Mordsstadt & Mordsacker - Der Auftakt für "Ermittlerin" Klara Himmel

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Vom Kudamm aufs Kuhdorf - Mord inklusive!
In diesem eBundle erfahren Sie in "Mordsstadt", wie die chaotische "Ermittlerin" Klara Himmel in der mecklenburgischen Provinz landete und begleiten sie dann in "Mordsacker" bei ihrem 1. Fall zwischen Gülle, Getuschel und dunklen Geheimnissen. Eine spannende und urkomische Regionalkrimikomödie vom Feinsten.

MORDSSTADT

Die packende und urkomische Vorgeschichte von "Mordsacker": Wieso musste Klara Himmel vom Ku’damm aufs Kuhdorf? Und warum musste Franziska Bach sterben?

Die Hauptrolle in "Vorstadtrevier" war erst der Anfang! Denn der große Durchbruch als Schauspielerin steht ihr noch bevor, dessen ist sich Franziska sicher. Leider läuft es weder bei ihrer Karriere noch in ihrer Ehe rund. Ihr Mann schiebt ständig Überstunden, und langsam wird Franziska misstrauisch: Geht er etwa fremd? Heimlich spioniert sie ihm nach. Doch die Abgründe, in die sie dabei stolpert, sind noch viel tiefer als gedacht, und schnell befindet sich Franziska in Lebensgefahr.

MORDSACKER

Tragische Umstände haben Klara Himmel samt Familie ins mecklenburgische Mordsacker verschlagen. Doch hier liegt nicht nur der sprichwörtliche Hund begraben! Während die chaotische Großstädterin sich noch als brave Hausfrau versucht - und schon an einem simplen Käsekuchen scheitert - wird ihr Mann, der neue Dorfpolizist, zu seinem ersten Fall gerufen: Bauer Schlönkamp liegt tot in der Güllegrube. Leider erkrankt Klaras Göttergatte und sie wittert ihre große Chance auf etwas Nervenkitzel. Kurzerhand ermittelt Klara auf eigene Faust und bringt dabei nicht nur die dunkelsten Geheimnisse der verschworenen Dorfgemeinschaft zutage sondern schon bald sich selbst in Lebensgefahr …

"Der Roman ist Film, in den stärksten - und davon gibt es wahrlich viele - Passagen ihres Buchs schreibt Cathrin Moeller ihrem Leser etwas vor die nicht müde werdenden Augen, das ihm die Szenerie wie einen laufenden Streifen von Szenen durchs Hirn tanzen lässt."
Leipziger Volkszeitung über "Wolfgang muss weg!"

"Cathrin Moellers Roman einer absurden Selbstsuche ist so rasend komisch wie liebenswert schräg. Darauf eine Spreewaldgurke!"
Buchjournal über "Die Spreewaldgurkenverschwörung"


  • Erscheinungstag 02.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769260
  • Seitenanzahl 399
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Cathrin Moeller

Mordsstadt & Mordsacker - Der Auftakt für "Ermittlerin" Klara Himmel

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © 2016 by Cathrin Moeller

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Covergestaltung: büropecher, Köln
Coverabbildung: Irina Fischer, arka38, canadastock, Babich Alexander, Kom_Pornnarong, Narupon Nimpaiboon / Shutterstock
Redaktion: Maya Gause

ISBN E-Book 9783955767839

www.harpercollins.de
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E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

KAPITEL 1

„Der Tisch ist gleich frei“, rief Magda und winkte mir über die Köpfe der anderen Gäste zu. Beladen mit Einkaufstüten von Boss, H&M, Esprit & Co drängelte ich mich durch das voll besetzte Café in eine Ecke, wo die Kellnerin gerade abkassierte.

Zwei attraktive Endvierziger mit Dreitagebart und grau melierten Schläfen standen auf. Sie bedachten uns mit der Höflichkeit, die man alten Damen oder Schwangeren gewährt, wenn man ihnen den Platz in der S-Bahn überlässt. Ihre Blicke signalisierten: kein Interesse an einem Flirt. Dabei sahen wir zwei Grazien trotz körperlichem Zustand, Vorbereitungsmodus der Menopause, verdammt attraktiv aus.

Zumindest fand ich das, im Vergleich mit anderen Auslaufmodellen unserer Preisklasse. Magda blond und kurzhaarig mit echtem Schmollmund, ich mit roter Lockenmähne und glasklaren grünen Augen, denen man nachsagte, dass sie stets leuchteten. Dank regelmäßigen Besuchen bei Fitness Fürst und Königs Kosmetik-Salon waren wir schlank, gepflegt und fast faltenfrei. Modisch sowieso up to date – inspiriert vom Pariser Trend, betonten wir unsere Weiblichkeit gerne mit fließenden Stoffen und liefen uns eher Blasen an die Zehen, als in flachen Schuhen auf die Straße zu gehen. Auch ohne Leinwandjob achteten wir als Schauspielerinnen auf unser Äußeres. Der Körper war schließlich unser Kapital.

Okay, das ist der Ku’damm in Berlin und nicht die Piazza Navona in Rom. Es ist Ende Januar, der Himmel grau und die Luft eklig feucht. Das reinste Gift für die Knochen. Vielleicht zählten die Herren im fortgeschrittenen Alter zu den Menschen, die aufgrund der momentanen Wetterlage unter physischen oder psychischen Beschwerden litten. Aber deshalb mussten die Vertreter der hiesigen Männlichkeit nicht gleich den Mund zusammenpressen und auf den Boden gucken, wenn ihnen zwei attraktive Frauen zulächelten und Augenkontakt suchten.

He! Hier geht es nicht um Sex!

Wir erwarten doch nur diesen Blick und ein leichtes Lippenlecken, das ausdrückt: Wow, was für eine tolle Frau! Ein derartiges Kompliment wird von uns durchaus nicht gleich als blöde Anmache verstanden. Mussten wir wirklich für eine Portion Aufmerksamkeit bis nach Italien reisen? Diese Typen hier machten jedenfalls dem Ruf, dass Deutschland in Sachen Flirten geradezu ein Entwicklungsland ist, alle Ehre.

