Manche mögen's Kowalski

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Ladys, aufgepasst: Mitch Kowalski ist zurück! Ihr wisst ja: Spaß - immer! Verpflichtung - niemals …

"Geschlossen." Das Schild, das Paige Sullivan an die Eingangstür ihres Diners hängt, könnte sie seit zwei Jahren auch gut um ihr Herz tragen. Komisch nur, dass Mitch Kowalski das komplett ignoriert: Der notorische Bad Boy, soeben auf seinem Motorrad nach Whitford zurückgekehrt, sieht sie an, als wäre sie ein besonders köstlich aussehendes Erdbeer-Dessert. Allerdings: Sein Lächeln geht Paige unter die Haut … Sollte sie vielleicht eine Ausnahme machen und Kowalski auf seine legendären Fähigkeiten als Mann testen? Paige wäre eher an etwas Solidem, etwas Ernstem interessiert und ist alles andere als der Typ für eine heiße Affäre. Andererseits bleibt Mitch ja nur für sechs Wochen. Kann man in der kurzen Zeit ernsthaft sein Herz verlieren?


  • Erscheinungstag 10.03.2014
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493089
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Shannon Stacey

Manche mögen’s Kowalski

Aus dem Amerikanischen von Thomas Hase

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

All He Ever Needed

Copyright © 2012 by Shannon Stacey

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-308-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Mitch Kowalski hatte sechzig Meilen pro Stunde auf dem Tacho, als er das große Ortsschild passierte, das die Besucher von Whitford willkommen hieß. Mitch wagte es nicht, die freundliche Begrüßung mit einem ebenso freundlichen Lächeln zu erwidern. In den Abendstunden auf einer Harley Davidson sitzend den Mund zu öffnen, brachte die Gefahr mit sich, eine Ladung Fliegen zu verschlucken.

Er war wieder zu Hause. Na ja, noch nicht ganz. Angekommen war er erst, wenn er die Maschine am Ende der langen Auffahrt von der Ferienpension abgestellt hatte, die sich Northern Star Lodge nannte. So ungeduldig er diese Ankunft auch erwartete, drosselte er doch das Tempo, sobald er die erste Ampel auf der Main Street erblickte.

Drei Jahre war es her, seit er seine Heimatstadt in Maine das letzte Mal besucht hatte. Trotzdem hätte er die Strecke durch die Stadt immer noch mit geschlossenen Augen fahren können. Es ging an der Post vorbei, wo er seinen ersten bezahlten Job gehabt hatte, den er auch bald darauf wieder los gewesen war, weil er die Playboyhefte vom alten Farr erheblich fesselnder fand, als Stromrechnungen in die Fächer zu sortieren. Dann kam der Whitford Supermarkt mit der Tankstelle davor, der Fran und Butch Benoit gehörte. Mit deren Tochter war er auf den Abschlussball vom Junior Year gegangen. Der Abend endete damit, dass sie es im Stehen an der Tafel in einem leeren Klassenzimmer gemacht hatten.

Mitch nahm den Gang heraus und ließ die Maschine vor der Kreuzung der beiden Hauptstraßen langsam ausrollen. Zur Linken befanden sich zwei Reihen alte Backsteinhäuser, in denen die Stadtverwaltung, die Bank und eine Anzahl kleinerer Firmen residierten. Auf der rechten Seite lag die Polizeistation, die die Kowalski-Brüder als Jugendliche mehr als einmal von innen gesehen hatten, und die Bücherei, ein ergiebiger Jagdgrund für die Burschen von Whitford auf der Pirsch nach hübschen Mädchen, um diese von ihren Algebrahausaufgaben wegzulocken.

Ja, es war gut, wieder daheim zu sein, auch wenn bereits alles geschlossen hatte. Wer etwas in der Stadt zu besorgen hatte – das wussten alle hier –, sollte es besser noch vor den Abendnachrichten erledigen.

Mitch überquerte gerade die Kreuzung, da fiel ihm nur ein kurzes Stück weiter der alte Diner ins Auge. Genauer gesagt war es das hell erleuchtete Reklameschild vor dem ehemaligen Burgerrestaurant. Das letzte Mal, als er hier vorbeigekommen war, war der Laden noch zu gewesen. Der damalige Besitzer hatte das Geschäft aufgegeben, was nicht nur an der allgemeinen wirtschaftlichen Flaute gelegen hatte, sondern auch daran, dass er sich nicht besonders engagiert um sein Unternehmen gekümmert hatte. Jetzt prangte ein neuer Name auf dem Schild. Auf dem Parkplatz standen ein paar Wagen, und ein roter Neonschriftzug im Fenster verkündete, das geöffnet war.

Mitch merkte, dass ihm der Magen knurrte, und lenkte seine Harley auf den Parkplatz. Josh, sein jüngster Bruder, erwartete ihn nicht – es sei denn, die Pakete mit der Kleidung und ein paar anderen Sachen, die Mitch vorausgeschickt hatte, waren schon angekommen – und hatte wahrscheinlich längst zu Abend gegessen. Da Mitch keine große Lust hatte, sich irgendwelche Reste zusammensuchen zu müssen, entschloss er sich, einen Happen im Diner zu sich zu nehmen, bevor er weiter zur Lodge fuhr.

Was ihm als Erstes auffiel, als er den Laden betrat, war der Fünfzigerjahrestil, in dem der Diner eingerichtet worden war: viel rotes Vinyl und Marmorfliesen in Schwarz-Weiß. Das Zweite, das ihm sofort ins Auge stach, war die Frau hinter dem Tresen – eine Frau, die er noch nie in Whitford gesehen hatte, was sehr ungewöhnlich war.

Mitch schätzte sie auf ungefähr dreißig, also etwa sieben Jahre jünger als er. Sie hatte ihre braunen Haare zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt, so als warte sie nur darauf, dass ihr jemand die Haarnadeln herauszog, um ihn zu lösen. Ihre ansehnlichen Kurven wurden von einer Jeans und einem T-Shirt mit der Aufschrift Trailside Diner verhüllt. Und zu guter Letzt registrierte Mitch, dass er weder einen Ehering noch einen verräterischen hellen Streifen auf der sonnengebräunten Haut ihres Ringfingers entdecken konnte.

Dafür erblickte er ein Plastikschild auf ihrer äußerst ansehnlichen linken Brustseite. Namensschilder waren in einer Stadt, in der die ersten Beziehungen im Laufgitter geknüpft und im Kindergarten vertieft wurden, ebenfalls eine Rarität. Während er auf einen der roten gepolsterten Hocker Platz nahm, konnte er den Namen darauf lesen. Paige.

Er hatte sich absichtlich mit dem Rücken zu den Tischen mit den anderen Gästen gesetzt, in der Hoffnung, nicht gleich erkannt zu werden. Zum einen, weil er nicht wollte, dass Josh von dritter Seite erfuhr, dass er wieder in der Stadt war, bevor er bei ihm auftauchte. Zum anderen war er momentan weit mehr daran interessiert, Paiges Bekanntschaft zu machen, als alte Bekannte wiederzutreffen.

„Kaffee, Sir?“

„Ja, bitte.“ Sie hatte braune Augen, die noch dunkler waren als der Kaffee, den sie in den großen Becher vor ihm goss.

