  • ISBN / Artikelnummer 0820260579
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Sharon Kendrick, Lorraine Hall, Justine Lewis, Karin Baine

JULIA EXTRA BAND 579

Sharon Kendrick

1. KAPITEL

Der heftige Gefühlsausbruch, von dem Odysseus überwältigt wurde, war unerwünscht und beispiellos. Unbeeindruckt von der Kälte des Februartages oder der Gischt, die gegen das Schnellboot spritzte, starrte er mit zusammengekniffenen Augen auf die unverwechselbare Skyline der Stadt.

La Serenissima wurde sie genannt. Venedig. Natürlich kannte er sie von Fotos. Die dunklen, still dahinfließenden Gewässer. Kanäle, gesäumt von reich verzierten Gebäuden. Das selbst im Winter faszinierende Licht. Manchmal hatte er sogar davon geträumt. Aber dies war sein erster Besuch, was angesichts seiner Herkunft eigentlich erstaunlich war. Im feinen Sprühnebel des Regens verspannte er sich, während sich das Boot der Accademia-Brücke näherte und er sich wieder einmal die Frage stellte, die ihn seit Wochen quälte.

Was, zum Teufel, wollte er hier? Die Gespenster vertreiben, die ihn schon zeitlebens verfolgten? Oder war es etwas Primitiveres? Etwas Tiefgründiges, Atavistisches, für das die Griechen ein sehr treffendes Wort hatten? Ein Wort, das er beinah auf der Zunge schmecken konnte … bittersüß.

Ekdiksi. Rache? Nein.

Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, von dem er wusste, dass es seine Augen nicht erreichte. Rache setzte ein Opfer voraus, aber als Opfer hatte er sich nie gefühlt, trotz der brutalen Umstände, die ihm ihren Stempel aufgedrückt hatten. Diese Reise in die Heimat seiner Mutter unternahm er aus Neugier oder eher wegen des Drangs, endlich seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Weil er den Wunsch verspürte, seinen einzigen noch lebenden Verwandten kennenzulernen, bevor der das Zeitliche segnete.

„Siamo arrivati, signore“, verkündete der Fahrer, während er das schwankende Schnellboot vertäute, um dann seinem Fahrgast einen scharfen Blick zuzuwerfen.

Und was sah er da? Einen athletisch gebauten Mann mit einer ungebändigten schwarzen Mähne, der wirkte, als ob er sich auf einem klapprigen alten Fischerkahn genauso zu Hause fühlen würde? Oder registrierte er nur die exklusive Garderobe, den mondänen Auftritt, der Odysseus als einen der reichsten Männer seiner griechischen Heimat und weit darüber hinaus auswies? Einen Mann, dem bei den Frauen der Ruf vorauseilte, ein Herz aus Eis zu haben, und den seine Konkurrenten als undurchschaubar beschrieben. In den Ländern, in denen er geschäftlich tätig war, wurde er „der einsame Wolf“ genannt. Damit konnte er leben, ja, es gefiel ihm sogar. Er presste die Lippen aufeinander. Beifall hatte ihn noch nie interessiert.

Das historische Hotel, das er gewählt hatte, lag nur wenige Schritte von der Anlegestelle entfernt. Der Pförtner musterte ihn aufmerksam, als Odysseus die Rezeption ansteuerte. Die Rezeptionistin reckte ihm spontan den Busen entgegen, aber er setzte ungerührt seine Unterschrift unter das Anmeldeformular. Als sie ihm seinen Pass zurückgab, registrierte er ihre Enttäuschung und schenkte ihr ein mattes Lächeln, bevor er zu den Aufzügen ging.

Wenig später betrat er eine luxuriöse Suite mit Blick auf den Canal Grande, die sein Assistent für ihn gebucht hatte. Auch ein Kostüm für den Maskenball heute Abend, das an der Garderobe bereits auf Odysseus wartete, hatte er organisiert. Eine Kniebundhose aus Samt, dazu ein weiter Umhang, Schnallenschuhe sowie ein Dreispitz. Und natürlich die Maske, ein kunstvolles Gebilde, das ihm eine gewisse Anonymität verleihen sollte.

Nicht, dass ihn hier irgendwer erkennen würde.

Nicht einmal sein Großvater. Noch nicht, jedenfalls.

Er wandte sich von dem Kostüm ab und schaute auf die trüben Fluten der Lagune. Morgen war er mit Vincenzo Contarini verabredet, obwohl er immer noch nicht wusste, was er ihm sagen sollte. Als er an die bitteren Vorwürfe dachte, mit denen er den alten Mann konfrontieren könnte, begann an seiner Schläfe eine Ader zu pochen. Aber das war nicht seine Art. Er war kein Freund von Emotionen. Er hatte gelernt, seine Gefühle in jeder Situation zu kontrollieren, weil ihm das immense Macht verlieh.

Heute Abend würde er eine Erfahrung machen, die neu für ihn war, und alles Neue hatte bekanntlich seinen Reiz. Odysseus war bewusst, dass er stets zu viel arbeitete. Ein Umstand, der ihm jedoch bereits in jungen Jahren außergewöhnlich großen geschäftlichen Erfolg eingebracht hatte. Dabei waren Geld und Frauen stets so zuverlässig in Reichweite gewesen, dass er zunehmend abgestumpft war. Was für einen Mann von gerade einmal vierunddreißig Jahren, der sich auf dem Gipfel seiner sexuellen Leistungsfähigkeit befand, ziemlich verrückt war.

Nun, vielleicht würde er sich nach seiner Rückkehr nach Griechenland mit seiner sexuellen Enthaltsamkeit befassen, die ganz gewiss nicht auf mangelnde Gelegenheiten zurückzuführen war. Dann würde Entspannung möglicherweise ganz oben auf seiner To-do-Liste stehen.

Aber nicht jetzt. Jetzt musste er arbeiten. Er musste immer arbeiten. Er suchte sein Heil in der Arbeit. Sie war seine Rettung. Ohne die Schönheit des Canal Grande zu beachten, setzte er sich an den antiken Schreibtisch und öffnete seinen Laptop.

„Oh, Grace. Du siehst umwerfend aus. Wie aus einem Film!“

Grace, die sich um Äußerlichkeiten nie groß Gedanken machte, registrierte das überschwängliche Kompliment der Freundin kaum. Sie schaute in den Spiegel des Aufenthaltsraums im obersten Stockwerk des venezianischen Palastes aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in den Kirsty sie heimlich eingeschleust hatte. Und das schon vor einer Stunde, denn so lange hatte es gedauert, sie in dieses aufwendige Kostüm zu zwängen. Natürlich wusste sie, dass der Sinn eines Maskenballs darin bestand, sich so zu verkleiden, dass niemand einen erkannte, und dennoch … Wer hätte gedacht, dass sie jemals so aussehen könnte wie …

diese Person da?

Das bodenlange scharlachrote Seidenkleid war in der Taille so eng geschnürt, dass sie fast erstickte. Es stellte Dinge mit ihrem Körper an, die sie kaum für möglich gehalten hätte. Das Mieder schmiegte sich fest an ihre Rippen, wodurch ihre kleinen Brüste nach oben und eng zusammengedrückt wurden. Was den verblüffenden Effekt hatte, dass sie plötzlich regelrecht vollbusig wirkte und ihre Brüste über den bestickten Rand des Mieders hinausquollen. Ihr kastanienbraunes Haar war größtenteils von einem kunstvoll mit scharlachroten Federn geschmückten Hut bedeckt und unter der schimmernden goldenen Karnevalsmaske waren nur zwei dunkel mit Kajal geschminkte Augen und scharlachrote Lippen sichtbar.