Wir schauten den Typen verstohlen hinterher, die sich noch einmal umdrehten. Allerdings zu der Kellnerin, die nicht besonders hübsch war, aber so jung, dass sie im Supermarkt garantiert keinen Alkohol zu kaufen bekam, wenn sie ihren Ausweis vergessen hatte. Magda seufzte.

Ernüchtert schmiss ich meine modischen Errungenschaften neben den Stuhl, auf den ich mich erschöpft vom vierstündigen Shopping-Marathon mit ausgestreckten Gliedern fallen ließ. Die kindliche Kellnerin räumte das schmutzige Geschirr beiseite und wischte den Tisch ab. „Zwei Prosecco“, bestellte ich, bevor sie mit den Tellern und Gläsern davoneilte. Magda setzte sich mir gegenüber, fingerte das Handy aus der Tasche und checkte gewohnheitsgemäß die SMS. Es konnte ja sein, dass ihr in den letzten fünf Minuten eine wichtige Nachricht entgangen war. Sicherheitshalber legte auch ich mein iPhone auf den Tisch. Man stelle sich vor, ein Produzent aus Hollywood ruft an, und ich bekomme es nicht mit. Was für eine verpasste Chance, nur weil ich einmal nicht erreichbar war.

Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt, und so war es auch bei mir. Seit Jahren riefen mich nicht einmal mehr das ZDF oder die ARD wegen eines Rollenangebotes an. Das betrübte mich zwar ein wenig, aber ich hatte den Karriereknick nach meiner einzigen Fernsehhauptrolle als Kommissarin Emma Schröter – die Serie wurde nach drei Folgen abgesetzt – genutzt, um als Lehrerin jungen Menschen das nötige Handwerkszeug für ihren Traumberuf Schauspieler beizubringen.

Neben dem Unterricht an einer Kreuzberger Privatschule im dritten Hinterhof jobbte ich einmal wöchentlich im Buchladen einer Freundin und sprach mit meiner dunkel klingenden Stimme gelegentlich pornografische Hörbücher für Blinde ein.

Magda hatte es trotz Schmollmund und Schwedenmähne bislang nur als Komparsin auf die Mattscheibe geschafft. Sie nahm es gelassen, hatte sie doch ihren Bernd mit dem dicken Benz, der für den finanziellen Background sorgte. Wenn niemand ihr Talent erkannte, war sie eben Ehefrau von Beruf! Diese Rolle spielte sie verdammt gut, das musste man ihr lassen. Obwohl ich auch glücklich verheiratet sowie stolze Mutter einer erwachsenen Tochter – angehende Herzchirurgin! – war und mein Martin als Polizeibeamter im gehobenen Dienst den Hauptteil unseres Lebensunterhaltes bestritt, sträubte ich mich dagegen, völlig abhängig von ihm zu sein. Allein das Dasein als Hausfrau und Mutter hätte mich als moderne Großstadtpflanze nie ausgefüllt. Ich brauchte immer eine Aufgabe, die meine Kreativität herausforderte.

Der Prosecco kam. Wir hoben die Gläser. „Prösterle, meine Schöne!“, sagte ich zu Magda, die kurz vom Display ihres Smartphones aufschaute. „Wenigstens erkennst du den Kern des verstaubten Diamanten. Wahre Liebe gibt es eben nur unter Frauen.“

Ich streckte die Beine unterm Tisch aus und streifte meine Pumps ab, um die geschwollenen Füße besser bewegen zu können.

„Es ist so weit! Die Kerle schauen durch uns hindurch“, stellte meine beste Freundin seufzend fest und legte das Handy beiseite.

Ich bestätigte zähneknirschend: „Du kannst dich noch so herausputzen, neben dem Frischfleisch sind wir nur die bunte Luft.“

Sie steckte ihre Nase unter die Achsel und fragte: „Vielleicht riechen sie den Schimmel, den wir langsam ansetzen.“

Ich spürte, wie meine Mundwinkel unwillkürlich nach unten sackten. „Tja, mit Desinteresse werden wir wohl in Zukunft klarkommen müssen.“

Ihre Augen weiteten sich. „Die Idee, Martin in ein Hotelzimmer zu locken und ihn zu verführen, ist demnach gescheitert?“

„Kläglich.“ Nervös fummelte ich an der Serviette auf dem Tisch herum. „Er ist zwar dem Ruf gefolgt, hat aber nicht nur die Austern des Zimmerservice verschmäht. Das Einzige, was ihm zu der roten Spitze auf meiner Haut einfiel, war: ‚Hübsch, ist das neu?’ Bevor er im Whirlpool des Badezimmers eingeschlafen ist, hat er mir geraten, besser etwas anzuziehen, sonst würde ich mich noch erkälten.“ Ich stürzte den Rest des Proseccos in einem Zug herunter und bestellte eine ganze Flasche.

Magda wiegte den Kopf hin und her, die Stirn grüblerisch zerfurcht. „Kenn ich, nach zwanzig Jahren Ehe kannst du nackt Handstand vor deinem Gatten machen, und was macht er? Er schiebt dich beiseite, weil er lieber das Fußballspiel im Fernsehen zu Ende guckt.“

Ich goss das Glas erneut voll. „Martin interessiert sich nicht für Fußball.“

„Und auch nicht mehr für dich“, bemerkte Magda, trank aus und hielt mir ihr Glas hin. „Ihr seid siebzehn Jahre verheiratet, und er ist über fünfzig, was erwartest du?“

Ich trank hastig und verschluckte mich.

Sie tätschelte meine Hand. „Franzi, er steckt in der Midlife-Crisis. Das wird wieder. Vielleicht hast du ja Glück und er lässt sich nur ein Ohrloch stechen und macht den Motorradführerschein“, sagte Magda, bevor auch sie den Schaumwein wie Wasser hinunterkippte.