„Sind Sie neu in der Stadt?“ Über die Schulter hinweg schaute sie ihn an, während sie die Kanne zurück auf die Wärmeplatte stellte. „Ich bin seit fast zwei Jahren jeden Tag hier, aber ich habe Sie noch nie gesehen. Na ja, vielleicht ist neu ja auch relativ.“

Mitch griff sich eine Karte, die zwischen dem Gewürzständer und dem Serviettenhalter steckte. Er war neugierig, ob das Angebot in der Zwischenzeit und mit dem neuen Besitzer auch gewechselt hatte. „Das erste Eis in meinem Leben habe ich dort hinten gegessen.“

Sie lehnte mit der Hüfte am Abstelltisch aus Edelstahl, auf dem die Kaffeemaschine stand, und musterte ihn. „Groß gewachsen, dunkel, gut aussehend, hübsche blaue Augen. Sie müssen einer von Joshs Brüdern sein.“

Normalerweise kam es bei einem Mann nicht sonderlich gut an, wenn man ihn als hübsch bezeichnete. Doch Mitch sah das positiv. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass hübsche Augen ihm den Weg zu attraktiven Frauen ebneten. „Ich bin der Älteste. Mitch.“

Das Lächeln, das ihre Züge erstrahlen ließ, machte sie noch interessanter. „Oh, ich habe schon einiges von Ihnen gehört.“

Das konnte er sich gut vorstellen. An Geschichten, die über ihn und seine Brüder in der Stadt kursierten, gab es keinen Mangel. Wenn einige von ihnen im Laufe der Zeit auch legendäre Züge angenommen hatten, musste er zugeben, dass die meisten im Großen und Ganzen wahr waren. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie auch die Geschichte über den Rücksitz des Cadillacs von Hailey Genests Vater kannte. Es war eine der Lieblingsstorys der Whitforder Klatschmäuler. Als der alte Genest seinen Cadillac verkaufen wollte, um sich ein neueres Modell zuzulegen, waren auf dem Boden angeblich noch immer die Weinflecken und die Kratzer im Lederpolster der Rückbank zu sehen gewesen, die Haileys Fingernägel dort hinterlassen hatten.

Auch wenn er damals erst siebzehn gewesen war – Hailey war zu dieser Zeit neunzehn –, hatte sich Mr Genest noch lange lautstark über die Kratzer beschwert, wenn er Mitch in Hörweite wusste. Sobald die Blicke, die Mrs Genest ihm zuwarf, allerdings von vorwurfs- zu hoffnungsvoll wechselten, begann Mitch ihr aus dem Wege zu gehen. Das war in einer Kleinstadt wie Whitford zwar nicht einfach, doch er war schnell, wenn es sein musste.

„Dann sind Sie also der, der ganze Häuserblocks in die Luft jagt?“, fragte sie, mehr um irgendetwas zu sagen, als er auf ihre letzte Andeutung nicht reagierte.

„So könnte man es auch ausdrücken.“ Genauer gesagt war er einer der gefragtesten Sprengmeister des Landes und Chef eines der größten Abbruchunternehmen. Auch wenn die Kunst seines Jobs darin bestand, die Sicherheit einer kontrollierten Sprengung zu gewährleisten, faszinierte die Menschen merkwürdigerweise am meisten, dass er dafür bezahlt wurde, Häuser in die Luft zu jagen. „Gibt es hier eigentlich noch Hackbraten?“

„Das Erste, was die Leute vom Ordnungsamt mir erzählt haben, als ich den Antrag stellte, den Laden zu übernehmen, war, dass ein Diner in New England ohne Hackbraten gar nicht geht.“

„Dann nehme ich den, und ich hätte gern eine Extrascheibe und eine ordentliche Portion Soße. Ich zahl auch dafür.“

„Wie wär’s, wenn die Extras aufs Haus gehen? Gewissermaßen als Willkommensgruß?“

„Das wäre sehr freundlich“, erwiderte er und schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. Es war dieses Lächeln, von dem man ihm gesagt hatte, dass seine Augen dabei auf eine besondere Weise funkelten, und mit dem er bisher immer Erfolg gehabt hatte. Und da das nette Kompliment von Frauen gekommen war, bei denen er landen konnte, schätzte er, dass da etwas dran sein musste.

Die leichte Röte, die ihr vom Ausschnitt ihres T-Shirts ins Gesicht stieg, verriet ihm, dass es auch dieses Mal nicht ohne Wirkung geblieben war. Umgekehrt ließ ihn allerdings auch der Hüftschwung nicht kalt, mit dem sie sich umwandte, um seine Bestellung an der Durchreiche zur Küche weiterzugeben. Mitch war sich ziemlich sicher, dass der junge Mann, der die Order dort entgegennahm, kein anderer war als der älteste Sohn von Mike Crenshaw. Gavin hieß er, wenn Mitch sich recht erinnerte.

Der Abriss eines alten Casinos mitten im belebten Las Vegas, damit Platz für ein neues und größeres geschaffen wurde, war ein anstrengender Job gewesen, der Mitch in den letzten beiden Monaten keine Zeit für sexuelle Aktivitäten gelassen hatte. Da käme ihm eine kurze Affäre äußerst gelegen. Er könnte den Nett-dich-kennenzulernen-Sex und dann den Ich-weiß-genau-was-du-brauchst-Sex genießen und wäre wieder weg, noch bevor es zum Oh-Mitch-ich-kann-ohne-dich-nicht-leben-Sex kommen konnte.

Mitch bewunderte Paiges perfekte Rundungen, während sie sich bückte, um eine Handvoll Zuckertüten hervorzuholen, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war doch verdammt gut, wieder daheim zu sein.

Paige Sullivan hatte schon einige Geschichten über Mitch Kowalski gehört, und es waren weiß Gott ein paar pikante Anekdoten darunter. Dennoch war sie nicht darauf gefasst, dass dieser Mann jetzt vor ihr auf einem der Hocker an ihrem Tresen saß. Sein dichtes dunkles Haar war gerade lang genug, dass man es ein wenig zerzausen konnte. Mit seinen blauen Augen und diesem ungezwungenen Lächeln hätte er irgendein Filmstar sein können und nicht ein Typ, der hier hereinschneite, weil er Appetit auf eine Portion Hackbraten hatte, sondern vielleicht eher – nach allem, was ihr über ihn zu Ohren gekommen war, war er stets daraus aus – auch auf ein wenig Zuwendung. Zu dumm, dass es für ihn hier nichts zu holen gab außer dem günstigen Mittagsangebot. Schade für ihn. Und möglicherweise auch ein bisschen für sie selbst.

„Wo kommen Sie her?“

Paige zuckte die Achseln, ohne den Kopf zu heben, während sie weiter die Zuckertüten auf die Schälchen verteilte, die auf den Tischen bereitgestellt wurden. „Daher und dorther. Da gab es eine Menge Stationen. Jedenfalls bin ich nicht von hier.“

„Ein Kind der Army?“

„Nein. Kind einer Mutter, die – was soll ich sagen? – nicht sehr ortsgebunden ist.“ Eine Mutter, die, um es anders auszudrücken, ein paar Schrauben locker hatte. Doch das verschwieg Paige. Sie hatte nicht vor, ihre Lebensgeschichte vor ihren Gästen auszubreiten.

„Und wie hat es Sie dann hierher verschlagen?“

„Die alte Geschichte. Mein Auto ging kaputt, und ich bin hier hängen geblieben.“ Sie schenkte ihm Kaffee nach und wandte sich ab. Länger konnte sie nicht herumstehen und schwatzen, denn sie musste sich um den Nachtisch für Tisch sechs kümmern.

Während sie die Erdbeertörtchen vorbereitete, drängte sich ihr der Eindruck auf, dass Mitch sie genau beobachtete. Es waren keine Blicke, die sie zufällig streiften, weil sie sich in seinem Gesichtsfeld bewegte. Nein, er fixierte sie ganz ungeniert. Da sie es gar nicht mehr gewohnt war, Gegenstand solchen Interesses zu sein, machte es sie verlegen. Und die Tatsache, dass er der bestaussehende Typ war, der im Trailside Diner aufgekreuzt war, seitdem sie ihn wiedereröffnet hatte, tat ihr Übriges.

