Men of Midnight - 3-teilige Serie

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RÜCKKEHR AN DEN ORT MEINER TRÄUME
Für Mara MacTavish ist das kleine Dorf Druidheachd in den schottischen Highlands genau der richtige Ort für einen Neubeginn. Hier, wo Mythen noch lebendig sind, hofft sie, Ruhe zu finden. Nicht zuletzt vor ihren eigenen Visionen.Auch Duncan Sinclair sucht in seinem Heimatdorf Zuflucht. Das Scheitern seiner Ehe hat bei ihm und vor allem bei seiner Tochter April tiefe Wunden gerissen. Jetzt will Duncan seine Tochter um jeden Preis vor weiteren Enttäuschungen bewahren. Entsprechend misstrauisch beobachtet er die wachsende Freundschaft zwischen April und der geheimnisvollen Fremden. Dann aber verschwindet seine Tochter und Duncan muss sich entscheiden, ob er Mara vertrauen darf.

IN DEN ARMEN DES SCHICKSALS
Iain Ross glaubt nicht an die alten schottischen Mythen und Legenden. Doch als er die schöne Fremde aus dem eisigen Loch Ceo vor dem Ertrinken rettet, ist es, als würde seine Seele berührt. Er kann und will die amerikanische Wissenschaftlerin nicht mehr aus seinem Leben entlassen - womit Billie Harper durchaus einverstanden ist. Und dennoch: ihre Liebe zueinander soll nicht sein: So sehr Ross' Herz sich auch nach ihr sehnt - der jahrhundertealte Fluch, der über seinem Haus liegt, zwingt sie dazu, scheinbar für immer getrennt zu bleiben...

... WIE GESPENSTER IN DER NACHT
Nebelverhangen liegt der See vor ihm. Wie immer, wenn Andrew MacDougall Vergessen sucht, tritt er ans Ufer des Loch Cee. Hier verspürt er den Trost und die Sicherheit seiner schottischen Heimat, in der Mythen und Legenden noch lebendig zu sein scheinen.

Fiona Sinclair glaubt nicht an Märchen. Und doch ist das immer wiederkehrende Motiv in den Zeichnungen der erfolgreichen Kinderbuchillustratorin das sagenumwobene Seeungeheuer von Loch Cee. Seit Fiona nach einem tragischen Unfall ihren Geburtsort Druidheachd verlassen musste, hat es sie nicht losgelassen.

Nun bringt das Schicksal Andrew und Fiona erneut zusammen. Eine alte Liebe erwacht zu neuem Leben. Die aber kann nur eine Zukunft haben, wenn sich beide ihrer Vergangenheit stellen.


  • Erscheinungstag 15.10.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955764937
  • Seitenanzahl 1008
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Emilie Richards

Men of Midnight
3-teilige Serie

PROLOG

1965

Babys, lauter kleine Babys. Und niemand war da, um ihnen auf die Welt zu helfen.

Dr. Angus Sutherland wünschte, er hätte nicht so tief ins Glas mit dem Glenmorangie geschaut. Ein dankbarer Patient hatte ihm eine ganze Flasche davon geschenkt. Aber es war eine kalte Nacht, und kaum ein Stern zeigte sich am Himmel. Das passte zu Halloween. So eine Nacht war wie geschaffen dafür, um sich mit einer Flasche guten Whiskeys und einem starken Schloss vor der Tür zurückzuziehen.

Leider hatte er nur das eine, aber nicht das andere.

„Gleich drei! Ich fasse es nicht! Drei auf einmal! Bisher sind in diesem Jahr insgesamt erst vier Babys im Krankenhaus zur Welt gekommen.“ Jeanne Maxwell stemmte die Hände auf ihre ausladenden Hüften und schürzte die schmalen Lippen, mit denen Gott sie gesegnet hatte. „Ich habe schon eine Kanne starken, heißen Tee gekocht“, fuhr sie fort. „Aber Sie haben keine Zeit, ihn richtig zu genießen. Sie müssen ihn schnell trinken. Bis auf den letzten Tropfen.“

„Glauben Sie wirklich, dass sie alle heute Nacht zur Welt kommen?“ Angus nahm seinen Schal ab und schlüpfte aus dem Mantel. Vermutlich lag es an dem Whiskey, dass er sich noch einmal vergewissern musste, denn Jeanne hatte sich bereits unmissverständlich geäußert.

Jetzt hängte sie den Mantel an einen Haken. „Jawohl. Und ich glaube schon, dass sie bald kommen. Mit oder ohne Ihre Hilfe. Aber es wäre besser, wenn Sie ihnen dabei helfen würden.“

„Es ist eine kalte Nacht, Jeanne. Eine nasse, kalte Nacht. Wir beide sollten es uns zu Hause vor einem schönen Feuer gemütlich machen.“

„Sollen wir die Damen nach Hause schicken und sie bitten, morgen früh wiederzukommen?“

Auch wenn alles andere verschwommen sein mochte wie ein nebliger Herbstmorgen in den Highlands, war Jeannes Gesichtsausdruck absolut klar. Sie war eine stämmige, patente Frau, die nicht einmal in ihren besten Jahren schön gewesen war. Aber sie hatte sich ein frisches Aussehen und einen festen Blick bewahrt. Jetzt sah sie ihn allerdings eher missbilligend an.

Angus seufzte. „Bringen Sie den Tee, während ich mich wasche.“ Er ging zum Waschbecken in der Ecke, drehte den Wasserhahn auf und begann seine Hände zu schrubben. „Was meinen Sie, wen ich zuerst untersuchen soll?“

„Ich würde Ihnen raten, zuerst nach Lady Ross zu sehen. Immerhin ist sie die Frau des Lords. Aber sie hat noch ein bisschen mehr Zeit als Mrs. Sinclair. Sie wird die Erste sein.“ Sie machte eine Pause. „So Gott will.“

„Und Mrs. MacDougall?“

Jeanne zuckte die Achseln.

Er erkannte die Aussage, die sich hinter dieser Geste verbarg. Jeanne hatte eigentlich keine Ahnung, in welcher Reihenfolge die drei Frauen, die in den beiden Zimmern nebenan die unterschiedlichsten Seufzer von sich gaben, ihre Kinder zur Welt bringen würden.

Seit zwanzig Jahren war Angus Arzt. Achtzehn Jahre davon hatte er hier in diesem aus grauen Steinen gemauerten Krankenhaus in dem winzigen Dorf Druidheachd im abgelegensten Teil der Highlands verbracht. Doch er galt immer noch als Fremder. Er war der Doktor aus Edinburgh, der nur auf einen kurzen Urlaub hierher gekommen und nie wieder in sein feines Stadthospital zurückgekehrt war. Manche glaubten, er sei wegen der klaren Luft geblieben, Andere meinten, eine Hexe habe ihn mit einem Zauber belegt, damit er blieb. Nur wenige wussten, dass Angus begriffen hatte, welchen Wert die einfachen Dinge und Menschen besaßen. Er kannte den Namen und die Geschichte von jedem Bewohner im Umkreis von zwanzig Meilen. Und nun stand er kurz davor, drei weiteren kleinen Menschenkindern auf die Welt zu helfen, die alle ihre eigene Geschichte haben würden. In wenigen Stunden, möglicherweise sogar nur Minuten, würde es so weit sein.

„Ich werde meinen Lebtag nicht verstehen, warum die Frauen so lange warten, bis sie zu mir kommen“, sagte er, während er seine Hände gründlich einseifte, den Schaum abspülte und ein weiteres Mal zur Seife griff.

„Mrs. MacDougall wollte eigentlich zu Hause entbinden, mit der Hilfe ihrer alten Großmutter. Aber als die alte Dame ständig einnickte, änderte sie ihre Meinung. Der Lord und seine Frau machten sich bei der ersten Wehe auf den Weg nach Glasgow, aber dann merkten sie, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würden, und kehrten wieder um. Und Mrs. Sinclair hatte nicht geglaubt, dass das Baby so schnell kommen würde. Außerdem haben Sie geschlafen und sich geweigert, ans Telefon zu gehen, sodass ich erst einen Burschen losschicken musste, um Sie zu wecken.“

Er ignorierte den letzten Teil ihrer Erklärung. „Ich werde mir zuerst Mrs. Sinclair anschauen. Ich glaube, dass die lautesten Schreie von ihr kommen.“

„Es ist fast Mitternacht.“ Jeanne sah auf die Uhr. „Und ihr Mann ist immer noch nicht zurück. Er hat sie hergebracht und ist wieder verschwunden.“

„Donald Sinclair ist kein Mann, der jemanden trösten könnte. Wahrscheinlich sitzt er im Pub und zählt die Einnahmen aus dieser Nacht. Wir werden sie ein wenig beruhigen müssen.“

„Terence MacDougall ist auch nicht hier“, sagte Jeanne. „Das Geld, das Donald Sinclair zählt, stammt vermutlich zum großen Teil von ihm.“

Angus Kopf begann zu schmerzen. „Und der Lord?“

„Steht neben dem Bett seiner Frau. Und wartet auf Sie.“

Rasch fand Angus diese Aussage bestätigt. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer wurden lauter. Er stürzte seinen Tee hinunter und schrubbte sich ein letztes Mal die Hände. Als er sich die Gummihandschuhe anzog, sah er, dass Jeanne sich ebenfalls wusch und Handschuhe anzog.

Im ersten Zimmer standen zwei Betten. Ein Mann mit silbriggrauen Haaren stand in aristokratischer Haltung neben einem davon. Es war Malcolm Ross, der zehnte Lord of Druidheachd. Mary, seine Frau, hätte nächste Woche nach Glasgow ziehen sollen, um in der Nähe eines modernen Krankenhauses mit der besten medizinischen Ausstattung zu sein. Entweder kam das Baby zu früh, oder ein hoch gefeierter Spezialist konnte nicht richtig rechnen.

Neben dem Bett von Mrs. Ross warf sich Melissa Sinclair von einer Seite zur anderen. Sie war mit dem Wirt des Landgasthofs verheiratet. Angus wusste, dass Mrs. Sinclair ihr Kind nicht zu Hause zur Welt bringen wollte. Sie war Amerikanerin, und sie hasste alles an Druidheachd, einschließlich – so fürchtete er – ihres schottischen Gatten.

Im nächsten Raum, außer Sichtweite, aber gut zu hören, lag Jane MacDougall, die Frau des größten Taugenichts im Ort. Wenn er nicht trank oder seinen Rausch ausschlief, ging Terence MacDougall fischen oder führte die Touristen herum, die sich gelegentlich so tief in die Highlands hineinwagten, um einen Blick auf das Ungeheuer im Loch Ceo zu erhaschen.

„Meine Frau kommt zuerst“, erklärte der Lord mit ruhiger Stimme.

Angus blieb kaum etwas anderes übrig. Er empfand Mitleid mit den beiden Frauen, deren Männer sie allein ihrem Schicksal überlassen hatten. Er trat auf das Bett von Mary Ross zu.

„Es kommt! Mein Baby kommt!“, schrie Melissa Sinclair aus dem Zimmer nebenan.

Mit zitternden Händen ignorierte Angus den Schrei und schlug das Laken zurück, das Mary Ross bedeckte und sah, dass sie ebenfalls so weit war, obwohl sie grimmiges Schweigen bewahrte. Es blieb nicht mehr viel zu tun, außer den Sohn des Lords in Empfang zu nehmen, als Mary ein letztes Mal mit aller Kraft presste. Jeanne erreichte Melissa Sinclair fast im selben Moment und mit demselben Ergebnis. Und als sie beim Klang der Kirchenglocke Seite an Seite die Babys entbanden, hörten sie den kräftigen Schrei eines Neugeborenen aus dem Nebenzimmer. Angus drückte dem erstaunten Lord seinen Sohn in die Arme und rannte zur Tür.

Ein Blick sagte ihm, dass Jane MacDougall ihre Sache auch ohne jede Hilfe sehr gut gemacht hatte.

Am nächsten Tag war in Druidheachd von nichts anderem die Rede als von den Geburten. Drei gesunde Jungs, geboren im selben Augenblick. Um Mitternacht, um genau zu sein. Niemand, weder der Doktor, noch Jeanne und ganz gewiss nicht die stolzen Mütter konnten sagen, welches der winzigen Kerlchen zuerst da gewesen war.

„Margaret Henley sagt, es sei ein Zeichen, dass die drei Knirpse im selben Moment geboren wurden“, vertraute Jeanne an diesem Nachmittag Angus an, als dieser gerade ein wohlverdientes Schlückchen Glenmorangie trank, von derselben Flasche, die er gestern bereits angebrochen hatte. „Sie sagt, sie haben ihr Leben zusammen begonnen und dürfen jetzt nicht getrennt werden. Sie nennt sie die Mitternachtsjungs.“

Angus wusste, dass man im Dorf akzeptierte, was Margaret mit ihren neunzig Jahren sagte. Schließlich war allgemein bekannt, dass sie eine Seherin war. Die armen kleinen Men of Midnight würden diesen Titel tragen, bis wirklich Männer aus ihnen geworden waren. „Wenn sie älter sind, werden sie zusammen zur Schule gehen“, sagte er. „Aber glauben Sie wirklich, dass Kinder von solch unterschiedlicher Herkunft wie Brüder aufwachsen werden? Ich kann es mir nicht vorstellen.“

Aber Margarets Verkündung wurde im ganzen Dorf bekannt. Sie sickerte durch die Eingangstür des moosbedeckten Hotels, wand sich die prachtvolle Wendeltreppe im Anwesen des Lords empor und schlüpfte durch die Bohlen des ärmlichen Cottages am Ufer des Loch Ceo. Duncan Sinclair, Iain Ross und Andrew MacDougall waren durch die außergewöhnlichen Umstände ihrer Geburt miteinander verbunden. Es war ihre Bestimmung, dass ihre Schritte sie stets über denselben Boden führte.

Und so war es auch. Selbst, nachdem sie zu Männern herangewachsen waren.

1. KAPITEL

Einen Moment lang waren die Hügel unterhalb des Gipfels, auf dem Mara stand, mit hellen Flecken aus Sonnenlicht gesprenkelt. Im nächsten Augenblick rasten Schatten und zerrissene, unruhige Nebelfetzen über sie hinweg. Schaudernd zog sie ihren langen Umhang fester um sich und machte sich auf den Heimweg.

Als Kind hatte Mara einmal den Süden Englands besucht. Überrascht hatte sie festgestellt, dass die Nacht dort mit einer ruhigen, geordneten Regelmäßigkeit hereinbrach, selbst im Sommer. Noch mehr als im Rest von Schottland schienen hier in den Highlands die Tage entweder nur aus Dunkelheit zu bestehen oder es wurde überhaupt nicht richtig Nacht. Jetzt, wo der Winter beinahe vorüber war, senkte sich der schwarze Samtvorhang, der den Nachmittag auslöschte, immer später, aber die Tage waren ihr noch immer nicht lang genug.

Guiser, der Border Collie, den Mara im vorigen Jahr gegen ein Dutzend Stränge handgesponnener Wolle eingetauscht hatte, gesellte sich zu ihr. Ihre kleine Schafherde war sicher in dem steinernen Pferch hinter ihr untergebracht, und die Kühe standen in ihrem Stall. Nach dem Tee würde Guiser seine Aufgabe als Hütehund wieder erfüllen, aber bis dahin hatte er sich eine Pause verdient.

„Aye, es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen“, stimmte sie zu. „Ich habe einen ganzen Eimer Reste für dich, und für mich köchelt eine Suppe auf dem Herd.“ Guiser trottete neben ihr den Hügel hinauf und den windigen Pfad entlang, der bis zum strohgedeckten Cottage führte, das Mara ihr Zuhause nannte. Im Inneren des Häuschens streckte er sich vor dem Feuer aus, aber sein Blick folgte ihr, als sie zum Küchenschrank ging.

„Das wird dir schmecken. In ganz Glasgow und Edinburgh findest du nichts Vergleichbares. Du wirst speisen wie ein König.“

Sie nahm eine Schüssel mit Essensresten, die sie seit dem Morgen gesammelt hatte, und ging zu seinem Napf. Sie wollte ihn gerade füllen, als ihre Hand mitten in der Luft erstarrte. Als das vertraute Gefühl sie überkam, schloss sie die Augen.

Sie versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, den Duft der köchelnden Suppe oder den beißenden Geruch des Torffeuers. Dabei wusste sie doch, wie nutzlos es war, sich gegen die Bilder zu wehren, die langsam in ihrem Kopf entstanden.

Guiser knurrte. Dann sprang er auf und lief zur Tür, die Mara nicht ganz hinter sich geschlossen hatte. Er zwängte seine Schnauze in den Spalt, stieß die Tür auf und war im nächsten Moment verschwunden.

Inzwischen war es dunkel geworden. Mara trat ans Fenster, aber sie konnte nichts sehen außer Dunkelheit und Schwärze. Sie folgte Guiser im Geiste. Wie ein schwarzweißer Fleck flitzte der Hund den Hügel hinab in Richtung Straße. Das war der einzige Weg den Beinn Domhain hinauf. Aus der Ferne beobachtete Mara, wie das Tier schweigend patrouillierte und auf etwas wartete, ohne zu wissen, worauf.

Es war nicht das erste Mal, dass der Hund die Gefühle seiner Herrin wahrnahm. Wie konnte er wissen, dass sie spürte, was geschehen würde? Sie stellte sich vor, dass sie ihm ihre Ahnung auf irgendeine Weise mitteilte. Er war ein außergewöhnlich intelligentes Tier. Sie hatte ihn Guiser genannt, ein schottisches Wort für jemanden, der sich verkleidet hatte, weil sie davon überzeugt war, dass er nicht einfach nur ein Hund war. Natürlich war das albern, vor allem, da kein Mensch, den sie je näher kennengelernt hatte, so ein feines Gespür hatte wie Guiser.

Die Eindrücke wurden intensiver, und sie hörte auf, sie zu bekämpfen. In ihrem Geist zeichnete sich das Bild eines Mannes ab. Er war groß, aber nicht riesig. Muskulös, aber kein Gewichtheber. Sie war Spinnerin und Färberin, und sie verglich Farben stets mit dem, was sie auf dem Land und im Himmel sah. Die Haare des Mannes waren braun wie der Schatten eines Waldes, und die Augen hatten das klare, schillernde Grau, das man manchmal am Rand von Gewitterwolken sah.

Seinen Namen kannte sie nicht.

Mara fragte sich, warum sie eine Vision dieses Mannes hatte, eines Fremden. Unbehagen erfüllte sie. Dann verschwand er so plötzlich, wie er aufgetaucht war, aus ihrem Geist, und sein Gesicht wurde durch ein anderes ersetzt. Dieses Gesicht kannte sie. Es gehörte Geordie Smith, der allein in einem Bauernhaus an der Straße nach Druidheachd lebte. Wenn eine halbe Flasche Whiskey sein Inneres wärmte und die Berge und Täler seiner geliebten Highlands sich zu seinen Füßen ausdehnten, hielt er sich für einen Poeten. Weit und breit war er als ein Mann bekannt, der mehr Herz als Verstand besaß.

Die Augen immer noch geschlossen, sah Mara, wie Guiser es aufgab, die Straße zu beobachten. Er drehte sich um und erklomm den Berg. Sein Futter wartete.

Mara wollte die letzten paar Minuten vergessen. Sie wollte, dass ihr Leben genau so weiterging wie bisher.

Doch sie wusste es besser, und so hoffte sie nicht wirklich darauf.

Duncan Sinclair hatte vergessen, wie rasch im Winter in den Highlands die Nacht hereinbrach. Im Moment fühlte er sich, als sei sein Herz zu Eis gefroren, und er war fast erstaunt, als er feststellte, dass auch außerhalb von ihm Winter war.

Seit seinem achten Lebensjahr hatte er nicht mehr in Schottland gelebt. Seine Jugend hatte er in New York verbracht, wo er seinen schottischen Akzent, seine Wurzeln und seine Unschuld verloren hatte. Als Junge war er jeden Sommer für ein paar Wochen zurückgekehrt, um Donald Sinclair zu besuchen. Heute hatte er seinen Vater auf dem Friedhof neben der Dorfkirche beerdigt. Es war mehr als zwanzig Jahre her, seit Duncan die Highlands im März gesehen hatte.

Als der Himmel sich verdunkelte, bildete sein Atem kleine Wölkchen, und seine Fingerspitzen in den Handschuhen wurden taub. Er schob die Hände tiefer in die Taschen und wanderte weiter. Er war sich nicht sicher, wann ihm klar geworden war, dass er sich besser auf den Rückweg zum Minibus machte. Er war den schmalen Pfad zu dem kleinen See in den Bergen hinuntergestiegen, an dem er mit seinen Freunden Andrew MacDougall und Iain Ross gezeltet hatte, doch von einem Moment auf den anderen war er umgekehrt, ohne sein Ziel zu kennen.

Er war kein Mann, der so einfach aufgab. Es gab nur wenige Schlachten, die er nicht bis zum Ende durchgefochten hatte und nur wenige Ziele, die er nicht erreicht hatte. Mit achtzehn war er von zu Hause fortgegangen, hatte das College geschafft und sofort danach eine Werbeagentur gegründet. Zu seinen besten Zeiten hatte er einige der begehrtesten Kunden in ganz Südkalifornien betreut. Nebenbei hatte er um die Frau geworben und sie schließlich gewonnen, von der er dachte, er könne ohne sie nicht leben.

Dann, im letzten Jahr, mit neunundzwanzig, hatte er alles aufgegeben, um die wichtigsten Ziele seines Lebens zu erreichen: die Scheidung und das alleinige Sorgerecht für seine sechsjährige Tochter April.

Warum also war er heute umgekehrt? Er vermutete, dass der Gedanke an April ihn beeinflusst hatte, auch wenn sie tausend Meilen entfernt in New York bei seiner Mutter und seiner Schwester Fiona war. Er konnte sich nicht länger den Luxus gestatten, Risiken einzugehen. Nicht einmal so ein kleines, wie allein im Zwielicht einen Bergpfad entlangzugehen. Duncan war das einzig Beständige in Aprils Leben.

Er hielt inne, um Luft zu holen. Um ihn herum wurde es rasch dunkel. Eine feuchte Kälte kroch durch seine Skijacke und die wollene Unterhose. Selbst seine Füße wurden kalt, obwohl sie in dicken Socken und wasserfesten Lederstiefeln steckten.

Wie weit war er gekommen? Er wusste es nicht. Seine Freunde Iain und Andrew hatten ihn gewarnt, vorsichtig zu sein. Sie hatten ihn daran erinnert, dass die Entfernungen in den Bergen trügerisch sein konnten, und dass er sich wahrscheinlich an den größten Teil der Ausflüge aus ihrer Kindheit nicht mehr erinnerte. Mit einem Achselzucken hatte er ihre Warnungen abgetan, so wie er auch die Beileidsbekundungen der Dorfbewohner nach der Beerdigung mit unbewegter Miene hinter sich gebracht hatte. Ratschläge waren ihm ebenso zuwider wie Rührseligkeit. Es hatte ihm gar nicht gefallen, wie sehr ihn die Herzlichkeit von beidem heute innerlich berührt hatte.