„Letzteres besitzt er schon.“ Ich beugte mich zu ihr nach vorn, damit nicht alle Welt ringsum hörte, worüber wir sprachen. „Seit einem halben Jahr haben wir keinen Sex mehr. Von heute auf morgen war Schluss. Er verweigert jeden Annäherungsversuch.“

Magda spitzte die Lippen. „Vielleicht will er sich keine Blöße wegen nachlassender Manneskraft geben?“

„Quatsch, damit hatte er vorher kein Problem. Der schwitzt doch das Zeug nicht plötzlich aus.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Fakt ist, die Testosteronproduktion sinkt genauso rapide wie bei uns der Östrogenspiegel. In der Männerwelt ein Tabu-Thema. Die würden nie wie wir miteinander über ihre nächtlichen Schweißausbrüche reden. Solange manche Superstars öffentlich protzen, dass es mit Anfang sechzig normal ist, täglich dreimal Sex zu haben und mindestens zwei Kinder zu zeugen, denkt jeder Mann, er ist der Einzige, dem der Appetit vergeht.“

Die Kellnerin brachte die Flasche Prosecco. Magda nahm sie ihr eilig aus der Hand, goss uns ein und sagte: „Ich hab Hunger. Du auch?“

Ich nickte trotzig. Wir bestellten die Speisekarte und suchten uns leckere Nudeln mit Basilikum-Pesto aus. Die machten wenigstens glücklich.

„Bernd hat seinen Ausrutscher jedenfalls mit Angst vorm Altern begründet. Er wollte sich noch einmal jung fühlen“, sagte Magda über ihren Göttergatten.

Zum Glück mussten wir nicht lange auf die Nudeln warten: Ruckzuck wurden die dampfenden Trostspender serviert. Die Pasta roch köstlich. Wir legten uns die Servietten auf den Schoß. Magda schaufelte sich die erste Fuhre in den Mund. „Hättest du ewig Lust darauf?“, fragte sie auf ihre Mahlzeit zeigend. „Wenn du es jeden Tag haben kannst?“

„Nee, da verginge mir auch der Appetit.“

„Und wenn sie dann noch alles andere als bissfest daherkommen …“

„Wir tun unser Bestes, um knackig zu bleiben“, protestierte ich und drehte die Tagliatelle auf meinem Teller um die Gabel.

Magda kaute und sprach mit vollem Mund: „Manchmal ist es eben egal, wenn du dein Bestes gibst.“ Ich starrte sie mit großen Augen an.

„Da kannst du hunderttausend Kniebeugen machen …“ Sie erklärte: „Realistisch betrachtet können unsere Hintern mit dem dieser Zwanzigjährigen einfach nicht konkurrieren.“ Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die Kellnerin, die uns bedient hatte. „Vollkommen natürlich.“

Ihr Gedankengang war mir ein Rätsel. Ich runzelte die Stirn.

Magda fragte: „Greifst du im Supermarkt zum schrumpeligen Apfel oder zum straffen rotbackigen daneben?“

„Zum rotbackigen.“

„Siehst du!“ Sie wedelte mit dem Löffel. „Genauso geht es den Männern. Und wenn dann noch mangelnder Hunger ab einem bestimmten Alter dazukommt, kann es passieren, dass sie mit dem rotbackigen versuchen, den verlorenen Appetit anzuregen. Verstehst du?“

Entsetzt ließ ich die Gabel fallen. „Du entschuldigst Bernds Affäre mit Appetitlosigkeit auf zu lange gelagerte Äpfel?“

„Er hat sich ja wieder eingekriegt und ist reumütig zurückgekehrt.“ Sie kaute eifrig und schluckte.

„Dein Mann hat sich neun Monate lang so bei seiner dreiundzwanzigjährigen Geliebten verausgabt, als wäre es eine neue olympische Disziplin. Du warst fix und fertig. Hast du das vergessen?“ Ich nahm die Gabel wieder auf, kratzte die restlichen Nudeln vom Teller und schob sie mir zwischen die Zähne.

Magda wischte sich den Mund mit der Serviette ab. „Man sollte das bei Männern nicht überbewerten! Die Affäre mit dieser Alina diente der sportlichen Ertüchtigung, Training seiner männlichen Leistungsfähigkeit. Das hatte doch nichts mit Liebe zu tun.“

„Also ich könnte das nicht“, sagte ich die Gabel beiseitelegend.

Sie warf die zerknüllte Serviette auf den Teller. „Was?“

„Martin wieder vertrauen, wenn er fremdgehen würde.“

„Du willst, dass alles so wird wie vorher? Dann sitz es aus. Das, was du gerade geschildert hast, wie Martin sich verhält? Genauso hat es damals bei Bernd auch angefangen.“

KAPITEL 2

Voll bepackt wie ein Maultier, das eine Bergexpedition in den Himalaya begleitet, schleppte ich mich die acht Treppen zu unserer lichtdurchfluteten Vier- Zimmer-Altbauwohnung mit den hohen Stuckdecken, gleich um die Ecke vom Ku’damm, herauf. Ich schnaufte und spornte mich mit dem Gedanken an, dass ich gerade etwas für meine Fitness tat.

Okay, jeder Gang macht schlank!

Das Gespräch mit Magda ging mir aber einfach nicht aus dem Kopf. Sollte Martin eine Affäre haben? Ich stellte die Einkaufstüten vor der Wohnungstür ab. Dabei fiel mir der Schlüssel herunter und verschwand in den Untiefen der offenen Handtasche. Grrr! Umständlich fummelte ich ihn heraus und hielt kurz inne. Diese ständigen Ausreden bei meinen Annäherungsversuchen … überhaupt ist er ständig mies gelaunt und geistig völlig abwesend.

Ich ging die letzten Monate gedanklich durch. Er schrubbte schon mehr Überstunden als sonst. Kein Wunder. Die Kriminalität in Berlin hatte spürbar zugenommen. Das verkündete jede Zeitung. Und dann gab er seit einem halben Jahr noch an der Humboldt-Universität Seminare in Kriminalistik. Er war eben ein gefragter Mann.

Bisher hatte ich ihm immer vertraut, obwohl er mich oft erst spontan informierte, dass es später werden würde. Selbst wenn er morgens um fünf nach Hause kam, machte ich mir keine Sorgen. Aus dem gelegentlichen „Schatz, heute komme ich erst später“ war allerdings Normalität geworden. Die Erkenntnis traf mich schmerzend wie ein Pfeil in die Brust: Er musste eine Affäre haben! Warum hatte ich die Anzeichen bloß nicht eher bemerkt?