Was, um alles in der Welt, war mit Grace Foster, der kleinen grauen Maus, passiert? Die suchte man heute Abend vergebens. Das farblose Hausmädchen hatte sich in einen Paradiesvogel verwandelt. Grace hatte noch nie etwas annähernd Vergleichbares gemacht, ja, sie hätte es sich nicht einmal vorstellen können. Und doch war sie jetzt hier …

„Ich weiß echt nicht, ob ich das durchziehen kann, Kirsty.“ Sie schluckte schwer.

„Machst du Witze?“ Ihre Freundin klang fast empört, als sie auf ihre eigene schwarze Kellnerinnen-Uniform deutete. „Glaubst du vielleicht, dass ich mir die ganze Mühe umsonst gemacht habe? Dich hier einzuschmuggeln und dazu noch meinen Job zu riskieren, nur damit du in letzter Sekunde einen Rückzieher machst?!“

„Und was, wenn ich nicht durchkomme?“ Grace musste erneut schlucken.

„Natürlich kommst du durch!“, gab Kirsty zurück. „Schließlich bist du ja schon drin. Warum sollte dich da irgendwer nach deiner Eintrittskarte fragen? Außerdem passen die anderen auf dich auf.“

Wohl wahr. Grace zupfte an dem geliehenen Kleid herum. Im Lauf der Jahre hatte sie sich ein kleines Netzwerk aus Freundinnen aufgebaut und Cara und Sophia mussten hier auch irgendwo sein … mit gültigen Eintrittskarten, auf die sie, anders als sie selbst, gespart hatten. Aber die beiden hatten eben auch keine Verpflichtungen. Und obwohl Grace den größten Teil ihres Gehalts gern für die Pflege ihrer Großmutter in England ausgab, musste sie deshalb eben doch auf vieles verzichten, was für andere junge Frauen selbstverständlich war. Sie kaufte sich nur selten neue Klamotten und ging nicht oft aus. Weshalb sie sich manchmal bei dem Wunsch ertappte, dass ihr Leben etwas … na ja … prickelnder sein könnte.

Aber war das denn nicht der Sinn des heutigen Abends?

Auf jeden Fall war es eine Gelegenheit, eine der aufregenderen Facetten ihrer Wahlheimat kennenzulernen, statt sich immer nur mit den Schattenseiten des venezianischen Karnevals – zum Beispiel in Gestalt grölender Touristenhorden – herumschlagen zu müssen.

„Weiß dein Chef, wo du bist?“, fragte Kirsty.

„Um Himmels willen!“, erwiderte Grace. „Er würde ausrasten.“ Vincenzo Contarini war ein bekennender Snob, der fest daran glaubte, dass jeder Mensch seinen Platz im Leben hatte, und Grace als seine Haushaltshilfe rangierte auf der Stufenleiter ziemlich weit unten. Aber er zahlte gut und bot ihr Essen und Unterkunft in einer sündhaft teuren Stadt. Anders könnte sie sich das Leben hier nie leisten.

Kirsty versetzte ihr einen sanften Schubs. „Los, schnapp dir deine Tasche und lass uns gehen. Der Ball wartet auf dich, Aschenputtel. Und denk dran …“ Sie machte eine Kunstpause, aber ihre folgenden Worte klangen ernst. „Heute Abend kannst du sein, wer immer du willst.“

Grace nickte nervös und folgte Kirsty über eine verwirrende Reihe von Hintertreppen zu einer unscheinbaren Tür, bei der es sich offenbar um den Personaleingang handelte. Von fern hörte man Stimmengewirr, Musik und Gelächter. Ihre Füße, die in zierlichen Schnallenschuhen steckten, verharrten für einen Moment auf dem Fleck, und wenn Kirsty ihr nicht erneut einen leichten Schubs gegeben hätte, hätte sie womöglich kehrtgemacht.

Die Atmosphäre im Ballsaal war noch spektakulärer als erwartet. Die verschwenderische Pracht der fantasievollen Kostüme, die Gäste, die lebhaft plaudernd in Grüppchen beieinanderstanden. An den hohen Decken Kronleuchter, deren Strahlen wie glitzernde Wasserfälle über die tanzenden Paare fielen, Frauen, mit wertvollem Schmuck behängt, und im Licht aufblitzende Brillanten. In einer Nische spielte ein Streichquartett und in einer anderen jonglierten drei junge Männer mit schimmernden goldenen Bällen.

Noch mehr Gäste amüsierten sich am anderen Ende des Saals. Nur Grace stand, unsicher ihre paillettenbestickte Clutch umklammernd, allein da und schaute sich töricht befangen um. Ihr Hauptziel war es gewesen, an den Ort des Geschehens zu gelangen. Und nun? Im Weitergehen hielt sie nach ihren Freundinnen Ausschau, aber sie konnte sie nirgends entdecken. Als sie merkte, dass ihre Handflächen vor Nervosität feucht waren, musste sie sich davon abhalten, sie an dem geliehenen Kleid abzuwischen. Extrem verunsichert, wie sie war, kam sie nur langsam voran, und als sie stehen blieb, um eine ältere Frau vorbeizulassen, ließ sie den Blick unwillkürlich nach oben zu der Balustrade schweifen, von der aus man den ganzen Ballsaal überblicken konnte.

Und da sah sie ihn. Dort auf dem Balkon direkt über ihr. Grace erstarrte mitten in der Bewegung, als ihre Blicke sich trafen. Ihr Herz unter dem engen Mieder begann schneller zu klopfen.

Wenn sie doch nur Flügel hätte, um zu ihm zu fliegen!

Weil der Mann, der da vor einem hohen Fenster stand, jeden anderen Mann im Saal komplett verblassen ließ. Lag es daran, dass er so viel größer war als alle anderen, seine Schultern so viel breiter und seine Beine geradezu unverschämt lang waren? Oder war es die fast greifbare Aura aus Erfahrung und Gefahr, die ihn umgab? Diese Beobachtung hätte sie eigentlich dazu veranlassen müssen, auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen, aber sie blieb wie angewurzelt stehen.

Er trug Schwarz und auf seinem tiefschwarzen, etwas zu langen Haar saß verwegen ein Dreispitz, wodurch er fast wie eine Märchengestalt wirkte. Oder wie eine Gestalt aus einem Traum. Er war allein und strahlte eine solche Distanziertheit aus, dass es bestimmt niemand so schnell wagen würde, sich ihm unaufgefordert zu nähern.

Grace fragte sich, ob sich ihre Blicke wirklich begegnet waren oder ob sie sich das nur eingebildet hatte. Denn warum sollte ausgerechnet eine graue Maus wie sie seine Aufmerksamkeit erregen? Aber jetzt schaute er definitiv wieder zu ihr. Da er, so wie sie selbst auch, eine Maske trug, konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, doch in seiner Haltung lag etwas unterschwellig Provozierendes. Etwas, das ihre Sinne zum Leben erweckte. Wie verrückt war das denn bitte? Als sie sich an Kirstys Abschiedsworte erinnerte, merkte sie, dass ihre Wangen heiß wurden.

Heute Abend kannst du sein, wer immer du willst.

Konnte sie das wirklich? Sie schluckte. Weil sie im Moment am liebsten die Frau wäre, die, ohne zu zögern, auf diesen Mann da oben auf dem Balkon zuging, um ihn kühn zum Tanz aufzufordern. Und er würde Ja sagen. Natürlich würde er Ja sagen. Er würde sie mit einem leisen Auflachen in die Arme ziehen. Ihre Brustwarzen unter dem engen Mieder wurden hart, als sie sich ausmalte, wie sie mit diesem beeindruckend stark wirkenden Körper verschmolz und …

„Signora?“

Eine fremde Stimme unterbrach ihren Gedankenstrom. Als Grace sich umdrehte, sah sie sich einem finster dreinschauenden Mann mit einem Namensschild auf der Brust gegenüber, das ihn als Saalordner auswies. Sie erstarrte. War’s das jetzt? Hatte man sie erwischt?

