Mein unwiderstehlicher Earl

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In einer nebligen Herbstnacht flieht Lady Laura vor ihrem grausamen Gatten und lebt fortan als Witwe getarnt auf dem Lande. Sie kann die Fassade aufrechterhalten … bis der Earl of Beaulieu ihren Weg kreuzt. Dieser Mann ist unwiderstehlich - und sieht mit seinen faszinierenden bernsteinfarbenen Augen direkt in ihre Seele!


  • Erscheinungstag 30.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717070
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Lautlos schlich Laura durch den dunklen Flur. Sie hatte den Weg vorher genau erforscht und kannte jede Biegung, jeden Teppich, Stuhl und Schrank. Jede der neunundzwanzig Stufen der Dienstbotentreppe war ihr vertraut. Der alte Butler Hobbins und seine Frau schnarchten laut in ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Doch sie hätten sie sowieso nicht hören können, denn der Wintersturm heulte laut in den Kaminen und rüttelte an den klappernden Fensterläden.

Nur einmal hielt sie kurz inne auf ihrem heimlichen Weg – vor der Tür des stillen Kinderzimmers. Sie lehnte sich an die Tür, meinte beinahe noch einen Hauch von Babyduft wahrzunehmen und das weiche Baumwollhemdchen zu fühlen, die funkelnden Augen und kleinen Händchen zu sehen. Ihr Herz wurde von einer Bitterkeit zerrissen, die härter und kälter war als die eisigen Hagelkörner, die von außen gegen die Fenster prasselten.

Sie schwankte und suchte am Türgriff zu dem Zimmer Halt, in dem kein Babylachen mehr erklingen würde. Nie wieder würde dort ein Kind ihres Leibes in seinem Bettchen liegen.

Das verspreche ich dir, Jennie, gelobte sie. Es war das Einzige, das ihr zu tun übrig blieb.

Sie nahm alle Kraft zusammen und stieg die Hintertreppe hinab. Nur einmal hielt sie inne und holte tief Luft, bevor sie das eiserne Türschloss der Küche entriegelte.

Nun fühlte sie sich wieder etwas kräftiger. Im letzten Monat hatte sie gehen geübt, zuerst allein in ihrem Zimmer, dann in der vergangenen Woche auch außerhalb, nachdem die meisten der Hausbediensteten mit ihrem Herrn nach London abgereist waren. Sie konnte es schaffen.

Vorsichtig öffnete sie den Riegel, dann schlüpfte sie in den wollenen Mantel und zog ihre wärmsten Handschuhe an. Energisch drückte sie gegen die schwere Tür, die sich geräuschlos an den gut geölten Angeln öffnete. Laura ignorierte den Eisregen, der ihr ins Gesicht schlug, und den stürmischen Wind, der an ihrer Haube zerrte, und trat in die Nacht hinaus.

1. KAPITEL

Der frische Herbstwind wehte den Duft nach feuchtem Laub und würzigen Kräutern zu Laura Martin, aber auch die Geräusche von Hundegebell und gelegentlichen Gewehrschüssen aus der Ferne. Früher an diesem Morgen war eine Jagdgesellschaft an ihrem kleinen Haus vorbeigeritten, und der Sohn des Gutsbesitzers hatte ihr fröhlich zugewinkt. Sie jagten Enten im nahe gelegenen Sumpf.

Laura schnitt ein Büschel Gänsefingerkraut ab, um es für die spätere Verwendung zu trocknen, dann wandte sie sich um und verließ das Kräuterbeet. Misfit, ein ehemaliger Jagdhund des Squires, stupste mit der Nase an ihre Hand. Er hatte sie nicht mehr verlassen wollen, nachdem sie sein Bein geheilt hatte, das er in der Falle eines Wilderers verletzt hatte.

„Frechdachs“, sagte sie lächelnd und kraulte ihn hinter den Ohren.

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und schmiegte sich an ihre Hand. Dann erstarrte er plötzlich und sah leise winselnd zu ihr auf.

„Was ist denn?“ Doch in diesem Moment hörte auch sie das schnelle Stakkato sich nähernder Pferdehufe. Einen Augenblick später sah sie einen der Knechte des Squires auf einem schweißbedeckten Pferd auf sich zukommen, ein zweites Pferd führte er an einem Strick bei sich.

Begleitet von schlimmen Vorahnungen, eilte Laura zum Gartenzaun.

„Was ist passiert, Peters?“, rief sie dem jungen Mann entgegen, der die Pferde abrupt zum Stehen brachte.

„Verzeihen Sie, Mrs Martin, aber bitte kommen Sie mit mir! Ein Unfall … eine Flinte ist plötzlich losge…“ Der Knecht unterbrach sich und schluckte heftig. „Bitte, Ma’am!“

„Wie schwer wurde die Person verletzt?“

„Weiß nicht so genau. Der junge Gentleman kriegt ’nen Schuss in die Schulter, und dann is’ Blut überall. Er is’ sofort ohnmächtig und …“

Ihre üble Vorahnung verstärkte sich. „Du solltest besser Dr. Winthrop Bescheid geben. Ich fürchte, bei einem Gewehrschuss kann ich nichts …“

„Bin schon beim Doktor gewesen, Ma’am, und er … kann nicht helfen.“

„Ich verstehe.“ Leider hatte der Dorfarzt einen unglücklichen Hang zu hochprozentigen Getränken und konnte sich allzu oft weder um sich selbst noch um irgendjemand anderen kümmern. So sprang sie schon mal in die Bresche, wenn der Doktor ausfiel. Aber eine Schusswunde? Ihr war klar, dass ihre Kenntnisse dafür nicht ausreichten.

Aber es gab jetzt wirklich niemanden außer ihr, der den Verletzten hätte verarzten können.

„Der junge Herr sagt, ich soll Sie sofort mitbringen.“

„Ist gut, Peters. Hilf mir bitte, meine Tasche zu holen.“

Sie suchte noch eine paar Dinge zusammen, von denen sie glaubte, sie brauchen zu können. Der Knecht trug alles zu den wartenden Pferden und half Laura in den Sattel. Er sprang auf sein Pferd, und dann folgte sie ihm in Richtung der Sümpfe.