Wahrscheinlich, weil ich derart mit meinen eigenen Projekten beschäftigt war, dass es mich erst jetzt irritierte …

Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum, die Tür sprang auf, und die Erinnerung präsentierte mir mit Glacéhandschuhen die geplatzten gemeinsamen Termine auf einem Silbertablett: Premiere Othello, Bernds Geburtstagsparty im Borchardt, die Vernissage von Ferdinand Aurelio oder das Beratungsgespräch bei der Bank … Seit letztem Sommer kam immer etwas Dienstliches dazwischen. Wollte er sich etwa nicht mit mir in der Öffentlichkeit zeigen, um peinliche Situationen zu vermeiden? Vielleicht gaukelte er seiner Geliebten vor, dass wir in Scheidung lagen. Ständig hing er am Handy, bekam SMS und schrieb sofort zurück. Fragte ich nach, tat er es als unwichtig ab. Auch wenn sich der Kopf dagegen wehrte, mein Bauch knurrte: „Irgendwas stimmt da nicht.“

Martins Ledertasche stand neben der antiken Kommode im Flur, dessen unendliche Länge wir mit einem Spiegel an der Stirnseite optisch verkürzt hatten. Erstaunt rief ich: „Du bist ja schon da?“ Ich zog die Augenbrauen hoch und die drückenden Schuhe aus, holte die Tüten herein, bevor ich aus dem Mantel schlüpfte und ihn neben seinen Dufflecoat an der Garderobe aus gekalktem Treibholz hing. Schnuppernd steckte ich die Nase ins Revers der Männerjacke. Okay! Keine Spur von fremdem Parfüm, stellte ich fest. Das hatte aber noch nichts zu bedeuten.

Aus der Wohnung kam keine Antwort. Ich horchte ganz bewusst. Vermutete er, dass ich bei der Arbeit in der Schauspielakademie war? In alle Räume schauend, suchte ich ihn nervös. Mein Kopfkino projizierte die klassische Szene, die ich tausendmal als Auslöser für schmerzliche Trennungen in Filmen gesehen hatte, auf meine innere Leinwand: Ehefrau erwischt ihren Ehemann mit Geliebter im eigenen Schlafzimmer.

Vorsichtig stieß ich die Tür zu unserer brachliegenden Lasterhöhle auf. Mein Mann lag angezogen quer auf dem Bett und schnarchte wie ein Igel im Winterschlaf.

Anscheinend hatte er einen anstrengenden Tag gehabt. Vorerst erleichtert, deckte ich ihn zu und schlich wieder hinaus.

Aus der Ledertasche piepste es. Sein Handy. Ich presste die Lippen aufeinander.

Soll ich?

Mit fünf Schritten pirschte ich mich in die Nähe der Tasche, ging auf die Knie und versuchte, mit ausgestrecktem Arm ganz cool den Metallverschluss mit zwei Fingern zu öffnen.

Hrrrr! Der klemmte.

Ich nahm die Tasche vor den Bauch und drückte die rostige Schnalle fest herunter. Ein lautes Klicken ertönte. Ich erstarrte. Mein Gatte hörte alles, auch im Schlaf. Aber jetzt regte sich nichts hinter der weißen Tür. Das konnte aber auch ein Zeichen dafür sein, dass er mich belauschte. Martin besaß sehr sensible Sinne, wie ein cleverer Wachhund war er immer in Habachtstellung.

Mein Adrenalinspiegel schlug aus wie ein Seismograf bei Erdbebenstärke fünf Komma sechs – also wenn schon die Möbel wackeln und die Schornsteine einstürzen. Die Heldin in mir befahl dem Angsthasen: „Atme durch!“ Die Memme trollte sich, entgegnete aber aus ihrem sicheren Versteck: „Ihn auszuspionieren ist viel feiger. Warum fragst du ihn nicht direkt, wenn du so mutig bist?“

„Weil es sich bei einer Affäre um eine heimliche Sexbeziehung handelt, die er kaum zugeben wird. Wozu sonst die Ausreden und Ausflüchte?“ Die Antwort traf wie ein Kinnhaken. Der Feigling ging zu Boden.

Tollkühn fingerte ich Martins Smartphone aus der Tasche. Kennwort? Ich überlegte. Schuhsohle 1965, passte nicht. Sechs Ziffern? Verdammt!

Sein Geburtstag? Nee!

Mein Geburtstag? Nichts!

Das Geburtsdatum unserer Tochter? Schnell tippte ich 180888 ein. Hatte sich da im Schlafzimmer gerade etwas bewegt? Ich legte das Telefon zurück und räumte so ganz alibimäßig die Schuhe in die Kommode. Dabei pfiff ich „Yellow Submarine“. Fehlalarm! Ich lauschte. Der schlafende Igel hatte sich in eine Dampflok verwandelt, die den eisernen Rumpf mit letzter Kraft durch die Landschaft schleppte. Ich fingerte das Handy wieder heraus und starrte auf das Display: Null Versuche? Ihre Sim-Karte ist gesperrt! Bitte geben Sie die PIN ein. Ups! Vorsichtig ließ ich das Telefon in die Tasche zurückgleiten, genau in die Position, wie es vorher gelegen hatte. Ich verschwand in die Küche und schmiss die Kaffeemaschine an. Ich habe weder etwas gesehen, gehört oder angefasst!

Mit schlechtem Gewissen trug ich den Espresso ins Wohnzimmer, schnappte mir die aktuelle Cosmopolitan vom Tisch und kuschelte mich unter die grüne Wolldecke aufs Sofa. Halbherzig blätterte ich in der Zeitschrift herum, ohne sie zu lesen. Mein Kopf protestierte gegen das Grummeln im Bauch.

Martin ist nicht wie Bernd, der mindestens zweimal im Jahr ohne Magda mit Kumpeln zum Angeln fährt, und ein Partygänger ist er schon mal gar nicht.

Also wo soll er jemanden kennengelernt haben? Neue Kollegin im K 11? Eine Studentin aus seinem Seminar an der Uni?

Das Verhalten der Grauschläfen aus dem Café fiel mir ein. Rotbackige Äpfel tummelten sich auf dem Campus in Hülle und Fülle. Ich stierte aus dem Fenster. Draußen gingen die Straßenlaternen an.

Martin stand plötzlich total verschlafen in der Tür und durchkämmte das nicht vorhandene Haupthaar mit den Fingern. Die Glatze machte ihn genauso attraktiv wie Bruce Willis, besonders, wenn er zu faul war, sich das Gesicht zu rasieren. „Siehst du überhaupt etwas?“ Er knipste das Licht der Stehlampe an, trank einen Schluck aus meiner Kaffeetasse und verzog den Mund „Bläh, kalt.“ Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. Entweder musste er sich an die Helligkeit gewöhnen, oder er versuchte, mich zu ergründen.