„Ja?“, fragte sie auf Englisch, in der Hoffnung, dass der Mann sie respektvoller behandeln würde, wenn er sie für eine reiche Touristin hielt.

Aber ärgerlicherweise antwortete er ihr ebenfalls auf Englisch. „Ihr Ticket bitte, signora!“

Grace schluckte. Ihr schlimmster Albtraum wurde wahr. Sie sah es schon vor sich, wie sie vor aller Augen hinausgeworfen wurde, wovon womöglich auch ihr Chef erfuhr. Der sie dann auf der Stelle feuerte, weil sie seinen guten Namen in Verruf gebracht hatte. Einen richtigen Arbeitsvertrag hatte sie nicht … genauer gesagt hatte sie überhaupt keinen Vertrag.

Und nun? Was sollte sie tun? Versuchen, in der Menge unterzutauchen? Oder sich irgendeine Ausrede einfallen lassen? Aber welche? Instinktiv hielt sie nach dem Mann in Schwarz Ausschau, der immer noch reglos da oben auf der Balustrade stand und sie – unglaublich, aber wahr – beobachtete. Mit dem Anflug eines Lächelns, das seine sinnlichen Lippen umspielte, verfolgte er das Geschehen zwischen ihr und dem Saaldiener. War es nur Einbildung, oder hatte er ihr gerade tatsächlich hoheitsvoll zugenickt … als würde er ihr gestatten, sich ihm zu nähern?

„Signora“, wiederholte der Mann. „Ihr Ticket, bitte.“

Und plötzlich wusste sie, was zu tun war. Nur für diese eine Nacht würde sie vergessen, dass sie die vorsichtige Grace Foster war. Die ängstliche Grace Foster, die nie einen falschen Schritt machte und sich stets den Autoritäten und allen Regeln beugte. Heute Abend sollte es allein darum gehen, was sie wollte … obwohl sie nicht genau wusste, was das war. Sie wusste nur, dass die grüblerische, ganz in Schwarz gehüllte Gestalt da oben dominant und unbeugsam wirkte. Ein sicherer Hafen, dachte sie mit plötzlicher Gewissheit. Was angesichts der unübersehbaren Bedrohlichkeit, die er ausstrahlte, doch recht überraschend war.

Sie atmete tief durch und begann schnellen Schrittes auf ihren erhofften Retter zuzugehen.

2. KAPITEL

Von seinem Aussichtspunkt auf dem Balkon aus hatte Odysseus beobachtet, wie die Frau in Rot in den Ballsaal gestolpert war, als hätte sie jemand geschubst. Dabei war er von ihrem Anblick überraschenderweise auf Anhieb fasziniert gewesen. Von ihrer zierlichen, fast zerbrechlich wirkenden Gestalt mit der schmalen Taille, die in einem lebhaften Kontrast zu dem leuchtenden Ton ihres scharlachroten Kleides stand. Aber da war noch etwas anderes … Sie bewegte sich ungelenk, fast wie eine Marionette. Während er registriert hatte, wie sie den Blick über die Menge schweifen ließ, bevor er an ihm hängen blieb, war ihm klar geworden, dass sie sich wie eine Außenseiterin benahm.

Und das hatte ihn mitten ins Herz getroffen.

Denn war er das nicht auch? Schon immer gewesen? Trotz all seiner Milliarden, trotz der großzügigen Spenden, die er in seine Wohltätigkeitsorganisationen fließen ließ, und der zahllosen Partyeinladungen, von denen er überschwemmt wurde, war er in seinem tiefsten Innern immer noch derselbe, der er früher gewesen war. Der Junge, der nirgendwo dazugehörte und inzwischen längst zu einem Mann mit den gleichen sperrigen Eigenschaften herangewachsen war.

Aber es war ihm egal, wie er auf andere wirkte. Er war nie schüchtern oder ängstlich gewesen. Nicht wie die Frau in Rot, die eben erschrocken zusammengezuckt war, als ein Saalordner sie angesprochen hatte. Aus schmalen Augen verfolgte er den irgendwie peinlich wirkenden Wortwechsel. Und als sie wieder in seine Richtung schaute, spürte er die enorme Anziehungskraft, die von ihr ausging.

Fast unmerklich neigte er den Kopf, woraufhin sie sich ruckartig in Bewegung setzte, um sich eilig ihren Weg durch die Menge zu bahnen. In einem Wirbel aus scharlachroter Seide lief sie die Treppe nach oben, während ihr der Ordner dicht auf den Fersen blieb. Odysseus beobachtete, wie sie auf ihn zukam und sich hastig entschuldigte, als sie dabei versehentlich eine Frau streifte. Sobald sie ihn erreicht hatte, musste er unwillkürlich lächeln, weil sie noch kleiner und zierlicher war als angenommen.

„Hi!“, rief sie mit leicht bebender Stimme, bevor sie, nur für ihn bestimmt, leise hinzufügte: „Könnten Sie so tun, als würden Sie mich kennen? Bitte.“

Jetzt war seine Neugier endgültig geweckt. „Sehr gern“, murmelte er und lächelte.

Der Ordner trat vor. „Kennen Sie die Dame, signor?

Der anmaßende und argwöhnische Ton des Mannes zehrte an Odysseus’ Nerven. „Natürlich. Ich warte hier bereits seit einer Stunde auf sie“, erwiderte er in näselndem Tonfall.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Bitte verzeih, dass ich dich habe warten lassen.“

„Einmal lasse ich es dir noch durchgehen, Liebling“, sagte er, während er den Arm um ihre zierliche Taille legte und sie an sich zog.

Sie seufzte theatralisch auf, und er ertappte sich bei dem Wunsch, ebenfalls zu seufzen, weil sie sich so köstlich anfühlte. Instinktiv umklammerte er ihre Taille, woraufhin sie sich noch enger an ihn schmiegte, so eng, dass ihm ihr berauschender Duft in die Nase stieg.

Für einen kurzen Moment genoss er ihre Nähe, bevor er sich erneut dem Mann zuwandte und in gefährlich sanftem Ton fragte: „Warum? Stimmt irgendwas nicht?“

„Äh … nein.“ Der Adamsapfel des Mannes hüpfte auf und ab. „Nein, nein … alles in Ordnung. Mein Fehler, signor. Scusi.“

Odysseus bedeutete dem Mann mit einer Handbewegung zu warten und blickte auf die Frau an seiner Seite hinunter. „Hat er dich belästigt, Liebling?

Sie schüttelte den Kopf. „Ich … nein.“

„Ganz sicher?“

Ein dankbares Lächeln umspielte ihre scharlachroten Lippen. „Ganz sicher.“

„Nun, in diesem Fall …“ Odysseus warf dem Mann einen missbilligenden Blick zu. „… haben Sie jetzt hoffentlich nichts dagegen, wenn ich die Dame zum Tanz bitte. Wenn Sie uns entschuldigen würden …“

„Sì, sì, signor, Mi dispiace!“ Der Unglückselige trollte sich eilig und verschwand im Gewühl.

„Auftrag erfüllt“, murmelte Odysseus mit einem leisen Gefühl der Genugtuung, bevor er widerstrebend die Hand von ihrer Taille nahm. „Ich glaube nicht, dass er Sie noch einmal behelligt.“

„Danke. Das war sehr … nett von Ihnen“, sagte sie mit diesem weichen englischen Akzent, aber wieder spürte er ihr Zögern. Als ob sie lieber bleiben würde. Was ihm zufälligerweise durchaus recht war.

„Meinen Sie nicht, wir sollten wenigstens so tun, als wollten wir tanzen, nur falls er Sie noch im Auge behält?“, schlug er mit samtiger Stimme vor. „Oder darf ich Sie irgendwohin begleiten? Vielleicht wartet ja ein Mann auf Sie?“

Sie schüttelte so vehement den Kopf, dass das kunstvolle Federgebilde aus Scharlachrot und Gold herumwirbelte. „Es gibt keinen Mann. Ich bin allein … nur meine Freundinnen … sie müssen hier irgendwo sein“, fügte sie vage hinzu.