In Gedanken ging sie noch einmal alle Heilmittel durch, die sie eingepackt hatte. Es hatte lange gedauert, von dem Leiden zu genesen, an dem sie selbst beinahe gestorben wäre. Damals hatte sie Tante Mary bei der Behandlung von Fieberkrankheiten und Magenbeschwerden oft zugesehen – aber nie bei der Versorgung einer Schussverletzung.

Zu den Medikamenten, die sie immer mitnahm, hatte sie noch ein Pulver hinzugefügt, das Blutungen stillte, und Brandy zum Reinigen der Wunde. Hoffentlich hatte sie nichts vergessen.

Ihr blieb nicht viel Zeit, sich weitere Gedanken zu machen, weil nach der nächsten Biegung der Pfad am Sumpf endete. Eine Menschentraube war am Rand des Wassers versammelt. Laura glitt aus dem Sattel und erblickte inmitten der Umstehenden den Körper eines jungen Mannes reglos auf dem Boden liegen. Seine bleiche Gesichtsfarbe hob sich auffällig von der roten Farbe des Blutes ab, das seinen Mantel durchtränkte. Seine Kleidung war durchnässt, die Beine in den Stiefeln lagen noch halb im eisigen Wasser. Tom, der Sohn des Squires, presste ein zusammengeknülltes weißes Tuch, das sich zusehends rot färbte, auf den Oberkörper des Jungen.

Sie vergaß ihre Aufregung und konzentrierte sich nur auf ihre Aufgabe. Erst musste sie die Blutung stoppen, dann sollte der Verletzte so schnell wie möglich zurück nach Everett Hall zurückgebracht werden.

„Peters, bring mir bitte das Verbandszeug.“

Beim Klang ihrer Stimme schaute Tom auf. „Gott sei Dank, Sie sind gekommen!“ Sein Gesicht war weiß unter den Sommersprossen, und er rückte zur Seite, damit sie sich neben das Opfer knien konnte. „Er blutet so stark … und er antwortet nicht. Wird … wird er sterben?“

„Du kannst mir helfen“, sagte sie ausweichend. „Halte das Tuch fest, während ich es um seine Schulter binde. Ist die Kugel aus dem Rücken wieder ausgetreten?“

„Ich weiß es nicht, Ma’am. Ich … ich habe nicht nachgesehen.“ Toms Augen sahen riesig aus in seinem blassen Gesicht. „Es ist meine Schuld. Ich wollte unbedingt auf die Jagd gehen. Wenn er stirbt …“

„Ganz ruhig … immer weiter drücken.“ Um Tom – und sich selbst – zu beruhigen, fragte sie: „Wie ist es denn eigentlich passiert?“

„Ich weiß es nicht so genau. Die Hunde haben einen Schwarm Enten aufgescheucht, und wir drückten beide gleichzeitig ab. Im nächsten Augenblick griff Kit sich an die Brust, und Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Möglicherweise … vielleicht hat eine unserer Kugeln den Felsvorsprung getroffen und ist abgeprallt. Er ist ins Wasser gefallen, und wir haben versucht, ihn an Land zu ziehen, aber wir hatten Angst, ihn weiter zu bewegen, bevor Hilfe zur Stelle war.“

Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, denn sie arbeitete, so schnell sie konnte. Besorgt beobachtete sie dabei die graue Gesichtsfarbe und die bläulichen Lippen des Verwundeten. Wenn die Kugel noch im Körper steckte, musste sie schnell entfernt werden, aber im Moment wagte sie es nicht, die Wunde zu untersuchen. Glücklicherweise verlangsamte die Kälte, die ihn betäubte, auch die Blutung. Sie hoffte, dass dieser Zustand anhielt, wenn sie ihn hochhoben, um ihn fortzubringen. Und dass er sich vom Liegen im eiskalten Wasser keine Lungenentzündung geholt hatte …

„Ist er … sagen Sie mir, dass er wieder gesund wird!“

Toms Stimme klang so verzweifelt, dass sie ihn ansah. Aber sie vermied eine klare Antwort und lächelte ihm nur kurz zu. „Wir müssen ihn unbedingt von hier weg und aus der Kälte schaffen. Wurde schon eine Nachricht nach Everett Hall geschickt?“

„Ja. Mein Vater müsste jeden Augenblick hier sein.“

Da hörten sie schon eine herannahende Kutsche. Vorneweg ritt der Squire, ein kleiner, rundlicher Mann auf einem grau gescheckten Pferd. Er begutachtete die Situation für einen Moment, dann stieß er eine dichte Atemwolke aus.

„Gott sei uns gnädig! Was sollen wir tun, Mrs Martin?“

„Wir werden ihn in den Wagen legen und zurück zum Gutshaus bringen.“

Nachdem der Verband sicher befestigt war, wies sie die Knechte an, den Verletzten zur Kutsche zu tragen. Der Bewusstlose stöhnte leise, als sie ihn vorsichtig auf den gepolsterten Sitz betteten.

„Tom, reite voraus und alarmiere Mrs Jenkins. Wir brauchen kochendes Wasser, heiße Ziegelsteine und dergleichen mehr.“ Der Squire hatte eine rote Nase von der Kälte und schaute sehr bedrückt drein. „Und jetzt los … ich bespreche alles später mit dir.“

Tom nickte wortlos und schwang sich auf sein Pferd. Der Squire half Laura, sich neben ihren Patienten in den Wagen zu setzen, dann fragte er zögernd: „Werden Sie sich bei uns daheim auch weiter um ihn kümmern?“

„Selbstverständlich, aber nur so lange, bis ein richtiger Arzt kommt. Ich habe keine Erfahrung mit Schusswunden, und der junge Mann sieht – ehrlich gesagt – nicht gut aus.“

Zu ihrer Überraschung ergriff der Squire ihre Hände. „Sie müssen bleiben, Mrs Martin, und Ihr Bestes tun. Ich will keinen Landarzt bei uns haben! Ich habe bereits dem Bruder des Jungen eine Mitteilung gesandt, damit er sofort kommt und seinen eigenen Arzt mitbringt. Bitte versprechen Sie, dass Sie bleiben, bis er eintrifft!“

Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Sie schaute zu dem reglosen Körper an ihrer Seite. War sie dem jungen Mann schon einmal begegnet? „Kommt er aus einer bekannten Familie?“, fragte sie, und ein ungutes Gefühl beschlich sie.