„Kaffee und Zeitung sind Dekoration, oder?“

Erst jetzt bemerkte ich die fehlende Brille auf meiner Nase, ohne die ich beim Lesen von Printmedien quasi blind bin. Diese Buchstaben in den Zeitschriften waren aber auch winzig. Bestimmt eine Sparmaßnahme, damit die Verlage weniger Papier verbrauchten. In der heutigen Zeit sparten sie ja an allen Ecken und Enden.

Martin fragte: „Was hast du angestellt?“

„Nichts“, antwortete ich und hörte selbst, dass meine Stimme eine Oktave zu schrill klang.

„Komm, gib es zu! Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du mir etwas verheimlichst.“

„Ach! Du bemerkst wieder, dass ich existiere?“ Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust und murmelte in mich hinein: „Fragt sich, wer hier etwas verheimlicht.“

Sein Mundwinkel zuckte. Er marschierte Richtung Küche: „Willst du auch einen neuen?“

„Mann?“, antwortete ich keck.

Martin drehte sich irritiert um. „Kaffee!“ Die Luft zwischen uns fing an zu brodeln. Ich spürte seinen Unmut und er meinen, das war klar. Deshalb sagte ich möglichst freundlich: „Ja, bitte.“

Die Kaffeemaschine zischte. Er rief aus der Küche: „Oh, keine Ursache. Das tue ich doch gern, besonders heute am Tag der grundlosen Nettigkeiten.“

„Der was?“, rief ich zurück, warf den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen, weil ich den Subtext verstanden hatte. Mit diesem belanglosen Small Talk schafften wir es beide, unsere wahren Gefühle zu überspielen und aufkeimende Konflikte zu unterdrücken. In der Disziplin hatten wir uns in letzter Zeit den Meisterbrief verdient.

„Kam am Morgen im Radio. Der 17. Februar 2016 ist der Tag der grundlosen Nettigkeiten. Ein Feiertag in den USA.“ Er stellte mir die dampfende Tasse hin. Ich klimperte mit den Wimpern und lächelte breit. „Du bist ja heute schon da, wie schön. Keine Überstunden?“

Sein Gesicht verriet, dass er den vorwurfsvollen Unterton herausgehört hatte.

„Mittwoch. Da ist mein Uni-Tag, und ich komme immer gegen drei. Du bemerkst das nie, weil du da selbst bis sieben Unterricht hast“, verpasste er mir den Gegenschlag.

„Stimmt! Aber heute habe ich frei. Semesterferien. Wir könnten etwas unternehmen. Essen gehen oder mal wieder ins Kino. Ich lade dich zur Feier des Tages ein.“ Vorsichtig trank ich einen kleinen Schluck. Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch.

„Einfach so“, legte ich nach.

Ohne eine Reaktion auf das Friedensangebot schnappte er sich die Tageszeitung, setzte sich mit seiner Tasse an den Esstisch und tauchte in den Nachrichten ab, die dank Internet und Fernsehen längst überholt waren. Ich starrte ihn und meine Umgebung entgeistert an. Anscheinend gehörte ich für ihn zum Inventar dieser Wohnung, mit dem er sich eingerichtet hatte. Wenn er mich brauchte, holte er mich wie ein Glas aus dem Schrank, benutzte mich und stellte mich wieder zurück. War unsere Beziehung nach siebzehn Jahren so eingefahren? Gerade als ich protestieren wollte, klingelte das Festnetztelefon auf dem Tischchen neben dem Sofa. Ich ging ran. „Bach. Anne?“

„Ja, Mamma, gib mir mal Paps!“, plärrte es aus dem Hörer.

Ich plärrte zurück. „Guten Tag oder ein Hallo sind zur Begrüßung ziemlich übertrieben, stimmt’s?“

Anne schnaufte hörbar aus. „Hallo, Mama. Zufrieden?“

„Yep! Aber nur weil heute der Tag der grundlosen Nettigkeiten ist, wie dein Vater mich eingeweiht hat“, erwiderte ich in versöhnlichem Ton.

Sie ging wie eine Rakete in die Luft. „Mama, ich stehe hier mit kaputtem Rücklicht in einer Blechlawine im Feierabendverkehr mitten auf der Invalidenstraße. Ich habe in genau dreiundfünfzig Minuten ein Date mit Professor Knubich und Marks neuer Flamme am OP-Tisch, wo es neben meiner Selbstachtung um Leben oder Tod eines dreizehnjährigen Jungen geht. Mir ist scheißegal, was heute für ein Tag ist.“

Ich rief: „Entschuldigung! Ist dir etwas passiert?“

„Nein, mir ist ein Idiot ins Heck gekracht, und ich brauche die Versicherungsnummer von Paps.“

Martin nahm mir den Hörer weg und redete mit Anne. Ich hörte noch, wie sie laut fragte: „Ans Handy gehst du wohl nicht?“ Mein Mann lief in den Flur, und ich versteckte mich hinter der Zeitschrift. Gleich würde er das Dilemma bemerken.

Er kam stirnrunzelnd mit seinem Smartphone zurück, warf es auf den Sessel und mir einen bösen Blick zu. „Da hat anscheinend jemand das Kennwort dreimal falsch eingegeben. Die Sim-Karte ist gesperrt. Deshalb habe ich deinen Anruf nicht gehört“, entschuldigte er sich, suchte die Versicherungsnummer aus einem Ordner im Regal heraus und gab Anne die Zahlen durch.

Als er das Telefonat beendet hatte, wandte er sich an mich. „Das ist also der Grund für dein schlechtes Gewissen.“

„Was?“, fragte ich mit Unschuldsmiene.

Er schnappte sein Smartphone. „Tu nicht so. Du hast versucht, in meinem Handy zu schnüffeln?“

„Iiich?“

Breitbeinig baute er sich vor mir auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Franziska! Bevor ich eingeschlafen bin, war es noch an.“

„Vielleicht bist du in der Tasche mit irgendetwas an die Tastatur gekommen …“, sagte ich und vermied es, ihn anzusehen. Diese Zeitschrift war aber auch interessant. Ich konnte mich gar nicht losreißen.