„Schön, dann dürfte Sie ja nichts daran hindern, mit mir zu tanzen.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Wie wär’s?“

Grace schluckte. Nun, es wäre herrlich! Aber sich auszumalen, auf den maskierten Mann zuzugehen und ihn zum Tanz aufzufordern, war eine Sache. Doch dann wirklich mit ihm zu tanzen war etwas ganz anderes. Weil er aus der Nähe noch beeindruckender war.

Auf seinem markanten Kinn lag ein Bartschatten, die Lippen wirkten schockierend sinnlich. Und seine Augen leuchteten in einem unfassbar intensiven Blau, so hell und durchdringend wie die Flammen bei diesen altmodischen englischen Gasherden, wie ihre Nana noch einen gehabt hatte. Und er wartete immer noch auf eine Antwort. Sie sollte ihn wohl besser darauf hinweisen, dass sie hoffnungslos schlecht tanzte, bevor sie sich völlig lächerlich machte. „Ehrlich gesagt kann ich nicht besonders gut tanzen“, gestand sie.

„Schön, dann bringe ich es Ihnen eben bei.“ Die blauen Augen hinter der Maske funkelten. „Ich bin nämlich ein ausgezeichneter Lehrer.“

In seinen Worten schwang ein sinnliches Versprechen mit, auf das ihr Körper höchst verstörend reagierte. Ihre Brüste spannten sich unter dem Mieder ihres Kleides an, die Brustwarzen verhärteten sich. War es normal, so heftig auf einen Mann zu reagieren, den man praktisch nicht kannte? Vielleicht sollte sie das Märchen lieber nicht ruinieren …

„Und wenn ich Ihnen auf die Zehen trete?“

„Das lasse ich nicht zu.“

Sie schaute ihm in das maskierte Gesicht, so fasziniert von seinen schön geschwungenen Lippen, dass sie ihre Schüchternheit vergaß. „Wie wollen Sie das verhindern?“

„Indem ich Sie herumwirbele, bevor Ihr winziger Fuß auch nur in die Nähe meines Fußes kommt.“

„Woher wissen Sie, dass mein Fuß winzig ist?“

„Weil alles an Ihnen so ist. Klein und perfekt.“

Törichterweise wurde sie rot. „Ich wiege mehr, als man denkt.“

„Aha. Soll ich es versuchen?“

„Na los“, stimmte sie unbesonnen zu.

Er lachte leise auf, bevor er die Hände auf ihre Hüften legte, sie einmal im Kreis herumschwenkte, aber gleich wieder absetzte. Hoffentlich ohne das heftige Zittern der Erregung zu bemerken, das sie erfasste. „Na? Was sagen Sie jetzt?“

Grace’ Herz klopfte so wild, dass sie kaum sprechen konnte. „Ich glaube es nicht, dass Sie das einfach so gemacht haben.“

„Es hat Ihnen gefallen“, vermutete er.

„Ja“, flüsterte sie. „Stimmt.“

Die Luft zwischen ihnen vibrierte vor Erwartung, so heftig, dass Grace erschauerte. Weil das hier ein Flirt war, wie ihr dämmerte. Ein richtiger Flirt zwischen zwei Erwachsenen. So wie sie es schon ihr Leben lang beobachtet hatte, weil die Italiener Flirten zu einer Kunstform erhoben hatten. Aber sie selbst hatte sich noch nie wirklich darauf eingelassen. Wahrscheinlich weil sie sich ihrer Unzulänglichkeiten und ihrer Verantwortung immer viel zu bewusst gewesen war. Außerdem hatte sie noch nie jemanden getroffen, mit dem sie hätte flirten wollen.

Und jetzt? Jetzt machte sie sich anstößige Gedanken über einen Mann in samtenen Kniebundhosen, die sich so provozierend über seinen muskulösen Schenkeln spannten, dass sie immer wieder hinsehen musste.

„Sollten wir uns nicht … ähm … vorstellen? Ich bin Grace“, fügte sie hinzu und unterdrückte den Drang, ihm die Hand entgegenzustrecken.

„Odysseus“, gab er sanft zurück.

Natürlich. Sie hatte schon überlegt, woher dieser köstliche Akzent kam, der wie eine Mischung aus Kies und Honig klang. „Das ist griechisch.“

„Richtig.“ Plötzlich wurde sein Blick scharf und durchdringend. „Und?“

Mist! Was sind die Regeln beim Flirten? fragte sie sich mit der Verzweiflung einer Anfängerin. Sollte sie ihn jetzt nicht mit ihrer Schlagfertigkeit blenden? „Heißt es nicht, dass man sich vor den Griechen hüten soll?“

„Nur wenn sie Geschenke bringen, aber ich habe nichts zu verschenken, und wenn Sie darauf spekulieren, muss ich Sie enttäuschen. Und jetzt hören Sie schon auf, ständig rot zu werden“, befahl er mild. „Tanzen Sie lieber mit mir.“

Grace war sich der Blicke bewusst, die ihnen folgten, als er sie die Treppe hinunter auf die Tanzfläche führte. Oder besser, die ihm folgten … Aller Augen waren auf seine große, starke Gestalt gerichtet. In diesem Teil des Ballsaals war noch relativ wenig los, und das Streichquartett spielte eine italienische Melodie, die sie gut kannte, trotzdem schien es ihr, als hörte sie sie zum ersten Mal.

Sie bewegte sich in seinen Armen und war sofort abgelenkt. Nein. Es war mehr als das. Sie war elektrisiert. Diesmal fühlten sich seine Berührungen schockierend intim an. Es war fast so, als würde er ihr sein Brandzeichen aufdrücken. Unter den schweren Bahnen aus Seidensatin spürte sie ihre Haut heiß werden, während sie sich im Takt der Musik wiegten. Und es fühlte sich erstaunlicherweise federleicht an.

Als sie den Blick hob, sah sie, dass er sie amüsiert betrachtete. „Warum eigentlich die ganze Aufregung?“

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was er meinte. „Ich sollte meine Eintrittskarte vorzeigen.“

„Die Sie nicht haben?“

„Genau“, bestätigte sie. „Ich fürchte, ich bin ein ungebetener Gast.“

„Und offenbar kein besonders gerissener“, überlegte er laut.

„Sie sind nicht schockiert?“

Er lachte ein wenig seltsam. „Warum sollte ich? Wir haben uns im Leben doch alle schon mal irgendwo durchgemogelt.“

„Sie auch?“

„Ja, sogar ich“, stimmte er mit einer plötzlichen Spur Bitterkeit in der Stimme zu. „Deshalb erlauben Sie mir, Ihnen fürs nächste Mal einen Tipp zu geben, poulaki mou. Beim Betreten des Saals hätten Sie genauso gut ein Plakat mit der Aufschrift: ‚Achtung, ich habe keine Einladung‘ hochhalten können. Ihnen stand das schlechte Gewissen förmlich ins Gesicht geschrieben.“

„Dabei habe ich versucht, möglichst selbstbewusst zu wirken“, gestand sie. „Aber das ist hier ja auch eine ziemlich einschüchternde Veranstaltung und am Anfang war ich … wahnsinnig nervös.“

„Aber jetzt nicht mehr?“

„Komischerweise nicht, nein. Jetzt … macht es mir richtig Spaß.“

„Mir auch.“ Odysseus zog sie enger an sich. Sein Herz unter dem lächerlichen Rüschenhemd raste. Ihre schüchterne, offene Art war ebenso bezaubernd wie ihr zierlicher Körper, obwohl er sonst eher große und sportliche Frauen bevorzugte. Sie faszinierte ihn, weil er nur erfolgsverwöhnte Frauen kannte, die lieber gestorben wären, als zuzugeben, dass sie sich irgendetwas nicht leisten konnten.