„Jüngerer Bruder des Earl of Beaulieu.“

Einen Augenblick lang schien ihr Herz stillzustehen. „Sie meinen den Puzzlebreaker?“, fragte sie leise. „Freund des Premier­ministers und einer der Reichsten im Lande?“

„Ja, richtig. Er ist der Gründer des albernen Puzzlebreaker’s Clubs, aber trotzdem ist er äußerst scharfsinnig. Angeblich unternimmt Lord Riverton nichts, ohne ihn vorher zu konsultieren. Ist auf Besuch bei Freunden im Norden, sein kleiner Bruder sollte nächste Woche nachkommen.“ Der Squire seufzte. „Wenn ich mir vorstelle, was Lord Beaulieu denken würde, sollte sein Bruder Kit in meiner Obhut sterben … Ich schwöre, ich bereue den Tag, an dem mein Tom ihm in Oxford über den Weg lief.“

„Sicher würde der Earl Sie nicht dafür zur Verantwortung ziehen.“

Der Squire zuckte mit den Achseln, dann schaute er sie flehend an. „Ich bitte Sie inständig zu bleiben, Mrs Martin. Mit etwas Glück erreicht mein Bote den Earl innerhalb von ein paar Stunden und bringt seinen Arzt mit zurück, hoffentlich noch vor Sonnenuntergang. Den nichtsnutzigen Winthrop möchte ich nicht in Kits Nähe haben, egal ob betrunken oder nüchtern, und Gott weiß, dass meine Schwester keine Hilfe wäre. Mistress Mary hat so viel von Ihrer Geschicklichkeit gehalten. Sie schwor, dass es keine Bessere im ganzen Land gebe. Werden Sie sich um den Jungen kümmern, bis seine Verwandten eintreffen?“

Und dem Earl of Beaulieu begegnen? Alle Warnglocken in ihr schrillten – lauter als je zuvor –, und sie hatte den metallischen Geschmack von Angst im Mund. Ihre erste Eingebung war, vom Wagen zu springen und schnellstens zur sicheren Zuflucht ihres kleinen Hauses zurückzukehren.

Während sie noch nach den passenden Worten suchte, richtete der Squire sich gerade auf. „Sie brauchen nicht zu befürchten, dass ich dem Earl gestatten würde, Sie zu belangen, sollte … das Schlimmste … geschehen. Mrs Martin, sicher wissen Sie, wie wichtig mir Ihr Wohlergehen ist.“ Er beugte sich unbeholfen über ihre Hand und küsste sie. „Ich versuche doch nur, alles Menschenmögliche für den Jungen zu tun, bis sein Bruder hier ist.“

„Ich bin sicher, Sie würden mich beschützen“, erwiderte sie mühsam lächelnd.

Ihr Können reichte zwar bei Weitem nicht aus, um die bestmögliche medizinische Versorgung des jungen Mannes zu gewährleisten, aber im Umkreis von einer Tagesreise war sie dennoch die einzige Person, die helfen konnte, zumindest bis ein versierter Arzt erschien.

Unentschlossen überlegte sie hin und her, weil sie sich entscheiden musste zwischen ihrer Sicherheit und der Gefahr, der sie sich aussetzen würde, sollte sie dem Squire ihre Zusage geben. Die letzten Worte von Tante Mary gingen ihr durch den Kopf: Gott hat seine Gründe gehabt, dich zu retten, Missy. Er hat dir deine Geschicklichkeit geschenkt – nutze sie weise.

Sie blickte zu dem Verletzten, der sich noch immer nicht gerührt hatte und blutbefleckt neben ihr lag. Verdiente der unschuldige Junge nicht eine Chance zu überleben? Obwohl es ein Risiko für sie bedeutete, sich seiner anzunehmen. Doch das Risiko für den jungen Mann, ohne Versorgung zu sterben, war größer als ihres, entdeckt zu werden.

„Sagen Sie dem Kutscher, er soll besonders vorsichtig fahren. Der Verletzte darf nicht durchgeschüttelt werden“, sagte sie schließlich. „Wenn die Wunde wieder anfängt zu bluten, kann ich nichts mehr für ihn tun.“

Der Squire stieß einen dankbaren Seufzer aus. „Ich danke Ihnen, Madam. Ich reite neben der Kutsche her. Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.“

Er stieg hinunter und schloss die Tür. Laura blieb im Halbdunkel der Kutsche allein zurück mit einem kaum noch atmenden Jungen, dessen mächtiger Bruder, Lord Beaulieu, ihr innerhalb von Stunden gefährlich werden konnte.

Worauf hatte sie sich bloß eingelassen?

Hugh Mannington, „Beau“ Bradsleigh, Earl of Beaulieu, sprang aus dem Sattel und warf den Zügel seines erschöpften Rosses dem Diener zu, der offenbar auf seine Ankunft gewartet hatte. Mit laut hallenden Schritten ging er auf die flackernden Fackeln zu, die beiderseits des Tores zu Squire Everetts Guthaus standen. Bevor er den Haupteingang erreicht hatte, eilte ihm schon ein schlaksiger junger Mann entgegen, in dem er den Freund seines Bruders Kit aus Oxford erkannte.

„Lord Beaulieu, Gott sei Dank, dass Sie kommen. Es tut mir so leid …“

„Wo ist er?“ Das Gesicht des jungen Mannes nahm einen völlig verschreckten Ausdruck an, und Beau bereute für einen Moment, so kurz angebunden gewesen zu sein. Aber die Nachricht hatte besagt, dass es für seinen Bruder um Leben und Tod ging, und jetzt hatte er den anstrengendsten Ritt seit Jahren hinter sich und keine Geduld für den Austausch von Höflichkeiten.