Er ging den Pfad zurück und beschleunigte seine Schritte, während er in der immer tiefer werdenden Dunkelheit nach bekannten Landmarken Ausschau hielt. Er umrundete einen Hügel und erwartete fast, den alten Minibus des Hotels an der schmalen Straße zu sehen. Doch um ihn herum erstreckte sich nichts als die weite Hügellandschaft, durchzogen von dem kaum erkennbaren Pfad.

Hinter der nächsten Kurve erhob sich ein Felsbrocken auf einer Lichtung. Die Form war ungewöhnlich, denn an der Spitze war er breiter als am Fuß. Als er den Fels anstarrte, stiegen Erinnerungen in ihm auf, wie er als Junge darauf herumgeklettert war. Er, Andrew und Iain hatten hier gespielt. Sie waren die Könige der Berge gewesen und hatten den mit Flechten übersäten Brocken erklommen und sich gegenseitig über den Rand geschubst. Der Felsen war ihm vorher nicht aufgefallen, aber jetzt wusste er sicher, wo er war. Zumindest hatte er sich nicht verlaufen.

Er machte eine kurze Pause. Nebelschwaden hingen über der Lichtung. Diese war breit und lang, und im Sommer blühte es hier üppig wie auf einer Wiese. Es war eine überraschende Oase mit hohen Gräsern und Wildblumen. Jetzt war die Vegetation braun und schneebedeckt. Den Felsen hinter ihm entsprangen Quellen, und es gab unzählige Höhlen. Als Teenager hatte er sie alle erforscht. Mit sechzehn war er einmal kurz davor gewesen, in eine der Höhlen zu ziehen. Eines Tages hatte sein Vater, der schon unter normalen Umständen streng gewesen war, entdeckt, dass alle Tomatenpflanzen im Gewächshaus des Hotels eingegangen waren, weil Duncan vergessen hatte, sie zu gießen.

Während er in die Ferne starrte und sich an den Mann erinnerte, den er heute beerdigt hatte, fiel ihm aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf. Er kniff die Augen zusammen und suchte nach dem Ursprung. Nicht weit entfernt wiegten sich ein paar Ebereschen im aufkommenden Wind. Genau unterhalb davon wuchsen dichte Haselnusssträucher und Buchenschößlinge, sie sich unruhig hin und her bewegten. Duncan starrte in die Dunkelheit hinter den tanzenden Silhouetten, aber er konnte nichts weiter erkennen.

Er hatte sich bereits wieder auf den Weg den Pfad entlang gemacht, als ein durchdringendes Pfeifen ihn stehen bleiben ließ. Erneut drehte er sich zu den Bäumen um, aber das pfeifende Geräusch war nichts anderes als der Wind gewesen. Er schien ihn zu warnen, dass es rasch Nacht wurde und er sich beeilen sollte, um den Bus zu erreichen. Duncan wollte gerade weitergehen, als erneut etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Er drehte sich wieder um, um einen letzten Blick zurück zu werfen. Es gab eine wahrnehmbare Veränderung in den Elementen, die ihn umgaben. Das Pfeifen wurde zu einem spitzen Schrei, fast zu einem Heulen, und der Wind, den er für das Pfeifen verantwortlich gemacht hatte, erstarb vollkommen. Selbst die Bäume standen vollkommen still.

Aber hinter ihnen bewegte sich etwas.

Er trat einen Schritt vor und spähte in die Dunkelheit. „Hallo? Ist da jemand?“, rief er. Niemand antwortete.

„Hallo?“, rief er noch einmal etwas lauter.

Es gab Tiere hier in den Bergen. Schafe und gelegentlich Füchse oder wilde Hunde. Aber Duncan erwartete nicht, irgendwelche Vierbeiner zu sehen. Was immer er aus den Augenwinkeln gesehen hatte, war größer gewesen und lief auf zwei Beinen. Entweder hatte er sich das eingebildet, oder hier draußen war tatsächlich noch ein anderer Mensch.

Er zögerte. Wenn jemand hier war, wollte dieser Jemand offensichtlich allein gelassen werden, da er oder sie nicht antwortete. Vielleicht war es ein Bauer von einem der umliegenden Höfe, der nach einem verirrten Schaf suchte. Duncan war sich nicht sicher, ob er das Recht hatte, diesen Pfad zu benutzen, der vermutlich über Privatland führte. Sein Wissen über das schottische Recht war ebenso nebelhaft wie die Wiese. Aber egal, ob er das Recht hatte, hier zu sein oder nicht, er hatte nicht das Recht, den Besitzer des Landes zu stören.

Obwohl er sich selbst überzeugt hatte, dass er gehen musste, rührte er sich nicht von der Stelle. Wie sein Vater ließ er sich in seinem Handeln nie von seinen Gefühlen leiten, doch irgendetwas ließ ihn angewurzelt stehen bleiben. Verärgert über sich selbst rief er noch einmal: „Hallo?“

Niemand antwortete, zumindest nicht auf eine Weise, die er erwartet hätte. Er nahm keine Bewegung mehr wahr, aber ein Lichtstrahl beleuchtete jene Stelle, wo er meinte, jemanden gesehen zu haben. Für den Mond war es noch zu früh, und für die Sonne zu spät. Neugierig trat er näher. Das Licht war genau auf eine Stelle gerichtet und sehr intensiv. Er hatte so etwas noch nie gesehen, aber er empfand keine Furcht. Das Tageslicht schwand dahin, und der Nebel wurde dichter. In der Kombination aus Zwielicht, Nebel und Luftströmungen von den Bergen konnte es leicht zu allen möglichen Irrlichtern kommen. Er war gerade Zeuge eines solchen Schauspiels.

Er wog sein Bedürfnis, zurück zur Straße zu gehen, gegen seine Neugier ab, die Sache noch ein wenig genauer zu untersuchen. Achselzuckend setzte er sich schließlich in Bewegung und überquerte die Lichtung. Die Bäume waren weiter entfernt, als er gedacht hatte, und das Licht wurde immer heller. Als er näher kam, stellte er fest, dass es einen seltsamen grünen Schimmer hatte. Die Farbe allein war schon merkwürdig genug, aber noch eigenartiger war seine Form. Es war ein schmaler Streifen, so breit wie ein kleiner Baum oder ein Mensch. Als es durch die blattlosen Zweige der Bäume fiel, war es so konzentriert wie ein Laserstrahl.

Niemand war in der Nähe. Duncan fragte sich, ob er das Licht vielleicht für einen Menschen gehalten hatte. Möglicherweise hatten seine Augen ihm einen Streich gespielt. Seine Hände und Füße wurden kälter, und seine Abenteuerlust ließ langsam nach. Er hatte sein Ziel immer noch nicht erreicht, aber es schien ziemlich sinnlos zu sein, die letzten fünfzig Meter auch noch hinter sich zu bringen.

Da hörte er erneut diesen Schrei.

Er begann zu laufen. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an Bauern, die nach verirrten Schafen suchten, oder an interessante Lichtspiegelungen. Als er durch das Unterholz stürmte, konnte er den Boden sehen, auf den das Licht sich konzentrierte. Dort lag ein Mann mit geschlossenen Augen auf dem Rücken.

Duncan kniete sich neben ihn und schlug dem Mann sanft auf die Wangen. „Hallo! Können Sie mich hören?“

Der Mann war klein und dunkel. Er hatte zwar einige Speckpolster, aber für diese Witterung war er nicht richtig gekleidet. Eine leere Whiskeyflasche lag neben ihm auf der Erde. Duncan packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Können Sie mich hören?“

„Ich bezweifle, dass er in der nächsten Zeit irgendetwas verstehen wird.“

Duncan fuhr herum. Am Rande des Lichts, gerade noch im Schatten, stand eine Gestalt in einem langen Umhang mit Kapuze. „Wo in Gottes Namen kommen Sie denn her?“, wollte er wissen. „Wie lange stehen Sie schon hier?“

„Lange genug, um froh zu sein, dass Sie gekommen sind.“

Die Stimme war die einer Frau, sanft und leise wie die Schaumkronen auf dem Meer. Duncan blinzelte in die Dunkelheit, und die Frau glitt näher heran, als wollte sie ihm einen besseren Blick gewähren. Ihr Umhang bauschte sich. Unmengen von Wollstoff schienen dafür verarbeitet worden zu sein, und er wirkte ebenso weich wie ihre Stimme.

„Kennen Sie diesen Mann?“, fragte Duncan. „Und wissen Sie, was zur Hölle er hier macht?“

„So wie er aussieht, würde ich sagen, er friert sich gerade zu Tode.“

„Das habe ich auch schon herausgefunden.“

„Sein Name ist Geordie Smith. Und ich glaube, dass er sich ziemlich häufig in so einem Zustand befindet.“

Es war zu dunkel, um sie wirklich zu erkennen. Sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass nur ihre Nase hervorzulugen schien. Ihre Augen waren kaum zu erkennen, doch als sie besorgt an der Unterlippe nagte, sah er ihre weißen und ebenmäßigen Zähne. Er schaute wieder den Mann auf dem Boden an. „Im Augenblick spielt es keine Rolle, wie oft er betrunken ist, sondern nur, ob er das letzte Saufgelage überlebt oder nicht.“

„Er wird es überleben. Jetzt, wo Sie hier sind, wird ihm nichts mehr geschehen.“

Wie zum Beweis, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, flatterten die Augenlider des Mannes, und er begann zu stöhnen. Duncan beugte sich tiefer zu ihm herunter. Der Mann, den sie Geordie genannt hatte, stank wie eine Whiskeybrennerei.

Das Stöhnen wurde zu einem kaum verständlichen Gebrabbel. „Weris da?“

„Mein Name ist Duncan Sinclair. Was zum Teufel machen Sie ganz allein hier draußen?“

Mühsam richtete Geordie sich auf. Duncan half ihm dabei. Es war ein schweres Stück Arbeit, und zum Schluss musste er ihm noch einen Arm um die Schulter legen, damit er nicht umkippte. Geordie wurde noch blasser.

„Sind Sie in Ordnung?“, fragte Duncan.

„Natürlich nich. Ich bin tot.“

„Sehe ich etwa aus wie ein Engel?“

„Sie brauchen keine Rücksicht auf meine Gefühle zu nehmen. Ich bin tot.“

Duncan hockte sich auf die Fersen. „Noch nicht. Aber es wird nicht mehr lange dauern, falls Sie die ganze Nacht auf dem Boden liegen bleiben. Was machen Sie hier? Oder sind Sie so betrunken, dass Sie sich nicht daran erinnern können?“

Geordie machte ein beleidigtes Gesicht. „Eins sag ich Ihnen … Ich bin nich betrunken! Ich bin ein Poet! Ein Dichter!“

„Das erklärt natürlich einiges.“

„Ich bin hier, um mich inschpi … inspiriern …“

Duncan überging Geordies Versuch, sich zu erklären und seine Würde zu retten. „Können Sie gehen?“

Geordie dachte darüber nach.

Duncan befürchtete, dass er sich damit die ganze Nacht Zeit lassen könnte. „Stehen Sie auf und probieren Sie es aus.“

„Ich glaube immer noch … ich bin bestimmt tot.“

„Zumindest werden Sie sich morgen wünschen, Sie wären es.“

„Wenn ich aber nich tot bin …“ Seine Augen wurden schmal. „Wer war dann die Lady in Grün?“

Duncan blickte auf. Das wüsste er selbst gern. Er hatte nicht daran gedacht, die Frau nach ihrem Namen zu fragen oder was sie hier draußen zu suchen hatte. Aber die Stelle, an der sie vorhin noch gestanden hatte, war verwaist. Er beugte sich vor und spähte in die Dunkelheit, aber es gab keinen Hinweis darauf, dass überhaupt noch jemand Drittes hier gewesen war.

Duncan wollte zurück ins Hotel und sich an einem schönen Feuer aufwärmen. Seine Geduld mit den Highlandern und die Sympathie für sie flauten merklich ab. Die Frau war nicht einmal lange genug geblieben, um sicher zu gehen, das Geordie heil nach Hause kam. Der Beweis, dass Geordie an seinem Zustand selbst schuld war, lag auf dem Boden zu ihren Füßen. „Sehen Sie, Mann, Sie sind immer noch betrunken, und vermutlich sind Sie auch unterkühlt. Verschwenden Sie nicht meine Zeit, indem Sie hier lange herumschwätzen. Versuchen Sie aufzustehen. Sie müssen irgendwohin, wo Sie sich aufwärmen können.“

„Ich habe eine Lady gesehen. In Grün. Ganz in Grün.“ Geordie schlug die Hände vors Gesicht. „Wenn sie kein Engel nich war …“

„Das war sie nicht“, versicherte Duncan ihm.

„… dann war sie ein Geist.“

„Was?“

Geordie begann zu weinen. Die dicken Tränen drohten, auf seinem Gesicht zu gefrieren. Seine Schultern bebten. „Sie hat mich gerettet. Ich wurde durch’n Wunder gerettet!“

„Ich habe Sie gerettet.“

„Nein. Sie hat Sie hierher geführt.“

„Sehen Sie, hier war eine Frau, aber sie ist gegangen, sobald sie gesehen hat, dass ich mich um alles kümmere. Sie war ein ganz normaler Mensch. Das ist alles. Es gibt keine Geister. Und wenn Sie sich nicht endlich bewegen, Geordie Wieauchimmer, wird es Sie auch nicht mehr lange geben.“

Mit Duncans Hilfe kam Geordie schließlich auf die Beine. Er torkelte ein paar Meter weit, während Duncan ihn am Ellenbogen festhielt. „Sie hat mir gesagt, ich soll mich hinlegen, das hat der Geist gesagt. Sie hat gesagt, dass ich in Sicherheit bin.“

„Das Einzige, was schlimmer ist als ein Geist, ist ein Geist, der schlechte Ratschläge erteilt.“

„Sie sind nich aus den Highlands“, sagte Geordie. Er hob den Kopf und hielt ihn oben, obwohl sein Kinn gefährlich schwankte. „Dann … könnse das auch nich verstehn.“

„Ich komme sehr wohl von hier. Und ich fürchte, ich verstehe Sie nur allzu gut.“

Geordie zitterte und verstummte. Am liebsten hätte Duncan den kleinen Mann auf der Lichtung zurückgelassen. Aber er wusste, dass Geordie selbst ein Geist oder Engel sein würde, ehe die Suchmannschaft aus Druidheachd zurückkäme. Also zog er seine Jacke aus und legte sie um Geordies Schultern. Der Wind schnitt durch seinen Wollpullover, aber anders als Geordie lief er nicht so schnell Gefahr, an Unterkühlung zu sterben. Mühselig stapften sie zurück. Zu Geordies Ehrenrettung musste Duncan zugeben, dass er mit ihm Schritt hielt.

„Finden Sie den Weg zurück zur Straße?“, fragte Duncan, als sie die Lichtung passiert hatten und wieder in der Nähe des Pfades waren.

„Aye. Mit Ihrer Hilfe wird es schon geh’n. Sie hat versprochen, dass ich in Sicherheit bin.“

So einen Tag hatte Duncan noch nie erlebt, in seinem ganzen Leben nicht. Er war mit seiner Geduld am Ende. „Sie sind betrunken, Mann. Und Sie sind ohnmächtig geworden und gestürzt, weil Sie zu betrunken zum Stehen waren! Ich will nichts mehr von irgendwelchen Geistern hören.“

Geordie hielt mitten in der Bewegung inne. Er entwand sich Duncans Griff und drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Sie war ganz in Grün, und sie hatte ’n Gesicht wie ein Engel.“

„Kommen Sie.“ Duncan ergriff Geordies Arm. Bei diesem Tempo würde es ewig dauern, bis sie den Bus erreichten – wenn sie es überhaupt schafften. „Kümmern Sie sich um nichts anderes außer darum, weiterzugehen.“

„Sie ist immer noch da.“

„Sicher.“

„Sie is’ da.“ Geordie fuchtelte mit den Armen.

Duncan blickte auf. Das blasse grüne Licht bildete nicht länger einen exakt umrissenen Strahl. Diffuse, sanfte Kurven hatten sich gebildet. Ihm stockte der Atem. Einen Moment lang, für den Bruchteil eines Augenblicks, verschwand das Licht, um die Gestalt einer Frau anzunehmen. Irgendwo in der Ferne begann ein Hund zu heulen.

„Leben Sie wohl, Lady“, sagte Geordie leise. „Ich danke Ihnen!“

In diesem Augenblick lagen all die Gründe, warum er in Druidheachd niemals glücklich werden könnte, deutlich vor Duncan ausgebreitet.

„Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?“, wollte Geordie wissen.

Duncan zerrte den kleinen Mann auf den Pfad zurück, und Geordie folgte bereitwillig. „Duncan Sinclair.“

„Sie sind doch nicht etwa Donald Sinclairs Sohn? Einer der Mitternachtsjungs?“

„Doch, genau der.“

„Und werden Sie jetzt in Druidheachd bleiben, jetzt, wo Ihr Vater gestorben ist?“

Duncan spürte, wie seine Kiefermuskeln sich verkrampften, aber auf diese Frage gab es nur eine Antwort. „Das werde ich. Gott helfe mir, aber ich scheine keine andere Wahl zu haben.“

2. KAPITEL

Einen Monat später blickte Duncan hinaus auf Druidheachds High Street. Es goss in Strömen. Offiziell war es inzwischen Frühling geworden, doch die Tage waren immer noch nass und kalt.

Die Stimme einer Frau erklang hinter ihm. „Im Wohnzimmer brennt ein schönes Feuer, mein Lieber, und wartet ein Becher heißer Tee, um dich aufzuwärmen. Komm vom Fenster weg, und vergiss deine Sorgen.“

Widerwillig drehte Duncan sich zu Frances Gunn um. Sie war die Hotelköchin, hatte rote Apfelbäckchen und weiße Haare. Eine Großmutter, wie sie im Buche stand, mit einem Schoß, der groß genug war, um ein halbes Dutzend Kinder aufzunehmen. Ihr breites Lächeln hieß jeden Menschen herzlich willkommen. „Ich hatte vergessen, wie grau und kalt es hier im Frühling sein kann“, sagte er.

„Aye, grau kann schon sein. Aber in Druidheachd ist Frühling die Zeit im Jahr, wenn aus guten Freunden bessere werden.“

Duncan wandte sich wieder der Straße zu und gab keine Antwort. Er hatte Freunde hier. Es waren die einzigen beiden Menschen auf der Welt, die ihm außer April und seiner Schwester Fiona etwas bedeuteten. Die Verlockung, Iain Ross und Andrew MacDougall hier in den Highlands wiederzutreffen, war ebenso stark gewesen wie die Notwendigkeit, tausende von Meilen zwischen seine Tochter und Los Angeles zu bringen. Doch darüber hinaus reizte ihn wenig an Druidheachd. Das Dorf war so rückständig, dass das achtzehnte Jahrhundert noch in weiter Ferne zu liegen schien.

„Möchtest du keinen Tee?“, fragte Frances.

„Nein. Danke, aber ich muss April ins Bett bringen. Ich habe versprochen, ihr noch eine Geschichte vorzulesen.“

„Sie freut sich sehr, wenn ihr etwas Zeit miteinander verbringen könnt.“

„Das geht mir nicht anders.“

„Es gefällt ihr hier, weißt du. Sie hat das Gefühl, hierher zu gehören. Und du gehörst auch hierher, Duncan. Das war schon immer so.“

Er war nicht grausam genug, um der warmherzigen Frances Gunn zu widersprechen. Stattdessen drehte er sich halb zu ihr um und rang sich ein Lächeln ab. Dafür wurde er mit einem Lächeln von Frances belohnt. Er wartete, bis das Schlurfen ihrer Filzpantoffeln auf den Steinfliesen verklungen war, ehe er seinen Blick von der Straße losriss und auf die Inneneinrichtung des Gebäudes richtete. Es war das Einzige von Wert – so zweifelhaft dieser auch sein mochte – das er auf der Welt besaß.

Das Sinclair Hotel war genauso grau wie die Straße davor und fast ebenso kalt, trotz der Heizölrechnung, die ihm den geschäftlichen Garaus zu machen drohte. Ein Zimmer ging in das andere über. Die Räume waren nüchtern und farblos und mit abgewetzten Möbeln und zerschlissenen Teppichen eingerichtet. Seit seiner Kindheit hatte sich nur wenig verändert. Manchmal stellte er sich vor, dass das Hotel im achtzehnten Jahrhundert in genau diesem Zustand eröffnet worden war. In einem Moment war hier nur ein schmaler Streifen kargen Ackerlandes gewesen, und im nächsten Augenblick hatte sich das Sinclair Hotel, schäbig und verwittert, aus den steinigen Tiefen der Erde empor gehoben.

Hier hatte Duncan seine ersten Schritte gemacht, hatte stotternd seine ersten Sätze gelesen und in den engen Fluren Verstecken gespielt. Doch alles Gelächter und alle Freundschaft schienen keine Spuren hinterlassen zu haben. Jetzt konnte er sich nicht vorstellen, dass überhaupt jemand innerhalb dieser drei Fuß dicken Steinmauern lachte.

„Daddy?“

Duncan sah zum Treppenabsatz hinauf, der in den zweiten Stock führte. Eine kleine, dünne Gestalt kauerte auf der obersten Stufe, das Kinn auf die Hände gestützt. Prompt verspürte er die vertraute Mischung aus Liebe und Reue.

Er deutete mit dem Finger auf sie. „Ich dachte, du seiest schon im Bett. Ich wollte gerade hochkommen.“

„Ich war schon im Bett, aber ich habe mich so allein gefühlt.“

„Ich weiß schon, was du vorhast. Du suchst nach einer Ausrede, um noch ein bisschen aufbleiben zu dürfen.“

„Es ist keine sehr große Ausrede.“

„Aber groß genug, um dich aus dem Bett zu scheuchen.“ Er ging auf sie zu. „Sieh dich an. Du hast dir nicht einmal deinen Bademantel angezogen. Dabei ist es so kalt!“

„Mir ist nicht kalt. Ich friere nur, wenn ich allein in meinem Zimmer bin.“

Duncan hatte das Zimmer seiner Tochter sonnengelb gestrichen und geblümte Vorhänge, Decken und Kissen besorgt. In der Ecke stand eine kleine Heizung, um die ständige Kälte aus der Luft zu vertreiben, und in den Regalen standen Spielsachen, um die Kälte aus ihrem kleinen Herzen zu verjagen. Aber egal, was er tat, es schien nie genug zu sein.