Sein Mund wurde ganz trocken, als sie sich ihm noch näher entgegendrängte. Er spürte die leichte Wölbung ihrer Hüften und unbändige Lust erfasste ihn. Wann hatte er zuletzt mit einer Frau getanzt? Er konnte sich nicht erinnern. Und auf diese Art überhaupt noch nie. Lag es daran, dass sie durch so viele Stoffschichten getrennt waren, was die Intimität des Augenblicks noch steigerte? An diesen einschnürenden Bahnen aus Satin und Spitze, die seine wachsende Frustration noch verstärkten?

Er wollte ihr diesen Federhut vom Kopf ziehen. Ihr das scharlachrote Kleid vom Körper reißen und sich am Anblick der zarten Haut darunter weiden.

Der Tanz war zu Ende, doch keiner von ihnen bewegte sich. Odysseus hätte nicht sagen können, wie lange sie schon so dastanden, aber er wusste, dass er, wenn dieser Zustand noch länger anhielte, Gefahr liefe, wegen sittenwidrigen Verhaltens in der Öffentlichkeit belangt zu werden. Dann beende es! befahl er sich schließlich. Sie stellt eine Ablenkung dar, die du nicht brauchst, vor allem nicht heute. Verabschiede dich, und geh in deine Suite, um dich auf das deprimierende Treffen morgen vorzubereiten.

„Werden sich Ihre Freundinnen nicht wundern, wo Sie abgeblieben sind?“, fragte er schließlich.

Sie schrak zurück, errötete. „Bestimmt. Ich muss sie gleich suchen gehen. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht aufhalten. Es war wirklich sehr freundlich von Ihnen, mir zu helfen.“

Er fragte sich, warum sie plötzlich so unterwürfig war. „Sie halten mich nicht auf“, erklärte er fast unwirsch. „Ich wollte Ihnen nur einen Vorwand liefern, um wegzukommen, das ist alles.“

Grace blinzelte verwirrt, unsicher, was sie jetzt tun sollte. Gut möglich, dass er das aus reiner Höflichkeit sagte, andererseits wirkte er auf sie nicht wie jemand, der sich bei seinen Mitmenschen beliebt machen wollte. Sollte sie auf Nummer sicher gehen und sich freundlich verabschieden? Nein. „Und was ist, wenn ich keinen Vorwand brauche?“, fragte sie.

Er schwieg einen Moment, bevor er ihr Kinn mit seiner warmen Hand umschloss und sanft anhob, sodass sich ihre Blicke trafen. „Sind Sie wirklich so naiv, Grace?“, fragte er sanft.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

Zu ihrer Enttäuschung ließ er die Hand sinken. „Ich meine, dass Sie sich im Klaren darüber sein müssen, was passieren wird, wenn Sie bleiben, weil ich nicht möchte, dass es zu Missverständnissen kommt. Wir können uns ein Glas Prosecco und etwas zu essen holen oder noch tanzen, aber letzten Endes …“ Er wog seine Worte sorgfältig ab. „Letzten Endes will ich etwas anderes.“

„Reden Sie weiter“, ermunterte sie ihn unsicher.

„Ich möchte Sie mit in meine Suite nehmen, Ihnen dieses elegante, aber sehr beengende Kleid ausziehen und mit Ihnen schlafen. Die ganze Nacht.“ Er klang ernst. „Sie wirken schockiert, Grace, und das ist gut so. Vielleicht bin ich für Ihren Geschmack ja ein wenig zu direkt. Warum also nutzen Sie jetzt nicht die Gelegenheit, um sich zu verabschieden, poulaki mou? Suchen Sie sich einen netten Mann, der besser zu Ihnen passt. Der sich dreimal mit Ihnen verabredet, bevor er Sie höflich bittet, Ihre Hand halten zu dürfen. Deshalb schlage ich vor, Sie gehen jetzt, bevor ich den ernsthaften Versuch unternehme, Sie umzustimmen.“

Grace öffnete den Mund, weil sie in der Tat schockiert war, allerdings weniger von seinen Worten als davon, dass jemand wie sie einen Mann wie ihn zu solch einer leidenschaftlichen Erklärung veranlassen konnte. Beinah hätte sie ihn gefragt, ob er sich sicher war, dass er sie nicht verwechselte, bis ihr Kirstys Worte wieder in den Sinn kamen.

„Und was, wenn ich nicht gehen will?“, sagte sie langsam.

„Ah. Das wäre natürlich etwas ganz anderes.“ Das, was da seine Lippen umspielte, hätte ein Lächeln sein können, doch als er weitersprach, schwang definitiv ein warnender Unterton in seiner Stimme mit. „Allerdings muss Ihnen klar sein, dass ich schon morgen abreise und nicht vorhabe, jemals wiederzukommen.“

„Irgendwann kommt jeder nach Venedig zurück“, bemerkte sie.

„Ich nicht“, widersprach er sanft. „Sie haben die Wahl, Grace. Mein Angebot liegt auf dem Tisch. Sie entscheiden, ob Sie es annehmen oder nicht.“

Das war die denkbar unromantischste Einladung, aber immerhin konnte niemand behaupten, dass er ihr falsche Hoffnungen gemacht hätte. Verunsichert atmete Grace tief durch, unfähig, das heftige Pochen zu ignorieren, das sie in ihrem Unterleib spürte. Sie wusste, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließe.

„Ich nehme es an“, sagte sie kühn.

3. KAPITEL

Odysseus hob den voluminösen Rock ihres Ballkleids hoch, und Grace keuchte, als er die Finger sacht über ihr Knie gleiten ließ.

„Oh, bitte“, stöhnte sie hilflos und spürte sein raues Kinn an ihrem Hals. „Odysseus. Bitte mach weiter.“

„Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, poulaki mou.“ In jedem seiner Worte schwang Provokation mit, während er sie gegen die Wand drängte.

Grace hielt den Atem an, als seine Hand an ihrem Oberschenkel angelangt war und er ungeduldig Seide und Spitze beiseiteschob, wobei er die zarte Haut darunter in Brand setzte.

„Oh!“, keuchte sie und noch einmal, als er den feuchten Stoff ihres Slips fand und mit einem Finger darüberstrich, bevor er sich etwas zurückzog. „Nicht aufhören! Bitte!“

„Himmel, bist du heiß!“, flüsterte er mit kaum verhohlener Bewunderung, während er den Stoff beiseiteschob, um sie weiter zu liebkosen.

Überschwemmt von süßen Empfindungen, bekam sie kein Wort heraus. Instinktiv öffnete sie die Beine, was ihm ein leises Stöhnen entlockte. Er erregte sie weiter, bis sie stammelnd um Erlösung bettelte. Ja, wirklich, sie bettelte. Obwohl sie sich nie und nimmer hätte vorstellen können, einen Mann jemals anzubetteln.

Sein harter Kuss ließ sie verstummen, während seine Finger weiterhin Wunder vollbrachten, bis sie sich heftig zuckend unter seiner Hand aufbäumte. Immer noch mit dem Rücken zur Wand, hörte sie ihn leise auflachen, und wenn er sie nicht gehalten hätte, wäre sie wahrscheinlich einfach in sich zusammengesackt.

Als sie die Augen öffnete, begegnete sie seinem Blick. Erst da dämmerte es ihr, wie bizarr die Szene auf einen Unbeteiligten wirken musste, weil sie beide noch immer ihre Masken trugen. Er hatte sie ungeduldig durch den überfüllten Ballsaal gelotst, vorbei an demselben Saalordner, der sie grimmig beäugt hatte, und an Frauen, die ihr missgünstige Blicke zugeworfen hatten. Nach einigen atemlosen Minuten waren sie in seiner Suite angelangt. Das Schlafzimmer war nur von den glitzernden Lichtern am Kanal und schimmerndem Mondlicht erhellt, das über eine Fülle von vergoldeten Gegenständen und ein riesiges Himmelbett fiel.