Ein kleinerer, rundlicher Mann mit beginnender Glatze kam auf ihn zu. „Hier entlang, Lord Beaulieu. Ich bin Squire Everett, aber sparen wir uns jetzt die Förmlichkeiten. Der Koch hält eine kalte Mahlzeit und starkes Ale für Sie bereit. Ich lasse Ihnen sofort etwas bringen.“

Beau warf dem älteren Mann ein knappes Lächeln zu, denn der machte wenigstens keinen Versuch, ihn mit Entschuldigungen oder Erklärungen aufzuhalten, die er momentan sowieso nicht hören wollte. „Sie sind sehr freundlich, Sir.“ Er holte tief Luft und folgte dem Squire zur Treppe. „Wie geht es Kit?“

Der Squire warf ihm einen Blick von der Seite zu. „Nicht gut, fürchte ich. Heute Nachmittag haben wir ihn fast verloren. Wann erwarten Sie Ihren Arzt?“

Der Druck in seiner Brust wurde stärker. Kit – der immer lachende und fröhliche Kit – so voller Lebensfreude. Er durfte nicht sterben. Beau würde es nicht erlauben. „Frühestens morgen Vormittag. Wer versorgt ihn denn jetzt? Haben Sie hier einen Arzt?“

„Nur einen Trottel, der an der Flasche hängt und dem ich keinen lahmen Hund anvertrauen würde. Mrs Martin hält Wache, eine Frau aus der Umgebung, die sich mit Kräutern auskennt und oft von den Einheimischen zu Rate gezogen wird.“

Ein altes Weib, das Liebestränke für Leichtgläubige braute? „Eine Kräuterfrau!“, rief er fassungslos. „Bei Odins Blut, Mann! Konnten Sie nichts Besseres auftreiben?“

Der Squire blieb stehen und schaute ihn leicht vorwurfsvoll an. „Wir sind hier nicht in London, Mylord. Mrs Martin ist die Witwe eines Soldaten und hat viel Erfahrung in der Krankenpflege. Bei ihr war ich zumindest sicher, dass sie dem jungen Kit keinen Schaden zufügt. Sie hat heute schon mehrmals sein Leben gerettet. Hier hinein, Mylord.“

Beau beschloss, sich später bei dem Squire zu entschuldigen, als er wie benommen in die Kammer trat. Im Moment konzentrierte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Person in dem breiten Himmelbett, deren Gesicht nur vom Licht einer einzigen Kerze beleuchtet wurde.

Still und bleich wie eine Totenmaske. Angst durchfuhr ihn wie ein eiskalter Wind, und er trat an das Bett seines Bruders. „Kit! Kit! Ich bin es, Beau! Ich bin jetzt bei dir!“

Der Junge auf dem Bett regte sich nicht, als Beau seine Hand nahm und rieb. Die Haut fühlte sich trocken an … und warm.

„Ich fürchte, er bekommt Fieber.“

Die ruhige Frauenstimme kam aus dem Dunkeln auf der anderen Seite des Betts. Beau bemerkte jetzt eine unscheinbare Frau in einem formlosen braunen Kleid, deren Gesicht im Schatten einer großen Haube nicht zu erkennen war. So etwas ging hier als medizinische Betreuung durch? Seine Angst verstärkte sich, und er wurde ärgerlich. „Was beabsichtigen Sie dagegen zu tun?“

„Ich werde ihn mit dem Schwamm abwaschen und ihm Tee aus Weidenrinde einflößen. Anfangs war er so durchgefroren, dass ich es nicht für ratsam hielt, ihn noch mehr abzukühlen. Ich befürchte, die Kugel sitzt immer noch in seiner Brust, aber ich habe nicht gewagt, sie herauszuholen. Wann ist mit Ihrem Arzt zu rechnen?“

„Nicht vor morgen früh“, erwiderte er voller Sorge. Diese freundliche alte Schachtel mochte sich mit Tee und Tinkturen auskennen, aber sollte Kits Leben von ihr abhängen, bis MacDonovan endlich hier war?

Nein, dachte er und biss die Zähne aufeinander. Er war hier und würde verdammt noch mal seinen Bruder nicht vor seinen Augen sterben lassen. „Sagen Sie mir, was ich machen soll.“

„Sind Sie den ganzen Tag geritten, Mylord?“

„Seit heute Nachmittag“, entgegnete er ungeduldig. „Das macht mir aber nichts aus.“

Nun schaute die Frau ihm direkt ins Gesicht, und in ihren Augen spiegelte sich der Glanz der Kerze. Erstaunt bemerkte er, dass sie ihn prüfend musterte.

Bevor er etwas vorbringen konnte, sagte sie: „Sie sollten sich besser ausruhen. Sie tun dem jungen Gentleman keinen Gefallen, wenn Sie völlig übermüdet sind, wenn er aufwacht.“

Er starrte sie mit dem harten Blick an, der schon so manchen Untergebenen eingeschüchtert hatte. Diese kleine Kräuterhexe hier hielt jedoch seinem Blick stand. Gereizt erklärte er ihr: „Meine gute Frau, der Junge dort auf dem Bett ist mein Bruder, er ist von meinem Blut. Ich versichere Ihnen, selbst wenn ich ganz England zu Pferde durchquert hätte, wäre ich noch immer dazu in der Lage, alles Notwendige für ihn zu tun.“

Die Frau sah ihn noch einmal mit diesem abschätzenden Blick an, dann nickte sie. „Nun gut. Ich habe gerade wieder neuen Tee gekocht. Wenn Sie den Kranken anheben würden – nur ein wenig, wegen der Wunde –, dann kann ich ihm etwas davon einflößen.“

Die ganze, endlos scheinende Nacht hindurch befolgte er die leisen Anordnungen der braun gekleideten Frau. Sie schien durchaus fachkundig zu sein, ließ Brühe aus der Küche holen und streute scharf riechende Kräuter in das Wasser, in dem sie Tücher einweichte, um sie auf Kits Hals und Stirn zu legen. In gewissen Abständen wies sie ihn an, seinen Körper umzudrehen, damit sich keine Flüssigkeit in Kits Lungen absetzte.

Offenbar war sie unermüdlich. Er hätte es zwar nie zugegeben, aber nachdem ein paar Stunden vergangen waren, schmerzte ihn der Rücken, und seine Hände waren gerötet vom Auswringen der Tücher. An Mrs Martin jedoch waren keine Anzeichen von Müdigkeit festzustellen.