Er unterbrach mich: „Ah, es war also in der Tasche. Jetzt hast du dich verraten.“

„Ich habe geraten!“, stellte ich richtig.

„Und dann hat es sich selbst dreimal verwählt. Was soll der Quatsch?“ Er gab die PIN ein und schüttelte verständnislos den Kopf. Es piepte mehrmals. Er kontrollierte seine Nachrichten und fragte gedankenabwesend: „Warum?“

„Was, warum?“

„Warum willst du meine Anrufe und Nachrichten ausspionieren?“

„Das … das wollte ich doch gar nicht.“

„Hör auf zu lügen!“

„Ich lüge nicht.“

Er zeigte auf mein Gesicht. „Dunkelviolett. Also was ist der Grund?“

„Du hast eine Affäre.“

„Iich?“ Er wich meinem Blick aus und prustete. „Mit wem soll ich denn eine Affäre haben? Mit Frau Rosenkranz oder Gudrun?“

Ich zuckte mit den Schultern. Das wusste ich ja auch nicht.

Peinlich berührt presste ich die Lippen zusammen. „Du schiebst ständig Überstunden“, beklagte ich mich.

Er hielt dagegen: „Die machst du aber auch, und unterstelle ich dir deshalb, dass du fremdgehst?“

„Du hast ständig mit deinem Handy zu tun.“

„Ah! Und du nicht?“

„Frage ich dich, wer angerufen oder geschrieben hat, stellst du es immer als unwichtig hin, antwortest aber sofort oder gehst zum Telefonieren raus.“

„Weil es dienstlich ist?“

„Mit dem Privathandy.“

„Werde bloß nicht wie die Frau eines Kollegen. Die ruft neuerdings beim Chef an, um sicherzugehen, dass er wirklich Dienst hat. Das ist einfach nur peinlich. Außerdem finde ich es beleidigend, dass du mir zutraust, ich könnte dich betrügen.“

Ich zog die Beine heran und wickelte die Arme darum. „Ja, was soll ich denn denken? Wir haben seit Monaten keinen Sex mehr.“ So, jetzt war es aus mir rausgeplatzt.

Martin schloss die Augen und seufzte. „Ich verspüre eben keine Lust“, rechtfertigte er sich, breitete die Hände aus und guckte mich kurz an, bevor er sich abwandte. „Vielleicht habe ich den Kopf mit anderen Sachen voll, der Dozentenjob fordert momentan meine ganze Aufmerksamkeit. In fünf Wochen haben wir Urlaub. Ich brauche erst einmal wieder Ruhe.“

Er verließ das Wohnzimmer. Ich folgte ihm. Er tippte eine SMS ins Handy und sagte: „Mein Referentenkollege ist ausgefallen. Ich muss ihn morgen früh in Hamburg bei einem BKA-Lehrgang vertreten.“ Sein schuldbewusster Blick traf mich. Er zeigte mir die SMS von einem Karl Weinberg. „Damit du mir glaubst. Ich fahre noch heute Abend. Oder hast du etwas dagegen?“

„Nein, nein …“, antwortete ich irritiert. Karl Weinberg? Von dem hatte er noch nie etwas erzählt.

„Ich nehme den Zug 18.39 Uhr ab Hauptbahnhof. Dann bin ich gegen neun im Wohnheim. Kannst du mir bitte eine Fahrkarte erster Klasse buchen, den kleinen Rollkoffer rausstellen und mich nachher zum Bahnhof fahren?“

„Ja, natürlich.“

Gedankenverloren hauchte er mir einen Kuss auf die Wange. „Danke, ich muss mir nämlich noch die Unterlagen zusammenstellen, duschen und packen.“

Er verschwand im Arbeitszimmer, und ich hörte, wie er mit verschiedenen Ordnern hantierte. Papier raschelte. Der Drucker summte. Irgendetwas an seinem Verhalten irritierte mich. Hatte er deshalb meinen Vorschlag ignoriert, essen oder ins Kino zu gehen, weil er die Nachricht erwartet hatte?

Ach, ich redete mir bestimmt nur etwas ein.

Uns blieben knapp zwei Stunden Zeit. Ich buchte sein Ticket – Platz fünfundachtzig in Wagen achtundzwanzig – und suchte ihm den kleinen Rollkoffer aus der Abstellkammer heraus.

Orr! Hier brauchte man ja einen Kompass, um etwas zu finden. Typisch! Wir hatten die drei Quadratmeter mit allem möglichen Kram zugemüllt, den einer von uns loswerden wollte. (Ich lebte dieses Verhalten auch gerne in Schubladen aus.) Der Koffer lag natürlich ganz oben im Regal unter alten Schuhkartons, zwischen einer Isomatte und der Kiste mit der Weihnachtsdekoration.

Um an das Regal heranzukommen, musste ich zuerst Kartons mit Martins Fahrradzubehör und der ausrangierten Stereoanlage sowie gefüllten Säcken, die für die Altkleidersammlung bestimmt waren, in den Flur räumen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und zog ihn vorsichtig heraus, damit mir der Baumbehang nicht entgegenkam. Dafür rieselten mir Hunderte Fotos aus einer Papiertüte auf den Kopf herab, die oben auf dem Koffer lag.

Genervt sammelte ich die Bilder wieder ein und stopfte sie zurück in die Tüte. Aber nicht, ohne das ein oder andere in einem Anfall aufkommender Sentimentalität anzuschauen. Stationen und Ereignisse dreier Leben – Martin, Anne und ich, festgehalten auf Fotos, die wir wie Müll lagerten.

Irgendwann wollte ich daraus mal ein Album anlegen, schön sortiert nach Lebensabschnitten: Martin und ich mit achtzehn, bis über beide Ohren verliebt. Martin ist weg und Anne da; ihr erster Zahn, die ersten Schritte, der erste Geburtstag, Kindergarten, Schulanfang. Die erste Begegnung zwischen Vater und Tochter nach zehn Jahren, unsere Hochzeit … Wo war eigentlich die Zeit hin? Gemeinsam hatten wir ganz schön viel erlebt.