Aber bis zum Bett hatten sie es nicht geschafft.

Als Odysseus sie ungestüm in die Arme gezogen hatte, war ihm sein Dreispitz vom Kopf geflogen, und bevor er angefangen hatte sie zu küssen, hatte er wieder leise aufgelacht. Grace hatte seine Küsse feurig erwidert. Plötzlich waren seine Hände überall auf ihrem Körper gewesen, um die vielen Stofflagen beiseitezuschieben, bis er endlich sein Ziel gefunden hatte – die Stelle, an der sie am empfänglichsten war. Befriedigt stöhnend hatte er mit dem Finger ihre geschwollene Knospe verwöhnt. Der kurz darauf folgende Orgasmus war so atemberaubend gewesen, dass Grace sich gefragt hatte, ob sie sich je wieder normal fühlen würde.

Während sich ihr Herzschlag langsam beruhigte, streckte er den Arm aus, um das Licht anzumachen, aber Grace schüttelte den Kopf.

„Nicht“, flüsterte sie. „So ist es …“

„Ist es was?“

Sie hätte fast „romantischer“ gesagt, aber eine leise Stimme in ihrem Kopf hatte sie gewarnt. Weil er von Anfang an mehr als deutlich gemacht hatte, dass Romantik nicht seine Sache war. Und barg eine zusätzliche Lichtquelle nicht die Gefahr, dass herauskam, wie hoffnungslos unerfahren sie war? „Stimmungsvoller“, ergänzte sie eilig.

„Und noch stimmungsvoller wird es, wenn wir endlich diese verdammten Kleider loswerden“, brummelte er. „Und die Dinger hier auch, meinst du nicht?“ Dabei nahm er auch schon seine Maske ab und warf sie beiseite.

Als Grace sein Gesicht sah, stockte ihr der Atem. Umwerfend hatte sie ihn von Anfang an gefunden, aber jetzt war sie schier geblendet. Er sieht aus wie ein griechischer Gott, dachte sie bezaubert. Seine hohen, wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen standen in scharfem Kontrast zu den vollen, sinnlichen Lippen und der ungebändigten tiefschwarzen Mähne, die schimmerte wie polierter Stahl. Das Auffallendste jedoch waren seine Augen, die vor Verlangen loderten und sogar im Mondlicht strahlend blau waren.

„Jetzt du“, befahl er rau.

Unsicher nahm Grace erst den mit Federn besetzten Hut, dann die scharlachrot-goldene Maske ab. Beides legte sie auf eine Kommode in der Nähe, sehr behutsam, weil sie die Sachen morgen in tadellosem Zustand zurückgeben musste. Bang fragte sie sich, ob Odysseus von ihrem Allerweltsgesicht enttäuscht sein würde, aber er konzentrierte sich allein auf ihr eng geschnürtes Mieder mit den unzähligen Haken. Sie zu öffnen schien eine Ewigkeit zu dauern. Erregt, weil seine Fingerspitzen immer wieder über ihre heiße Haut strichen, hielt sie den Atem an. Sobald er die Hände wegnahm, atmete sie frustriert aus. Sie schloss die Augen und ließ beinah beschwörend die Hüften kreisen.

„Heißt das, ich soll mich beeilen?“, fragte er amüsiert.

„Na ja … ja.“ Sie schluckte, war Geisel dieses unerhörten Verlangens, das da in ihrem Innern brodelte und jeden anderen Gedanken, jedes andere Gefühl auslöschte. „Wenn du kannst.“

„Du bist ganz schön gierig, Grace. Eigentlich sollte ich dich noch ein bisschen zappeln lassen.“

„Bitte nicht“, flüsterte sie heiser.

Noch immer war er damit beschäftigt, sie von dem schweren Kleid zu befreien, inzwischen jedoch konnte sie seine Ungeduld ebenfalls spüren.

„Was für ein Aufwand“, sagte er. „Diese Aristokraten aus dem sechzehnten Jahrhundert müssen für ihre Geduld reich belohnt worden sein.“ Und nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: „Aber du bist an diese mühselige Prozedur ja vielleicht gewöhnt.“

„Du meinst …“ Sie sog zischend die Luft ein, als er mit den Fingerspitzen über ihre Haut strich. „… dass ich ständig scharlachrote Ballkleider trage?“

„Na, wenn du einkaufen gehst, vermutlich nicht“, murmelte er, um gleich darauf mitten in der Bewegung innezuhalten. Als er fortfuhr, schwang in seiner Stimme ein stählerner Unterton mit: „Ich frage mich nur, ob das für dich ein jährlich wiederkehrendes Ereignis ist.“

Meinte er den Ball? Oder dass sie sich jedes Jahr einen neuen Mann angelte, um … das hier zu tun? Sie wollte gerade protestieren, da hob er sie auch schon aus dem Stoffwust, der sich um ihre Füße bauschte. Gleich würde sie nackt vor ihm stehen, und er würde erkennen, dass ihr kurvenreicher Körper nur eine Täuschung gewesen war … oder genauer ein Korsage-Wunder. Würde er sich betrogen fühlen?

Um sich abzulenken, zog sie ihm den Umhang von den Schultern und begann, sein feines Seidenhemd aufzuknöpfen. Bewundernd ließ sie die Handflächen über seinen nackten, muskulösen Oberkörper gleiten. Dabei überlegte sie, ob sie es wirklich wagen sollte, die einschüchternde Wölbung unter seiner Samthose zu berühren.

Als ob er ihre plötzliche Schüchternheit gespürt hätte, stieß er dicht an ihrem Ohr hervor: „Meine Geduld ist erschöpft, poulaki mou. Ich gehöre dir. Mach mit mir, was du willst.“

Grace bebte vor Erwartung, als er ihr das Höschen abstreifte. Jetzt war sie nackt. Aber für Verlegenheit blieb keine Zeit, weil sie auch schon zusammen aufs Bett fielen. Glühende Lava durchflutete sie, als er sie eng an seinen harten, muskulösen Körper zog. Mit den Lippen liebkoste er ihre Brüste und saugte an einer Brustwarze, während er den kräftigen Schenkel zwischen ihre Beine schob.

Inzwischen gar nicht mehr gehemmt, vielmehr verloren in einem heißen Schleier der Lust, ließ sie die Hand zu seinem Schritt wandern. Sie hatte noch nie einen Mann intim berührt, doch ihr Instinkt riet ihr, sich behutsam vorzutasten. Und das erwies sich als richtig, weil er hilflos aufstöhnte, als sie mit den Fingerspitzen über seine pralle Härte fuhr.

Er gönnte ihr nicht mehr als ein paar Sekunden, den Beweis seiner Erregung zu erforschen. Scharf einatmend rutschte er von ihr weg und sprang aus dem Bett. Hungrig verfolgte sie ihn mit Blicken. Seine in silbernes Mondlicht getauchte Gestalt lief zum Schreibtisch. Dort bückte er sich und nahm etwas aus seiner Reisetasche. Als sie begriff, dass es sich nur um ein Kondom handeln konnte, lag sie einen Moment lang erstarrt da, weil ihr dämmerte, dass sie keine Sekunde an Verhütung gedacht hatte.

Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er zum Bett zurückkehrte und sich mit einem Blick in ihre Richtung das Kondom überstreifte. „Ich kann mich kaum konzentrieren, wenn du mich so ansiehst“, gestand er heiser.