Keine Männer, ermahnte sie sich im Stillen. Sie lebte strikt enthaltsam. Abstinent. Oder wie auch immer. Jedenfalls hieß das, dass sie keinerlei stillschweigende Einladungen zu irgendwelchen Intimitäten annahm, ganz gleich, wie gut die betreffenden Männer aussahen. Kurzum: keine Kerle.

Wenige Minuten nachdem sie das Dessert serviert hatte, rief Gavin von der Durchreiche nach ihr. Sie griff nach dem Teller mit dem heißen Hackbraten und stellte ihn vor Mitch, der mit einem Lächeln die Hand nach der Gabel ausstreckte, das mehr ausdrückte als bloß ein höfliches Dankeschön.

Paige ignorierte das leise Kribbeln, das dieses Lächeln in ihr auslöste. Stattdessen drehte sie sich um und setzte noch eine Kanne Kaffee auf. Normalerweise tat sie das so kurz vorm Schließen an einem Wochentag nicht mehr. Aber sie hatte nicht mehr genug zum Nachschenken und konnte auch nicht wissen, ob nicht doch der eine oder andere Gast noch ein Weilchen bleiben wollte und dafür bereit war, auf etwas Schlaf nach der soundsovielten Tasse Kaffee zu verzichten.

Während die Maschine lief, zog Paige eine der viereckigen Plastikboxen unter dem Tresen hervor, in denen das Geschirr eingesammelt wurde, und begann, die Ketchupflaschen von den Tischen zu räumen, wobei sie versuchte, nicht an den Mann zu denken, der am Tresen seinen Hackbraten aß. Ihr war bekannt, dass Mitch Kowalski einen gefährlichen Job ausübte. In seinen ausgewaschenen Jeans und dem schwarzen T-Shirt, das seinen kräftigen Oberkörper, der von harter Arbeit durchtrainiert war, umschmiegte, sah er tatsächlich ein Stück weit nach dem Bad Boy aus, für den er allgemein gehalten wurde.

Wenn sie es recht bedachte, wusste sie eine ganze Menge über den Ältesten der Kowalski-Sprösslinge. Während seine Brüder in der ganzen Stadt als wahre Goldjungen gepriesen wurden, bekam der weibliche Teil der Bevölkerung ein gewisses Glitzern in den Augen, sobald Mitchs Name fiel. Und diesem Glitzern folgten oft genug ein paar pikante Details aus seinem Vorleben, die alle auf eins hinausliefen: dass eine Frau mit diesem Mann keine Enttäuschungen erlebte.

Paige stieß mit dem Hinterteil die Pendeltür zur Küche auf und brachte die Ketchupflaschen in den Kühlraum. Sie brauchte sie erst am nächsten Morgen aufzufüllen. Trotzdem verweilte Paige einen Moment lang dort, um sich das erhitzte Gesicht abzukühlen. Okay – vielleicht nicht nur das Gesicht. Wenn sie sich vorstellte, dass Mitch mit siebzehn Jahren ein Mädchen so weit gebracht hatte, dass es mit den Fingernägeln die Lederpolster im Auto des Vaters ruinierte, was war dann erst von ihm als erfahrener Mann zu erwarten? Nicht, dass sie etwas von ihm erwartete, nachdem sie sich zu Enthaltsamkeit entschlossen hatte. Aber man durfte ja wohl noch über eine theoretische Frage nachdenken.

Das Seltsamste an den Geschichten über Mitch Kowalski war das Fehlen jeglicher Bitterkeit oder Feindseligkeit. Dass ein Mann einen nicht unbeträchtlichen Teil der Frauen einer Kleinstadt beglückt hatte, ohne eine breite Spur von gebrochenen Herzen und Eifersüchteleien hinterlassen zu haben, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Und doch hatte er dieses Kunststück offenbar vollbracht. Stattdessen begleiteten schwärmerisch verklärte Blicke die Erinnerungen an ihn.

Fünf Minuten vor Feierabend war der Diner fast leer, abgesehen von Mitch am Tresen und einem älteren Paar, das über seinen Bechern mit lauwarmem koffeinfreien Kaffee ausharrte. Kurzerhand ging Paige zur Tür und drehte das „Geöffnet“-Schild herum. Ihre Teilzeitservicekraft Ava, die für gewöhnlich die Spätschicht übernahm, hatte sich krankgemeldet, und so hatte Paige den ganzen Tag gearbeitet – von sechs Uhr in der Früh bis neun Uhr abends. Jetzt war sie reif fürs Bett.

Mit seinem Bon in der Hand trat Mitch zu ihr an die Kasse. „Wann gibt’s Frühstück?“

„Um sechs.“ Paige mochte nicht daran erinnert werden, dass um halb fünf ihr Wecker klingeln würde.

Lachend schüttelte Mitch den Kopf. „Ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Bis wann kriege ich noch Frühstück?“

Dass sie diesem Mann nun häufiger begegnen sollte, war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ihn, die Versuchung in Person, regelmäßig an ihrem Tresen anzutreffen, würde es ihr nicht gerade einfacher machen, der Versuchung zu widerstehen. „Frühstück gibt es den ganzen Tag. Poached Eggs allerdings nur bis elf.“

Er schien etwas sagen zu wollen, aber das Pärchen von Tisch sechs hatte wohl gemerkt, dass geschlossen wurde, und sich erhoben. Die beiden schritten auf die Kasse zu. Mitch beschränkte sich auf ein Lächeln, das bei Paige wieder dieses Kribbeln auslöste, das sie nicht spüren wollte, dann stand auch er auf und verschwand durch die Tür. Paige konzentrierte sich darauf, bei ihren letzten Gästen abzukassieren, bevor sie nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag endlich Feierabend machen konnte.

Als sie hinter ihnen absperrte, sah sie durch die Glastür, wie Mitch an der Ausfahrt des Parkplatzes hielt, ehe er auf die Straße abbog. Das Motorrad, auf dem er saß, ließ sie an ein schwarzes sprungbereites Raubtier denken, das zwischen seinen Beinen vor strotzender Kraft nur so bebte. Da die ledernen Satteltaschen den Rest verdeckten, konnte Paige nur Mitchs breite Schultern in dem engen schwarzen T-Shirt erkennen.

Er ließ die Maschine aufheulen und drehte sich noch einmal zu ihr um, und ihre Blicke trafen sich für eine Sekunde, bevor er Gas gab und im Dunkel der Nacht verschwand.

Keine Männer! Paige schaltete die Außenbeleuchtung aus. Seit nunmehr zwei Jahren hatte es keinen Mann mehr in ihrem Leben gegeben. Sie hatte um alle immer konsequent einen Bogen gemacht. Allerdings war die Versuchung, damit zu brechen, noch nie so groß gewesen wie bei Mitch Kowalski.

Mit verschränkten Armen stand Mitch neben seiner Harley. Die Freude über seine Heimkehr war arg getrübt, als er bemerkte, in welchem Zustand sich die Northern Star Lodge befand. Wie hatte es damit in nur drei Jahren derart bergab gehen können? Die Vorderfront des Hauses sah, soweit man das im Schein der Gartenlaternen erkennen konnte, noch nicht ganz heruntergekommen, aber schon recht schäbig aus. Von der Veranda blätterte die Farbe ab. Um die Hecken herum wucherte das Unkraut. Am Treppengeländer fehlte eine Stange. Mitch wollte sich gar nicht ausmalen, welchen Eindruck das Haus im hellen Tageslicht machen würde.