Oben angekommen, drehte er ihr den Rücken zu, und sie kletterte bereitwillig hinauf, um auf ihm zum kleinen Apartment am Ende der Halle zu reiten. Sie war leichter als der dicke Highland-Nebel. Als er sie auf der zerwühlten Daunendecke in der Mitte des Bettes absetzte, nahm er kaum wahr, dass ihr Gewicht fehlte.

Duncan setzte sich auf die Bettkante, während sie sich in die Decke kuschelte.

„Hör zu, mein Frühlingskind. Du weißt, dass ich niemals weit weg bin. Ich bin immer irgendwo im Hotel, wenn du schläfst, und ich komme oft hoch, um nach dir zu schauen. Das Babyfon liegt direkt neben dem Bett, falls du mich brauchst. Und wenn ich doch einmal weggehen muss, ist da immer jemand, der auf dich aufpasst.“

Zaghaft lächelte sie ihn an. „Ich habe trotzdem manchmal Angst.“

„Ich weiß. Aber du wirst sehen, ich werde dich nie allein lassen.“

Ernste graue Augen, die seinen eigenen zum Verwechseln ähnlich waren, erwiderten seinen Blick. Er wusste, was sie dachte. Er nahm ihre Hand und küsste sie, dann stopfte er sie wieder unter die Decke. Dabei streiften seine Finger etwas Kaltes, Hartes. „Hast du dir schon ein Buch ausgesucht?“

Ihre grauen Augen wurden größer. „Nein.“

Er spürte Widerstand, als er versuchte, das Buch unter der Decke hervorzuziehen. Offensichtlich bemühte April sich nach Kräften, es vor ihm zu verstecken. Fragend hob er eine Augenbraue.

„Ich will das Buch mit den Bibern“, sagte sie.

Beinahe gab er nach, aber irgendetwas in ihrem Gesichtsausdruck warnte ihn, dass da mehr dahintersteckte, als sie zugeben wollte. „Lass mich zuerst sehen, was du hier hast.“

„Es ist nur ein Buch.“

„April …“

Sie wandte das Gesicht ab und ließ das Buch los. Er zog es unter der Decke hervor und las den Titel. „Duncan und die Feen.“ Er blätterte durch die Seiten. Das Buch war klein und wunderschön illustriert. Goldhaarige Feen, in durchscheinende grüne Gewänder gekleidet, schienen beinahe über die Seiten zu tanzen. Auch ohne den Text zu lesen begriff er, dass sein armer Namensvetter Duncan, ein tollpatschiger Junge, nicht zu ihnen passte. „Wo hast du das Buch her? Hat jemand vom Hotel es dir geschenkt?“

„Nein.“

Er wartete.

„Liest du mir jetzt aus dem Biberbuch vor?“

„Erst will ich wissen, wer dir das Buch gegeben hat.“

Sie sah ihn immer noch nicht an. „Mara.“

„Mara? Wer ist Mara?“

„Einfach eine Frau.“

Aber wenn die geheimnisvolle Mara irgendeine Frau gewesen wäre, hätte April längst von ihr erzählt, das wusste Duncan. Offensichtlich war Mara bereits jemand ganz Besonderes für sie, und deshalb wollte seine Tochter nicht mit ihm über sie reden. April hatte früh gelernt, die Dinge, die ihr wirklich wichtig waren, für sich zu behalten. „Wo hast du sie kennengelernt?“, hakte er nach.

„Sie wohnt neben Mrs. Gunn, am Ende der Straße. Jessie hat mich mitgenommen, als sie Milch geholt hat. Du bist doch nicht böse, oder? Bitte!“

„Böse?“ Er klappte das Buch zu. In Aprils umfangreicher Büchersammlung fand sich kein einziges Buch wie dieses. Sie hatte Bücher, die ihr die Welt um sie herum erklärten. Sie handelten von der Natur und den Wissenschaften, in einigen ging es um Scheidung und um Kinder, die in einer ganz ähnlichen Situation steckten wie sie selbst. Aber sie hatte kein einziges Märchenbuch.

Das war kein Zufall.

Er erhob sich und stellte das Buch ins Regal. „April, es gibt keine Feen. Und es gibt auch keine Geister oder Heinzelmännchen oder Hexen. Das ist alles Hokuspokus.“

„Aber Mara hat gesagt, dass sie gehört hat, wie die Feen singen!“ Sie setzte sich auf. „Sie leben im Boden, in der Nähe von ihrem Haus, und in der Nacht hört sie ihre Musik. Mara sieht aus wie eine Fee, wie die schönste Fee aus dem Buch, außer, dass sie noch schöner ist, und …“

„Diese Mara, wer auch immer das sein mag, hat dir einen Bären aufgebunden. Feen, Elfen und Gnome gibt es nicht wirklich.“ Er fand das Buch, nach dem er gesucht hatte. „Und Menschen, die so tun, als hätten sie welche gesehen, sollte man meiden.“

„Mommy hat mir immer Märchen vorgelesen.“

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es gab unzählige andere Dinge, die Mommy getan hatte, über die sie nicht reden konnten.

„Ich glaube, Mommy glaubt auch an Feen. Wie Mara“, sagte April.

„Trotzdem gibt es sie nicht, egal, ob jemand daran glaubt.“ Er setzte sich wieder neben sie aufs Bett. „Hast du jemals eine Fee gesehen?“ Er wartete, bis sie widerwillig den Kopf schüttelte. „Oder eine Hexe? Eine Elfe? Glaube an nichts, mein Frühlingskind, bevor du es nicht mit eigenen Augen gesehen hast. Und dann stell das, was du gesehen hast, infrage, denn selbst deine Augen können lügen.“

„Ich mag das Buch.“ Ihre Unterlippe sackte nach unten. „Mara hat es mir geschenkt. Und Mara mag ich auch.“

„Und wie oft hast du diese Mara schon gesehen?“

April zuckte die Achseln.

Mehr als einmal, das war offensichtlich. Duncan fragte sich, warum Frances Gunn ihm nichts von diesen Besuchen erzählt und April sie nie zuvor erwähnt hatte. Unmut stieg in ihm auf. April brauchte keine weitere unsichere Frau mit zu viel Fantasie in ihrem Leben. Sonst würde sich der Schaden, den ihre Mutter angerichtet hatte, niemals wiedergutmachen lassen.

Er lächelte seine Tochter an und gab sich Mühe, dass keines seiner Gefühle sich auf seinem Gesicht widerspiegelte. Um diese Mara konnte er sich später kümmern. Vorher waren ihm die Hände gebunden gewesen, aber dieses Mal stand ihm kein Gericht im Wege. April gehörte jetzt zu ihm, und er konnte sie beschützen. Und genau das würde er tun.

Er schlug das Buch über das Leben in einer Biberburg auf und begann, laut vorzulesen. Als April eingeschlafen war, deckte er sie sorgfältig zu und überprüfte, ob das Babyfon auch wirklich eingeschaltet war. Die Angestellte an der Rezeption würde jedes Geräusch aus diesem Zimmer hören und ihm Bescheid sagen, falls April aufwachte.

Dann ging er nach unten und machte sich auf die Suche nach Frances.

Eine Stunde später beobachtete Duncan, wie Iain Ross am besten Whiskey des Hotels nippte. Den Rücken hatte er der Bar zugewandt, und sein handgestrickter Pullover schimmerte wie ein Schinken in der rauchigen Luft.

„Was genau willst du über Mara wissen, Dunc?“

„Was weißt du über sie?“ Duncan gab Brian, dem Barkeeper, ein Zeichen, und dieser brachte ihm zuvorkommend ein Glas vom bittersten Ale, das sie hatten.

„So viel Zeit hast du nicht.“ Iain nahm einen weiteren Schluck und musterte dabei seinen Freund. Er beherrschte die Kunst perfekt, sein Gegenüber minutenlang zu betrachten, ohne einmal zu blinzeln, aber Duncan wusste, dass er sich einfach gerne Zeit ließ und seinen Whiskey in Ruhe genoss.

„Du führst mich an der Nase herum, Iain.“

Iain hob eine dunkle elegante Augenbraue. Mit jeder Faser war er der Lord of Druidheachd.

„Sie hat April ein Buch geschenkt“, sagte Duncan. „Und Frances Gunn sagt, dass niemand etwas über ihre Geschichte weiß oder warum sie nach Druidheachd gekommen ist.“

„Und das sind Verbrechen, für die man in Amerika bestraft wird?“

„Ich will einfach nur wissen, wer sie ist.“

„Sie kommt aus Perthshire und lebt seit zwei Jahren hier. Ich habe ihr ein Stückchen Land verkauft. Ich nehme an, du hast unsere Mara bisher noch nicht kennengelernt?“

„Wie kommst du darauf?“

„Dann würdest du ein anderes Gesicht machen.“ Nachdem er sein Glas geleert hatte, starrte Iain ihn an. Dann stellte er das Glas auf den Tresen. „Mara ist eine gute Frau, hübsch und mutig und viel zu nett, als dass ich mich auf sie einlassen könnte.“

Duncan wusste, dass das eine ganze Menge aussagte. Wie ein Seemann auf Weltreise segelte Iain von einer Liebesbeziehung zur nächsten. Er genoss die Zeit, die er im Hafen verbrachte, aber er schaute nie zurück, wenn sein Schiff ihn wieder hinaus aufs Meer mitnahm.

„Was weißt du noch?“, fragte Duncan.

„Dass du dir viel zu viel unnötige Sorgen machst. Mara würde April niemals etwas antun.“

„Wusstest du, dass Lisa genau dasselbe zu mir gesagt hat, als ich sie zum ersten Mal zur Rede gestellt habe?“ Dann ahmte er seine Exfrau nach: „Duncan, wie kannst du so etwas sagen? Du weißt, dass ich nie etwas tun würde, das meinem Baby schaden könnte.“

„Mara ist nicht Lisa. Und wir sind hier nicht in Kalifornien. Du warst so lange so weit weg, dass du vergessen hast, wie sehr wir in Druidheachd aufeinander achtgeben.“

„Ich habe es nicht vergessen. Es war einer der Gründe, warum ich so lange fortgeblieben bin.“

„Frag Andrew, was er von Mara hält.“ Mit einem Kopfnicken deutete Iain in Richtung Tür. Andrew MacDougall trat gerade ein. Regentropfen hingen an seinem dunklen Regenmantel und im strähnigen roten Haar. Er brauchte eine Weile, bis er den Raum durchquert hatte, denn die anderen Pubbesucher wollten alle das eine oder andere Wort mit ihm wechseln. Aber als die drei Männer zusammen an der Bar standen, hielten die anderen Stammkunden respektvoll Abstand. Duncan erinnerte sich, dass es schon immer so gewesen war. Wenn sie allein waren, waren sie ganz gewöhnliche Männer, doch sobald die drei Freunde zusammen waren, hielt man sie für etwas Besonderes.

Duncan spürte seine Irritation. Es war die Summe der Gefühle, die er dem Dorf, in dem er geboren worden war, entgegenbrachte. Er nickte Andrew zu. „Schaut euch das an! Keiner kommt zu uns. Was glauben sie, was passieren könnte? Dass wir sie mit einem Fluch belegen? Sie in Frösche oder Seehunde verwandeln?“

„So dramatisch ist es nicht gerade“, erwiderte Andrew. Er deutete auf Duncans Glas, und Brian brachte ihm das Gleiche. Aus zwei Metern Entfernung schob er ihm das Ale zu.

„Sieh dir das an! Nicht einmal Brian will uns stören“, sagte Duncan.

„Sei froh“, meinte Iain. „Wenn wir gewöhnliche Kinder gewesen wären und zu der Zeit und an den Orten auf die Welt gekommen wären, die unsere Eltern für uns geplant hatten, dann wären wir niemals zusammen aufgewachsen.“

„Wir hätten nicht hier in diesem Hotel unsere ersten Schritte gemeinsam geübt“, sagte Andrew. „Oder unsere ersten Worte an der feinen Tafel des Lords gesprochen.“

„Und wir hätten nie zusammen unseren ersten Ausflug auf dem See mit MacDougalls Boot gemacht“, fuhr Iain fort und schien sich bestens zu erinnern.

Duncan schüttelte den Kopf, und Andrew grinste. Er legte Duncan einen Arm um die Schulter. „Es bringt gar nichts, wenn du deine Gefühle für Druidheachd mit aller Macht unterdrückst. Oder deine Gefühle für uns, was das angeht. Es ist doch kein Verbrechen, seine Freunde zu lieben.“

Duncan schüttelte Andrews Hand ab, aber gegen seinen Willen musste er lächeln. „Was weißt du über eine Frau namens Mara MacTavish?“

Andrew zwinkerte ihm zu und pfiff leise.

„Wenn du sie selbst kennenlernen willst, brauchst du nur einmal über die Straße zu gehen. Sie ist gerade bei Cameron’s. Ich habe sie gerade hineingehen sehen.“

Duncan stellte das Glas auf den Tresen. Wenn er mehr über diese Ms. MacTravish erfahren wollte, musste er sie wohl wirklich selbst fragen. Seine Freunde waren ihm keine große Hilfe. „Genau das werde ich tun. Wie kann ich sie erkennen?“

Die anderen Männer tauschten Blicke und erklärten Duncan, dass es nicht nötig sei, ihr Aussehen zu beschreiben. Er ging, ohne noch ein Wort zu verlieren.

Draußen zog er seine Jacke eng an sich und verschränkte die Arme. Cameron’s war das Lebensmittelgeschäft, der Spirituosenladen, die Postfiliale und die inoffizielle Gerüchtetauschbörse des Dorfes. In den letzten hundert Jahren hat kein Mensch namens Cameron den Laden geführt, und immer wieder hatten die neuen Besitzer neue Schilder angebracht. Aber für die Menschen in Druidheachd hieß der Laden schlicht Cameron’s, und so würde es immer bleiben. Das Gebäude hatte nur ein Stockwerk, weißgetünchte Steinmauern und schwarze Holzbalken. Ein paar Kartons stellten die Schaufensterdekoration dar. Blasse Schößlinge versprachen, dass eines Tages, wenn die Sonne jemals wieder schien, darin vielleicht Pflanzen sprießen würden.

Im Inneren war es nicht sehr viel wärmer als draußen, aber zumindest war es trocken. Duncan stampfte mit den Füßen auf, und Regentropfen sprühten in alle Richtungen. Er nutzte die Zeit, um sich in dem ordentlich aufgeräumten Laden umzusehen.

„Brauchst du Hilfe, Duncan?“, fragte der Besitzer, ein Mann in den Fünfzigern.

„Danke, aber nein.“

„Wir haben eine neue Ladung DVDs hereinbekommen.“

Duncan schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte von einem Gang zum anderen. Er sah eine alte Frau, die ein rotbackiges Kind fest an der Hand hielt, und einen dünnen jungen Mann, der sich einen Bund Karotten aussuchte. Als er sich gerade eingestehen wollte, dass sein Freund ihm einen Streich gespielt hatte, entdeckte er etwas großes Grünes im letzten Gang. Eine Frau tauchte in der Wolke aus grünem Stoff auf.

Sie war groß und schlank, oder zumindest glaubte er das, denn der größte Teil ihres Körpers war von dem waldgrünen Umhang verhüllt. Glattes, hellblondes Haar hing über der Kapuze, die sie über die Schulter zurückgeschoben hatte. Als ob sie wüsste, dass er sie beobachtete, drehte sie sich um, und ihre Blicke trafen sich. Weder sie noch er lächelten.

Jetzt verstand Duncan die Beschreibung seiner Tochter und Iains Kommentare. Selbst ein Herz, das so abgestumpft war wie seines, reagierte noch auf Schönheit. Und Mara MacTavish war mehr als schön.

Das war ein weiterer Punkt gegen sie.

Er ging auf sie zu, und sie wartete, als wüsste sie, dass er ihretwegen hier war.

„Ich habe frischen jungen Grünkohl“, rief der Ladenbesitzer ihm hinterher. „Frances Gunn bat mich, ihr Bescheid zu geben, wenn ich guten Grünkohl bekomme.“

„Ich werde es ihr sagen.“

Der Besitzer murmelte etwas, aber Duncan wandte den Blick nicht von Mara ab. Wenige Meter vor ihr blieb er stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin Duncan Sinclair. Haben Sie meine Tochter April kennengelernt?“

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Mara MacTavish. Ihre Tochter ist ein lebhaftes kleines Mädchen.“

Er wollte sie nicht berühren, aber er wusste, dass das ganze Dorf davon erfahren würde, wenn er ihre höfliche Begrüßung zurückwies. Also ergriff er ihre Hand. Sie war nicht so weich, wie er erwartet hatte, sondern schwielig. Er blickte nach unten und sah kurze Fingernägel und sonnengebräunte Haut. Rasch ließ er sie wieder los.

„Sie war ganz angetan von meinem Hund“, sagte Mara mit leiser, melodischer Stimme. „Er ist nicht an Kinder gewöhnt, aber er mochte sie ebenfalls auf Anhieb. Ich hatte Angst, dass er vielleicht versuchen würde, sie und Jessies Tochter Lolly in einen meiner Pferche zu treiben, aber er hat sich ihnen sofort zu Füßen gelegt.“

Maras Stimme kam ihm bekannt vor, aber Duncan konnte sie nicht einordnen. Denn sonst war nichts vertraut. Mara war so grazil, so ätherisch wie die Fee in Aprils neuem Buch. „Mrs. Gunn sagte mir, dass Sie einen Bauernhof bei ihr in der Nähe besitzen.“

„Bauernhof ist übertrieben. Es ist ein winziges Croft, die alte Hofstelle armer Leute. Niemand würde dazu Bauernhof sagen.“

„Aber Sie haben Kühe? April sagte, dass Jessie Milch bei Ihnen kauft.“

„Jessie, und noch ein paar andere. Aber ich habe nur zwei Kühe. Ich züchte Schafe.“

 Er interessierte sich im Grunde nicht dafür, was Mara MacTavish tat. Es sei denn, es betraf seine Tochter. Er kam geradewegs zur Sache. „Würden Sie mir bitte sagen, wie oft April schon bei Ihnen gewesen ist?“

Sie schien erstaunt zu sein. „Es tut mir leid, aber ich habe es nicht gezählt.“

„Bis heute Abend wusste ich nichts von diesen Besuchen.“

„Ich vermute, dass es nicht viel zu erzählen gab. Sie mag meine Tiere.“

„Sie haben ihr ein Buch geschenkt.“

„Ah, ich verstehe.“ Statt einer Antwort bekam ihr Gesicht einen liebevollen Ausdruck. Ein Lächeln verwandelte ihre Züge, es war einfach atemberaubend. „Sie machen sich Sorgen, weil sie Geschenke von einer Fremden angenommen hat. Das tut mir leid, ich habe nicht darüber nachgedacht. Sie interessierte sich nur so sehr für meine Geschichten über Feen. Das Buch hat mir gehört, als ich klein war, und ich dachte, es würde ihr gefallen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. April hat sich ganz artig bedankt.“

Seine Verwirrung wuchs. Er hatte gedacht, er hätte sich verständlich ausgedrückt, aber sie schien ihn absichtlich misszuverstehen. „Es geht nicht darum, dass Sie ihr etwas geschenkt haben. Es geht um das Geschenk selbst.“

Das Lächeln erstarb. „Ach?“

Es gab Dinge, die er ihr nicht erzählen konnte, nicht ohne umständliche Erklärungen. Doch dazu war er nicht bereit. Er konnte ihr nicht sagen, dass sie ihn, trotz unzähliger Unterschiede, an seine Exfrau erinnerte. Die zierliche Gestalt, die helle Haut und das süße feminine Lächeln. Er konnte ihr nicht sagen, dass er fürchtete, auch April könnte sich an Lisa erinnert fühlen, sodass es für das Kind noch schwerer würde, seine Mutter zu vergessen.

Aber er konnte ihr einen Teil der Wahrheit sagen. „April braucht in ihrem Leben keine Geschichten über Feen. Oder Hexen, Geister oder Heinzelmännchen. Sie ist ein kleines Mädchen, und kleine Mädchen können den Unterschied zwischen der Wahrheit und einer Lüge nicht immer erkennen.“

„Eine Lüge?“

„Ich kenne einige Erwachsene, die den Unterschied auch nicht kennen.“

„Mr. Sinclair, ich habe Ihrer Tochter keine Lügen erzählt.“

Er zuckte die Achseln. „April ist noch klein. Sie versteht nicht, dass nicht alles, was Erwachsene ihr erzählen, den Tatsachen entspricht. Ich will, dass sie die Welt so begreift, wie sie ist. Es gibt keine Geister und Kobolde, sondern nur gute und böse Menschen. Keine Zauberei, sondern eine Welt, die nach bestimmten festen Prinzipien funktioniert.“

„Und Sie wissen alles darüber, wie die Welt funktioniert?“

„Auf jeden Fall denke ich mir keine Geschichten aus, um die Dinge zu erklären, die ich nicht verstehe.“

„Aha.“

Sie schien eine ganze Menge zu verstehen. Ihre Augen waren blassgrün, und sie hielt seinem Blick ungerührt stand. Sie blinzelte nicht einmal. „Ich möchte nicht unhöflich oder undankbar sein“, sagte er. „Es ist nur so, dass ich die Verantwortung für April habe, und dass ich meine Aufgabe ernst nehme.“

„Das merke ich.“

„Ich habe Frances gebeten, dafür zu sorgen, dass April Sie nicht wieder besucht. Sie muss sich immer noch an das Leben hier gewöhnen, und ich will sichergehen, dass sie … nicht überfordert ist, wenn sie anfängt, Leute kennenzulernen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie April zu Mrs. Gunn zurückschicken würden, wenn sie Sie mit ihrer Freundin ohne Erlaubnis besucht.“

„Nein.“

Duncan wusste genau, wie er sich angehört hatte. Selbstherrlich und unnachgiebig, ein Bastard, der es nicht für nötig hielt, sich zu verstellen. Aber das war ihm egal. Er hatte die Verantwortung für April, und die Tatsache, dass Mara MacTavish seine Ängste offensichtlich nicht nachvollziehen konnte, änderte nichts daran. „Hätten Sie die Güte, mir zu sagen, warum nicht?“

„Mr. Sinclair, ich will Ihrer Tochter nicht wehtun. Wenn ich geglaubt hätte, dass es ihr bei mir nicht gut geht, hätte ich sie auf der Stelle nach Hause geschickt. Aber egal, was Sie über mich gehört haben, ich würde niemals einem Kind Schaden zufügen, ich könnte es gar nicht, und wenn mein Leben davon abhinge.“

Irgendetwas hatte sich verändert. Duncan wusste nicht, was oder warum, aber das Gleichgewicht zwischen ihnen hatte sich umgekehrt. Jetzt war sie verärgert, und er war derjenige, der verwirrt war. „Was soll ich über Sie gehört haben?“

„Ich kann mir vorstellen, was man Ihnen erzählt hat. Ich weiß, was man im Dorf über mich redet. Tun Sie nur nicht so, als wüssten Sie nicht, was ich meine.“

„Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen.“

„Dann merken Sie sich wenigstens Folgendes: Es ist nicht meine Art, Kinder zurückzuweisen, egal aus welchem Grund. Ihrer Tochter scheint viel an meiner Freundschaft zu liegen, und die werde ich ihr nicht verweigern, wenn sie Wege findet, mich zu besuchen. Wenn Sie entschlossen sind, dass April mich nicht besuchen darf, dann werden Sie besser auf sie aufpassen müssen. Ich werde sie nicht in Ihrem Auftrag strafen, und ich werde sie nicht fortschicken.“

Ihre Stimme hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch leise und melodisch, aber die Worte waren zielsicher und genau gewählt. Duncan spürte ihre Härte. Plötzlich war er derjenige, der den Fehler gemacht hatte. Er passte nicht gut genug auf seine Tochter auf. Er versuchte, April eine wichtige Freundschaft zu verbieten. Er bat eine vollkommen Fremde, sie zurückzuweisen.