„Soll ich … soll ich wegschauen?“

„Nein, auf keinen Fall.“

Das war verwirrend. Aber zum Nachdenken blieb keine Zeit, weil er sich bereits wieder zu ihr legte. Sie empfing ihn hungrig, wobei sie die Lippen ebenso öffnete wie ihre Schenkel. In ihr brodelte so viel aufgestautes Verlangen, dass sie gar keine Zeit hatte, nervös zu werden, auch nicht, als sie spürte, wie er mit seiner Härte gegen ihr vor Begierde zuckendes Fleisch stieß.

Am Ende tat es viel weniger weh als erwartet. Sie verspürte nur einen kurzen Moment der Anspannung, bevor er mit viel Gefühl tiefer in sie eindrang. Als er sie endlich vollständig ausfüllte, schrie sie laut auf vor Lust.

„Odysseus“, flüsterte sie ungläubig, dass sich etwas so köstlich anfühlen konnte.

„Gefällt dir das?“, brachte er keuchend hervor, während er anfing, sich rhythmisch in ihr zu bewegen.

„Himmel, ja“, gab sie erstickt zurück. „Du ahnst gar nicht, wie gut.“

„Oh, ich glaube schon.“

Sie kostete jede Sekunde aus, genoss es, solange es dauerte. Sie war völlig überwältigt davon, welch ein erfahrener und zärtlicher Liebhaber er war, wie behutsam er sie behandelte … wie ein kostbares Geschenk. Und in dem Moment, in dem ihr das durch den Sinn ging, kam sie erneut. Genauso überwältigend wie beim ersten Mal.

Nur dass es ganz anders war als beim ersten Mal.

Denn diesmal war er in ihr, praktisch ein Teil von ihr. Wellen der Lust rollten über sie hinweg, schleuderten sie hoch hinaus, bevor sie in träumerischer Zeitlupe wieder hinabsank – an einen Ort, an dem alles in Gold getaucht war und pulsierte. Die Realität verschwamm und wurde wieder scharf, während er das Tempo weiter steigerte. Und als er sich verspannte, wagte Grace einen Blick in sein Gesicht. Hoffte sie auf eine Art Verbindung, auf einen Moment stummer Annäherung zwischen ihnen? Aber er hielt die Augen geschlossen, seine Züge gaben nichts preis, als würde er versuchen, sie auszublenden. Ihm entfuhren ein paar griechische Worte, dann spürte sie, wie er kam.

Sie strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn, während sie wartete, dass sein starker Körper aufhörte zu zittern. Schweigend, um den Zauber nicht zu zerstören. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass es das Beste war, was sie je erlebt hatte? Schließlich wusste sie, dass das genau das war, was eine Frau einem Mann nach dem ersten Mal niemals sagen sollte.

Schließlich stand er wortlos auf, um ins Bad zu gehen. Bei seiner Rückkehr war das Kondom verschwunden und er duftete leicht nach Seife. Wenn Grace nicht so herrlich befriedigt gewesen wäre, hätte sie fast auf die Idee kommen können, dass alles nur Einbildung gewesen war. Weil Odysseus, abgesehen von seiner Nacktheit, völlig unbeteiligt wirkte, als er jetzt zu einem Tablett mit Flaschen hinüberging.

Nein. Nicht unbeteiligt. Unerreichbar.

Grace setzte sich auf und schaute ihm in das ausdruckslose Gesicht.

„Was zu trinken?“, fragte er distanziert. Dabei knipste er eine Lampe an, die den Raum in ein weiches aprikosenfarbenes Licht tauchte.

„Ja, gern.“

Während er mit den Gläsern hantierte, lief sie eilig ins Bad, weil sie sich plötzlich schrecklich entblößt fühlte. Als sie beim Blick in den Spiegel ihre roten Wangen, die leuchtenden Augen und den verschmierten Lippenstift sah, war sie schockiert, weil sie so völlig anders wirkte als sonst.

Weil sie anders war. Weil sie jetzt nicht mehr unberührt, keine Jungfrau mehr war. Sie hatte gerade mit einem wildfremden Mann atemberaubend guten Sex in der Suite eines Luxushotels gehabt. Und das Seltsamste daran war, dass sie sich kein bisschen schuldig fühlte.

Nachdem sie sich etwas frisch gemacht hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Dort lag Odysseus schon wieder zwischen den zerwühlten Laken. Auf den Nachttischen zu beiden Seiten stand jeweils ein Glas Wasser. Also kein Champagner zum Anstoßen, dachte sie mit einem Anflug von Enttäuschung.

Aber er klopfte auf die leere Seite des Betts, und sie ging darauf zu, wobei sie zu vergessen versuchte, dass sie immer noch nackt war. Wachsam beobachtete er, wie sie neben ihm ins Bett kletterte. Sie musste sich zurückhalten, sich nicht sofort die Bettdecke bis zum Kinn hochzuziehen, denn für Scham war es inzwischen wohl etwas zu spät, oder?

„Es hat dir also Spaß gemacht“, stellte er fest.

„Ich …“ Grace ließ sich in die Kissen sinken und wandte sich ihm zu, wobei sie seinen harten, warmen Schenkel an ihrem Bein spürte. „Oh ja … sehr sogar.“

Er lächelte leicht, aber in den Tiefen seiner Augen schimmerte ein kalter Glanz. „Das ist für eine Frau beim ersten Mal keineswegs die Regel.“

Sie zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. „Du … hast es … bemerkt?“

„Sicher.“ In der nachfolgenden Pause fragte sich Grace, ob sie sich die Kälte, die in seiner Stimme mitschwang, nur einbildete. „Was meine Frage von vorhin beantwortet. Es ist offenbar keine sich jährlich wiederholende Prozedur.“

„Offensichtlich“, erwiderte Grace betont beiläufig, obwohl sie seine Reaktion ziemlich … ernüchternd fand. Hatte sie insgeheim gehofft, dass er sich geschmeichelt fühlen würde, weil sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte? Vielleicht ärgerte er sich ja, weil sie ihn nicht vorgewarnt hatte. Hoffentlich nicht.

„Und du?“, fragte sie. „Machst du so was oft?“

„Du meinst, ob ich oft Sex mit fremden Frauen habe?“

Sie zögerte. „So ungefähr.“

Odysseus strich ihr eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. Würde sie schockiert sein, wenn er ihr sagte, dass er seit über einem Jahr keine Frau mehr gehabt hatte? Wahrscheinlich. Aber das behielt er besser für sich, weil die Gefahr bestand, dass sie in diesen Umstand zu viel hineininterpretierte. Besonders da es für sie das erste Mal gewesen war. „Nein, aber ich reise trotzdem morgen Nachmittag ab.“ Er streckte die Hand aus, hob ihr Kinn leicht an und musterte sie. „Was allerdings meine Lust, dich wieder zu küssen, keineswegs mindert.“

Ihre Anspannung wich Erregung. Er sah, wie sich ihr Blick verschleierte.

„Ich hindere dich nicht“, flüsterte sie.

„Nein.“ Spielerisch fuhr er mit den Fingerspitzen über ihren Bauch, und die Laken raschelten leise, als sie ihre Schenkel öffnete. In dem Moment, in dem er ihrer honigsüßen Hitze begegnete, wurde ihm die Kehle eng. „Das tust du nicht.“

Diesmal ließ er sie warten, verteilte Küsse auf ihrem gesamten Körper, ließ die Lippen langsam über jeden Zentimeter ihres bebenden Fleisches wandern, bis sie um Erlösung flehte. Aber er stellte sich taub, wohl wissend, dass jede Verzögerung ihre Lust weiter steigerte, was am Ende auch ihm selbst zugutekommen würde.