Ihre einzige Auseinandersetzung fand gleich zu Beginn statt, als er verlangte, sie solle die Verbände abwickeln, damit er einen Blick auf Kits Wunde werfen könne. Die Pflegerin lehnte dies entschieden ab. Von der Bewegung könne die Wunde erneut bluten, und dieses Risiko werde sie nicht eingehen. Es sei denn, Seine Lordschaft habe genügend Erfahrung, um die Kugel selbst aus der offenen Wunde herauszuziehen. Denn diese schwierige Aufgabe werde sie selbst auf keinen Fall übernehmen.

Sie schlug vor, den Verband bis zum Eintreffen des Arztes unangetastet zu lassen. Widerwillig gab er nach.

Trotz ihrer Bemühungen wurde Kit am Ende dieser langen Nacht zusehends unruhiger, und auch seine Temperatur schien zu steigen. Als der Squire kurz nach Sonnenaufgang Beaus Arzt in das Zimmer führte, stießen er und Mrs Martin erleichterte Seufzer aus.

„Ich danke Ihnen, Mac, dass Sie meinem Ruf so schnell gefolgt sind.“

„Es war ja auch eher ein Befehl als ein Ruf.“ Sein alter Schulfreund Dr. MacDonovan lächelte ihn an. „Aber darüber reden wir später. Jetzt schaue ich erst einmal nach dem Jungen. Der Squire hat mir berichtet, was geschehen ist, und je eher wir die Kugel herausholen, desto besser. Mrs Martin, nicht wahr? Sie assistieren mir bitte.“

Die Pflegerin erteilte leise ihre Zustimmung, und Beau fühlte sich plötzlich zur Seite gedrängt. „Fort mit Ihnen, alter Junge“, schalt sein Freund. „Genehmigen Sie sich ein Schlückchen – Sie sehen so aus, als könnten Sie es gebrauchen.“

„Ich will hierbleiben, Mac. Lassen Sie mich helfen.“

Sein Freund warf ihm einen kurzen Blick zu, dann hob er kapitulierend die Hände. „Öffnen Sie die Vorhänge und sorgen für mehr Licht. Dann bringen Sie mir meine Tasche.“

Der Anblick der gezackten Eintrittswunde und des roten, geschwollenen Fleisches darum herum erschütterte Beau zutiefst. Schon bereute er, dass er unbedingt hatte bleiben wollen. Doch dann musste er seinen sich wehrenden, halb bewusstlosen Bruder festhalten, während der Arzt mit einer langen Pinzette in der Wunde stocherte, um die Kugel zu finden und herauszuziehen. Beaus Rücken war schweißnass, und seine Knie zitterten, als Dr. MacDonovan fertig war und seinen Patienten erneut verband.

Als endlich die grausige Prozedur vorbei war, lobte der Arzt Mrs Martin für die gute Betreuung des Verletzten, und auch Beau erinnerte sich nun wieder an die Frau, die dem Arzt schweigend bei der Operation zur Hand gegangen war. Unter der Haube lag ihr Gesicht immer noch im Schatten, sodass er ihren Gesichtsausdruck nicht ausmachen konnte, aber ihre Handlungen waren stets sicher ausgeführt, und ihre gelegentlichen Antworten kamen ruhig und leise. Er musste anerkennen, dass sie Ahnung hatte, von dem, was sie tat.

Beau legte seinen wieder bewusstlosen Bruder vorsichtig zurück auf die Kissen und folgte den anderen aus dem Zimmer.

Der Squire wartete im Flur. „Nun, Doktor, wie geht es dem Patienten?“, fragte er ängstlich.

„Das Geschoss bestand nur aus einem Stück, das war ein Segen. Ich habe es im Ganzen herausgeholt und hege große Hoffnung auf eine vollständige Genesung. Aber es ist noch zu früh, um Genaueres zu sagen. Er darf nicht bewegt werden, und das Fieber wird zunächst wahrscheinlich noch steigen. Es muss sich jetzt sehr sorgfältig um ihn gekümmert werden. Haben Sie hier eine gute Pflegerin?“

Der Squire schaute zwischen dem Doktor und Mrs Martin hin und her. „Nun, da wäre meine Schwester, aber sie ist derzeit etwas angegriffen …“

„Ich würde sehr gern einspringen, bis Seine Lordschaft jemanden gefunden hat“, meldete sich Mrs Martin mit gesenktem Kopf zu Wort.

„Ausgezeichnet. Ich empfehle Ihnen, das Angebot von Mrs Martin anzunehmen, zumindest so lange, bis Sie eine andere, ebenso tüchtige Pflegerin gefunden haben.“

„Ich habe schon nach Ellie geschickt. Natürlich geht es nur, wenn es keine allzu großen Umstände für Sie macht, meine Schwester und ihre Tochter hier unterzubringen, Squire?“

„Es ist mir eine Ehre, Mylord“, antwortete der Squire und verbeugte sich. „Und auch Sie selbst können hier wohnen, so lange Sie zu bleiben wünschen.“

„Dann würde ich sehr gern Ihre Hilfe annehmen, bis meine Schwester eintrifft, Mrs Martin.“

Leise signalisierte sie ihr Einverständnis, und der Squire wandte sich an den Arzt. „Wenn Sie mir sagen, was ich zu tun habe, Doktor, wache ich bei dem Jungen, solange Mrs Martin sich ausruht. Sie ist seit gestern Morgen nicht von seiner Seite gewichen – und auch die ganze Nacht nicht.“ Der Squire warf einen scharfen Blick zu Beau, dem wieder einfiel, dass er sich noch bei dem Mann entschuldigen wollte. Und erst recht schuldete er der ruhigen Frau, die seinen Bruder so geschickt gepflegt hatte, seinen tiefen Dank. „Lord Beaulieu, auch Sie sollten sich ausruhen. Ich begleite nur noch Mrs Martin ein Stück, dann komme ich zurück und zeige Ihnen Ihr Zimmer.“

Beau verneigte sich. Mrs Martin nickte und knickste höflich, dann drehte sie sich um und folgte dem Squire, Beau blieb mit dem Arzt zurück.

„War Ihr Bericht korrekt, oder versuchen Sie nur, die Angst des Squires zu beschwichtigen?“, fragte Beau, sobald die beiden außer Hörweite waren.