Sein Urgroßvater hatte die Lodge als Landsitz für die Familie bauen lassen, damals schwammen die Kowalskis noch in Geld. In seinen Anfängen war es ein stattliches Haus gewesen, wie es für New England typisch war – mit einer breiten Landhausveranda und dem traditionellen weißen Anstrich. Die ursprünglich schwarzen Fensterläden hatte Mitchs Mutter später dunkelgrün gestrichen, um das recht streng wirkende Äußere des Hauses ein wenig heiterer erscheinen zu lassen. Während Mitch jetzt einen Blick auf die Fensterläden warf, musste er feststellen, dass einer ganz fehlte und etliche schief in den Angeln hingen. Und auch hier war ein frischer Anstrich vonnöten.

Irgendwann hatte sein Urgroßvater nach hinten hin noch einen ähnlich großen Anbau hinzugefügt, sodass das ganze Gebäude eine L-Form bekam. In dem hinteren Trakt befanden sich unten eine große Küche und ein Speisesaal und im Obergeschoss Zimmer für die Dienstboten.

Der Sohn des Erbauers, Grandpa Kowalski, hatte mit wenig Glück an der Börse spekuliert. Er liebte das Risiko, war jedoch alles andere als ein guter Geschäftsmann gewesen. Nachdem das Familienerbe aufgebraucht war und auch die große Villa in der Stadt hatte verkauft werden müssen, verwandelte er den Landsitz der Familie kurzerhand in einen exklusiven Jagdclub. Aus den Dienstbotenunterkünften wurden Gästezimmer, und damit war die Northern Star Lodge geboren. In den folgenden Generationen verlagerte sich das Gastgewerbe dann von den Jagdgesellschaften auf die Wintersportler, und jetzt waren es hauptsächlich Motorschlittenfahrer, die hierherkamen. Josh führte das Haus, das jedoch allen fünf Kindern zu gleichen Teilen gehörte.

Die Bretter knarrten unter Mitchs Schritten, während er die Stufen hinauf zur schweren eichenen Haustür stieg, die leise quietschte. Hier schien tatsächlich alles den Bach hinunterzugehen.

Der große Salon war hell erleuchtet, und dort lümmelte Mitchs jüngster Bruder auf einem der schweren braunen Ledersofas. Das eine Bein steckte vom Knie abwärts in einem soliden schneeweißen Gips. Vor ihm am Sofa lehnte ein Paar Krücken. Josh hielt ein Bier in der Hand. Eine weitere Dose stand ungeöffnet am Ende des Tischs, wo sich Mitchs Lieblingssessel befand.

Mitch ließ sich dort hineinfallen und machte den Verschluss der Bierdose auf. „Woher wusstest du, dass ich dich besuche?“

„Mike Crenshaw hat dich gesehen, wie du in den Diner gegangen bist, als er von seinem Veteranentreffen kam. Der hat es seiner Frau erzählt, die hat Jeanine Sharp angerufen, die hat Rosie beim Bingo antelefoniert, und die hat dann mir Bescheid gesagt.“

Rose Davis war die Haushälterin in der Northern Star Lodge, gleichzeitig aber vor allem Ersatzmutter für die Kinder gewesen und hatte diese Doppelrolle innegehabt, seitdem Sarah Kowalski an einem Aneurysma gestorben war, als Mitch zwölf Jahre alt war.

„Bist du hier, um den Babysitter für mich zu spielen?“

Wenn man Josh, das „Baby“ unter den Brüdern, betrachtete, konnte man den Eindruck gewinnen, dass er ein Kindermädchen gebrauchen könnte. Und eine gründliche Dusche obendrein.

Alle Geschwister hatten das Aussehen im Wesentlichen vom Vater geerbt. Alle waren sie schlank und über einen Meter achtzig groß, selbst Liz. Dennoch gab es Unterschiede in ihrer Erscheinung. Josh hatte die Nase von seiner Mutter, und sein Gesicht hatte eher weichere Züge, während die Gesichter von Ryan und Sean schärfer geschnitten waren. Diese beiden hatten dasselbe Profil wie ihr Großvater. Josh und Mitch hatten dunkles Haar wie der Vater, die anderen kamen in der Haarfarbe mit ihrem Dunkelblond mehr nach der Mutter. Mitch hatte die markantesten Züge und einwandfrei die klassische „Kowalski-Nase“. Allen gemeinsam war das strahlende Blau der Augen ihres Vaters. Diese faszinierenden Augen waren es, die, sofern es sich um die männlichen Kowalskis handelte, besonders die Frauen zweimal hinschauen ließ.

In seinem gegenwärtigen Zustand jedoch wäre Josh wohl kaum eines zweiten Blickes gewürdigt worden, es sei denn, um sich zu vergewissern, dass dieses Gesicht nicht auch auf einem der Steckbriefe prangte, die in der Post hingen. Sein Haar wirkte ungepflegt, und er sah aus, als hätte er sich schon seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert. Er trug eine ausgeleierte Jogginghose, deren eines Bein in Höhe des Knies abgeschnitten war, damit Josh es bequemer über den Gips streifen konnte. Das dezente Muster auf dem T-Shirt entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Spaghettisoße.

„Sehe ich aus wie ein Babysitter?“ Mitch trank einen großen Schluck aus seiner Bierdose und überlegte, wie er sein Erscheinen erklären sollte, ohne seinen Bruder allzu sehr vor den Kopf zu stoßen. „Ich habe läuten gehört, es gibt eine Neue im Diner, von der jeder schwärmt. Die wollte ich mir mal anschauen.“

Josh fiel nicht darauf herein. „Ja, ja, ich weiß. Hat Rosie dich angerufen, dass du kommen sollst?“

„Natürlich. Dein Gips war vermutlich noch nicht trocken, da hat bei mir schon das Telefon geklingelt. Wann warst du zuletzt unter der Dusche?“

Josh winkte ab. „Duschen kann ich vergessen. Ich muss in die Wanne steigen – nach Hausfrauenart“, fügte er in verächtlichem Ton hinzu. „Damit ich dieses Bein raushängen lassen kann.“

„Ist doch schön so ein Schaumbad.“

„Ach, leck mich … Wie lange bleibst du denn dieses Mal? Drei Tage oder eine ganze Woche?“

Müde sah sein kleiner Bruder aus, müde und ausgebrannt. Rundheraus gesagt: richtig fertig. Mitch begann, sich ernsthaft zu sorgen. „Rosie meinte, du wolltest die große Eiche vor dem Haus beschneiden und bist runtergefallen.“

„Nicht ganz. Die Leiter ist weggerutscht.“ Josh zuckte die Achseln und nippte an seinem Bier.

„Lass mich raten. Du hast die Leiter auf deine Werkzeugkiste gestellt, die auf der Ladefläche deines Pick-ups stand.“

„Ja und? Die Leiter war nicht lang genug, und eine andere hatte ich nicht.“

„Und warum hast du nicht eine Firma angerufen, die so etwas macht?“

„Meine Güte, ja, Mr Allwissend mit Baumdoktordiplom. Wie konnte ich nur?“

Mitch dachte nicht daran, sich auf eine Debatte in diesem Ton einzulassen. Er trank von seinem Bier und wartete darauf, dass Josh selbst auffiel, dass er ein Esel war. Schließlich war Mitch es nicht gewesen, der auf die bescheuerte Idee gekommen war, eine Leiter auf eine Ladefläche zu stellen, anstatt sich Hilfe zu holen. Deshalb musste er sich von seinem Bruder auch nicht so einen Mist anhören.