Als er nach einem weiteren Kondom griff, zitterten seine Hände so heftig, dass er es kaum schaffte, sich das blöde Ding überzustreifen. Und als er wieder in sie hineinglitt, musste er sich schwer beherrschen, um nicht auf der Stelle zu kommen. Sie fühlte sich anders an als jede Frau vor ihr, allerdings hatte er vorher auch noch nie mit einer Jungfrau geschlafen. Woran lag es, dass er sich so energiegeladen, ja geradezu animalisch fühlte? An ihrer naiven Hingabe? Ihrer Art, begierig an seinen Brustwarzen zu saugen? Wobei ihm sofort einfiel, wo sie ihn sonst noch so verwöhnen könnte. Nächstes Mal, nahm er sich benommen vor, als sie erneut kam und er ihr stöhnend auf den Gipfel folgte. Definitiv beim nächsten Mal.

Er hatte nicht vor, zu schlafen. Eigentlich wollte er die verbleibenden Stunden nutzen, um jeden noch unberührt gebliebenen Zentimeter ihres Körpers zu erforschen, bis seine Lust auf sie endgültig gestillt war. Dennoch ergriff eine seltsame innere Zufriedenheit Besitz von ihm, die sich nicht abschütteln ließ und schließlich dazu führte, dass er einschlief. Erst als er eine Bewegung neben sich spürte, zwang er sich, die Augen zu öffnen, und sah, dass Grace aufgestanden war und sich gerade nach ihren weggeworfenen Dessous bückte.

„Was ist?“, murmelte er, wobei er sich auf den Rücken rollte und prompt wieder eine Erektion bekam.

Sie fuhr zusammen und sah ihn erschrocken an. „Verzeih, ich wollte dich nicht wecken.“

„Hast du aber.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete gähnend, wie sie, jetzt wieder in Höschen und BH, zu dem zerwühlten Haufen scharlachroter Seide ging, der direkt neben seinem Dreispitz auf dem Fußboden lag. „Wo willst du hin?“

„Was glaubst du wohl?“ Sie schlüpfte in das rote Kleid und kämpfte mit den Haken, die er vor Stunden so mühevoll gelöst hatte. „Nach Hause.“

„Jetzt schon?“ Er klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Bleib doch bis morgen früh.“

Grace zögerte beim Anblick seines sexy Lächelns. Nichts hätte sie lieber getan, als sich wieder zu ihm zu legen, aber sie hatte keine Wahl. Beim Blick auf die Uhr vorhin hatte sie erschrocken festgestellt, dass es bereits nach vier Uhr morgens war und sie zurückmusste, bevor man ihr Fehlen entdeckte. Denn wenn sie nicht rechtzeitig da wäre, um Signor Contarini seinen Morgenkaffee zu servieren, würde die Hölle los sein.

„Ich kann nicht“, sagte sie.

Er wirkte überrascht. Was wenig verwunderlich war, weil es bestimmt nicht viele Frauen gab, die ihm unter ähnlichen Umständen einen Korb gegeben hätten. Was sie nur allzu gut nachfühlen konnte. Er hatte ein starkes körperliches Verlangen in ihr geweckt und es dreimal auf atemberaubende Art und Weise gestillt, aber sie wollte immer noch mehr. Grace hätte fast alles dafür gegeben, sich wieder neben ihn legen und die Hand fest um die harte Wölbung schließen zu können, die sich überdeutlich unter dem Laken abzeichnete. Um sich ihm dann ein weiteres Mal hinzugeben.

Aber eben nur fast alles. Sie konnte es nicht riskieren, ihren Job zu verlieren, der ihre Existenzgrundlage war. Schon gar nicht für ein einmaliges Abenteuer, denn mehr würde es niemals sein, wie Odysseus von Anfang an klargestellt hatte.

„Ich verstehe nicht, was das jetzt soll“, sagte er ungehalten. „Aber wenn es unbedingt sein muss, gib mir fünf Minuten, damit ich dich in ein Wassertaxi setzen kann.“

„Nein!“, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt, doch allein bei der Vorstellung, dass er sie begleiten könnte, wurde ihr ganz flau im Magen. „Danke, nein. Ich finde allein raus.“

Unter dem prüfenden Blick dieser leuchtend blauen Augen schloss sie die letzten Haken an ihrem Kleid. Dann bückte sie sich, um in ihre Schnallenschuhe zu schlüpfen, froh, so die Verlegenheitsröte kaschieren zu können, die ihr in die Wangen geschossen war. Reiß dich zusammen! befahl sie sich. Schließlich war sie es gewohnt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren. Und als sie sich aufrichtete, hatte sie sich wieder so weit gefangen, dass ihr ein Lächeln gelang, das hoffentlich genau das richtige Maß an Wertschätzung enthielt, das unter diesen Umständen angemessen war.

„Wie auch immer. Ich muss los“, sagte sie leichthin. „War eine tolle Nacht.“

„Komm her und gib mir noch einen Abschiedskuss.“

Seine sanfte Aufforderung stellte für Grace eine ernsthafte Versuchung dar. Besonders als er sich unter dem dünnen Laken rekelte. Sie räusperte sich. „Lieber nicht.“

„Warum nicht?“ Er grinste. „Hast du Angst, schwach zu werden?“

„Ehrlich gesagt, ja.“ Mit einem bedauernden Lächeln schnappte sie sich ihre Clutch. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie wenige Sekunden nach dem Kuss wieder neben ihm liegen würde, und dafür reichte die Zeit einfach nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie pünktlich zurück sein wollte.

Und nicht zuletzt fürchtete sie sich vor den Gefühlen, die er in ihr weckte, widersprüchliche Gefühle, mit denen sie nicht umgehen konnte. In seinen Armen hatte sie eine ganz neue Seite von sich entdeckt. Mit ihm hatte sie sich gefühlt wie eine emanzipierte Frau und nicht wie eine devote Befehlsempfängerin. Wie ein Mensch, nicht wie eine Maschine. Aber den Luxus solcher Empfindungen konnte sie sich nicht leisten. Deshalb tat sie gut daran, so schnell wie möglich in ihr eintöniges Dasein zurückzukehren.

„Danke für die schöne Erinnerung!“ Sie schnappte sich ihren Federhut und die Maske und warf ihm noch einen Handkuss zu. Dabei fragte sie sich, ob das, was da ganz kurz in seinen zusammengekniffenen Augen aufblitzte, Bewunderung oder Verärgerung war.

Das ist alles nur zu meinem eigenen Besten, rief sie sich entschieden zur Ordnung.

Gleichwohl hämmerte ihr Herz vor Bedauern, als sie sich abwandte und zur Tür ging.

4. KAPITEL

Der alte Mann, der am Fenster lehnte und auf das sonnenüberflutete Wasser des Kanals hinausschaute, musste gehört haben, wie sich die schwere Tür geöffnet hatte. Aber er machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen, als Odysseus den Empfangssalon betrat.

„Signor Diamides“, verkündete das erschrocken wirkende Dienstmädchen, das Odysseus in Empfang genommen hatte. Das düstere Vorzimmer, in dem man ihn gebeten hatte zu warten, hatte ihn an eine mittelalterliche Folterkammer erinnert … vermutlich ein erbärmlicher Einschüchterungsversuch, der allerdings kläglich gescheitert war. Verächtlich den Mund verziehend, musterte Odysseus den alten Mann, der, umgeben von bunten Glasornamenten, die smaragd-, rubin- und goldfarben in der Sonne leuchteten, am anderen Ende des Raums stand.

„Lassen Sie uns allein!“, bellte Vincenzo Contarini. Doch auch nachdem das Dienstmädchen die Tür hinter sich geschlossen hatte, geruhte er immer noch nicht, sich umzudrehen. Armselige Machtspielchen, dachte Odysseus verächtlich. Seine Gereiztheit schlug immer mehr in Wut um, während er sich wieder einmal fragte, was er sich eigentlich von dieser Begegnung erhoffte. Eine katzbuckelnde Entschuldigung? Reue vonseiten des alten Tyrannen?

Falls ja, würde er vermutlich entt...

Autor