Dr. MacDonovan tätschelte lächelnd seinen Arm. „Bei Gott, es ist die volle Wahrheit, Beau. Ich weiß, es ist schwer für Sie, aber wir können jetzt nicht mehr für ihn tun, als ihn gut zu versorgen, denn er ist von kräftiger Natur. Ich kann nicht versprechen, dass er uns keine Sorgen mehr machen wird, aber ich glaube, er wird es schaffen.“

Beau stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Ich möchte mich aufrichtig bei Ihnen bedanken, Mac. Weil Sie so schnell gekommen sind, und …“, er lächelte ein wenig, „… weil Sie Ihre Arbeit so gut getan haben. Vielleicht sollte ich mich auch bei der unscheinbaren Mrs Martin bedanken und vielleicht eine kleine Entschuldigung hinzufügen, denn ich bin … nicht besonders höflich mit ihr umgegangen, fürchte ich.“

Der Doktor lachte. „Kleine Auseinandersetzung mit ihr gehabt? Und verloren, darauf wette ich! Eine sehr kompetente Dame, diese Mrs Martin. Sie sollten dieser Frau mehr als mir dafür danken, dass Master Kit noch unter uns weilt. Fast eine Stunde lag er im eiskalten Moorwasser, hat man mir gesagt. Schon die Kälte allein hätte ihn umbringen können, wenn er nicht so sorgfältig versorgt worden wäre.“ Der Doktor runzelte die Stirn. „Nun, es kann aber noch kommen. Wir müssen die Lungen überwachen. Aber jetzt fort mit Ihnen. Meine Augen kann ich noch ein wenig länger offen halten als Sie die Ihren.“

Beau schüttelte seinem Freund die Hand und ging den Flur hinunter. Da er nun Kit bei Mac in Sicherheit wusste, spürte er wieder seine Rückenschmerzen, und tiefe Müdigkeit verlangsamte seine Schritte.

Er bemerkte Mrs Martin an der Vordertür, als er gerade die letzte Treppe hinabstieg. Offenbar hatte sie einen kleinen Disput mit dem Squire, denn sie schüttelte ablehnend den Kopf.

„Danke, Sir, aber es ist nur ein kurzer Weg. Ich brauche keine Kutsche.“

Beau erwartete, dass sie sich mit kleinen höflichen Floskeln verabschieden würden, und seine Augen fielen ihm beinahe zu, bis er sah, dass der Squire einen Kratzfuß vor Mrs Martin machte, ganz im Stil des vergangenen Jahrhunderts.

„Nein, wirklich, Madam, Ihr solltet nicht zu Fuß gehen. Ich bin äußerst erstaunt, dass eine zarte Frau wie Sie nicht schon längst vor Müdigkeit zusammengebrochen ist. Wie viel Kraft und Können Sie besitzen! Obwohl diese Qualitäten, wie ich betonen möchte, nicht an Ihre Schönheit heranreichen.“

Nach dieser hübschen Ansprache ergriff er Mrs Martins Hand und küsste sie.

Beaus Müdigkeit war vor Erstaunen wie weggewischt, dann dachte er daran, dass der Squire gesagt hatte, Mrs Martin sei Witwe eines Soldaten. Offenbar war der Mann ein Offizier gewesen, denn der Squire verschwendete seine Aufmerksamkeiten bestimmt nicht an eine Frau von niedrigem Rang. Beau lächelte, denn er fand es amüsant, dass der ältliche Squire offenbar der unauffälligen Pflegerin den Hof machte. Er war gespannt auf ihre Reaktion.

„Sie schmeicheln mir“, sagte die betreffende Lady, als sie ihre Hand sanft, aber bestimmt zurückzog.

Aus Schüchternheit? Oder war sie lediglich nicht interessiert?

Dann schaute die Frau nach oben. Zum ersten Mal konnte er im Sonnenschein ihr Gesicht deutlich erkennen – ihr junges, hübsches Gesicht.

Im selben Augenblick merkte sie, dass er sie beobachtete. Ein alarmierter Ausdruck breitete sich auf ihren lieblichen Gesichtszügen aus, und sie blickte schnell zu Boden. Wieder verbarg die Spitzenhaube ihr Antlitz. Er hörte nicht mehr, was sie zum Squire sagte und ob sie das Angebot annahm.

Sie knickste und eilte hinaus.

Bis der Squire bei ihm auf dem Treppenabsatz auftauchte, hatte Beaus vernebeltes Gehirn die Arbeit wiederaufgenommen. Beau murmelte leise etwas wie eine Entschuldigung, als der Mann ihn zu seinem Zimmer begleitete. In Gedanken beschäftigte er sich aber mit der überraschenden Entdeckung, dass die tüchtige Mrs Martin nicht nur sehr jung war, sondern auch noch ausnehmend hübsch.

Er dachte an ihre knappe Art zu sprechen, sogar mit dem Squire, den sie offenbar gut kannte, und wie sie davongeeilt war, als sie gemerkt hatte, dass er sie beobachtete. Sehr merkwürdig. Warum, fragte er sich und sank dankbar in sein Bett, war eine offenbar heiratsfähige Witwe so zurückhaltend?

Da diese Witwe seinen Bruder pflegen sollte, würde Beau die Gelegenheit erhalten, dieses seltsame und rätselhafte Verhalten genauer unter die Lupe zu nehmen. Das war ein Segen für ihn, denn da die Genesung seines Bruders sich länger hinziehen konnte, brauchte Beau eine Ablenkung von seinen Sorgen. Zum Glück fand er nichts so faszinierend wie Rätsel.

2. KAPITEL

Ein paar Stunden später erhob sich Laura mühsam aus ihrem Bett und ging in die Küche, wo die Sonne hell durch das Fenster auf den sauber geschrubbten Tisch schien. Maggie, das Hausmädchen, das der Squire täglich für die groben Arbeiten zu ihr schickte, hatte ihr eine Mahlzeit auf den Tisch gestellt, und Wasser siedete im Kessel.

Sie wollte nur noch schnell etwas essen und ihren Tee trinken, bevor sie zu dem Patienten zurückkehrte. Der freundliche schottische Arzt war die ganze Nacht hindurch geritten, wie er ihr erzählt hatte, und er brauchte gewiss bald Ablösung.

Stirnrunzelnd goss sie Wasser in die Waschschüssel. Es war nicht Müdigkeit, die ihr zu schaffen machte, denn sie hatte gelernt, mit wenig Schlaf auszukommen, als sie sich um ihre sterbende „Tante Mary“ gekümmert hatte.