„Na schön, ich hätte diese Baumfritzen anrufen sollen und hab es nicht getan. Und nun ist mein Bein im Arsch. Zufrieden?“

„Führ dich nicht so idiotisch auf.“ Mitch leerte seine Bierdose und warf sie in einen Papierkorb, den jemand – vermutlich Rose – für Joshs Leergutsammlung neben dem Sofa bereitgestellt hatte. „Wie viele von denen hattest du heute schon?“, fragte Mitch, als es im Papierkorb schepperte.

„Nicht genug.“ Auch Josh kippte seinen Rest Bier in sich hinein, bevor er die leere Dose zu den anderen warf.

Mitch war sich nicht sicher, mit welchem Problem Josh sich herumschlug, doch ganz bestimmt war es nicht sein gebrochenes Bein. Jedes Mal, wenn Mitch heimkam, was zugegebenermaßen seltener passierte, als es sollte, war Josh ein Stück weiter heruntergekommen.

„Warum wäschst du dich morgen früh nicht mal, und ich nehme dich zum Frühstück mit in den Diner? Wir könnten da sitzen und die neue Kellnerin betrachten.“

„Paige? Sie ist nicht die Kellnerin. Ihr gehört der Laden jetzt. Und sie ist nicht interessiert.“

„Sie war interessiert.“

„Jeder Mann in Whitford hat es bei ihr probiert, und ich sage dir, sie ist nicht interessiert. Sie ist seit rund zwei Jahren hier und hat in der ganzen Zeit nicht eine einzige Verabredung gehabt, von der jemand wüsste. Und wenn sie eine gehabt hätte, hätte jemand in dieser Stadt davon erfahren.“

Mitch dachte daran, wie sie errötet und beinahe ängstlich seinem Blick ausgewichen war, und zog den Schluss, dass sie wahrscheinlich nur auf den Richtigen wartete. An Interesse fehlte es auf seiner Seite nicht, und er war gern bereit, sie von ihrem zweijährigen Keuschheitsgelübde zu erlösen, das sie anscheinend abgelegt hatte. Vorausgesetzt, sie sah in ihm den Richtigen. Sie könnten ein bisschen Spaß haben, solange er hier war, um die Lodge auf Vordermann zu bringen. Dann würde er ihr einen Abschiedskuss geben und zu seinem nächsten Job aufbrechen. Ohne Bedauern, ohne Reue. So wie immer.

2. KAPITEL

Mit ihren sechsundfünfzig Jahren hatte Rose Davis Besseres zu tun, als das Rudel Kowalski-Kinder zusammenzuhalten. Sie könnte beispielsweise Mützchen für ihr Enkelkind häkeln, wenn ihre Tochter Katie nur endlich zu Potte käme. Oder sie könnte einen hübschen längeren Ausflug mit ihren Freundinnen nach Connecticut machen, wo es dieses schicke Casino gab.

Aber seitdem diese Kinder zwölf, elf, neun, sieben und fünf Jahre alt waren, hatte sie sie umsorgt und gehütet und kam einfach nicht von ihnen los. Und sie würde vermutlich nie von ihnen loskommen, wenigstens nicht, solange nicht jedes einen Partner gefunden hatte, der oder die bereit war, sich auf eine Heirat und darauf einzulassen, von nun darauf aufzupassen, dass sie sich einigermaßen gesittet und vernünftig aufführten. Nach dem Tod ihrer Mutter und während ihr Vater versuchte, den Northern Star am Laufen zu halten, um seine fünf Kinder zu ernähren, hatte es Rose nahezu alles abverlangt, die Kinder in die rechten Bahnen zu lenken. Dazu hatte sie noch Katie, ihre eigene Tochter, aufgezogen. Aber sie hatte auch Hilfe von Mary, einer Tante der Kinder, bekommen, die mit vier eigenen Kindern in New Hampshire lebte. Schließlich hatte Rose es dann doch geschafft, aus den fünfen vernünftige, wohlgeratene Erwachsene zu machen.

Vernünftige, wohlgeratene Faulpelze. Es war inzwischen acht, und Mitch war mit seinem Allerwertesten noch immer nicht aus dem Bett gekommen, um sie endlich zu begrüßen. Als sie den Abend zuvor davon gehört hatte, dass Mitch zurück war, war sie unterwegs gewesen. Sie hatte ihre Freundin Darla zum Bingo gefahren und konnte nicht eher fort, als bis diese die letzte Hoffnung auf einen Gewinn begraben musste. Als sie dann wieder zu Hause war, waren die Jungen schon zu Bett gegangen. Sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können, an Mitchs Tür zu lauschen, aber alles, was sie hörte, war sein Schnarchen. Sie konnte sich vorstellen, dass er nach der langen Fahrt nach Maine ziemlich groggy sein musste, und so unterließ sie es, ihn zu wecken, obwohl sie es gern getan hätte.

Drei Jahre war es jetzt her, dass der Junge das letzte Mal zu Hause gewesen war, und jetzt wollte sie ihn endlich sehen. Also holte sie sich den Staubsauger, ein betagtes Ungeheuer mit laut heulendem Motor, und gab sich keine Mühe, vor Mitchs Zimmer nicht gegen die Wände und die Tür zu stoßen.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis Mitch mit zerrauftem Haar, Bartstoppeln und verschlafenen Augen in der Tür erschien. „Hi, Rosie“, begrüßte er sie lächelnd.

Sie hatte kaum Zeit, den Staubsauger auszuschalten, da hatte er sie schon in die Arme geschlossen. Er überragte sie um mehr als einen Kopf. Nur zu gut konnte sie sich daran erinnern, wie es gewesen war, mit dem Kinn seinen Scheitel zu berühren, wenn sie ihn umarmte. Aber daran durfte sie gar nicht denken, wenn sie nicht augenblicklich losheulen wollte.

„Drei Jahre bist du weggeblieben. Das ist viel zu lang“, sagte Rose, während sie ihn fest an sich drückte.

„Ich weiß. Ich wollte immer mal in den Ferien kommen, aber die meisten meiner Leute haben Frau und Kinder, und da bin ich für sie eingesprungen, damit sie bei ihren Familien sein konnten. Ehe ich es richtig gemerkt habe, waren drei Jahre vorüber.“

Sie ließ ihn los, trat einen Schritt zurück und musterte ihn streng. „Auch du hast eine Familie, selbst wenn du noch keine Frau gefunden hast. Dass sich daran etwas ändert, ist übrigens etwas, das ich nicht müde werde, in mein Abendgebet einzuschließen, nur damit du’s weißt.“

Mitch verzog das Gesicht und wechselte schnell das Thema. „Ist Josh schon aufgestanden?“

„Ich hab das Badewasser laufen und ihn fluchen hören wie einen Rohrspatz, bevor ich mit Staubsaugen angefangen habe. Ich denke also, er ist im Bad.“

„Was ist los mit ihm, Rosie? Er wirkt so schlaff und gleichzeitig so zornig. Und hier geht alles zum Teufel.“

„Die Zeiten sind ganz schön hart geworden, Mitch. Sehr hart. Die Konjunktur geht runter, die Spritpreise rauf und was nicht alles. Es kommen immer weniger Leute den weiten Weg hierher, um hier eine Woche oder auch nur ein Wochenende zu verbringen. Wenn im Winter genug Schnee liegt, fahren sie mit ihren Motorschlitten bei sich zu Hause, und wenn nicht, lassen sie es ganz.“

„Warum hat er mir bloß kein Wort gesagt? Er führt die Gelder ab wie sonst auch. Woher sollten wir wissen, dass die Lodge in Schwierigkeiten steckt?“