Aber Mara war keine vollkommen Fremde. Duncan starrte sie an. Ihre Stimme war ihm von Anfang an bekannt vorgekommen. Jetzt erkannte er den Grund dafür. „Warten Sie eine Minute. Ich weiß nicht, warum ich Sie nicht gleich erkannt habe. Sie sind die Frau, die ich letzten Monat in den Bergen getroffen habe.“

„Bin ich das?“

„Schauen Sie, ich mag keine Spielchen. Sie haben mir geholfen, Geordie Smith zu retten. Wie sollte ich das vergessen? Seit ich wieder in Druidheachd bin, habe ich Geordie jeden Tag im Hotel gesehen. Und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, muss ich an jenen Abend denken.“

Sie wollte an ihm vorbeigehen. Er griff nach ihrem Arm und bekam nur die Falten ihres grünen Wollumhangs zu fassen. „Wohin sind Sie an dem Abend gegangen? Sie sind einfach verschwunden.“

„Was hat Geordie gesagt?“ Sie riss sich von ihm los und wandte ihm das Gesicht zu.

„Er hat Unsinn geredet.“

„Was für Unsinn?“

„Dass er von einem Geist gerettet worden sei. Dass der Geist einer Lady in Grün ihm das Leben gerettet habe. Ich habe nicht viel auf sein Geschwätz gegeben.“

„Ich bin mir sicher, dass Sie das ziemlich durcheinandergebracht hat, so wie Sie über Geister denken.“

„Warum? Jetzt kann ich ihm doch sagen, wer der Geist war.“

„Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Mr. Sinclair. Es würde ihn nur noch stärker beunruhigen.“

„Was meinen Sie damit?“

„Wissen Sie das wirklich nicht? Die Hälfte der Einwohner von Druidheachd hält mich bereits für einen Geist oder eine Hexe oder Fee.“ Sie verzog die Lippen, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. „Wenn Sie Geordie erzählen, dass er an jenem Abend Mara MacTavish in den Bergen gesehen hat, wird er absolut sicher sein, dass da Zauberei im Spiel war. Und wir wissen doch beide, dass Sie so etwas niemals verantworten könnten.“

3. KAPITEL

Osterglocken bedeckten die Hänge um Maras Cottage, und die neugeborenen Lämmer tollten in der Nachmittagssonne herum. Mara saß auf einer steinernen Bank unter der großen Rotbuche und lauschte dem Summen der Bienen, die von Blüte zu Blüte flogen. Dann und wann summte sie ebenfalls, eine Ballade, die ihre Tante ihr beigebracht hatte, als sie ein Kind gewesen war. Das Lied handelte von den Schluchten der Highlands und verlorener Liebe. Vor ihr auf dem Boden lagen ein Dutzend Vliese der frisch geschorenen Schafe in der Sonne.

Sie war ganz von der Wolle vor sich in Anspruch genommen und bemerkte nicht, dass sie Gesellschaft bekam, bis Guiser neben ihr aufsprang. Sie blickte auf und sah April Sinclair. Sie stand in einiger Entfernung auf einer kleinen Anhöhe gegenüber dem Cottage. Mara konnte das Gesicht des kleinen Mädchens nicht richtig erkennen, aber sie merkte, dass April sich fürchtete, näher zu kommen. Und sie wusste auch, was ihr solche Angst machte.

„Bleib, Guiser“, sagte sie mit warnender Stimme. Der Hund winselte, aber gehorchte sofort. Mara stand auf und umrundete die Vliese. Das letzte jedoch hob sie hoch und rollte es zu einem ordentlichen Bündel zusammen. Dann ging sie zu April auf die Anhöhe und hielt das Vlies hoch, damit das Mädchen es sah.

„Es ist nur Schafswolle“, rief sie, als sie nah genug war, damit April sie verstand. „Es ist kein richtiges Schaf. Siehst du?“ Sie deutete in die Ferne, wo die frisch geschorenen Schafe zufrieden grasten. „Sie haben mir ihr Fell gegeben, damit ich Wolle daraus spinnen kann.“

Kurz vor April blieb sie stehen und wartete. Sie war selbst ein fantasievolles Kind gewesen. Sie wusste, dass April einen Moment brauchte, um diese neue und bessere Erklärung zu verarbeiten. Das Mädchen hatte gedacht, sie hätte ein Dutzend Schafe geschlachtet und irgendwie platt auf den Boden gelegt.

„Sie sind nicht tot?“, fragte sie schließlich.

„Aber nein, überhaupt nicht. Den Schafen wächst bereits wieder ein frisches Fell für noch mehr Wolle.“

„Warum liegen die Felle im Gras?“

„Damit sie von der Sonne weicher werden. Komm her und fühl einmal.“

April kam langsam auf sie zu. Immer noch zögerlich blieb sie stehen und streckte die Hand aus. Sie berührte das Vlies mit den Fingerspitzen und ihre Augen wurden groß. „Das fühlt sich witzig an.“

„Wenn ich damit fertig bin, wird es sich wunderbar anfühlen. Ganz weich und kuschelig, wie ein winziges Lämmchen.“

„Und was machst du damit?“

„Im Moment kämme ich die Wolle.“

„So wie mein Daddy mich kämmt?“

Mara konnte sich nur schwer vorstellen, dass Duncan Sinclair seiner Tochter liebevoll und geduldig die Haare kämmte.

Es war inzwischen mehrere Wochen her, seit er sie bei Cameron’s zur Rede gestellt hatte. Seitdem waren ihr die wenigen Minuten immer wieder durch den Kopf gegangen, und von Mal zu Mal wurde sie wütender darüber.

Sie kannte Männer wie Duncan. Ihr früherer Ehemann, Robert Fitzwilliams, war einer von ihnen. Robbie hatte auch stets gewusst, was das Beste für jeden war. Wie Duncan war er ein sehr attraktiver Mann; ein Mann, dem die Frauen nachliefen, bis sie in seinem Netz aus Arroganz und Selbstgerechtigkeit gefangen waren. Sie hatte von Robbie mehr gelernt, als er jemals erfahren würde. Vor allem hatte sie gelernt, ihn in anderen zu erkennen.

Sie legte einen Arm um Aprils Schulter und führte sie zum Haus. „Du kannst mir bei der Wolle helfen, wenn du möchtest“, sagte sie. „Aber zuerst musst du mir sagen, ob jemand weiß, dass du hier bist.“

April schwieg. Das war Antwort genug.

„Werden sie sich keine Sorgen machen?“, wollte Mara wissen.

„Nein. Jessie glaubt, dass ich nach der Schule nach Hause gegangen bin.“

„Und wie bist du hierher gekommen?“

„Ich bin mit Lolly bis zum Ende der Straße im Bus gefahren. Sie musste mir versprechen, dass sie niemandem davon erzählt.“

„Aber dein Vater wird sich Sorgen machen.“

„Er denkt, ich bin bei Jessie. Er hat mir das Geld für den Bus gegeben.“ April machte ein besorgtes Gesicht. Die komplizierte Strategie forderte offensichtlich ihren Tribut. Mara vermutete, dass April nur selten ungehorsam war.

„Dann musst du dich ja ziemlich danach gesehnt haben, hierher zu kommen.“ Mara strich April übers Haar.

„Daddy …“

Mara wusste, was April sagen wollte. „Ich weiß. Es wäre ihm lieber, wenn du mich nicht besuchen würdest. Schließlich bin ich eine Fremde für ihn.“

„Daddy sagte, es gibt keine Feen und so.“

„Vielleicht hat er ja recht.“

„Aber du hast sie doch singen gehört!“

„Ich liebe Märchen, in denen Feen vorkommen. Vielleicht wollte ich sie nur hören.“ Sie hatten die Bank erreicht, auf der Mara zuvor gesessen hatte.

„Ich möchte sie auch hören!“

„Vielleicht wirst du das auch eines Tages.“ Mara setzte sich, und April kletterte neben sie auf die Bank. Mara schnippte mit den Fingern, und Guiser begrüßte April nach Hundeart begeistert wedelnd und hechelnd.

Sie umarmte ihn wie ihren Lieblingsteddybären. „Darf ich ein bisschen Wolle kämmen?“

Mara schaute in Aprils bittende Augen und wusste, dass sie ihr die Bitte nicht abschlagen könnte. „Aye, du darfst. Aber anschließend bringe ich dich zu Mrs. Gunn, in Ordnung? Damit sich die anderen keine Sorgen um dich machen.“

„Ich möchte nur ein kleines bisschen hierbleiben.“

Zum ersten Mal seit zwei Jahren wünschte Mara, sie hätte ein Telefon. Doch in ihrem Cottage fehlte es an allem, was die meisten Menschen heute für selbstverständlich hielten. Sie hatte Nachbarn, die näher wohnten als die Gunns, aber selbst zu ihnen war es immer noch ein ganzes Stück. Es gab keine einfache Möglichkeit, irgendjemanden wissen zu lassen, dass April bei ihr war.

Sie nahm eine Handvoll Wolle. „Das Fell eines Schafes ist meistens verfilzt und fettig.“

„Fettig?“

„Ja, wie bei deinem Haar, oder meinem, wenn wir es nicht waschen. Gleich nach dem Scheren habe ich die Wolle in die Sonne gelegt. Dadurch wird das Fett warm und die Wolle weich. Dann kann ich die längsten Fasern nehmen, wie diese hier, und sie mit den Fingern kämmen. Wenn sie nicht zu verfilzt sind, kann ich sie anschließend verspinnen, ohne sie karden zu müssen.“

„Was ist karden?“

„Mara hob zwei Drahtbürsten vom Boden neben der Bank auf und drehte sie um. „Man legt die Wolle hierauf und bewegt dann die Bürste vor und zurück. So.“ Sie demonstrierte, was sie meinte. „Das Bürsten glättet und bleicht die Wolle. Aber ich kämme die beste Wolle am liebsten ohne Bürste. Dann nimmt sie nach dem Spinnen so einen hübschen Farbton an.“

„Was wird das hier werden?“ April nahm Mara die Wolle aus der Hand.

„Das ist das beste Vlies. Ich weiß nicht, was daraus werden wird. Sobald ich es zu Garn gesponnen habe, werden Leute es kaufen und zum Weben oder Stricken benutzen. Oder was immer ihre Vorstellung ihnen sagt, was daraus werden wird.“

Sie nahm eine weitere Handvoll Wolle auf und zeigte April, wie sie die Fasern kämmen sollte. Anschließend half sie dem Mädchen bei seinem Vlies. Die Sonne schien warm, und April war fasziniert von der neuen Aufgabe. Die Minuten verstrichen. „Deine Finger sind perfekt dafür, geschickt und kräftig“, erklärte Mara schließlich. „Sieh nur, wie gleichmäßig deine Fasern geworden sind.“

Bei diesem Kompliment leuchteten Aprils Augen auf. Mara kannte diesen Ausdruck. In diesem kurzen Augenblick glaubte das Kind an sich selbst. Doch es machte die Momente, die davor lagen und die, die noch kommen würden, nur umso schmerzlicher.

„Möchtest du noch mehr ausprobieren?“, fragte Mara.

„Darf ich?“

Eine Weile arbeiteten sie schweigend. April zeigte kein Anzeichen von Müdigkeit, obwohl Mara sie aufmerksam beobachtete, um sich ganz sicher zu sein. Lerchen drehten ihre Runden und sangen über ihren Köpfen. Das Brummen vereinzelter Autos auf der Straße unterhalb von ihnen bildete die Begleitmusik. Libellen sausten im Schatten herum.

Obwohl sie wusste, dass es Zeit wurde, April zurückzubringen, beugte Mara sich vor und hob neue Wolle auf. Die Gesellschaft des kleinen Mädchens machte den Nachmittag perfekt, und sie wollte nicht, dass er schon zu Ende ging. Sie suchte nach einem letzten einfachen Stück Vlies, um sicher zu stellen, dass es April nicht überfordern würde, als Guiser zu bellen begann. Sie wusste, wen sie sehen würde, wenn sie sich aufrichtete. Sie vermutete, dass sein Auftauchen unausweichlich gewesen war, trotz Aprils geschickten Plans.

„Ruhig, Guiser.“ Mara blickte auf. Zum ersten Mal registrierte sie die dunklen Schatten, die die Hügel mit den Osterglocken verdunkelten. Selbst die kleinen Lämmer wirkten eingeschüchtert und drängten sich an ihre Mütter.

„April.“ Duncan stand am Ende des Pfads, der zur Straße hinunter führte.

Er trug eine dunkelblaue Jacke und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die braunen Haare schimmerten im Sonnenlicht, aber Mara sah keine Spur von Gold oder Rot. Wenn Duncan Sinclair tief in seinem Inneren Zweifel verspürte oder Mitgefühl empfand, so war davon im Moment zumindest nichts zu erkennen. Sein eindrucksvolles Gesicht mit den dunklen Brauen und den beschatteten Augen war vollkommen ausdruckslos.

April rutschte näher an Mara heran, als suchte sie Unterstützung bei ihr. Doch Mara war klug genug, sich nicht zwischen Vater und Tochter zu stellen. „Es wird Zeit für dich zu gehen, April“, sagte sie. „Es tut mir leid.“

Das Mädchen stand auf. Aufmerksam beobachtete Mara ihren Vater. Sie konnte nicht verhindern, dass er April mit nach Hause nahm, aber sie würde niemals zulassen, dass er seine Tochter schlecht behandelte. April fehlte das natürliche Vertrauen und die Spontaneität der meisten Kinder in ihrem Alter. Mara fürchtete, dass sie gleich den Grund dafür würde erleben können.

Aber Duncan überraschte sie. Als April ihn erreichte, ging er in die Hocke, sodass seine Augen auf einer Höhe mit denen des Mädchens waren. Seine Stimme klang unverändert ruhig, als er sagte: „Was hast du dir dabei bloß gedacht, mein Frühlingskind?“

Sie ließ den Kopf hängen. „Ich wollte Mara besuchen.“

„Aber es gibt Menschen, die sich Sorgen um dich machen, ich am allermeisten. Weißt du denn nicht, dass ich Angst habe, wenn du nicht dort bist, wo du sein solltest?“

„Aber ich habe doch aufgepasst, dass niemand sich Sorgen machen muss.“

Zärtlich hob er ihr Kinn. „Ich fürchte, das hat nicht ganz geklappt.“

Sobald er sie losließ, schaute April wieder zu Boden. Erneut hob Duncan ihr Kinn behutsam an. „Ich habe bei Jessie angerufen, weil ich wissen wollte, ob du heil angekommen bist, und sie hat mir gesagt, dass du heute gar nicht mit Lolly spielst. Du hast nicht daran gedacht, dass ich sie anrufen könnte, nicht wahr?“

April schüttelte den Kopf.

„Habe ich dir nicht gesagt, dass ich mich immer vergewissere, ob du in Sicherheit bist?“

„Ja.“

„Das habe ich ernst gemeint. Das ist meine Aufgabe, und ich bin ziemlich gut darin. Ich werde dafür sorgen, dass dir nie etwas passiert.“

„Ich wollte doch nur Mara besuchen.“

„Nächstes Mal wirst du mich um Erlaubnis fragen.“

„Aber dann sagst du Nein!“

Duncan schaute auf, und Mara fing seinen Blick auf. Fragend hob sie eine Augenbraue. Er wandte sich wieder April zu. „Wo immer du hingehst, du musst es mir erzählen. Ich muss wissen, wo du bist.“

April begann zu weinen. Duncan nahm sie in die Arme und hielt sie fest. „Hör zu. Das Auto steht unten an der Straße. Ich möchte, dass du dahin gehst und auf mich wartest, während ich mit Mara rede.“

Mara erhob sich. „Guiser kann dir Gesellschaft leisten“, sagte sie. „Er braucht sowieso etwas Bewegung. Machst du einen kleinen Spaziergang mit ihm?“

April nickte. Die Tränen liefen ihr immer noch über die Wangen. Sie riss sich von Duncan los und wandte sich zum Pfad. Mara gab Guiser ein Zeichen, und der Hund folgte dem Mädchen.

Als Duncan und Mara einander ansahen, schienen die Schatten noch länger zu werden.

„Wie ich sehe“, sagte er schließlich, als Aprils Schritte verklungen waren, „stehen Sie zu dem, was Sie bei Cameron’s gesagt haben.“

„Und was habe ich gesagt?“

„Dass Sie nicht dafür sorgen würden, dass April wieder nach Hause geht, wenn sie es irgendwie schafft, Sie zu besuchen.“

Sie wusste, dass es sinnlos war, sich zu verteidigen. Er würde ihr nicht glauben, dass sie April zu den Gunns bringen wollte. „Richtig, das habe ich gesagt.“

„Das ist ziemlich unverantwortlich, meinen Sie nicht? Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, ich könnte krank vor Sorge sein?“

„Nein. Aber ich habe mir gedacht, dass es Ihrem Ego einen ziemlichen Schlag versetzen wird, wenn Sie herausfinden, dass sie hier ist.“

„Meinem Ego?“

„Es kann sehr bedrohlich wirken, wenn ein Kind das macht, was es sich in den Kopf gesetzt hat. April hat sich Ihnen widersetzt, und ich vermute, Sie sind ein Mann, der keinen Widerspruch duldet.“

„Sie meinen also, dass es darum geht?“

Sie beobachtete ihn und erkannte, was sie zuerst nicht hatte sehen wollen. Seufzend gab sie zu: „Nein, nicht nur. Sie haben sich wirklich Sorgen gemacht. Das tut mir leid.“

„Sie haben offensichtlich keine Kinder.“

„Nein. Aber ich mag Kinder, und ich verstehe, dass April hier etwas findet, das sie nirgendwo sonst bekommt.“

„Und was soll das sein?“

Sie war klug genug, um sich auf keinen Streit einzulassen, und schüttelte den Kopf.

„Ich gebe April alles, was sie braucht. Es gibt nichts, was ich nicht für sie tun würde.“

Mara fragte sich, wie Duncans Gesicht wohl aussah, wenn er lächelte. Die Züge wären immer noch streng, fast hart und kompromisslos. Aber sein Mund faszinierte sie. Er war nicht mehr als eine schmale Linie, die jedoch die Möglichkeit einer wunderbaren Veränderung in sich barg.

„Dann erlauben Sie ihr, dass sie mich besuchen darf“, sagte Mara. „Wenn Sie alles für sie tun würden, lassen Sie sie ab und zu herkommen. Immerhin braucht sie es so sehr, dass sie ungehorsam war. Geben Sie ihr, was sie braucht. Ich werde ihr nicht wehtun.“

Er betrachtete das Cottage in ihrem Rücken. Es war ihr ganzer Stolz. „Ich kenne Sie nicht und weiß nichts über Sie, bis auf das Wenige, das ich im Dorf gehört habe.“ Sein Blick kehrte zu ihr zurück und schien sie verdammen zu wollen.

„Und die Art, wie ich lebe, ist auch keine Empfehlung, nicht wahr?“ Sie reckte ihr Kinn in die Höhe. „Ich vermute, Sie sind kein Mann, der Geschmack an einfachen Dingen findet, Duncan Sinclair.“

„Ihr Name ruft merkwürdige Reaktionen hervor, wann immer er erwähnt wird. Warum?“

„Was sind das für Reaktionen?“

„Die Leute scheinen Angst vor Ihnen zu haben. Sie haben selbst gesagt, dass die Hälfte der Bewohner von Druidheachd Sie für einen Hexe hält.“

„Unter anderem.“

„Und trotzdem glauben Sie, ich würde Ihnen meine Tochter anvertrauen?“

„Sie haben selbst gesagt, dass Sie nicht an Übersinnliches glauben.“

Von der Straße unter ihnen ertönte ein Geräusch. Duncan wirbelte herum, als erwartete er, dass April in Schwierigkeiten steckte. Doch nicht das kleine Mädchen näherte sich, sondern eine weißhaarige Frau. Mara erkannte ihre nächste Nachbarin, Marjory Grant, sofort. Auch die Gefühle, die auf sie einstürmten, waren ihr nicht neu. Sie spürte die Bank an ihren Knien und setzte sich. Ihre Hände begannen zu zittern. In der Ferne hörte sie Guiser heulen.

„Mara MacTavish. Ich muss mit Ihnen sprechen“, sagte die Frau, als sie nahe genug herangekommen war. „Und ich lasse mich nicht wegschicken.“ Mehrere Meter von Duncan entfernt blieb sie stehen und starrte ihn an.

Duncan starrte zurück.

„Du siehst aus wie dein Vater“, sagte die Frau.

Duncan nickte und schwieg.