Nein, sie fühlte sich unwohl, weil sie so viele Stunden in nächster Nähe zum Earl of Beaulieu verbracht hatte, der eine beinahe überwältigende Aura von Macht ausstrahlte.

Sie war sicher, dass er sie nicht erkannt hatte. Selbst als er ihr heute Morgen direkt ins Gesicht gesehen hatte, hatte sie nur Verwunderung in seinem Blick gelesen. Vermutlich war er erstaunt gewesen, weil sie kein altes Weib war, wie er offenbar geglaubt hatte. Sie hatte ihr Bestes getan, damit er eben diesen Eindruck erhielt. Dummerweise hatte sie jedoch nach oben geschaut, und das ärgerte sie. In der letzten Zeit war sie nachlässig geworden und hatte nicht mehr so streng darauf geachtet, den Kopf immer gesenkt zu halten, wenn Fremde in der Nähe waren.

Aber jetzt war es zu spät, diesen Fehler ungeschehen zu machen. Doch obwohl er nun wusste, dass sie keineswegs eine alte Frau war, hatte er keinen Grund, sie nicht wie jeder andere in Merriville als das zu sehen, was sie vorgab zu sein: die verwitwete Cousine einer ehemaligen Gouvernante, deren Häuschen sie geerbt hatte.

Wieder dachte sie voller Traurigkeit an die Frau, die ihre Pflegerin, Freundin und Retterin gewesen war. Diese liebenswürdige Dame war die Schwester von Lauras Erzieherin gewesen und hatte sie bei sich aufgenommen, als sie schwer krank auf der Flucht gewesen war. Sie hatte ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern ihr auch eine neue Identität und die Hoffnung auf eine neue Zukunft gegeben. Sie war Lauras Mentorin geworden und hatte sie in den Fertigkeiten unterwiesen, mit denen sie sich jetzt ihren Lebensunterhalt verdiente. Und am Ende hatte Tante Mary ihr auch noch dieses Cottage hinterlassen, das zu ihrem Zufluchtsort geworden war. Hier hatte sie einen neuen Anfang wagen können.

Und es ist immer noch mein Rückzugsort, dachte sie und unterdrückte das ungute Gefühl im Magen. Sie musste lediglich fortfahren, die Frau darzustellen, für die jeder sie hielt. Eine junge Landfrau würde den großen Earl sicher nicht interessieren.

Sie musste unbedingt ihre Rolle weiterspielen und sich nicht jedes Mal erschrocken abwenden, wenn sein Blick sie zufällig traf. Sie verzog das Gesicht, als ihr einfiel, dass sie dem Squire gegenüber zu erkennen gegeben hatte, den Earl als „Puzzlebreaker“ zu kennen. Das war ein äußerst dummer Patzer gewesen, denn schließlich war dessen Freizeitbeschäftigung nur in besseren Kreisen bekannt – zu denen sie ihrer Rolle entsprechend eben nicht gehörte. Der „Puzzlebreaker“ wurde der Earl von vielen genannt, weil er einen Klub für Gentlemen gegründet hatte, in dem man sich mit Schlagfertigkeiten und cleveren Aphorismen beschäftigte. Er war ein begabter Mathematiker und gehörte zu den Beratern des Königshauses. Doch solange Laura nichts sagte oder tat, das diesen scharfen Verstand beschäftigte oder seine Neugier entfachte, würde sie sicher sein.

Sei fade und dumm, ermahnte sie sich. So unauffällig wie die schmutzig braune Farbe, die sie stets trug, so schlicht wie die unförmigen, übergroßen Kleider, die sie von ihrer Wohltäterin geerbt hatte.

Und sie musste unbedingt dem Earl aus dem Weg gehen.

Der dumpfe Kopfschmerz kam von den Haarnadeln, die ihre langen, geflochtenen Zöpfe bereits zu viele Stunden lang festgehalten hatten. Mit einem erleichterten Seufzer löste sie die Nadeln, band sich eine lange, ausgefranste Schürze um und begann, sich die Haare zu waschen.

Beau lächelte beim Anblick des bescheidenen Einspänners und des noch bescheideneren kastanienbraunen Pferdes, das den Wagen zog. Im Londoner Four Horse Club würde man ihn auslachen, wenn man ihn so sähe.

Nach ein paar Stunden Schlaf fühlte er sich inzwischen etwas besser. Die tiefe Sorge um Kit hatte ihn aus dem Schlummer geweckt, und er hatte nach dem Erwachen sofort seinen Bruder aufgesucht. Der Kranke war nicht mehr so blass gewesen, sondern vielmehr unheilvoll gerötet. Seine Atmung ging schnell und flach, und das gab offenbar neuen Anlass zur Besorgnis – Macs Gesichtsausdruck war ziemlich beunruhigt.

Sein Freund machte inzwischen auch einen sehr erschöpften Eindruck. Beau beschloss, es sei besser, wenn Mac schlafen gehen und Mrs Martin die Pflege wieder übernehmen würde. Also hatte er angeboten, die Pflegerin abzuholen. Die Fahrt durch den warmen Herbstsonnenschein würde ihn auch vielleicht etwas von seinen düsteren Gedanken ablenken.

Wie vom Sohn des Squires beschrieben, war das Cottage nicht schwer zu finden. Beau hielt das Gig davor an und wartete, aber als kein Diener kam, kletterte er vom Wagen und suchte nach einem Pfosten, um den Braunen anzubinden. Als er keinen entdecken konnte, blickte er sich um. Sicher gab es hinter dem Haus eine Scheune.

Endlich fand er einen Schuppen, der recht alt aussah, aber noch ganz stabil zu sein schien. Er band das Pferd davor an und trat auf das Haus zu. Das Gartentor stand offen, und als er daran vorbeiging, trottete ein schwarz-weiß gefleckter Hund heraus und blieb stehen, als er ihn sah.

Beau hockte sich hin und streckte dem Tier die Hand entgegen. Nach kurzem Zögern war der Hund offenbar der Meinung, dass Beau keine Bedrohung darstellte, und schlenderte auf ihn zu. Beau kraulte ihn hinter den Ohren und wurde zum Dank dafür begeistert abgeleckt. Dann wälzte sich der Hund vor ihm auf dem Boden und zeigte ihm seinen Bauch.