„Das konntet ihr auch gar nicht.“

„Aber das geht uns doch alle an.“

„Nein.“ Lächelnd versuchte Rose, ihren Worten die Schärfe zu nehmen. „Ihr seid alle fortgegangen, um euer eigenes Leben zu leben, und Josh ist hier übrig geblieben, um das Haus zu führen. Und das hat er seit dem Tod eures Vaters getan. Du und Ryan seid aufs College gegangen, Sean ist zur Army, und Liz war mit diesem Nichtsnutz von Mann über alle Berge. Josh allein hat sich hier um alles gekümmert.“

„Aber er hat uns nicht gebraucht.“

„Natürlich hat er das.“

„Und warum hat er das nicht gesagt?“

„Vielleicht aus Stolz. Du hast dich für das Abbruchgewerbe entschieden. Deine Northern Star Demolition ist heute im ganzen Land eine der führenden Firmen in der Branche. Ryan hat als Handwerker klein angefangen und baut heute für Millionen von Dollar Villen für irgendwelche Schwerreiche, die nicht wissen, wohin mit ihrem verdammten Geld. Sean und Liz sind vielleicht nicht so erfolgreich, aber immerhin können sie sich frei und ungebunden in der Weltgeschichte herumtreiben.“

Mitch konnte es nicht fassen. Josh hatte sich schon immer mehr für die Lodge interessiert als die anderen Geschwister. Seitdem er laufen konnte, war er ihrem Vater auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte ihm alles abgeschaut. Nie hatte er ein Wort darüber verloren, dass er irgendetwas anderes wollte, als sich um den Northern Star zu kümmern. „Ich nehme ihn heute mit zum Frühstück. Vielleicht kann ich ihm ja etwas entlocken.“

„Sei behutsam mit ihm. Aber …“ Sie sah ihn kritisch von der Seite an. „Warum bleibt ihr nicht hier? Ich kann dir einen French Toast machen, so wie du ihn magst.“

„Wird ihm ganz guttun, wenn er mal rauskommt. Wir gehen in den Diner und feiern unser Wiedersehen.“

Als ob Rose nicht ganz genau wusste, wie die männlichen Kowalskis tickten. „Du lässt Paige Sullivan in Ruhe. Sie ist ein liebes Mädchen und hat es sich hier prächtig eingerichtet. Da kann sie es sicher nicht gebrauchen, wenn du auftauchst und alles durcheinanderbringst, bevor du für wer weiß wie lange Zeit wieder verschwindest.“

Mitch lächelte unschuldig, obwohl er wusste, dass sein Charme bei Rose nicht verfing. „Aber sag mal: Was ist sie denn für eine?“

„Das lass ihre Sorge sein. Hauptsache, du mischst dich da nicht ein. Du hast genug damit zu tun, deinem Bruder zu helfen.“ Vom anderen Ende des Korridors hörte man Poltern und Fluchen, eine sicheres Zeichen dafür, dass Josh aus der Wanne war und versuchte, sich anzuziehen. Rose stieß Mitch mit dem Zeigefinger vor die Brust. „Ich meine das ernst.“

„Ich muss rasch unter die Dusche. Lass Josh nicht ans Bier, bis ich fertig bin.“

„So weit ist es mit ihm noch nicht“, meinte sie und schüttelte den Kopf, als Mitch wieder in seinem Zimmer verschwand. „Noch nicht“, setzte sie halblaut hinzu.

Es war ihr wirklich ernst. Als sie Mitch angerufen und um Hilfe gebeten hatte, war es ihr weniger um die Instandsetzung des Hauses gegangen als um Josh, der sich offenbar an einem Tiefpunkt befand. Deshalb hoffte Rose auch, dass Paige Sullivan Mitch nicht von dieser Aufgabe ablenkte.

Um halb fünf Uhr morgens aufstehen zu müssen war die Hölle.

Nachdem Paige ihren Wecker ausgestellt und noch einmal die Augen zugemacht hatte, klingelte der einige Minuten später erneut. Paige raffte sich auf und schwang die Füße aus dem Bett. Dann schleppte sie sich verschlafen zu ihrem Kaffeebecher in Übergröße.

Paige war von Natur aus kein Frühaufsteher und schätzte es gar nicht, wenn es morgens draußen noch dunkel war. Aber was half es? Wenn sie hätte ausschlafen wollen, hätte sie sich nicht einen Diner bei den Yankees kaufen sollen, die schon beim ersten Hahnenschrei aus den Federn waren und ihr Frühstück wollten. Dass sie jetzt zusätzlich Avas Schicht übernehmen musste und bis spätabends arbeitete, tat ein Übriges.

Erschwerend kam hinzu, dass sie wertvolle Zeit ihres Nachtschlafs damit vertrödelt hatte, an Mitch Kowalski zu denken, daran, wie er sich, bevor er vom Parkplatz gefahren war, noch einmal zu ihr umgedreht hatte. Er hatte ihr einen Blick zugeworfen, in dem etwas lag … etwas wie ein Versprechen. Nur was genau es versprach, war ihr nicht klar. War es etwas Gutes? Oder etwas … Schlimmes? Jedenfalls hatte es sie so lange wach gehalten, dass sie schließlich ihr Los verfluchte, diesem Mann überhaupt begegnet zu sein.

Nein, sie wollte sich nicht extra aufbrezeln, nur weil eventuell dieser gewisse Jemand auftauchen könnte. Sie zog sich an und machte sich zurecht wie sonst. Dann verließ sie ihren kleinen Wohnwagen, der ihr als Zuhause diente, und ging zur Arbeit. Zur Hintertür des Diners waren es nicht mehr als dreißig Schritte.

Den Wohnwagen hatte sie zusammen mit dem Diner gewissermaßen im Paket erstanden. Der Preis war okay, aber was noch wichtiger war: Die Stadt war okay. Sicher wäre es auch nett gewesen, sich ein kleines Häuschen mit Garten leisten zu können. Aber sie hatte all ihre Ersparnisse bis auf den letzten Penny in die Renovierung und Wiedereröffnung des Diners gesteckt.

Carl, ihr Koch für die Frühschicht, hatte gerade seinen Pick-up geparkt, als sie aufschloss, und ließ zur Begrüßung ein kurzes Brummen hören. Carl redete generell nicht viel, aber als er ihr damals beim Probekochen ihr erstes Frühstück vorgesetzt hatte, waren ihr beinahe die Tränen gekommen. Seine French Toasts und Pancakes waren besser als die, die sie von ihrer Großmutter kannte und in dankbarer Erinnerung hatte. Deshalb hatte Paige damals ihr Budget noch einmal überschlagen und selbst den Gürtel ein wenig enger geschnallt, um ihm ein Gehalt zu zahlen, das leicht über dem Durchschnitt lag, da er das Geld brauchte, um seine Tochter aufs College schicken zu können.

Punkt sechs hatte Paige geöffnet, um halb sieben war der Tresen bereits voll besetzt, ebenso schon die ersten Tische. Paige hatte ihre Personal- und Betriebskosten mit äußerst spitzem Bleistift kalkuliert, um die Preise niedrig zu halten und dabei aber auch noch selbst über die Runden zu kommen. Herausgekommen war dann wirklich das, was sie sich vorgenommen hatte. Der Trailside Diner bot ein hervorragendes Essen zu zivilen Preisen – und mehr als das. Er war wieder zu einem Treffpunkt der Stadt geworden. Hier kam man zusammen, traf sich vor der Arbeit oder danach und tauschte die letzten Neuigkeiten aus. Unglücklicherweise betrafen die Nachrichten vom Tage dieses Mal ausschließlich Mitch Kowalski.