Die Frau wandte sich Mara zu. „Ich will die Wahrheit wissen. Sonst hab’ ich nichts. Ich will alles über meinen Fergus wissen.“

„Bitte gehen Sie nach Hause, Mrs. Grant. Ich kann Ihnen nichts sagen.“

„Letzte Woche sah er etwas krank aus, und ich hab’ ihn ins Bett gesteckt. Ich dachte, das wird schon wieder.“

„Ich kann nichts für Sie tun.“

„Letzte Nacht isses dann schlimmer geworden. Der Doktor sagt, dass er ziemlich krank is, und jetzt woll’n sie ihn nach Glasgow bringen.“

„Es tut mir leid, wirklich, aber ich kann nichts für Sie tun, außer nach Ihren Schafen zu schauen, bis Sie zurück sind.“

„Sie könn’n mir sagen, was mir bevorsteht! Manche hier im Tal sagen, Sie könn’n Fergus sogar gesund machen – wenn Sie woll’n.“

„Diejenigen, die so etwas behaupten, haben keine Ahnung, was ich kann oder nicht kann.“ Mara stand auf, obwohl ihre Beine sich so wackelig anfühlten wie die eines neugeborenen Lamms. „Ich kann Fergus nicht heilen, Marjory. Ich bin keine Ärztin.“

Marjory wedelte mit der Hand, die vom Alter knotig und gefleckt war, in der Luft herum. „Ich habe Ihren Garten geseh’n. In diesem Boden hier wächst nichts, keine Kartoffeln, kein Kohl. Aber Sie kümmern sich darum wie eine Mutter um ihr Kind. Was machen Sie mit den Pflanzen hier, wenn Sie sie nicht zum Heilen benutzen?“

„Kommen Sie etwas später noch einmal vorbei, und ich zeige Ihnen die Kartoffeln und den Kohl. Aber vor allem stelle ich Farbstoffe aus den Pflanzen her. Sie haben selbst gesehen, dass ich die Wolle gefärbt habe, dort hinten unter den Bäumen. Und ich habe Kräuter und Blumen gesät, für kleine Duftkissen, die in den Läden in Inverness und Fort William verkauft werden. Es sind keine Heilpflanzen.“

„Aber mein Fergus stirbt!“

Mara schluckte ihre Tränen herunter. Marjory Grant und Fergus, ihr Sohn, hatten sie am Beinn Domhain nicht willkommen geheißen. Jessie und Roger Gunn sowie Rogers Mutter Frances dagegen hatten sofort Freundschaft mit ihr geschlossen. Andere Nachbarn entlang der Straße waren freundlich, wenn auch vorsichtig. Marjory hingegen war von Anfang an misstrauisch und feindselig gewesen. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie litt, und Mara wusste, was es bedeutete zu leiden.

„Es tut mir so leid“, sagte sie. „Wirklich.“

„Dann wird er sterben.“ Marjory kam näher. „Und es tut Ihnen leid, weil Sie es sehen können. Das sagt jeder hier. Sie können die Zukunft sehen, und jetzt sehen Sie, dass mein Fergus das nicht überlebt.“ Sie machte noch einen Schritt nach vorn, und ihre Augen wurden schmal. „Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ich muss es wissen! Sagen Sie es mir, oder ich weiß nicht, was ich tun werde.“

Mara spürte das Näherkommen der Frau ebenso deutlich wie sie es sah. Es lag schon fast eine gewisse Boshaftigkeit in Marjorys Entschlossenheit, die Zukunft zu erfahren. Sie hatte die Trauer hinter sich gelassen und einen noch beunruhigenderen Zustand erreicht. Um Fergus zu retten, würde sie ihre Seele verkaufen und den Teufel herausfordern.

„Mrs. Grant!“ Duncan trat vor die alte Frau. „Niemand kann in die Zukunft sehen, egal wie sehr man es sich wünscht. Die Geschichten, die Sie über Mara gehört haben sind genau das – Geschichten.“

Marjory Grant schwankte, als würde sie am Rande eines Abgrunds balancieren, den niemand außer ihr sah. Duncan stützte sie, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Ich muss es wissen“, wiederholte sie. Aber der drohende Unterton war aus ihrer Stimme verschwunden.

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.“ Duncan ließ die Hand sinken. „Ich kenne Fergus aus dem Pub. Er ist ein guter Mann. Es tut mir leid, dass er krank ist.“

„Keiner sagt mir, was los ist.“

Mitfühlend schüttelte Duncan den Kopf. Mara wurde Zeugin der Verwandlung, die sie sich zuvor nur ausgemalt hatte. Seine Gesichtszüge wurden weich, und die Augen bekamen einen warmen Schimmer. Einen Moment lang schien er zu allen menschlichen Gefühlen in der Lage zu sein. „Vielleicht kann ich Ihnen dabei behilflich sein“, sagte er. „Ich kenne Dr. Sutherland sehr gut. Er hat mich auf die Welt geholt.“

„Aye. Du bist einer der drei Men of Midnight.“

„Sollen wir zusammen mit ihm reden? Ich bin mir sicher, dass er Ihre Fragen beantworten wird. Wenn Sie möchten, können wir gleich zu ihm fahren. Wenn nötig, besuchen wir ihn auch zu Hause.“

Mrs. Grants Missmut schien sich aufzulösen. „Das würdest du für mich tun?“

„Natürlich.“

„Ich kann jetzt nicht. Aber sie haben mir gesagt, dass ich Fergus heute nach dem Tee sehen kann. Würdest du dann mit mir hingeh’n?“

„Ich werde um halb sieben vor dem Krankenhaus auf Sie warten.“

„Auf dich wird der Doktor hören.“

Duncan schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Dafür werde ich schon sorgen.“

Sie lächelte nicht zurück, aber sie sah aus, als hätte ihr jemand eine Last von den Schultern genommen. Sie drehte sich zu Mara um, und ihre Augen wurden erneut schmal. „Das werde ich mir merken, dass Sie mir nich geholfen haben, als ich in Not war. Und hinter meinem Zaun wachsen Vogelbeeren. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal telefonieren wollen.“

„Ich werde für Fergus beten“, erwiderte Mara. „Und für Sie.“

Die alte Frau schnaubte. „Erhört Gott etwa die Gebete von einer wie Ihnen, Mara MacTavish?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie kehrt und schlug den Pfad zur Straße ein.

Wieder spürte Mara die Bank hinter sich und setzte sich. Sie stützte den Kopf in die Hände. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Wärme eines anderen Menschen neben sich spürte. Im Nachhall von Marjory Grants Worten hatte sie beinahe vergessen, dass Duncan immer noch hier war.

„Vogelbeere?“, fragte er.

„Wissen Sie das nicht? Vogelbeeren halten Hexen fern. Ich bin überrascht, dass sie keine zum Kreuz geflochtenen Zweige trug, als sie hierher kam.“

„Sie ist eine alte Frau, und sie ist ziemlich aufgeregt“, sagte er ruhig. „Machen Sie sich nichts draus.“

Sie schlug die Augen auf und stellte fest, dass er neben ihr saß. Er hatte seine langen Beine neben ihren ausgestreckt. Sie konnte seine Wärme durch ihren Wollrock spüren und nahm den dezenten maskulinen Duft wahr, der sie beide einhüllte. Seine Gegenwart war sowohl ein Eindringen als auch ein Friedensangebot.

„Ich fürchte, ich habe mir nicht klargemacht, was es bedeutet, in einem Dorf wie Druidheachd als Hexe gebrandmarkt zu sein. Ich komme aus Kalifornien, und da würde es niemanden großartig interessieren. Vermutlich wird dort in jedem Block Hexensabbat gefeiert.“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Hier gehörte ich immer zu den Außenseitern“, fuhr er fort. „Ich kam zur Welt …“ Er zuckte die Achseln. „Das spielt jetzt keine Rolle. Sagen wir einfach, man hielt mich von Anfang an für etwas Besonderes. Ich hätte also vermutlich etwas feinfühliger Ihnen gegenüber sein müssen, schließlich stecken Sie in einer ähnlichen Situation. Es ist nicht schwer, die Leute vom Dorf auf dumme Gedanken zu bringen. Ein Hund, der irgendwo in der Nacht heult. Rauch aus dem Kamin, der sich in der falschen Richtung kräuselt. Die Größe der aufgehenden Sonne. Hier deutet man solche Zeichen, wie die Menschen woanders die Zeitung lesen. Druidheachd mag vielleicht aussehen wie hundert andere Dörfer in den Highlands, aber unter der Oberfläche herrscht hier noch finsterstes Mittelalter. Wie bei dem Musical Brigadoon, in dem ein Dorf nur alle hundert Jahre aus dem Nebel der Vergangenheit auftaucht.“

Er wandte ihr das Gesicht zu, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte sein Blick unverschleiert. Sie erhaschte einen Eindruck von dem ganzen Mann, sowohl von dem, der er zu sein versuchte, als auch auf den, der tief in seinem Inneren schlummerte. In seinem Blick lag Verständnis und sogar eine Art widerwilliges Mitgefühl. Sie war verwirrt wie schon seit Jahren nicht mehr. Und erschrocken.

Verunsichert wandte sie den Blick ab. Ihre Hände begannen erneut zu zittern. „Marjory hat guten Grund, sich Sorgen zu machen.“

„Das werden wir heute Abend herausfinden.“

Jetzt zitterte auch ihre Stimme. Ihre Stimme, die Hände, selbst ihr Herz schien zu beben. „Hören Sie nicht? Ich sage Ihnen, sie hat Grund, sich zu sorgen.“

„Was meinen Sie damit? Wissen Sie etwas, das sie nicht weiß? Haben Sie etwas gehört?“

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Es war einfacher, als sich das Schlimmste vorzustellen. „Etwas gehört? Nein. Aber Fergus Grant liegt im Sterben. In vierzehn Tagen wird er sterben, sobald der Mond voll ist. Und kein Doktor in Glasgow oder irgendwo auf der Welt wird das verhindern können.“

4. KAPITEL

Hast du schon gehört, dass Fergus Grant letzte Nacht gestorben ist?“

Duncan schaute von seinem Schreibtisch auf und stellte fest, dass Andrew an der Tür zu seinem Büro lehnte. Er hatte den Kopf voll mit Zahlen, die den Schluss nahelegten, das Hotel aus wirtschaftlichen Gründen sofort zu schließen. „Verzeihung, was hast du gesagt?“

„Fergus Grant ist letzte Nacht gestorben. Im Krankenhaus in Glasgow.“

Duncan starrte seinen Freund an. „Aber es ging ihm doch schon wieder besser. Es hieß, vielleicht würde er nach dem Wochenende sogar wieder nach Hause kommen.“

„Aye, Fergus kommt nach Hause, das stimmt. In einem Sarg.“ Andrews Gesichtsausdruck war ernst, ein seltenes Ereignis und sehr beeindruckend anzusehen.

„Was ist passiert?“

„Er hatte wohl irgendein Blutgerinnsel. Es ging ganz fix.“ Andrew schnippte mit den Fingern.

Duncan empfand mehr als Traurigkeit. Vor zwei Wochen hatte Mara vorausgesagt, dass Fergus sterben würde. Und in der letzten Nacht war Vollmond gewesen. Er wusste es, weil er wach gelegen hatte und ihn durch die dünnen Vorhänge in seinem Schlafzimmer angestarrt hatte.

„Das ist Zufall.“ Er stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum.

„Zufall?“ Andrew schüttelte den Kopf. „Es ist niemals ein Zufall, wenn jemand stirbt, Dunc. Wir müssen alle sterben. Es ist unausweichlich. Nicht einmal die Amerikaner haben herausgefunden, wie sich das vermeiden lässt. Fergus’ Zeit war abgelaufen. Das ist alles.“

Duncan erklärte nicht, was er gemeint hatte. Er hatte niemandem etwas von Maras Prophezeiung erzählt. Es war zu verrückt gewesen, und er hatte sich über sich selbst geärgert, weil er auf sie zugegangen war und sie zu der Aussage provoziert hatte. „Erzähl mir nicht, dass du an so etwas wie Schicksal glaubst, Andrew. Glaubst du etwa, da sitzt jemand mit einem Wecker und einem Gong oben in den Wolken und wartet auf den vorherbestimmten Zeitpunkt, an dem wir unser Leben aushauchen?“

„Wenn du es so ausdrückst, klingt es natürlich ziemlich albern.“ Andrew schlug Duncan auf die Schulter. „Du scheinst es schwerer zu nehmen, als ich dachte. Dabei hast du den alten Fergus doch kaum gekannt.“

„Es kommt nur so überraschend, das ist alles.“

„Ich bin nur für ein paar Tage zu Hause. Hast du Lust auf eine Partie Billard?“ Andrew arbeitete auf einer Ölbohrplattform in der Nordsee. Den größten Teil des Jahres kam und ging er, wie sein Dienstplan es ihm vorschrieb, aber im Sommer blieb er in Druidheachd und führte die wenigen Touristen, die sich hierher verirrten, hinaus zum Loch Ceo, wo sie nach dem ortsansässigen Ungeheuer Ausschau hielten.

„Hast du zufällig gerade deinen Lohn bekommen?“, fragte Duncan.

Andrew grinste. „Wie kommst du bloß auf so einen Gedanken?“

Duncan lächelte ebenfalls. Andrew hatte es schon immer geschafft, ihn zum Lächeln zu bringen. „Sorry, aber ich muss jedes Pfund in diese Bruchbude hier stecken. Wenn ich nicht bald den Klempner kommen lasse, kann ich hinter dem Kutschenhaus ein Plumpsklo aufstellen und das Hotel als authentisches Relikt des alten Druidheachd anpreisen.“

„Ich spiele gegen dich, für einen kleinen Schluck und das pure Vergnügen, dich zu schlagen.“

Duncan schaute auf die Uhr. „Ich kann nicht. Ich habe April versprochen, dass wir heute in unserer Wohnung zu Abend essen, damit wir ihren Geburtstag planen können. Am Wochenende wird sie sieben.“

„Ach, wenn sie nur zwanzig Jahre älter wäre! Dann würde ich glatt an ihre Tür klopfen.“

„Und ich würde auf der anderen Seite mit einem Gewehr stehen.“

Nachdem Andrew gegangen war, wirkte der Raum leer. Er erfüllte jedes Zimmer, das er betrat, mit seinem angenehmen Humor und seinem Übermut. Vom Moment seiner Geburt an hatte er andere für sich eingenommen. Er war ein sehr niedliches Baby gewesen, das viel lachte und jedem die schönsten Seiten des Lebens zeigte. Selbst Donald Sinclair, Duncans Vater, wurde ein anderer, warmherzigerer Mensch, wenn Andrew in der Nähe war.

Duncan konnte sich nicht daran erinnern, dass Andrew ihm jemals schlechte Nachrichten gebracht hätte. Aber heute hatte er es getan.

Am Fenster blieb er stehen und starrte durch das alte, wellige Glas auf die Straße vor dem Hotel. Fergus Grant war tot, und Mara MacTavish hatte die Stunde seines Todes vorausgesagt. Duncan wusste, dass das Zufall war – dass es Zufall sein musste. Doch der merkwürdige Zeitpunkt von Fergus’ Tod rief ihm den Nachmittag bei Mara vor zwei Wochen wieder in Erinnerung.

Angesichts ihrer Prophezeiung war er so verblüfft und verwirrt gewesen, dass er sie zuerst nur angestarrt hatte. Dann hatte ihn der Ärger gepackt.

„Was zur Hölle soll das werden?“, hatte er gerufen. „Versuchen Sie mir weiszumachen, dass Sie wirklich so seltsam sind, wie man sich erzählt?“

Ihr Blick war auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. „Es ist mir egal, ob Sie mir glauben oder nicht. Es ist mir egal, was irgendjemand glaubt.“

„Wenn Ihnen die Meinung anderer gleichgültig ist, dann sollten Sie vielleicht ein paar Ihrer Gedanken für sich behalten. Dann wird Sie auch niemand verurteilen. Aber Sie laden die Leute ja geradezu dazu ein, wenn Sie so verrückte Sachen behaupten.“

„Verrückt?“ Sie erhob sich und sah ihn an. „Sie glauben also, ich sei nicht ganz richtig im Kopf?“

„Was soll ich sonst glauben? Es ist schließlich alles andere als normal, die Todesstunde eines anderen Menschen anzukündigen.“ Er stand ebenfalls auf. „Immerhin waren Sie so vernünftig, Mrs. Grant nichts davon zu erzählen. Dafür sollten wir dankbar sein.“

„Es hätte ihr nicht geholfen, wenn ich es ihr gesagt hätte.“

„Genauso wenig bringt es, dass Sie mir davon erzählt haben. Außer, dass ich jetzt mehr denn je überzeugt bin, dass meine Tochter hier nicht gut aufgehoben ist. Es gab bereits eine abgedrehte Frau in ihrem Leben. Sie braucht ganz sicher keine zweite davon.“

„Abgedreht?“

Einen Moment lang hatte Duncan seine Worte bedauert, aber nur kurz. Es ergab keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. „April ist im Moment sehr verletzlich. Das Letzte, was sie braucht, ist ein Vorbild, das glaubt, es könne in die Zukunft sehen. Was versprechen Sie sich von solchen Spielchen, Mara? Es müsste Ihnen doch klar sein, dass Sie mich damit nicht beeindrucken können.“

Sie hielt seinem Blick stand. Er sah Schmerz in ihren Augen, so tief, wie er ihn noch nie gesehen hatte. „Aye. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich weiß nicht, warum ich es Ihnen erzählt habe.“ Dann glitt sie an ihm vorbei. Er sah ihr nach, als sie zwischen den Bäumen neben dem absurd primitiven Cottage verschwand, das sie ihr Zuhause nannte.

Das war das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen hatte.

Was mochte sie jetzt wohl denken? Wusste sie, dass Fergus Grant bei Vollmond gestorben war, genau, wie sie es prophezeit hatte? Sah sie die Ironie, oder glaubte sie, dass es ganz und gar kein Zufall war, sondern der Beweis, dass sie diese zweifelhafte Gabe besaß, die die Highlander ‚die Sicht‘ nannten?

Er sagte sich, dass es ihm egal war, aber er konnte Mara nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Er erinnerte sich an den Schmerz, den er in ihrem Blick gesehen hatte. Als er sich vom Fenster abwandte, wusste er tief in seinem Inneren, dass sie nichts als Trauer empfinden würde, weil ihre Worte sich bewahrheitet hatten.

„Darf ich mir zum Geburtstag wünschen, was ich will?“

Duncan lächelte seine Tochter über den Esstisch an. „Alles, solange es vernünftig ist. Ich glaube, ich könnte mir kein Paar tanzender Elefanten leisten, oder einen Tiger, der an den Hotelgästen knabbert.“

April kicherte. „Und was ist, wenn ich etwas finde, das nicht so viel kostet?“

„Dann würde ich mich besonders freuen, es dir zu schenken.“

„Ich möchte ein Picknick machen.“

Fragend legte er den Kopf schräg.

„Ein Picknick mit dir … und Mara.“

Damit hatte sie ihn vollkommen überrumpelt. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Ein Picknick, das den ganzen Tag dauert. In den Bergen. Und Guiser muss auch mitkommen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir das machen können.“

„Du hast gesagt, ich darf mir alles wünschen.“

Nur sechs Monate zuvor hatte Duncan gebetet, dass der Tag bald kommen möge, an dem April sich sicher genug fühlen würde, um sich selbst zu behaupten. Vor sechs Monaten hätte sie nicht gewagt, um ein Stück Brot zu bitten. Jetzt wusste er nicht, was er sagen sollte. Er durfte jetzt nicht Nein sagen. Zu lange hatte er auf diesen Beweis ihrer Eigenständigkeit gewartet. Dass April zu Mara ging, obwohl er es nicht wollte, war ein Zeichen gewesen, dass sie sich sicher genug fühlte, um sich das zu nehmen, was sie wollte. Und jetzt war sie so mutig, dass sie um mehr bat.

„Vielleicht will Mara nicht. Womöglich hat sie zu viel zu tun“, wandte er ein.

„Du kannst sie ja fragen!“

Er hatte ein paar harte, grausame Dinge zu Mara gesagt, und jetzt schämte er sich seiner Worte. Fergus’ Tod hatte seine Gefühle für ihre Prophezeiung nicht geändert. Aber er befürchtete, dass er sich recht schnell in einen Mann verwandelt hatte, der andere eher verdammte, anstatt den Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen. Und er vermutete, dass Mara jetzt vor allem Verständnis brauchte, mehr noch als vor zwei Wochen.

Er schenkte sich Kaffee ein. „Ich werde sie fragen.“ Mara würde absagen, da war er sich sicher. Sie hatte keinen Grund, warum sie ihre Zeit mit ihm verbringen sollte. Doch wenn sie einwilligte, mitzukommen, hätte er die Gelegenheit, sie dabei zu beobachten, wie sie mit April umging. Das meiste von dem, was sie gesagt hatte, konnte er ignorieren, aber mit einer Sache hatte sie recht gehabt: Offensichtlich brauchte April etwas, das nur Mara ihr geben konnte. Und er musste herausfinden, was das war.

Sobald April eingeschlafen war, entschied er, Mara sofort zu fragen, ob sie am Samstag mit ihnen picknicken würde. Warum sollte er noch länger damit warten? April hatte von nichts anderem mehr gesprochen, als sie sich zum Schlafengehen fertig gemacht hatte. Duncan hatte Angst, dass April über Maras Absage schwer enttäuscht sein würde, wenn er zu lange damit wartete.

Er bat eines der Zimmermädchen, bei April zu bleiben, weil er noch einmal fort musste, und sie setzte sich mit einem dicken Krimi und einem Teller mit Mrs. Gunns Keksen neben das Bett. Bevor er ging, spielte er eine schnelle Runde Billard mit Andrew, verlor sofort und wies Brian widerwillig an, Andrew an diesem Abend für seine Drinks nichts zu berechnen.

Draußen drang ein sanfter feuchter Dunst durch seinen Regenmantel und ließ ihn wehmütig an die Sonne Kaliforniens denken. Doch in Pasadena hatte die Luft nie so gut gerochen wie hier. In jedem Windhauch lag eine unbestimmte Süße, und trotz aller Bemühungen hatte er den Namen der Pflanze, von der dieser Duft stammte, immer noch nicht herausgefunden. Es war der Duft des Frühlings in den Highlands, grün und fruchtbar und mit dem Versprechen auf neues Leben. Ein Fetzen Musik, das helle Lachen eines Kindes, das Klingeln einer Ladenglocke. Die Geräusche Druidheachds umgaben ihn wie der leichte Nebel.

Auf der Fahrt in die Berge verdichtete sich der Dunstschleier, und als die Straße neben dem Loch Ceo sich durch kleine Kieferschonungen wand, verringerte er das Tempo. Das Land besaß eine eigentümliche, fast gespenstische Schönheit. Er konnte beinahe nachvollziehen, warum die Highlander sich so sehr mit der Geisterwelt beschäftigten. Die Landschaft forderte geradewegs dazu auf. Es war leicht, sich vorzustellen, dass aus diesem Nebel Geister entstiegen, Hexen in steinernen Cottages zwischen den einsamen schroffen Felsen lebten und Feen in winzigen Städten aus rotem Heidekraut unter der Erde hausten. Druidheachd war das gälische Wort für Magie, und in Momenten wie diesen verstand er, warum die Menschen einst diesen Namen gewählt hatten.

Er fuhr stetig bergan, bis es Zeit war, von der Hauptstraße auf den schmalen asphaltierten Weg abzubiegen, der in Serpentinen bis zu Maras Cottage auf dem Beinn Domhain führte. Er begriff nicht, warum eine junge Frau freiwillig so weit von jeder Zivilisation entfernt wohnte. Nach ihrem letzten Zusammenstoß hatte er ein paar Nachforschungen angestellt. Maras nächste Nachbarin, Marjory Grant, lebte nicht mehr als eine Viertelmeile Luftlinie entfernt. Doch ein Mensch bräuchte Flügel, um diese Route zu nehmen, denn ein breiter Bach floss zwischen den Ländereien hindurch.