Oh, was war das? Martin mit zwei Kumpeln und drei Schönheiten am Strand. Ich drehte das Foto um, das mittlerweile verblasst aussah, und las die krakelige Schrift: „Travemünde 1987, zur Erinnerung an einen wunderbaren Sommer am Meer, Martin Bach, Lars Swenson, Frank Meißner, Katharina Wolff, Inga Swenson und Ricarda Stein.“

Ah, seine Freunde aus der Zeit, wo er in Lübeck gelebt hatte und wir getrennte Wege gegangen sind. Die sahen nett aus, schade, dass ich sie nie kennengelernt hatte. Keine Ahnung, warum er den Kontakt damals nicht aufrechterhalten hatte, nachdem er zu uns nach Berlin gezogen war. Vielleicht war es zu aufwendig. Freundschaften muss man pflegen. Martin war eher der Einzelgänger. Was wohl aus ihnen geworden war?

Ich steckte das Foto in die Hosentasche, schob die Tüte zurück und stellte ihm den Koffer vor den Schrank im Schlafzimmer.

Bis er so weit war, dass wir fahren konnten, streckte ich noch einmal die Füße auf dem Sofa aus und tippte die Namen seiner Jugendfreunde bei Facebook ein. Das lenkte mich zumindest von den blöden Gefühlen ab, die immer noch wegen der Hamburg-Reise in mir gärten. Vielleicht fand ich ja den einen oder anderen.

Lars und Inga Swensons gab es wie Sand am Meer. Aber keines der Gesichter sah jemandem auf dem Foto ähnlich. Die Ricarda Steins waren alle viel jünger, ebenso die Katharina Wolffs. Obwohl?

Bei einer Blonden zögerte ich. Katharina Wolff-Perez. Wobei sie so nordisch frisch, eher wie eine Inga Swenson, aussah. Also, wenn das die Katharina Wolff war, hatte sie eine echt gute Partie gemacht. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie sich den Maserati, die Villa und die Jacht in ihrem Beruf als Stewardess – hat hier gearbeitet: Lufthansa – selbst zusammengespart hatte. Ein Kind vermögender Eltern? Nee, eher reich geheiratet, wenn ich ihr Bild von damals mit denen von heute verglich. Sie war natürlich kein bisschen gealtert. Die Figur perfekt. Eine kinderlose Hundenärrin, die auch Pferde, Golf, Segeltörns und Partys liebte.

Ich durchstöberte ein paar ihrer Alben und sah, dass sie immer wieder mit einem markanten älteren Herrn abgebildet war. Ihr Vater? Never, so wie der sie anhimmelte. Pablo Perez klang spanisch oder portugiesisch. Ich klickte mich auf seine Seite. Ah, ein Anwalt mit mexikanischen Wurzeln und Kanzleien in Hamburg, Berlin, München, Frankfurt und Köln.

Ich googelte nach Bildern von ihm. Ein Hochzeitsfoto. Katharina Wolff war seit fünf Jahren seine Frau. Guck an! Aber anscheinend war sie nicht die erste Frau Perez … Oh, da war es wieder, dieses typische Klischee, alter Mann verlässt Ehefrau für eine Jüngere. Wenn Katharina Wolff so Mitte vierzig war wie ich, na ja, vielleicht zwei, drei Jahre jünger, schätzte ich den Altersunterschied zu ihrem Ehemann auf dreißig bis fünfunddreißig Jahre. Da hatte sie den Mittsiebziger bestimmt wegen des Geldes geheiratet. Also ich konnte mir nicht vorstellen, einen Mann zu lieben, der so alt wie mein Vater war.

Martin kam herein und fragte: „Hast du mein Ladekabel fürs Handy gesehen?“

„In der Steckdose unterm Tisch!“ Ich werde nie verstehen, warum Männer denken, dass wir Frauen genau wissen, wohin sie ihre Siebensachen verlegt haben. Eigentlich ist es ein Appell: Steh auf und hilf mir suchen! Wie in der Steinzeit wollen sie, dass wir ihnen dienen. Nur dass sie uns heute nicht mehr vor den wilden Tieren beschützen; das dürfen wir auch noch selber machen.

Er bückte sich und verschwand wieder im Flur. Ich scrollte nach oben und klickte ein aktuelles Foto von einer Party an, auf dem die blonde Schönheit exakt das Kleid trug, das ich mir vor Weihnachten zu einem schwindelerregenden Preis gekauft hatte. Von wegen Einzelstück. Das war ja die blanke Verarsche.

Äääh! Mir klappte die Kinnlade herunter. Was hatte Martin da im Hintergrund auf dem Foto zu suchen? Das war doch Martin, oder?

Ich holte mir die Brille und vergrößerte das Bild. Kein Zweifel, das war er, der da halb verdeckt mit einem Whiskyglas in der Hand an der Bar saß. Das Bild der Neujahrsparty mit Datum vom 7. Januar hatte ein Fotograf des Hamburger Abendblattes geschossen.

7. Januar? Ich scrollte durch meinen elektronischen Kalender. Ein Donnerstag. Da hatte Martin von Mittwoch bis Samstag in Köln einen Lehrgang an der Polizeischule geleitet. Na ja, so hatte er es mir zumindest gesagt. Denn das Hamburger Abendblatt berichtet in seinem Lokalteil ja wohl kaum über Ereignisse in Köln!

Jetzt wurde ich stutzig.

„Das hellblaue Hemd mit den schmalen Streifen, ist das noch in der Reinigung?“, rief Martin aus dem Schlafzimmer.

Weil ich nicht gleich antwortete, guckte er um die Ecke. „Franziska?“ Ich ließ vor Schreck das iPhone fallen. Er zog die Augenbrauen hoch. „So viel zu: Ich habe ständig mit meinem Handy zu tun“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust, als erwarte er eine Entschuldigung. Ich hob das Smartphone auf und legte es mit verdecktem Display auf den Couchtisch.

„Das muss ja ganz geheim sein, dass du dich derart erschreckst. Hmm … Wem schreibst du? Deinem Liebhaber, dass du nachher sturmfrei hast?“, hauchte er theatralisch.

„Haha! Was ich selber denk und tu, traue ich auch dem anderen zu.“

„Genau! Das sollte mich jetzt wohl nachdenklich machen.“ Er warf sich in Pose und strich sich übers Kinn.