„Schon gehört? Mitch Kowalski ist wieder da“, verkündete Katie Davis, als Paige bei ihr Kaffee nachschenkte.

„Ich habe ihn gestern gesehen. Er ist zum Essen reingekommen.“

„Ach, stimmt. Du kanntest ihn ja noch gar nicht. Und? Wie findest du ihn?“ Unter dem Schirm ihrer Red-Sox-Baseballmütze lachte Katie verschmitzt. Sie hatte von ihrem Vater nach dessen Tod den Friseursalon übernommen. Paige dachte, wenn man im Lexikon das Wort Wildfang nachschlagen würde, müsste man eigentlich ihr Foto darin finden.

Wie findest du ihn? Das fragte Paige sich selbst. Sie hatte allerdings nicht vor, ausgerechnet der Tochter der Haushälterin der Northern Star Lodge auf die Nase zu binden, was ihr seit dem Vortag dazu durch den Kopf ging. In Whitford war jeder irgendwie mit jedem bekannt, und das Geflecht von Verschwisterungen und Verschwägerungen war absolut undurchschaubar. Paige hatte früh gelernt, sehr genau darauf zu achten, was sie wem erzählte.

„Ich denke, dass es nett von ihm ist, dass er seinem Bruder hilft, da der sich doch das Bein gebrochen hat.“ Paige war mit ihrer ausweichenden Antwort einigermaßen zufrieden. Sie war ehrlich und dabei unverfänglich genug.

Dennoch machte Katie ein unzufriedenes Gesicht. „Ja, ja, bla, bla. Er ist ein toller großer Bruder. Wie du ihn findest, wollte ich wissen.“

Paige beugte sich zu der jungen Frau hinunter und sagte leise, da ihr leichtes Erröten sie sowieso verraten hatte: „Ich fand ihn … Als ich ihn sah, dachte ich: Oh mein Gott!

Sie lachten beide noch, als die Glocke über der Tür ging. Paige hob den Kopf und blickte in jene bestimmten blauen Augen. Mist! Auch wenn klar war, dass er nicht wissen konnte, worüber Katie und sie gerade gelacht hatten, drehte Paige sich schnell um, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

Der glückliche Zufall wollte es, dass Carl ungeduldig von der Durchreiche zu ihr herüberrief, weil die nächste Bestellung fertig war. So bekam Paige Gelegenheit, sich zu sammeln, während sie das Essen servierte. Darauf konnte sie sich auch noch die Zeit nehmen, Kaffee nachzuschenken und frischen aufzusetzen, denn jeder Zweite im Diner hatte Mitch auf seinem Weg zu einem freien Tisch irgendetwas mitzuteilen.

„Morgen, Paige“, begrüßte Josh sie, als die Brüder endlich ihren Platz gefunden hatten und es Josh gelungen war, seinen Gipsfuß unter den Tisch zu bugsieren. Da Mitch damit beschäftigt war, Joshs Krücken im Schirmständer in der Ecke zu verstauen, war ihr ein weiterer kurzer Aufschub vergönnt. Aber dann war er schon wieder da, schob sich auf seine Bank und lächelte sie an.

Paige konnte sich nicht erklären, warum sein Lächeln eine solch starke Wirkung auf sie hatte, dass ihr fast die Luft wegblieb. So sehr unterschied er sich doch gar nicht von Josh. Sie hatten die gleichen blauen Augen und eine ähnliche Statur. Dennoch hatten Joshs Flirtversuche sie immer kaltgelassen. Zu ihm hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, nachdem er einmal begriffen hatte, dass sie nicht bereit war, mit ihm auszugehen. Mitch hingegen brauchte sie nur anzusehen, und ihr wurde ganz seltsam zumute.

War es das gewesen, wovon sich ihre Mutter immer wieder hatte blenden lassen?

Der kurze Gedanke an ihre Mutter genügte, und Paige hatte sich wieder im Griff. Höflich erwiderte sie Mitchs Gruß und fragte in geschäftsmäßigem Ton: „Kann ich euch beiden Kaffee bringen?“

Die Brüder nickten einträchtig. Paige bediente weiter ihre Gäste und kam wenig später mit zwei Bechern frischen Kaffees zu ihnen an den Tisch zurück. „Wisst ihr schon, was ihr wollt?“, fragte sie, den Block schreibbereit in der Hand.

„Mitch weiß schon seit gestern, was er will.“ Aus Joshs breitem Grinsen zog Paige den Schluss, dass es sich hier um einen Insiderscherz handeln musste. Gleich darauf verzog Josh das Gesicht. Anscheinend hatte Mitch ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten.

„Ich sterbe vor Hunger“, meinte Mitch, während er die Speisekarte studierte. „Ich nehme zwei gewendete Eier und drei Pancakes. Und dazu Bratkartoffeln. Und einen großen Orangensaft.“

„Das klingt nicht schlecht“, sagte Josh. „Dito.“

Paige nahm die Karten zurück und wandte sich zum Gehen. Sie gab sich alle Mühe, ihre Unsicherheit nicht zu zeigen, denn nach den Erfahrungen des Abends zuvor rechnete sie damit, dass Mitch ihr hinterherblickte. Nachdem sie die Bestellung an das Zettelkarussell in der Durchreiche zur Küche gehängt hatte, kümmerte sie sich wieder um die anderen Gäste, sorgte für Kaffeenachschub, hielt hier und da ein kurzes Schwätzchen und kassierte bei denen ab, die gehen wollten. Aber ein ums andere Mal ertappte sie sich dabei, wie sie heimlich zum Tisch der Kowalski-Brüder hinüberschielte.

Sehr gesprächig waren die beiden nicht, wenn nicht gerade jemand an ihrem Tisch stehen blieb, Mitch willkommen hieß und sich nach Joshs gebrochenem Bein erkundigte. Waren die beiden allein, schienen sie sich nicht viel zu sagen zu haben, sodass Paige sich fragte, ob Mitchs lange Abwesenheit der Grund dafür war oder ob noch etwas anderes dahintersteckte.

Als sie ihnen ihr Essen brachte, bedankten sich beide, aber mehr als ein flüchtiges Lächeln kam nicht von Mitch, was vielleicht nicht das Schlechteste war. Sie hatte sich ohnehin schon viel zu viele Gedanken über ihn gemacht. Sie sollte sich besser an den Satz halten, den sie aufgeschrieben und mit einem Magneten an ihre Kühlschranktür gepinnt hatte. „Männer sind Luxus, keine Notwendigkeit“, stand da.

Das war ihr Motto von dem Tag an geworden, an dem ein Notar mit ihr in Verbindung getreten war, um ihr zu eröffnen, dass ein Mann, an den sie sich kaum erinnerte, ihr mit seinem Tode ein hübsches Sümmchen hinterlassen hatte. Mit dieser Maxime war sie immer gut gefahren.

Ein unheilvolles Zusammenwirken von Selbstmitleid und den Nebenwirkungen der Schmerzmittel, die er einnahm, hatte von Josh seinen Tribut gefordert. Nach dem Frühstück fuhr Mitch ihn also nach Hause und überantwortete ihn der Fürsorge von Rose. Dann machte sich Mitch erneut auf den Weg in die Stadt.

Die Idee mit dem gemeinsamen Frühstück war ein totaler Reinfall gewesen. Auf alle seine Fragen hatte Josh höchst unwillig und einsilbig geantwortet. Offenbar war der Diner nicht der richtige Ort gewesen, um ihm die Flausen auszutreiben und aus ihm herauszubekommen, was, zum Teufel, sein Problem war. Aber das hatte Zeit.