Wenn Mara ihre Nachbarn zu Fuß erreichen wollte, musste sie fast eine halbe Meile durch eine steinige, unwirtliche Landschaft um die Quelle des Baches herum laufen, oder mehr als eine halbe Meile auf dem Fahrweg. Mit dem Auto würde sie natürlich nicht lange brauchen, aber er hatte nur einen uralten Morris Mini hinter ihrem Cottage gesehen, und er bezweifelte, dass er noch zuverlässig fuhr. Bei schlechtem Wetter war sie vermutlich wochenlang in ihrem Haus gefangen.

Offensichtlich machte es ihr nichts aus. Iain hatte gesagt, Mara habe ihm das Land abgekauft. Duncan konnte sich nicht vorstellen, dass es viel gekostet hatte, da es so wenig zu bieten hatte. Das Haus war nichts mehr wert gewesen, und das Land war steil und unfruchtbar. Aber wenn sie sich ein riesiges Grundstück in den Bergen leisten konnte, hätte sie sich sicherlich auch etwas Kleineres leisten können, das näher am Ort lag. Stattdessen hatte sie sich für diese Einöde entschieden.

Er spürte die Isolation des Ortes, als sein Wagen langsam den Weg hinaufkroch. Der Dunstschleier war inzwischen zu Nebel geworden, und er wurde dichter, je höher er kam. Der Himmel war dunkel, und seine Scheinwerfer leuchteten nur ein kleines Stückchen der Straße aus.

Er drosselte die Geschwindigkeit noch weiter. Solange er in diesem Tempo vorwärts kroch, würde ihm nichts geschehen, zumindest nicht durch seine Schuld. Er sah genug von der Straße, um keine Kurve oder Kehre zu verfehlen. Die größte Gefahr ging von den Autos aus, die den Berg herunterkamen. Selbst bei guter Sicht war die Straße tückisch. Ohne Vorwarnung konnte jederzeit ein anderer Wagen auftauchen. In regelmäßigen Abständen boten zwar kleine Ausweichbuchten neben der Straße genügend Platz, damit ein Auto das andere passieren lassen konnte. Aber bei diesem Nebel gab es noch weniger Hinweise als üblich, wann es Zeit wurde, eine Haltebucht anzusteuern.

Weitere fünf Minuten vergingen, und er begann sich selbst zu verfluchen, weil er ausgerechnet heute Abend mit Mara reden wollte. Er war in diesen Bergen nicht vollkommen fremd. Er hätte wissen müssen, dass der Nebel sich weiter verdichten würde. Doch er hatte es ignoriert, bis es zu spät zum Umkehren war. Ihm blieb nichts anderes übrig als weiterzufahren. Der Wind wurde stetig kräftiger, und die Fensterscheiben klapperten protestierend.

Er schätzte, dass er nur noch wenige Minuten von der Abzweigung zu Maras Cottage entfernt war, als er das Licht sah. Er näherte sich einer besonders bösen Kurve, und wandte für einen winzigen Augenblick den Blick von der Straße ab, um ins Tal hinunter zu schauen. Kurz hinter der nächsten Ausweichstelle flackerte etwas auf. Es war nur wenig mehr als ein Aufblitzen. Es sah aus, als würde ein der Erde entsprungener Stern auf dem vom Nebel verhüllten Berghang aufleuchten. Duncan erhaschte einen kurzen Blick drauf, aber das reichte aus, um ihn neugierig zu machen. Als er die Haltebucht erreichte, fuhr er kurz entschlossen an die Seite und stieg aus dem Auto. Mit der Taschenlampe in der Hand ging er so nah an den Abgrund heran, wie er es wagte.

Zuerst konnte er nur wenig erkennen. Es gab einen schroffen, aber kurzen Abhang, der auf einen breiten Felsvorsprung führte. Hinter diesem Vorsprung begann die Unendlichkeit. Es ging mehrere hundert Meter steil nach unten. Für jeden Unglücklichen, der einen Schritt zu viel machte, bedeutete es den sicheren Tod. Duncan schaltete die Taschenlampe aus und spähte in die Dunkelheit. Jetzt konnte er so gut wie nichts mehr sehen, nur weißen Nebel, der sich mit jeder Windbö verdichtete und wieder auseinander gerissen wurde.

Er war fast schon so weit, zum Wagen zurückzugehen, als er das Licht erneut sah. Es war direkt unter ihm. Etwas Grünes blitzte zitternd einen Moment lang auf und verschwand wieder.

„Was zur Hölle ist das?“

Er war nicht erpicht darauf, näher an den Rand zu treten. Wenn er fiele, könnte er den darunter liegenden Felsvorsprung verfehlen und sein Leben in irgendeinem Vorgarten einer alten Dame in Druidheachd aushauchen, kopfüber in einem Beet mit Mohnblumen und Hasenglöckchen. Doch inzwischen war er mehr als neugierig und wollte unbedingt herausfinden, woher das Licht gekommen war. Erst einmal zuvor hatte er ein Licht von dieser Farbe gesehen. Es war der Grund, warum Geordie Smith heute noch am Leben war.

Er ließ sich auf die Hände und Knie sinken und kroch vorsichtig an den Rand heran. Er fürchtete, das Licht der Taschenlampe würde mehr schaden als nützen, also ließ er sie ausgeschaltet. Vor ihm fiel der Boden steil ab, und er robbte auf dem Bauch weiter, bis sein Kinn gerade eben über die Kante ragte.

Eine Minute oder noch länger geschah nichts. Dann, gerade als er sich fragte, ob er sich das alles eingebildet haben könnte, sah er ein blasses grünes Licht, das dieselbe Farbe hatte wie Mara MacTravishs Augen. Während er wie gebannt zusah, schien sich aus dem diffusen Lichtstrahl die Gestalt eines Menschen herauszubilden.

Das musste das Mondlicht sein. Vielleicht wurde es durch die aufsteigenden Gase uralter Kohleeinlagerungen in den Felsen so merkwürdig verwandelt. Doch gerade als er sich einzureden versuchte, dass das Licht vollkommen natürliche Ursachen hatte, nahm es die Gestalt einer Frau in einem langen wehenden Umhang an. Flehentlich hob sie die Hände.

Als sei er mit schweren Ketten am Boden gefesselt, konnte er sich nicht von der Stelle rühren.

Er hatte später keine Ahnung, wie lange er das Licht angestarrt hatte. Die Zeit schien stillzustehen. Erst als er ein Dröhnen auf der Straße hinter sich hörte, wurde ihm klar, dass er schon länger so liegen musste. Vorsichtig robbte er wieder zurück, frierend und überraschend steif vom langen Liegen auf dem kalten Boden. Schließlich setzte er sich auf. Gerade als er sich umdrehte, kam ein Lastwagen mit blinkenden Scheinwerfern in rasender Geschwindigkeit die Straße herunter geschossen. Der LKW schaffte es kaum um die Kurve, ehe er schlingernd weiterfuhr.

Wenn Duncan auf der Straße gewesen wäre, wo er eigentlich hätte sein sollen, dann hätte er dem Koloss unmöglich ausweichen können. Sein kleiner Sedan wäre kein ernstzunehmendes Hindernis für das tonnenschwere Gefährt gewesen.

Wenn er auf der Straße gewesen wäre.

Er schien bis tief in sein Inneres zu frösteln. Seine Hände begannen zu zittern. Das Spiel „Was wäre, wenn“ spielte er nur selten. Aber dieses Mal stellte er es sich vor, und die Antwort war einfach. Wenn er auf der Straße gewesen wäre, wäre er jetzt tot.

Er spähte noch einmal zum Abhang. Das Licht war verschwunden, nicht einmal das Mondlicht beschien den Felsvorsprung unter ihm. Er stand auf und stellte fest, dass seine Knie zitterten. Er starrte über den schroffen Rand der Schlucht, aber es war nichts zu sehen. Kein Licht, keine Frau, nichts, was in irgendeiner Weise ungewöhnlich wäre.

Für lange Zeit verharrte er noch so.

Mara liebte ihre Schafe, vor allem die Lämmer. Aber selbst sie musste zugeben, dass es kaum dümmere Geschöpfe in der Nahrungskette gab. Als sie und Guiser die Schafe für die Nacht in den Pferch trieben, stellte sie fest, dass eines der Mutterschafe und seine zwei Lämmer fehlten. Sie war müde, und die Aussicht, die Tiere jetzt noch suchen zu müssen, gefiel ihr gar nicht. Sie war früh aufgestanden, um dem Schafscherer zu helfen, der gekommen war, um die letzten Schafe zu scheren. Bei allem, was er ihr erklärt hatte, hatte sie gut aufgepasst und anschließend versucht, das letzte Schaf allein zu scheren.

Doch sie musste feststellen, dass nicht einmal die unabhängigste Einsiedlerin alle Arbeiten allein erledigen konnte.

Gewöhnlich machte sie sich um vermisste Schafe keine allzu großen Sorgen. Aber dieses Schaf war zum ersten Mal Mutter geworden und hatte sich noch nicht ganz an die neue Rolle gewöhnt. Es war noch nicht in der Lage, seine Kinder vor Gefahren zu schützen. Vor mehreren Tagen hatte Mara eines der Lämmer zwischen zwei Felsen eingeklemmt gefunden, während die Mutter zufrieden in einiger Entfernung graste und das klägliche Blöken des Lamms ignorierte.

Also war Mara seit Einbruch der Dunkelheit unterwegs und suchte ihre Tiere. Ausnahmsweise einmal war Guiser keine große Hilfe. Den ganzen Tag hatte er hart gearbeitet, und jetzt war er fest entschlossen, sich seine wohlverdiente Pause zu gönnen. Während sie, mit einer Laterne in der Hand, die Wiesen absuchte, schlich er neben ihr her, ohne große Begeisterung oder Eigeninitiative zu zeigen. Als sie die Suche gerade aufgeben wollte, fand sie das Mutterschaf und die beiden Lämmer, die sich bereits unter einer Kastanie zur Ruhe gelegt hatten.

Jetzt standen sie sicher bei den anderen Tieren im Pferch, und Mara war bereit für ein warmes, wohlduftendes Bad und ein Drei-Gänge-Menü von einem Gourmet-Koch.

Doch heiße Bäder und Feinschmeckermenüs waren für sie nur noch Erinnerungen aus der Vergangenheit.

Sie öffnete ihren Umhang, um ihn an einen Haken neben der Tür zu hängen, als sie das Klopfen hörte. Sie erschrak. Guiser schlief neben dem Feuer, und er wedelte nicht einmal mit dem Schwanz.

„Wer ist da?“, rief sie.

„Ich bin’s, Duncan Sinclair.“

Es tat ihr leid, dass sie gefragt hatte und stellte verwirrt fest, dass sie ihn nicht erwartet hatte. Sie bedauerte, dass der uralte Codex der Highlands ihr befahl, jeden Fremden willkommen zu heißen.

Sie öffnete die Tür und trat zurück, um ihn hereinzulassen. Das einzige Licht kam vom Feuer und von der Laterne, die sie an eine der offenen Dachbalken gehängt hatte. Sie konnte sein Gesicht deutlich genug erkennen, um zu sehen, wie sich der Ausdruck änderte, als er sich umschaute.

„Was immer Sie für das Cottage gezahlt haben, es war zu viel“, sagte er rundheraus.

„Ich habe Iain gar nichts dafür gezahlt.“

Er runzelte die Stirn. „Das ist immer noch zu viel.“

„Ich habe Iain nichts dafür gezahlt, weil ich es selbst gebaut habe.“ Sie machte eine Geste, die den ganzen Raum mit einschloss. „Stein für Stein. Ich habe Iain das Land abgekauft, zu einem fairen Preis.“

„Sie haben es selbst gebaut?“

„Aye, und ich bin stolz darauf.“

Daraufhin sagte er nichts mehr. Sie wusste, was er sah. Das kleine, in zwei Räume unterteilte Cottage wurde in den Highlands Croft genannt. An beiden Enden des Hauses gab es Feuerstellen. Bei der einen hingen Töpfe und Kessel an Ketten über dem Feuer. Auf ihre Kamine war Mara außerordentlich stolz. Sie hatte über den Plänen gebrütet und sie sicherlich ein halbes Dutzend Mal überarbeitet, ehe sie den ersten Stein gemauert hatte. Sie hatte nie erwartet, dass sie so perfekt ziehen würden, aber irgendwie hatte sie es hinbekommen.

„Das ist unglaublich“, sagte er schließlich.

„Warum sind Sie gekommen, Duncan?“

Er sah sie an. Die Haare klebten an ihren Wangen, im Nacken waren sie ganz strähnig. Sie trug den dunkelgrünen Umhang, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. „Waren Sie draußen?“, wollte er wissen.

„Ja.“ Sie streifte den Umhang ab und hängte ihn an den Haken. Dabei hatte sie ihm den Rücken zugedreht. „Sie klingen überrascht. Crofter leben draußen, oder zumindest taten sie das früher. Das Haus war nur zum Schlafen da.“

„Was haben Sie draußen gemacht? Wo genau waren Sie?“, wollte er wissen.

Sie sah ihn an. „Ist etwas passiert?“

„Waren Sie unten bei der Straße?“

„Dort, und an bestimmt hundert anderen Stellen.“

„Waren Sie vor nicht allzu langer Zeit an der Straße?“ Sie erkannte, was ihr zuerst entgangen war. Er war so aufgeregt, wie ein Mann wie Duncan Sinclair nur sein konnte. Irgendetwas hatte sein Selbstvertrauen erschüttert.

Das fand sie befriedigend.

Sie wandte sich ab und durchquerte den Raum, um Wasser aus einem Kessel in eine Waschschüssel auf dem Herd zu schütten. Sie seifte ihre Hände ein und spülte sie ab, dann nahm sie einen Lappen und tauchte ihn ins Wasser. Anschließend wischte sie sich damit über die Stirn und die Wangen und beendete die Prozedur, indem sie den Lappen noch einmal ausspülte und sich den Hals wusch. „Es tut mir leid, aber ich bin bis auf die Haut durchnässt und mit Matsch bespritzt. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.“

„Haben Sie kein fließend Wasser hier?“

„Nein. Und auch keinen Strom oder Telefon. Darum konnte ich Sie auch nicht anrufen, als April mich besucht hat. Aber ich habe ein warmes Feuer und zwei Sessel davor. Sie können mir bei einer Tasse Tee Gesellschaft leisten, wenn Sie möchten.“

Sie sah ihn nicht an, um zu erfahren, wie er sich entscheiden würde. Sie schüttete die Teeblätter aus einem Glas auf dem Regal in eine Teekanne aus brauner Keramik und goss den letzten Rest heißen Wassers aus dem Kessel hinein. „Ich habe noch ein paar Crumpets, die wir toasten können“, sagte sie. „Ich habe heute Abend noch nichts gegessen, und ich bin fast am Verhungern.“

„Warum haben Sie nichts gegessen?“

Seine Stimme erklang direkt hinter ihr. Sie schien niemals genau zu wissen, wo er war, und das war ihr unangenehm. „Ich habe eines meiner Mutterschafe und seine Lämmer gesucht. Es war ein langer Tag.“

„Und haben Sie auch bei der Straße gesucht?“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich überall und nirgends war.“

Duncan fragte sich, ob er langsam den Verstand verlor. Er sah sie an und sah wieder die Lichtgestalt einer Frau vor sich. Die Erscheinung hatte Maras Größe gehabt, mit wehenden Haaren und einem langen Kleid – oder einem Umhang.

Er ließ sich in einen der Sessel sinken. Seine Beine waren immer noch überraschend schwach.

Sie zog den anderen Sessel näher ans Feuer. Dann nahm sie die Haarbürste vom Kaminsims und hielt sie mit einem seltsamen Lächeln in die Höhe. „Mein Föhn“, erklärte sie. Sie begann, ihre Haare zu bürsten und hielt die langen Strähnen dem Feuer entgegen. Sobald sie eine Strähne losließ, fiel sie sanft wie eine Wolke auf ihre Schultern. Es erinnerte Duncan an das Engelshaar auf den Weihnachtsbäumen seiner Kindheit. Schweigend bürstete sie sich weiter. „Was ist auf der Straße passiert, Duncan?“, fragte sie schließlich. „Hatten Sie Probleme, bei diesem Nebel den Beinn Domhain hinaufzukommen?“

„Ich bin gut hochgekommen. Bis auf diese kleine Sache mit dem Lastwagen, der mir entgegenkam.“

Mara hielt einen Augenblick inne. „Sie wissen, wie das mit den Ausweichstellen funktioniert, nicht wahr?“

„Ich schon. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Fahrer des LKWs das wusste. Wenn er noch schneller gefahren wäre, hätte er abgehoben.“

„Aber Sie sind in Ordnung? Oder sind Sie verletzt?“

„Nein. Ich hatte zum Glück gerade angehalten, um mir etwas anzusehen.“

Sie fuhr fort, ihr Haar zu bürsten. „Gott sei Dank. Die Fahrer sind auf dieser Straße meistens sehr vorsichtig. Vielleicht hatten seine Bremsen versagt. Sie haben Glück, dass Sie gerade angehalten haben. Was wollten Sie sich anschauen?“

Sie war fertig und hatte die Bürste beiseite gelegt, ehe er antwortete.

„Es war nur ein Busch im Mondlicht, oder vielleicht im Scheinwerferlicht des Lastwagens. Heute ist Vollmond, selbst wenn der Nebel ihn fast völlig verdeckt.“

„Ich werde die Crumpets holen.“

Duncan beobachtete, wie Mara sich eifrig neben dem Feuer zu schaffen machte. Sie trug einen langen Pullover in Grün- und Violetttönen, wie Heidekraut, und einen dunklen Wollrock, der bis an den Rand ihrer Stiefel reichte. Sie bewegte sich mit ungewöhnlicher Anmut, und unter anderen Umständen wäre es ihm ein Vergnügen, ihr zuzusehen. Aber seit seiner Begegnung mit dem Tod war die Welt nicht mehr, wie sie einmal war. Er war viel zu aufgewühlt, um ihre femininen Reize angemessen würdigen zu können.

„Fergus Grant ist letzte Nacht gestorben“, sagte er. „Wussten Sie das?“

Sie hielt nur einen winzigen Moment in ihrer Bewegung inne, so kurz, dass er es nicht bemerkt hätte, wenn er sie nicht so aufmerksam beobachtet hätte. „Aye.“ Sie griff nach einer Dose und entfernte das Etikett. Sie legte die pfannkuchenähnlichen Crumpets auf zwei angeschlagene Teller. „Die Nachbarn haben sich abgesprochen, um Mrs. Grant etwas zu essen zu bringen.“

„Sie wirken nicht überrascht, Mara. Wir dachten alle, es würde ihm wieder besser gehen.“

Sie antwortete nicht.

„Letzte Nacht war Vollmond“, sagte er.

„Ich bin mir sehr wohl bewusst, wie der Mond steht.“

„Sie sagten, Fergus würde bei Vollmond sterben. Und Sie hatten recht.“

„Aye. Aber ich wünschte, ich hätte mich geirrt.“ Sie drehte sich um und sah ihn an. „Und ich wünschte, ich hätte es Ihnen nie erzählt.“

„Aber Sie haben es mir gesagt.“

„Aye.“ Sie setzte sich wieder und stellte ein Tablett mit einem Buttertopf und den beiden Tellern mit den Kuchen vor ihn. Sie nahm zwei Gabeln mit langen Griffen von einem Haken neben dem Kamin und reichte ihm eine davon.

Wortlos ergriff er sie.

Sie spießte ihren Crumpet auf und hielt ihn vor das Feuer, gerade dicht genug, um ihn zu erwärmen. „Also, was denken Sie jetzt, Duncan? Bin ich einfach nur abgedreht, wie Sie es beim letzten Mal formuliert haben? Oder steckt da vielleicht doch mehr hinter, als Sie zugeben wollen?“

„Woher wussten Sie, dass Fergus sterben würde? Und wann? Haben Sie eine medizinische Ausbildung?“

„Ja. Aber nennen Sie mir eine Universität auf der ganzen Welt, auf der den Studenten beigebracht wird, die Todesstunde eines Patienten vorherzusagen. Ich wäre Ihnen zutiefst dankbar. Weil es dann nämlich eine wissenschaftliche Erklärung für diese Fähigkeit gäbe, die ich schon als Kind hatte.“

„Was für eine Fähigkeit?“

Sie antwortete nicht.

Am liebsten hätte er eine verächtliche Bemerkung gemacht, um dann zu verschwinden. Aber das ging jetzt nicht mehr. „Warum haben Sie mir nichts davon erzählt?“

„Sind Sie denn wirklich offen für so etwas?“ Sie hob den getoasteten Kuchen hoch und musterte ihn. Dann warf sie Duncan einen schnellen Blick zu, ehe sie die Gabel wieder ans Feuer hielt.

Er wusste nicht, ob er offen war für das, was sie zu sagen hatte. Er hatte die Auswirkungen der New Age Philosophie aus nächster Nähe kennengelernt. Seine Ehe und beinahe auch seine Tochter waren dadurch zerstört worden. Er war schon immer ein Skeptiker gewesen. In den letzten drei Jahren jedoch war er mehr als skeptisch geworden.

Aber Mara war nicht Lisa.

Er betrachtete sie im Schein des Feuers. Mara hatte nicht Lisas nervöse, schon fast manische Energie. Sie suchte keine Sicherheit. In allem, was sie tat, lag eine ruhige Selbstgewissheit. Und sie hatte dieses Croft gebaut, ein ungewöhnlicher Nachbau eines alten schottischen Landarbeiterhäuschens. Sie lebte hier ganz für sich, unter Bedingungen, die die meisten Menschen bestenfalls als äußerst aufreibend empfinden würden. Und sie war stolz auf alles, was sie erreicht hatte.

Es war ihm unangenehm, dass Mara MacTavish solche Faszination auf ihn ausübte. Er wollte sich von keiner Frau in den Bann ziehen lassen, und schon gar nicht von einer, die ihre Wurzeln hier in den Highlands hatte. Er wollte nur so lange in Druidheachd bleiben, bis er das Sinclair Hotel so weit in Schuss gebracht hatte, damit beim Verkauf ein kleiner Gewinn für ihn heraussprang. Dann würde er mit April weit weg gehen, ein neues Geschäft aufbauen und ein neues Leben beginnen.

Er wollte sich von Mara MacTavish nicht in den Bann ziehen lassen, aber genau das war geschehen.