„Du bist ja mal ein schöner Wachhund! Wo ist denn dein Frauchen?“

Der Hund wartete noch einen Moment, aber als er nicht wieder gekrault wurde, gab er auf, sprang hoch und rannte in den Garten. Beau folgte ihm schmunzelnd.

Hinter den Gartenmauern lagen gepflegte Beete, auf denen verschiedene Kräuter zwischen bunten Herbstastern, Steckrüben, Zwiebeln und Kohlköpfen wuchsen. Beau atmete die würzig duftende Luft tief ein, dann ging er zwischen den Beeten entlang, bis er aus dem Augenwinkel eine Bewegung beim Haus wahrnahm und stehen blieb.

Der Atem stockte ihm.

Eine junge Frau saß zurückgelehnt mit geschlossenen Augen auf einer Bank und hielt ihr Gesicht der milden Herbstsonne entgegen. Ihre gerade Nase, die geschwungenen Augenbrauen, hohen Wangenknochen und vollen Lippen glänzten golden im Sonnenlicht. Sie hatte den Kragen ihres Kleides abgenommen, und Beau konnte den Blick nicht von dem betörenden Dreieck sonnenbeschienener Haut abwenden, das vom Hals bis zum Rand einer alten Schürze reichte. Die Schürze bedeckte alles, was darunter war, aber Beau nahm erfreut zur Kenntnis, dass sich dieses Kleidungsstück eng an die üppigen Kurven seiner Trägerin schmiegte.

Die Frau trocknete ihr Haar in der Sonne. Die dichten, rotbraunen Locken lagen ausgebreitet über den Schultern und fielen wie ein glänzender Wasserfall über die Rückenlehne der Bank.

Nun kämmte sie mit den Fingern eine lange Strähne. Bei dieser Bewegung spannte sich der fadenscheinige Schürzenstoff über ihrem Körper. Der dünne weiße Stoff bildete deutlich die Form ihrer Brust ab, von den üppigen Rundungen bis zur sonnengeküssten Spitze.

Beau hatte plötzlich einen trockenen Mund, der noch trockener wurde, als eine lange Haarlocke von ihrer Schulter rutschte, am Rande der Schürze hängen blieb und sich wie die Hand eines Liebhabers um ihre Brust legte.

Sie stieß einen sanften Seufzer aus, und dabei öffnete sie ein wenig die Lippen. Wie eine Frau, die sich dem leisen Flüstern der Leidenschaft hingibt. Unwillkürlich reagierte sein Körper auf diesen betörenden Anblick. Es verlangte ihn, über ihre schimmernde Haut zu streichen, ihre honigsüßen Lippen zu kosten und mit den Fingern in den seidigweichen, kupferfarbenen Locken zu wühlen.

Mit leichtem Entsetzen stellte er nun allerdings fest, dass diese herrliche Vision, die ihn von Kopf bis Fuß erschauern ließ, die Frau war, die er bisher als mausgraue, unscheinbare Mrs Martin gekannt hatte.

Sein ganzer Körper kribbelte, und er hatte sich noch nicht wieder so weit im Griff, dass er hätte entscheiden können, was er jetzt tun sollte. Doch der Hund, den er völlig vergessen hatte, wählte diesen beklagenswert unpassenden Zeitpunkt, um zu seiner Herrin zu laufen.

Als ihre Hand abgeleckt wurde, richtete sie sich auf und öffnete ihre Augen, die so blau waren wie der klare Herbsthimmel. Doch als sie den Earl erkannte, schrie sie leise auf, sprang hoch und wich zurück.

Er empfand ein stechendes Gefühl des Verlustes, bemühte sich jedoch sogleich, sie zu beruhigen. „Bitte fürchten Sie sich nicht, Mrs Martin. Ich bin es, Hugh Bradsleigh – Kits Bruder. Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.“

Eigentlich tat es ihm gar nicht leid, denn diesen himmlischen Anblick hätte er nie zu Gesicht bekommen, wenn die zurückhaltende Mrs Martin seine Gegenwart früher bemerkt hätte. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass die schweigsame Frau, mit der er die ganze Nacht zusammengearbeitet hatte, und diese bezaubernde Sirene ein und dieselbe Person waren.

„L…Lord Beaulieu! Sie … Sie haben mich wirklich erschreckt. Misfit“, schalt sie den Hund, der Kopf und Schwanz hängen ließ, „warum hast du mich nicht gewarnt, dass wir einen Besucher haben?“

Beau lächelte. Hätte er dem Hund einen Knochen mitgebracht, hätte er ihn sicher sogar unbehelligt ins Haus gelassen.

Trotzdem – der Köter hatte ihn zu der Vision geführt, und Beau fühlte sich irgendwie verpflichtet, ihn deshalb in Schutz zu nehmen. „Er hat mich ziemlich genau überprüft, bevor er mich hereingelassen hat.“

Voller Bedauern sah Beau zu, wie Mrs Martin ihren Kragen zuknöpfte und dann ihr herrliches, sonnengetrocknetes Haar zu einem Knoten zusammenfasste. Er war zwar leicht schuldbewusst, weil er sie erschreckt hatte, aber nicht so sehr, dass er ihr verraten hätte, wo ihre Witwenhaube lag, nach der sie sich suchend umschaute.

Schließlich hob er die Haube auf und hielt sie lächelnd in der Hand. „Ihre Haube, Mrs Martin.“ Sie musste näher kommen, um sie von ihm entgegenzunehmen.

Er blieb einfach stehen und wartete darauf, dass sie zu ihm kam.

Sie trat die wenigen Schritte auf ihn zu, dann griff sie hastig nach der Haube. Ihre Hand streifte seine, und ihre Finger berührten sich für einen Moment.

Die kurze Berührung entflammte jede Faser in seinem Körper. Und sie spürte offenbar das Gleiche, wie er hocherfreut regis­trierte, denn sie sperrte die blauen Augen weit auf und öffnete erstaunt ein wenig den Mund. Einen Moment lang vergaß sie sogar, die Haube aufzusetzen.

Autor

Julia Justiss
<p>Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
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