Nachdem er einen Parkplatz gefunden hatte, betrat Mitch die Polizeistation von Whitford. Er tat dies mit gemischten Gefühlen. Nicht so sehr, weil dieser Ort ganz allgemein einige ungute Erinnerungen an seine frühen Jahre in ihm weckte, sondern ganz speziell, weil gleich vorne am ersten Schreibtisch Robert Durgin saß.

Bob war so alt wie der Staub auf den Archivakten und mit einem Elefantengedächtnis gesegnet, wenn es um die Jugendsünden seiner Mitbürger ging, insbesondere wenn diese Kowalski hießen. Ryan hatte ihm früher – unabsichtlich – eine Fensterscheibe eingeschlagen, Liz hatte seinem Enkel – auf die charmanteste Weise – das Herz gebrochen, und Mitch war der Grund gewesen, dass Bob seinen schicken neuen Streifenwagen, auf den er so stolz gewesen war, zu Schrott gefahren hatte. Mitch selbst gab sich nicht die Schuld dafür – er war eben der bessere Fahrer. Josh und Ryan schließlich hatten auch ihre Begegnungen mit Bob gehabt. Die Tatsache, dass sie alle damals Teenager waren, zählte für ihn überhaupt nicht.

Mitch rang sich ein Lächeln und ein kurzes Nicken ab, als er an Bobs Schreibtisch vorbeiging. Bob behielt ihn auch jetzt noch so argwöhnisch im Auge, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass Mitch versuchen würde, ihm die Portokasse zu klauen. Der alte Cop war einer der vielen Gründe, warum Mitch, sosehr er sich auch freute, Rose und Josh wiederzusehen, der Aufenthalt in Whitford schon nach wenigen Tagen anfing, auf die Nerven zu gehen.

Die Leute schienen immer zu glauben, dass es eine feine Sache sei, einen Platz auf der Welt zu haben, wo jeder einen kannte. Vielleicht war es so. Aber das bedeutete auch, dass jeder alles über einen wusste, sogar Dinge, an die man sich selbst nicht mehr erinnern konnte oder wollte. Dafür sorgten allein schon die Mütter, die bei jeder Gelegenheit zusammengluckten und sich über die Heldentaten ihrer lieben Kleinen austauschten. Vom ersten Pups in die Windeln bis zu den nächtlichen Streifzügen durch die Gemeinde als Jugendlicher war man Freiwild für jedweden Klatsch. Ungeachtet der Tatsache, dass aus ihm inzwischen der Chef einer der bedeutendsten Abbruchfirmen der Staaten geworden war, wurde er in Whitford immer noch auf seine Jugendstreiche reduziert. Mitch kam gern hierher, aber noch lieber kehrte er seiner Heimatstadt danach wieder den Rücken.

Sobald Drew Miller, der Chef der Polizei in Whitford, ihn durch die große Glasscheibe, die sein Büro vom Flur trennte, erblickte, winkte er Mitch lebhaft zu sich herein. Als Mitch eintrat und die Tür hinter sich schloss, kam Drew ihm entgegen, und sie begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung.

„Was bin ich froh, dich zu sehen“, sagte Drew, als er wieder in seinen Ledersessel sank, während Mitch versuchte, es sich auf dem harten Stuhl vor seinem Schreibtisch bequem zu machen.

„Du bist jetzt also hier der Boss? Was haben sie sich denn dabei gedacht?“

„Sie haben gedacht, dass du irgendwann mal wieder zurückkommst und es für den Fall besser wäre, jemanden auf diesem Posten zu haben, der dir ein bisschen auf die Finger sieht.“

Mitch winkte ab. „Ihr seid alle nicht ganz dicht hier. Bob draußen guckt mich an, als wollte ich ihm sein Lunchpaket klauen. Und dich machen sie zum Polizeichef. Dabei hast du in der bewussten Nacht mit mir im Wagen gesessen.“

„Ja, aber nicht am Steuer. Ich habe ihm später erklärt, dass ich dir hilflos ausgeliefert war und nur deshalb nicht während der Fahrt aus dem Wagen gesprungen bin, weil ich bei dem Tempo zu große Angst davor hatte. Und dass ich dich die ganze Zeit angeschrien habe, du solltest anhalten.“

„Du bist ein solcher Spinner.“

„Möglich. Aber Whitford vertraut mir.“

Mitch schüttelte den Kopf. Als er einige Monate zuvor eine E-Mail von Drew bekommen hatte, die mit dem Betreff „Du wirst es nicht für möglich halten“ überschrieben war, konnte er dem nur beipflichten. Es war kaum zu glauben, dass man ausgerechnet seinen alten Freund, der an mehr als einem der wilden Streiche der Kowalski-Gang beteiligt war, zum Chef des Whitforder Police Departments gemacht hatte.

In jener Nacht, in der der alte Bob den funkelnagelneuen Streifenwagen geschrottet hatte, war es Drew gewesen, der Mitch angefeuert hatte, aufs Gas zu treten und nicht anzuhalten, als im Rückspiegel seines alten Camaro die Blaulichter auftauchten. Mitch kannte sich im Labyrinth der Feldwege rund um die Stadt besser aus als Bob Durgin. So konnte er es sich leisten, die Scheinwerfer auszuschalten und sich auf seinen Ortssinn zu verlassen, um Bob zu entwischen. Der wiederum war vom Ehrgeiz besessen, Mitch dingfest zu machen, landete dabei schließlich in einem Straßengraben, und sein Polizeiwagen blieb auf dem Dach liegen.

Glücklicherweise war Officer Durgin nicht nur verbissen, sondern auch eine ehrliche Haut und gestand, als er von seinem Chief zu dem Vorfall befragt wurde, dass er nie so dicht an den anderen Wagen herangekommen war, dass er das Nummernschild erkennen konnte. Da es in Whitford zwei weitere Camaros gab, die mit Mitchs Wagen leicht verwechselt werden konnten, war es zu keiner Anklage gekommen. Bob aber hatte Mitch die Geschichte nie verziehen und blieb ihm bis zu dem Tag auf den Fersen, an dem Mitch wegging, um das College zu besuchen. Und Mitch war sich sicher, dass Bob Durgin auch jetzt noch nur auf einen Fehltritt von ihm lauerte.

„Wie geht’s Josh?“, fragte Drew.

„Das mit seinem Bein kommt schon in Ordnung. Aber dass er so mies drauf ist, macht mir Sorgen. Er ist total negativ, und das nervt tierisch. Ich weiß nicht, woran es liegt. Selbst um die Lodge kümmert er sich einen Dreck.“

„Wie lange wirst du bleiben?“

„Sechs Wochen, bis er seinen Gips wieder loswird. Rosie hat mir erzählt, dass die Einkünfte knapp werden. Ich hoffe, dass die Zeit reicht, um sowohl Josh wieder in die Spur zurückzubringen als auch einen Blick in die Bücher zu werfen.“

Drew beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte. „Glaubst du, dass er etwas für sich abzweigt?“

„Pass auf, was du sagst, Bulle. Nein. Ich glaube, wirtschaftlich geht es ganz allgemein bergab, und Josh wollte keinem sagen, dass er auf dem letzten Loch pfeift.“

„Was die Wirtschaftslage angeht, hast du recht. Jeder bekommt es zu spüren. Wir erkennen es daran, dass die Diebstähle zunehmen. Es ist vor allem Kleinkram, der gestohlen wird, Zeugs, das sich leicht verscherbeln lässt, Buntmetalle zum Beispiel, Kupferrohre, Kabel, alles Mögliche.“

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