„Nein, ich bin nicht offen für so etwas.“ Er griff nach seinem Crumpet und spießte ihn auf. „Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob Offenheit wirklich so ein Vorzug ist. Ich habe zu viele Menschen gesehen, die so offen waren, dass ihnen jeder vernünftige Gedanke abhanden gekommen ist.“

„Sie sind verletzt worden.“

„Gehört Gedankenlesen auch zu Ihren Fähigkeiten?“

„Nicht mehr als bei jedem anderen Menschen. Aber der Schmerz ist deutlich aus Ihren Worten herauszuhören. Hat Aprils Mutter Sie so verletzt?“

„Ich will jetzt nicht über mich reden.“

„Tun Sie das überhaupt jemals?“

„Was soll das heißen?“

„Vertrauen Sie sich jemals einem anderen Menschen an? Ich kann keine Gedanken lesen, aber ich wette, dass fast jeder, auf den Sie jemals gezählt haben, Sie irgendwann im Stich gelassen hat. Und das ist einer der Gründe, warum Sie aufgehört haben, an Dinge zu glauben, die Sie nicht mit eigenen Augen sehen können. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Sie Ihren eigenen Augen trauen.“

„Woher wussten Sie, dass Fergus sterben würde? Oder haben Sie einfach nur geraten? Denn das ist es, was ich glaube. Eine glückliche …“

„Für Fergus war es nicht glücklich.“ Sie sah ihm ins Gesicht.

Er hob die Schultern. „Unglückliche Vermutung.“

„Wollen Sie es wirklich wissen?“

Er wollte schon Ja sagen, doch dann dachte er noch einmal darüber nach. Hinter ihrer Frage steckte mehr, als es den Anschein hatte. Behutsam hatte sie ihn darauf hingewiesen, dass er mehr von ihr verlangte als eine einfache Erklärung. Er bat sie, ihm einen Teil von sich zu offenbaren.

„Würden Sie mir die Wahrheit sagen?“, fragte er.

„Das Lügen habe ich nie gelernt.“

Wollte er mehr über sie wissen? In diesem Moment begriff er, dass er bereits etwas wusste, was er nicht hatte wissen wollen. Mara MacTavish meinte es ernst. Sie mochte vielleicht verblendet sein, aber sie hatte nichts von Lisas Falschheit. Sie würde die Wahrheit nicht verdrehen, um sich das Leben zu erleichtern. Es spielte für sie keine Rolle, ob ihm ihre Erklärung gefiel oder nicht. Sie wollte ihm nur erzählen, was sie für die Wahrheit hielt.

Er beugte sich vor. „Sie glauben, Sie hätten das zweite Gesicht, nicht wahr? Darum geht es doch.“

Sie griff nach seiner Gabel und zog den Crumpet aus dem Feuer. „Ich weiß nicht, was ich habe, Duncan. Der Gabe ein Etikett zu verpassen, macht es nur für andere Menschen leichter, es zu akzeptieren oder zu verdammen. Ich selbst habe es nie verstanden. Ich weiß nur, dass ich viel zu oft die Zukunft sehen kann.“ Sie lächelte traurig. „Und meistens sehe ich nichts Gutes.“

5. KAPITEL

Und Sie konnten schon als Kind die Zukunft sehen? Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie immer wissen, was als Nächstes geschehen wird?“

Mara nahm Duncan die Gabel aus der Hand und entfernte den Kuchen. Sie bestrich ihn mit Butter und legte ihn auf den Teller. „Wenn ich die Zukunft so klar sehen könnte, wäre ich jetzt reich und berühmt. Überlegen Sie mal, was für einen Erfolg ich an der Wall Street haben könnte.“

Er nahm den Teller entgegen, den sie ihm reichte. Seine Finger berührten ihre Hand, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen waren von einer gleichmäßigen grünen Farbe, wie die Lichtquelle, die ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Verwirrt wandte er den Blick ab. „Was sehen Sie dann?“

„Viel mehr als ich will.“

Sie stand auf, um den Tee einzuschenken und reichte ihm eine Tasse. Sie setzte sich wieder und presste sich ihren Becher an die Brust, als suchte sie Wärme. Er stellte fest, dass sie zitterte. „Ich war noch ein kleines Kind, als ich feststellte, dass das, was für mich ganz einfach war, für andere unmöglich war. Zuerst taten meine Eltern das, was ich sagte, als kindliches Geplapper ab. Aber als ich vier war, erzählte ich ihnen, dass unser Nachbar einen Unfall hatte. Meine Mum dachte, ich hätte jemanden darüber reden gehört, und ging hinüber, um ihre Hilfe anzubieten. Natürlich war nichts geschehen, und es war ihr furchtbar peinlich, dass ich gelogen hatte. Aber am nächsten Tag passierte der Unfall tatsächlich, genauso, wie ich ihn gesehen hatte. Ich war noch zu klein, um den Unterschied zu erkennen zwischen dem, was ich in meinem Kopf sah und dem, was ich mit meinen Augen wahrnahm. Für ein Kind sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fast dasselbe.“

Alles, was Mara sagte, klang in Duncans Ohren wie eine Beleidigung seines gesunden Menschenverstandes, doch er konnte nicht leugnen, dass sie es vollkommen ernst meinte. Sie glaubte eindeutig, ihre Geschichte sei wahr. „Was haben Ihre Eltern dann gemacht?“

„Ich habe ihnen Angst eingeflößt – und tue es noch. Es sind gute Menschen. Mein Vater ist der Kirchenälteste in unserer Gemeinde. Er und meine Mutter sind sich sehr sicher, dass sie immer die richtigen Antworten haben, und in ihren Antworten ist kein Platz für eine Tochter, die Dinge sehen kann, bevor sie passieren. Damals erzählten sie dem Pfarrer, was ich gesagt hatte, und er erklärte, so ein Gerede käme vom Teufel. Ich wurde bestraft und musste versprechen, mit dem Lügen aufzuhören. Ich brauchte eine ganze Zeit, bis ich verstand, was sie meinten. Ich bekam Angst, überhaupt irgendetwas zu erzählen, weil ich mir nicht immer sicher war, ob das, wovon ich berichten wollte, schon stattgefunden hatte oder erst in der Zukunft geschehen würde. Wenn ich einen Fehler machte, wurde ich bestraft, und die Strafen wurden jedes Mal härter.“

Sie hielt inne und nippte an ihrem Tee. Duncan wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte nicht zulassen, dass er Mitleid mit dem Kind empfand, das Mara gewesen war, weil das bedeuten würde, dass er ihr die Geschichte glaubte. Trotzdem regte sich sein Mitgefühl. Und Ärger über die unsensiblen Menschen, die sie aufgezogen hatten.

„Als ich zur Schule kam, hatte ich bereits gelernt, alles für mich zu behalten. Aber ich hatte jedes Selbstvertrauen verloren. Ich sprach kaum, und wenn, dann stotterte ich. Meine Eltern schickten mich auf eine weit entfernte Schule, weil sie sich meiner schämten. Die Schule hatte einen strikten Lehrplan und starre Verhaltensregeln. Wenn es überhaupt möglich war, wurde ich noch stiller. Inzwischen hatte ich gelernt, meine Visionen zu ignorieren. Ich zweifelte sogar daran, ob sie echt waren.“

„Aber offensichtlich ist etwas geschehen, das Sie Ihre Meinung ändern ließ“, sagte Duncan.

Sie nahm ihren Crumpet aus dem Feuer und bestrich ihn mit Butter. Sie aß ihn bis zum letzten Krümel, ohne ein Wort zu sprechen. Er beobachtete, wie sie in das rauchige Torffeuer starrte. Vermutlich durchlebte sie in Gedanken diese Jahre noch einmal und erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, eine Außenseiterin zu sein. Er konnte ihr Leid fast körperlich fühlen. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er wollte diese Verbindung zu ihr nicht spüren.

Schließlich rieb sie die Hände und wandte ihm das Gesicht zu. „Als ich alt genug war, um mich für einen Beruf zu entscheiden, wollte ich Krankenschwester werden. Ich vermute, die Art, wie ich aufgewachsen war, weckte in mir den Wunsch, für andere Menschen da zu sein, die leiden mussten. Ich dachte sogar, wenn ich den Menschen helfe, würde ich aufhören, mir einzubilden, ich könnte ihre Zukunft sehen. Ich bewarb mich in einem Krankenhaus in Edinburgh. Zuerst, als wir nur Theorieunterricht hatten, dachte ich, ich hätte die richtige Entscheidung getroffen. Ich entdeckte, dass ich in einer entspannten Umgebung schnell lernte, und dass die Welt viel interessanter war, als man mich immer glauben lassen wollte. Aber dann begannen wir, mit den Kranken zu arbeiten. Zuerst nur ein wenig, dann immer mehr, je mehr unser theoretisches Wissen es zuließ. Ich stellte fest, dass ich nach einer Begegnung mit einem Patienten, egal, wie kurz es gewesen war, sagen konnte, ob er leben oder sterben würde.“

Duncan setzte seine Tasse ab. Mara hatte seine Sympathie geweckt, aber damit war es jetzt vorbei. „Nachdem Sie einen Menschen einmal gesehen hatten?“

„Aye. Ich weiß, wie das klingt, Duncan. Ich kann nichts tun, damit es sich anders anhört.“

„Wollen Sie damit sagen, Sie mussten nur in ein Zimmer gehen und schon wussten Sie, ob ein Patient sterben würde?“

„Es war sogar noch schlimmer. Ich hatte nie zuvor in einer großen Stadt gelebt. Plötzlich war ich ständig von Menschen umgeben. Eines Tages, in meinem zweiten Ausbildungsjahr war es, als hätte jemand die Fluttore geöffnet. Ich konnte nicht durch die Straßen gehen, ohne dass die Eindrücke der Menschen um mich herum auf mich einstürmten. Dieser Mann wird nächsten Monat sterben. Dieser dort wird jemanden verlieren, den er liebt. Das Kind dieser Frau lebt im Ausland und hat eine unheilbare Krankheit, die noch nicht diagnostiziert war. Ich blieb so oft wie möglich in meinem Zimmer. Ich ging nur nachts nach draußen, wenn die Gefahr nicht so groß war, dass die Straßen überfüllt waren. Ich suchte mir meine Freunde sorgfältig aus und umgab mich nur noch mit Menschen, deren Zukunft für mich nicht erkennbar zu sein schien.“

„Das ist ziemlich schwer zu glauben.“

Sie lächelte traurig. „Ich weiß.“

„Was ist dann passiert?“

„Eines Tages dachte ich daran, mich umzubringen.“ Sie sagte diese Worte in einem sachlichen Ton. „Und da begriff ich, dass mir genau zwei Möglichkeiten blieben. Ich konnte mich selbst und meine Gabe akzeptieren und versuchen, sie zum Wohle anderer einzusetzen, oder ich konnte meinem Leben ein Ende setzen. Denn die dritte Möglichkeit, so zu tun, als wäre ich jemand, der ich nicht war, trieb mich langsam in den Wahnsinn.“

Duncan überlegte, was er sagen könnte. Im Grunde genommen hatte sie eine gute Entscheidung getroffen. Aber wenn er ihr das sagte, käme sie womöglich noch auf die Idee, er würde ihr die Geschichte abkaufen. Dabei war die Story einfach absurd. Wie schon so oft in ihrer kurzen, aber emotional aufgeladenen Bekanntschaft, sagte er gar nichts.

„Ich begann Bilanz zu ziehen. Was wusste ich? Es gab Dinge, an denen ich nichts ändern konnte. Wenn ein Patient todkrank war, war ich nicht in der Lage einzugreifen. Oft genug war mir klar, dass niemand ihm helfen konnte. Dieser Mensch würde sterben, egal was ich sagte oder tat. Wie der arme Fergus. Aber manchmal spürte ich, dass ich die Situation noch beeinflussen konnte.“

„Zum Beispiel?“

„Einmal habe ich absichtlich die Krankenakten einer Patientin verschlampt, die am Morgen entlassen werden sollte. Am Nachmittag erlitt sie einen Herzinfarkt. Sie überlebte nur, weil sie immer noch im Krankenhaus war. Ein anderes Mal habe ich einer Tabelle etwas hinzugefügt und die Unterschrift gefälscht. Das führte dazu, dass der Arzt weitere Tests anordnete, und der Patient wurde gerettet. Eine Kollegin klagte über heftige Menstruationsbeschwerden, und ich habe sie zur Notaufnahme gebracht. Ihr Blinddarm stand kurz vor einem Durchbruch.“

„Komm schon, Mara. All diese Dinge könnten Ihnen auch aufgrund Ihrer Ausbildung aufgefallen sein.“

„In dem Krankenhaus gab es einen jungen Arzt, Robert Fitzwilliams. Eines Morgens sagte Robbie mir, dass er übers Wochenende mit ein paar Freunden nach Österreich zum Skifahren fliegen würde. Ich sah eine Lawine und seinen sicheren Tod. Ich machte mir schreckliche Sorgen, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er war kein besonders sensibler Mann. Ich wusste, dass er mich auslachen würde, wenn ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte.“

Sie stand auf, wandte sich dem Feuer zu und verschränkte die Arme, als sei ihr immer noch kalt. „In der Nacht vor seiner Abreise sah ich, wie Robbie seine Runde drehte. Ich ging in den Aufenthaltsraum der Ärzte und durchsuchte seine Jacke nach seinem Flugticket. Ich nahm es und versteckte es unter meinem Pullover. Am nächsten Morgen, als Robbie entdeckte, dass das Ticket verschwunden war, war es zu spät, um es zu ersetzen, und er musste die Reise absagen. Er war wütend genug, um Nachforschungen anzustellen. Jemand erinnerte sich daran, dass er mich aus dem Aufenthaltsraum der Ärzte hat kommen sehen, obwohl ich dort eigentlich nichts zu suchen hatte. Natürlich stellte Robbie mich zur Rede. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, außer ihm die Wahrheit zu sagen und ihm das Ticket zu geben.“

Sie drehte sich um. „Robbie wollte mich am Montag bei der Krankenhausverwaltung melden. Doch in jener Nacht ging in dem Urlaubsort, wo er hinfahren wollte, eine Lawine runter. Mehrere Skiläufer kamen dabei ums Leben, unter ihnen Robbies Freunde.“

„Sicherlich hat er gedacht, das sei ein Zufall. Lawinen sind schließlich nichts Ungewöhnliches.“

„Wohl aber Lawinen solchen Ausmaßes. Robbie glaubte, dass mein Eingreifen ihn vor dem Tod bewahrt hatte. Er war dankbar. Ich war einsam. Dankbarkeit schien ganz natürlich zu Liebe zu führen, und im Jahr darauf heirateten wir. Ich war sicher, dass zumindest ein Mensch meine seltsame Gabe verstand, und dass er mir helfen würde, mit dieser Last fertig zu werden. Zuerst war es auch so.“

„Zuerst?“

„Robbie war … ein guter Arzt. Aber trotz seiner guten Ausbildung konnte er nicht mit meinen Prophezeiungen mithalten. Nach ein paar Monaten begann er es mir übel zu nehmen. Er wollte über den Tod siegen. Er arbeitete zwölf Stunden am Tag, und wenn er nicht arbeitete, bildete er sich weiter. Aber ich musste einen Raum nur betreten und konnte sagen, ob der Patient sterben würde oder nicht.“

„Ich vermute, Sie sind nicht länger verheiratet?“

„Nein. Ich habe ihn verlassen. Robbie war genau wie meine Eltern. Er brachte mich dazu, an mir selbst zu zweifeln. Andauernd fragte er mich aus, aber er wollte meine Antworten nie hören. Er machte mich vor seinen Freunden und Kollegen schlecht. Zu Hause fand er an allem, was ich tat oder sagte, etwas auszusetzen.“

Duncan glaubte nicht, dass Mara diese Gabe hatte, wie sie behauptete. Aber sie selbst glaubte daran, und das hatte ihr nichts als Leid eingebracht. Er wollte sie trösten, doch andererseits hatte ihre Erzählung weder an seiner Vorsicht noch seiner Skepsis etwas geändert. So brachte er nur ein schroffes „Das tut mir leid“ hervor.

„Danke. Aber mir tut es nicht leid. Ich bin drei Jahre bei Robbie geblieben. Ich glaubte an die Ehe, aber ich glaubte nicht mehr an mich selbst. Jetzt glaube ich an beides, aber es muss Hand in Hand gehen.“

Sie hatte so viel von sich gezeigt, mit ihren Worten und ebenso mit dem, was sie nicht gesagt hatte. Sehr zurückhaltend hatte sie über ihre Ehe und ihre Kindheit gesprochen, aber er vermutete, dass es dazu noch eine ganze Menge mehr zu sagen gäbe. Was hatte ihr Exmann getan, dass sie ihn verlassen hatte? Und was ist mit ihren Eltern? Sie hatte gesagt, die Strafen seien härter geworden, je älter sie wurde, aber was genau bedeutete das? Und die Schule, auf die man sie geschickt hatte? Was hatten die Lehrer gemacht, um ihren Verstand weiter zu zerstören? Wie hatte sie die fortgesetzten Angriffe auf ihre Selbstachtung überlebt?

Duncan glaubte nicht an Maras Fähigkeiten, aber er glaubte ihr. Kaum hatte er das begriffen, da versuchte er auch schon, diesen Impuls zu bekämpfen. „Ich kann das nicht glauben“, sagte er. „Nichts davon.“ Er stand auf. Sie war nur wenige Schritte von ihm entfernt.

„Da sind Sie nicht der Erste, Duncan.“

Er sah ihren resignierten Blick, ohne eine Spur von Ärger. Sie hatte keine Unterstützung oder auch nur Verständnis erwartet. Sie war in die Highlands gekommen, um zu lernen, ohne andere Menschen zu leben. Sie lebte allein, weil sie glaubte, dass das ihre einzige Rettung war.

Wenn sie mehr von ihm verlangt hätte, hätte er sich vielleicht abgewandt. Daran dachte er, als er auf sie zutrat. Er streckte die Hand aus und sah, wie sie sich verkrampfte. Aber sie bewegte sich nicht. Sie hatte gelernt, sich allem zu stellen, was immer man ihr auch entgegenbringen mochte.

Er berührte sie an der Schulter. Seine Hand blieb sanft darauf liegen. „Ich kann nichts davon glauben“, wiederholte er. „Aber ich akzeptiere, dass Sie daran glauben, Mara. Ich glaube nicht, dass irgendjemand die Zukunft sehen kann. Ich weiß nicht, was Sie sehen, und ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß, dass Sie mich nicht anlügen.“

Sie entspannte sich nicht, aber sie entzog sich auch nicht seiner Berührung. „Sie wissen, dass Sie das eines Tages unter einen Hut bringen müssen, nicht wahr? Sie werden einen Weg finden müssen, um sich selbst zu erklären, dass ich nicht lüge, aber auch nicht die Wahrheit sage.“

„Warum können wir es nicht einfach dabei belassen?“

„Warum machen wir uns denn überhaupt darüber Gedanken? Wir sind Fremde. Wir können auch Fremde bleiben.“

Sie hatte recht, aber er hatte nicht das Gefühl, sie sei ihm fremd. Widerwillig war er von der grazilen Schulter unter seinen Fingern hingerissen, ebenso wie vom Schimmer ihrer Haare im Schein des Feuers und den klaren grünen Augen.

„Können Sie Ihre eigene Zukunft sehen?“, wollte er wissen.

„Nein. Und ich kann von niemandem, den ich liebe, die Zukunft sehen.“

„Wie ist es mit meiner?“

Sie machte eine Pause. „Nein.“

„Dabei müsste es Ihnen doch leichtfallen, mich zu durchschauen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht einfach, aus Ihnen schlau zu werden, Duncan Sinclair.“

„Aber so schwer ist es auch nicht.“ Er ließ die Hand sinken. „Im Moment will ich Sie nur um einen Gefallen bitten.“

Sie holte tief Luft, als wollte sie alles, was sie über sich erzählt hatte, beiseite schieben. „Was kann ich tun?“

„Würden Sie April und mich am Samstag zu einem Picknick begleiten? Es ist ihr Geburtstag, und sie möchte, dass Sie ihn mit uns feiern.“

„Und was ist mit den Dingen, die Sie neulich gesagt haben? Heute Abend muss Ihnen klar geworden sein, dass ich mich nicht verändert habe, und ich habe auch keinen neuen Weg gefunden, die Dinge zu erklären, die ich sehe.“

„Es tut mir leid.“ Die Worte schmeckten ungewohnt in seinem Mund. Er sagte sie selten, aber niemals mit größerer Aufrichtigkeit. „Ich hätte das alles nicht sagen sollen. Ich weiß, dass Sie April nie wehtun würden. Und Sie hatten recht. Sie scheint etwas zu brauchen, das Sie ihr geben können. Sie möchte Sie in ihrem Leben haben.“

„Und Sie?“

Er war sich nicht sicher, wonach sie fragte. „Ich würde mich freuen, wenn Sie unsere Freundin sein könnten.“

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Er konnte sehen, wie sie verschiedene Möglichkeiten abwog, und er konnte nichts tun, um seine Erfolgsaussichten zu erhöhen. „Soll ich den Picknickkorb packen oder machen Sie das?“, fragte sie schließlich.

Er war überrascht, wie sehr er sich freute. „Ich werde Frances sagen, sie soll einen Korb für uns alle packen. Suchen Sie einen schönen Platz aus? Gibt es irgendetwas in der Nähe, wo wir zu Fuß hingehen können?“

Langsam formten sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Aye, ich kenne eine Stelle. Ich kann fast garantieren, dass Sie sich dort wie zu Hause fühlen werden.“

„Gut.“

„Seien Sie vorsichtig, wenn Sie zum Hotel zurückfahren. Bitte keine Zusammenstöße mit irgendwelchen Lastwagen auf meiner Straße.“

Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt, aber jetzt drehte er sich noch einmal um. „Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Mara, ist Ihnen aufgefallen, dass Sie nicht vorhergesagt haben, dass ich heute Abend eine Begegnung mit dem Tod haben würde?“

„Aye.“

„Und?“

„Sie leben noch, oder?“

Er war nicht tot, das stimmte. Er hatte an einer Stelle nach Lichtern gesucht, an der keine Lichter hätten sein dürfen. Und diese merkwürdige Laune hatte ihm das Leben gerettet. Vereinzelte Strahlen des Mondes und wirbelnde Nebelschwaden hatten ihn fasziniert und die Illusion einer bittenden Frau erzeugt.

Schottland hatte ihn wieder.

Nachdem er Mara verlassen hatte, wollte Duncan eigentlich zurück ins Hotel, doch stattdessen fuhr er zum Anwesen der Familie Ross, das mehrere Meilen in der entgegengesetzten Richtung lag. Er bog auf die Straße ein, die um den Loch Ceo herumführte.

Als Junge war er oft hier entlang gefahren. Unter normalen Umständen hätte er selten mehr als ein oder zwei Worte mit Iain Ross gewechselt. Doch die guten Menschen von Druidheachd hatten verkündet, dass die kleinen Mitternachtsjungs zusammen aufwachsen sollten. Und die Ross’ waren wie die Sinclairs und die MacDougalls nicht mutig genug gewesen, sich dem zu widersetzen.

Das Haus der Ross’, Fearnshader, war für Duncan zu einem zweiten Zuhause geworden. Iains Eltern hatten ihn willkommen geheißen und ihn mit derselben Mischung aus Zurückhaltung und Freundlichkeit behandelt, die sie ihrem eigenen Sohn entgegenbrachten. Nur Andrew gegenüber hatten sie sich anders verhalten. Andrew hatte nie gezögert, bei Lady Mary auf den Schoß zu klettern und seine stämmigen Ärmchen um ihren Hals zu werfen. Für Andrew hatten sie immer ein Extralächeln übrig; wenn er sich schlecht benahm, sah man darüber hinweg, und wenn gerade keiner zusah, bekam er noch ein Stück Kuchen oder einen Löffel Marmelade.

Iains Eltern waren mittlerweile verstorben. Malcolm Ross war einer plötzlichen Krankheit erlegen, als sein Sohn erst zehn Jahre alt war, und Mary Ross war weniger als ein Jahr später vor Kummer gestorben, auch wenn die offizielle Diagnose Lungenentzündung lautete. Iain wurde nach England aufs Internat geschickt. In den Ferien wuchs er unter der Fürsorge der Bediensteten und eines Großonkels, der das Bett nur noch selten verließ, zu einem Erwachsenen heran.

In Druidheachd erzählte man sich eine Legende, die ebenso alt war wie das Dorf selbst. Über der Familie Ross läge ein Fluch, und sie würden niemals glücklich werden. Einer von Iains Vorfahren, der Stammesführer seines Clans, war verflucht worden, und bis zum heutigen Tag stünde die Familie unter dem Bann. Niemand kannte die Einzelheiten des Fluchs – zumindest niemand, der bereit wäre, darüber zu reden – aber fast jeder aus dem Dorf konnte Geschichten von Familienmitgliedern beisteuern, die unter mysteriösen Umständen starben oder ihr Leben lang entsetzlich unglücklich waren.

Legenden und Flüche gehörten eigentlich ins Mittelalter, aber in den Überlieferungen von Druidheachd spielten sie eine große Rolle. Während der Fahrt dachte Duncan darüber nach, warum er zurückgekommen war. Er wollte April einen sicheren Ort bieten, an dem sie sich von der Vernachlässigung durch ihre Mutter erholen konnte. Außerdem wollte er das Hotel auf Vordermann bringen, damit er beim Verkauf einen höheren Preis fordern konnte. Aber was hatte er bisher erreicht? Offensichtlich war auch er nicht immun gegen die Magie des Ortes. Da brauchte er nur an die Sympathie denken, die er dieser grünäugigen Märchenhexe entgegenbrachte, die glaubte, sie könne die Zukunft sehen.

Mit Fortschreiten der Dunkelheit hatte sich der Nebel gelichtet. Die Straße vor ihm war frei. Als er sich Iains Haus näherte, wurde sie merklich breiter. Er fuhr bereits seit Meilen über das Land der Ross’. Es gab nur wenig Grund und Boden hier in der Gegend, das nicht Iain gehörte, obwohl er den größten Teil davon verpachtet hatte.

Er bog um eine Kurve und sah die skelettartigen Umrisse von Ceo Castle neben dem See. Im Mondlicht wie im Sonnenschein wirkte es bedrohlich. Er kannte jeden Stein, jede Stufe, jeden gruseligen Hinweis auf die uralten Folterkeller tief unter der Erde. Hier war er mit Andrew und Iain durch die Hallen getobt, hatte in den Zimmern kampiert, in denen schon Prinzen geschlafen hatten, und handgeschnitzte Pfeile durch die Schießscharten des Nordturms abgefeuert. Ceo Castle war ebenso ein Teil der Legenden und der Realität von Druidheachd wie das glitzernde, mitternächtliche Wasser des Loch Ceo.

Vor dem Schloss bog er in einen schmalen Fahrweg ein, der zu einem Zufluss zum See führte. Er folgte der Straße, bis Ceo Castle hinter einem Erlenhain zu seiner Linken verschwunden war, der Fearnshader – Erlenhof – seinen Namen gegeben hatte. Neben einem kleinen, leer stehenden Torhaus parkte er den Wagen und ging auf das Haus zu. Baumhohe Rhododendren säumten den Weg. Duncan wusste, dass ihn in ein oder zwei Monaten der Duft von Pfingstrosen, Rosen und Bartnelken bis an die Tür begleiten würde. Als Mary Ross noch lebte, war der Garten von Fearnshader überall in den Highlands berühmt gewesen.

An der Haustür hielt er inne und überdachte seinen Besuch noch einmal, aber nur für einen Moment. Dann ließ er den Türklopfer, einen grimmigen Wasserspeier aus Bronze, gegen die mit Schnitzereien verzierte Mahagonitür fallen und wartete.

Iain reagierte auf das dritte Klopfen. Er hatte nur wenige Hausangestellte und war selten zu Hause. Wenn, dann war er gern allein. Mehr als einmal war Duncan in die höhlenartige Küche geführt worden und fand Iain allein am Herd stehend, wo er sich seine Würstchen zum Abendbrot selbst briet.

Duncan starrte Iain an, der lässig am Türrahmen lehnte. Er trug bequeme dunkle Hosen und ein Hemd aus fein gewebter Baumwolle. Das Haar war zerzaust, als wäre er sich auf dem Weg zur Tür noch einmal rasch mit den Fingern durch die verhassten Locken gefahren.

„Bist du allein?“, fragte Duncan.

„Leider.“ Er trat beiseite, und Duncan ging hinein.

Mit normalen Maßstäben gemessen war Fearnshader riesig; nur der Landadel sah das anders. Die Halle war groß genug, dass eine ganze Schar von Bediensteten hin und her eilen konnte, ohne sich in die Quere zu kommen; es gab unzählige verschiedenartige Räume, alle mit sorgfältig ausgearbeiteten Stuckverzierungen und kunstvollen Holzschnitzereien.

„Im Wohnzimmer brennt ein Feuer.“

„Störe ich bei irgendwas?“

„Beim Nachdenken. Aber ich lasse mich gerne unterbrechen.“

Duncan folgte Iain durch die Halle. An den seltenen Tagen, an denen in den Highlands die Sonne schien, war das Wohnzimmer in Licht getaucht, doch heute Abend waren die schweren Vorhänge gegen die Kälte zugezogen. Die massiven dunklen Möbel, die den Raum bis auf den letzten Zentimeter ausfüllten, schienen wachsam jeden angenehmen Gedanken zu vertreiben.

„Du solltest einen Flohmarkt veranstalten, Macbeth“, sagte Duncan. „Wirf das alte Zeugs fort und fang ganz neu an.“

„Bessere Männer als du haben schon in diesen Sesseln gesessen, Sinclair.“

„Und nach ein paar Abenden in diesem Haus haben sie wahrscheinlich nicht mehr mit der Wimper gezuckt, wenn man sie zum Schafott führte oder ihnen ihre Königreiche vor der Nase wegschnappte.“

„Du hast keinen Respekt vor der Tradition.“ Iain ließ sich in einen besonders alten Sessel fallen, dessen Polsterung schon ganz ausgefranst war. Er deutete auf den Sessel neben sich.

Das Feuer war warm, und trotz der düsteren Atmosphäre begann Duncan sich zu entspannen.

„Bist du ein bisschen durch die Gegend gefahren?“, fragte Iain.

„Bin ich jemals einfach nur so durch die Gegend gefahren?“

„Das ist eines der Dinge, die mit dir nicht stimmen.“

„Und die anderen? Oder haben wir nicht so viel Zeit?“

„Du bist über die Maßen eingebildet und weißt den Wert meiner Freundschaft nicht angemessen zu würdigen.“

„Ich bin hier, oder etwa nicht? Und ich bin nur gekommen, damit du mich an deinen bemerkenswerten Erkenntnissen teilhaben lässt.“

„Dann hast du nicht genug Zeit. Es würde Jahre dauern, um dich auf den richtigen Kurs zu bringen.“

Duncan streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er starrte in die Flammen. Sie erinnerten ihn an die Feuerstelle in Maras Cottage. „Ich war gerade oben bei Mara MacTavish.“

„Um diese Zeit?“

„April wollte, dass ich sie zu ihrem Geburtstagspicknick einlade. Du und Andrew seid übrigens für Samstagabend ins Hotel eingeladen.“

„Das werde ich mir nicht entgehen lassen.“

Duncan wusste, dass sein Freund es ernst meinte. Iain war ganz vernarrt in April. Er überschüttete sie mit Zuneigung und brachte ihr Puppen und Kleider von seinen weiten Reisen mit. Dieses Jahr hatte er ihr die ersten Pfingstrosen und Veilchen aus dem Garten von Fearnshader geschenkt. Er war ihr geliebter Onkel, und sie bewunderte ihn und Andrew gleichermaßen. „Um sieben“, fügte Duncan hinzu. „Und bitte sei pünktlich, selbst wenn Andrew es nicht ist.“

„Du warst nicht nur bei Mara, um sie zum Picknick einzuladen, oder?“

„Nein. Vor einiger Zeit sind wir aneinandergeraten.“

„Und du hast dich bei ihr entschuldigt? Deine Schuldgefühle müssen überwältigend gewesen sein.“

Duncan lächelte. Iain verstand ihn so gut. „Sie ist keine deiner alltäglichen Feld-Wald-und-Wiesen-Schönheiten.“

„Hast du gehört, was die guten Leute aus Druidheachd sich erzählen?“

„Das war nicht nötig. Vor ein paar Wochen gab sie mir eine kleine Kostprobe ihrer sogenannten Gabe. Du weißt doch, dass sie behauptet, sie könne in die Zukunft sehen?“

„Ich weiß eine ganze Menge über Mara. Ist sie der Grund deines Kommens?“

„Ja.“

„Was willst du mit dem anfangen, was ich dir erzählen könnte?“

Duncan dachte nach. Die Zeit der Plauderei war vorbei. „Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht einmal, warum sie mich so interessiert.“

„Das hast du doch selbst gesagt. Sie ist eine schöne Frau.“

„Aber ich bin nicht auf der Suche nach einer weiteren schönen Frau, die nicht ganz richtig im Kopf ist.“

„Mara ist nicht Lisa.“

„Warum sagst du mir dann nicht, wer sie ist? Fang damit an, warum du ihr dieses gottverlassene Stück Land verkauft hast. Oder besser, erzähl mir, wie du sie kennengelernt hast.“

Das Feuer war ein kleines Stückchen weiter herunter gebrannt, ehe Iain antwortete. „Ich habe sie durch ihren Mann … ihren Exmann kennengelernt. Er war mein Arzt.“

„Er praktiziert zu weit entfernt, um Erkältungen und Bauchweh zu kurieren.“

„Ich hatte ein Problem, wegen dem ich ihn aufgesucht habe.“ Iain führte diesen Punkt nicht weiter aus. „Er ist sehr fähig und, auf den ersten Blick, ein sehr freundlicher Zeitgenosse. Nach einem Behandlungstermin lud er mich zum Dinner ein. Mara stieß im Restaurant zu uns. Das wurde zu einer Art Gewohnheit. Wann immer ich in Edinburgh war, oder später, nachdem sie nach Pitlochry in Perthshire gezogen waren, haben wir zusammen gegessen. Es war eine harmlose Angelegenheit, und ich hatte keinen Grund, damit aufzuhören. Aber schließlich konnte ich die Augen nicht länger davor verschließen, wie Fitzwilliam seine Frau behandelte. Er schien auch noch stolz auf sich zu sein, wenn er sie demütigte.“

Duncan fiel der scharfe Unterton in Iains Stimme auf. Von ihrem Geplänkel in der Kindheit wusste er, wie trügerisch Iains vornehme Manieren sein konnten. In Sekundenschnelle konnte er sich vom gelangweilten Lord in einen Racheengel mit blitzenden Augen verwandeln. „Sie sagt, dass er sie schlecht gemacht hat.“

„Das ist noch höflich formuliert. Beim letzten Mal, als wir drei uns zusammen getroffen haben, kam sie zu spät zum Restaurant. Fitzwilliam hatte uns beiden schon zwei Extrarunden Drinks spendiert. Als sie ankam, war er richtig in Form. Er erzählte mir, dass Mara sich einbildete, sie könne die Zukunft sehen, dabei konnte sie nicht einmal vorhersehen, wann sie mit dem Wagen im Stau stecken bleiben würde. Sie versuchte, das Thema zu wechseln, aber je weiter der Abend voranschritt, desto ekelhafter wurde er. Er gab eine Geschichte über Maras merkwürdige Fähigkeiten nach der anderen zum Besten. Doch er stellte es so dar, dass sie wie eine Idiotin dastand. Einmal versuchte ich zu gehen, aber er ließ mich nicht. Ich wollte keine Szene machen, weil ich wusste, das würde Mara nur noch mehr aufregen.“

Iain drehte den Kopf zur Seite, sodass er Duncan in die Augen schauen konnte. „Schließlich versuchte Mara zu gehen. Aber auch das wollte Fitzwilliam nicht zulassen. Mittlerweile hatte er viel zu viel getrunken. Er lehnte sich über den Tisch und sagte, Mara sei nur deswegen so nervös, weil er ihr am Morgen gesagt hatte, dass er keine Kinder haben wollte. Er fürchtete, dass ein Kind von ihr womöglich das zweite Gesicht haben könnte. Er sagte, er wolle nicht noch eine Verrückte in der Familie haben. Eine sei mehr als genug.“

„Dieser Bastard!“

„Aye, aber er ist nicht anders als viele von uns. Er hat Angst vor allem, was er nicht versteht.“

Bei Iains Zurechtweisung spürte Duncan einen Stich. „Und du verstehst Mara? Glaubst du wirklich, dass sie die Zukunft sehen kann, wie die alte Margaret Henley angeblich auch? Sie hat verkündet, dass du und Andrew und ich aus gutem Grund zur gleichen Zeit geboren wurden, und dass wir niemals getrennt werden dürfen.“

„Dieser Ort ist voller Magie, Dunc. Das wissen wir beide. Hier – und überall auf der Welt – werden immer solche Dinge geschehen, die wir nicht begreifen. Ich weiß nicht, was Mara sieht, und ich weiß nicht warum. Aber ich kenne sie. Ich habe sie während der Scheidung unterstützt, und ich habe ihr das gottverlassene Stückchen Land angeboten, weil sie einen Ort brauchte, an den sie sich zurückziehen und ihr Selbstvertrauen wiedergewinnen konnte. Ich konnte ihr das geben, und das habe ich getan.“

„Muss Fitzwilliam keinen Unterhalt für sie zahlen?“

„Oh, doch. Sie hat Geld. Aber sie hat es sich selbst ausgesucht, so zu leben. Mit jedem Stein ihres Cottages hat sie an Selbstvertrauen dazugewonnen, mit jedem Strang Wolle, den sie spinnt, mit jeder Pflanze, die in ihrem Garten gedeiht und mit jedem Schaf in ihrer Herde.“

Iain war nicht leicht dazu zu bringen, sich um andere Menschen zu kümmern. Aber er passte auf Mara auf, das war offensichtlich. Duncan spürte, dass er die Dinge, die sein Freund ihm erzählt hatte, sacken lassen musste. Nur eine Sache interessierte ihn noch.

„Was hast du mit Fitzwilliam gemacht, nachdem er Mara eine Verrückte genannt hat?“

Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte Iain. „Ich warf ihn durch den halben Raum. Es war ein sehr feines Restaurant. Eine Platte mit gerösteten Enten und eine sechsstöckige Torte mussten daran glauben.“

6. KAPITEL

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als Duncan zusah, wie April sich auf Guiser warf, aber bevor er einschreiten konnte, bedeckte der Hund das Gesicht des kleinen Mädchens mit feuchten Hundeküssen.

„Sieht so aus, als könnte sie ein Haustier gebrauchen“, sagte er zu Mara, die gleich nach dem Hund den Pfad von ihrem Haus entlangkam.

„Ein kleines Kätzchen vielleicht. Stellen Sie sich nur das Chaos vor, das ein Hund mit Guisers Energie in Ihrem Hotel anrichten würde.“

Duncan hätte fast protestiert, dass es nicht sein Hotel war. Es hatte seinem Vater gehört, und er managte es nur solange, bis es einen neuen Besitzer gefunden hatte. Aber so ganz unrecht hatte Mara auch nicht. Das Sinclair Hotel gehörte ihm und seiner Schwester, zumindest vorübergehend. Selbst wenn er bei diesem Gedanken das Gefühl hatte, tausend Jahre alt zu sein.

„Eine Nachbarskatze hat Junge bekommen, die gerade alt genug sind, um fortgegeben zu werden. Wir könnten auf dem Rückweg dort anhalten.“ Mara achtete darauf, dass April, die immer noch mit Guiser beschäftigt war, sie nicht hörte.

„Es wäre ein schönes Geburtstagsgeschenk“, gab Duncan zu.

„Dann darf ich ihr also ein Kätzchen schenken?“

Er tat, als würde er darüber nachdenken, aber in Wirklichkeit nutzte er den Moment, um sie anzusehen. Sie trug einen grünen Pullover und Rock. Die Farben waren so hell wie das frische Grün im Frühling. Das Haar hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel. Sie trug einen Strohhut mit breiter Krempe, die ihr Gesicht vor der seltenen und herrlichen Sonne schützte. Er hatte vielleicht schon schönere Frauen kennengelernt; Frauen, die sich auf Mode und allerlei Tricks verstanden und stets das Beste aus sich herausholten. Aber er hatte noch nie eine Frau getroffen, deren Schönheit ihn stärker angezogen hätte.

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe in der Werbung gearbeitet. Vor ein paar Jahren wurde mir ein Auftrag angeboten, aber er hing davon ab, dass ich das perfekte Model finden würde. Ich habe den Auftrag nicht bekommen, weil ich niemanden gefunden habe, der auch nur annähernd dem entsprochen hätte, was wir suchten. Sie wären genau die Richtige gewesen.“

Sie lächelte. „Dann haben Sie nach jemanden wie mir gesucht?“

„Genau.“

„Um was für ein Produkt ging es?“

„Weichspüler.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?“

Er dachte an die Anzeigenkampagne, aus der nichts geworden war. Eine Frau hätte in einem Meer aus wogenden Wolken tanzen sollen, so federleicht und anmutig wie eine Fee. „Geschmeichelt? Ich weiß nicht. Ich habe nie wirklich begriffen, was in Frauen vorgeht. Aber Sie hätten eine Menge Geld verdient.“

„Ich wollte nie reich sein.“

„Nur glücklich?“

„Das klingt immer noch viel zu großartig.“

„Kann ich eine Katze haben, Daddy? Bit te!“ April sprang auf die Füße und schob den schwanzwedelnden Guiser fort. „Darf Mara mir ein Kätzchen schenken?“

Duncan hob eine Augenbraue, und Mara zuckte die Achseln. „Das ist nicht meine Schuld. Sie kann ausgezeichnet hören“, sagte sie.

„Wenn Mara möchte, bin ich einverstanden“, sagte Duncan.

„Wir müssen zuerst die Nachbarn fragen“, warnte Mara. „Ich kann es dir nicht versprechen.“

„Aber glaubst du, dass sie mir eins geben werden?“

„Aye, gut möglich.“

Duncan sah zu, wie April auf das Cottage zu rannte. Guiser folgte ihr auf den Fersen. „Danke, dass Sie heute mitkommen“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob ich unter diesen Umständen ebenso nachsichtig gewesen wäre.“

„Und was für Umstände sollen das sein?“

Er sah den Humor in ihren Augen aufblitzen. „Ich war Ihnen gegenüber nicht ganz fair.“

„Sie werden Ihre Gründe dafür gehabt haben.“

„Und ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich von alldem halten soll.“

„Doch, das sind Sie, Duncan. Sie glauben, ich wäre nicht ganz bei Trost. Aber Sie sind bereit, darüber hinweg zu sehen. Ich nehme, was ich kriegen kann.“

Er begriff, dass das auch seine Philosophie war, zumindest, was Mara MacTavish anging. Er wollte sich nicht länger mit ihrer angeblichen Gabe aufhalten, weil er die Vorstellung so absurd fand. Doch inzwischen dachte er, dass er seine Zweifel möglicherweise ignorieren konnte.

Sie war es wert, dass er es zumindest versuchte.

„Ich habe noch ein paar zusätzliche Leckerbissen eingepackt. Ich hole sie rasch, dann können wir los.“

Er ging neben ihr. „Können wir von hier aus zu Fuß gehen?“

„Ja, wir nehmen die Schafpfade. Sie werden überrascht sein, was für Wege die sich aussuchen.“

Ihre Stimme klang so schwungvoll, dass er neugierig wurde. „Das klingt, als würden Sie es schon jetzt genießen.“

„Ich habe mich darauf gefreut.“

Er ahnte, was sie damit sagen wollte. Sie hatte sich auf den heutigen Tag gefreut, weil sie so wenig Kontakt zu anderen Menschen hatte. Und sie liebte Kinder. Das erkannte Duncan daran, wie sie mit April umging. Doch sie hatte nur selten Gelegenheit, mit ihnen zusammen zu sein.

Sie überraschte ihn, als sie fortfuhr: „Ich freue mich darauf, Sie besser kennenzulernen.“

„Wirklich?“

„Aye. Ich glaube nicht, dass Sie so mürrisch, humorlos, voreingenommen und arrogant sind, wie Sie immer tun.“

Sie hatte die Worte mit so viel Charme verziert, dass er sich nicht beleidigt fühlen konnte. „Da bin ich aber erleichtert.“

„Machen Sie sich nicht schlechter, als Sie sind, Duncan. Ich glaube, Sie sind ein einfühlsamer Mann, der die Dinge so intensiv empfindet, dass er nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Also versuchen Sie, gar nichts zu fühlen.“

„Was ist, wenn Sie sich irren?“

„Dann werde ich mir ein paar schöne Stunden machen, indem ich mir einrede, dass Sie ein besserer Mensch sind als Sie es wirklich sind.“

Er lachte, und sie stimmte in sein Lachen ein. Er konnte sich nicht daran erinnern, so heftige Kritik jemals so gut gelaunt aufgenommen zu haben. Er fühlte sich, als hätte man ihn getadelt und ihm anschließend vergeben. Zum ersten Mal begriff er, wie sehr er es gebraucht hatte, dass sie ihm verzieh. Er ging diesem Gedanken nicht weiter nach, sondern war nur froh, dass es geschehen war.

Die Tür zu dem Cottage stand offen, und April war bereits im Inneren verschwunden. Duncan folgte Mara hinein. Er trat über die Schwelle und blieb stehen, um ihr Werk zu betrachten, während sie mit April zusammen Dosen in der Küche zusammensuchte und sie in einem Segeltuch-Rucksack verstaute. Er selbst trug bereits einen ganz ähnlichen Rucksack auf dem Rücken.

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