Ich schnaufte aus. „Ich vertreibe mir nur die Zeit bei Facebook, bis du fertig bist und wir endlich loskönnen. Draußen ist es dunkel und kalt, ich will so schnell wie möglich wieder zurück ins warme Nest.“

„Ich nehme ein Taxi. Dann kannst du gleich in die Badewanne hüpfen“, bot er an.

Netter Versuch, aber so einfach mache ich es dir nicht. Ich lächelte ihn an. „Nein, nein, lass mal!“

Er zuckte mit den Schultern und verzog seinen Mund zu einem leichten Grinsen. Mein Mann hatte meine Motivation, ihn zum Bahnhof fahren zu wollen, durchschaut: Ich wollte ihn kontrollieren.

„Wenn du mir ein bisschen helfen würdest, ginge es schneller.“ Das klang wie eine Warnung in meinen Ohren.

Ich fühlte mich ertappt. „Was fehlt denn noch?“

„Morgen würde ich gern das hellblaue Hemd mit den schmalen Streifen unter den V-Pulli hier anziehen“, sagte er und wedelte mit einem weinroten Strickpullover.

„Das ist noch in der Reinigung.“

Obwohl sich in diesem Moment alles in mir sträubte, auch nur einen Finger für ihn zu krümmen, stand ich auf und packte ihm ein ähnliches ein. Er legte ein Paar Socken, Boxershorts, die Waschtasche, seine Unterlagen, den Laptop, einen Roman von Kehlmann und den karierten Flanellschlafanzug – zum Glück, denn mit dem verführte er garantiert niemanden, hehe – obenauf.

Ich achtete auf jede Kleinigkeit. Das Packen wirkte mechanisch, wie einstudiert, eben wie immer, wenn er für ein bis zwei Tage wegen einer Vorlesung oder eines Seminars in eine andere Stadt fuhr.

Vor zehn Jahren hatte mein Mann mit zwei anderen Kollegen ein Buch über Tatortarbeit und Vernehmungstaktiken bei Mordfällen geschrieben, das anscheinend im letzten halben Jahr zur Bibel für Nachwuchspolizisten im ganzen Land geworden war. Entsprechend oft hielt er seitdem Seminare, das war also ganz logisch. Trotzdem bekam ich das miese Gefühl nicht aus dem Bauch, dass er nicht ehrlich zu mir war. Seitdem ich das Foto mit der schönen Katharina Wolff gesehen hatte, schrillte das Martinshorn in meinem Kopf unablässig. ALAAARM!

Ich setzte mich wieder aufs Sofa und stalkte Katharina Wolff weiter bei Facebook. Als Nächstes sah ich mir das Album mit der Überschrift „Partygeflüster“ an. Diese Frau war einfach zu hübsch – und dabei so natürlich. Welcher Mann könnte da Nein sagen?

Ja, ich hatte Angst, dass Martin mich für eine andere, Jüngere und Attraktivere, verlässt, weil ich mich selbst alt, hässlich und langweilig fand. Früher, als wir uns kennengelernt haben, stand er auf blond. Ich passte vom Typ her schon damals überhaupt nicht in sein Beuteschema …

Akribisch suchte ich den Beweis, dass er mein Vertrauen nicht verdient, wie die Gräte im Fischfilet. Und BÄM: ein Schnappschuss von Martin und Katharina mit ihrem Ehemann, wieder von der Neujahrsparty am 7. Januar in Hamburg. Das war ja erst einmal nichts Verwerfliches, mahnte ich mich zur Gelassenheit. Aber wie sie Martin ansah, war schon verdächtig … Steigerte ich mich aus Mangel an Selbstwertgefühl in etwas hinein?

Ich vergrößerte das Foto. Katharinas Lächeln gegenüber ihrem Mann, der den Arm besitzergreifend um ihre Hüfte gelegt hatte, wirkte künstlich, der Körper steif wie eine Schaufensterpuppe. Ihr Blick zu Martin war ein regelrechter Hilfeschrei!

Jetzt fuhr er wieder nach Hamburg, um seinen erkrankten Kollegen zu vertreten. Warum eigentlich schon heute? Und wieso hatte sein Kollege Max, der Koautor des Lehrbuchs, ihn nicht persönlich informiert, dass er für den Vortrag ausfällt? Wollte Martin die Gelegenheit nutzen und die Nacht mit Katharina Wolff verbringen? Karl Weinberger? K und W – das waren auch Katharina Wolffs Initialen! Martin war ein gewiefter Ermittler, der sich mit Betrug auskannte … Tausend Fragen wirbelten wie ein Schneesturm in meinem Kopf durcheinander und vernebelten mein Gehirn.

Ich könnte Martins Kollegen Max unter einem Vorwand anrufen, auch wenn ich mir dabei irgendwie schäbig vorkam. Aber wenn ich nicht verrückt werden wollte, musste ich herausfinden, ob Martin mich betrog.

KAPITEL 3

Ich lief ins Schlafzimmer, zog mir warme schwarze Klamotten an und steckte heimlich Slip und Zahnbürste in meine Handtasche.

Martin duschte ausgiebig. Diese Gelegenheit nutzte ich, um mir schnell ein Bahnticket – zweite Klasse ohne Reservierung – nach Hamburg aufs Handy zu laden. Wir hatten Semesterferien, und ich musste erst wieder am Dienstag in der Buchhandlung arbeiten. Niemand würde den Ausflug bemerken und mich morgen vermissen.

Als er mit dem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam, wunderte er sich über meinen Aufzug. „Wo willst du denn hin? Kleine Reise nach Sibirien?“

Seinem prüfenden Blick standhaltend, kniff ich die Augen angriffslustig zu Schlitzen. Nee, nach Hamburg mein Lieber! Ich zeigte zum Fenster und sagte patzig: „Warst du heute nicht vor der Tür? Es ist echt ungemütlich kalt draußen.“ Dann wurde ich kurz abgelenkt, weil mir auffiel, dass er sich die Brusthaare frisch rasiert hatte. Das brachte seinen muskulösen Oberkörper noch mehr zur Geltung.

Er eilte ins Schlafzimmer, ließ das Handtuch fallen. Obwohl mein Mann fünfzig war, hatte er einen verdammt knackigen Hintern …

„Wie gesagt, ich nehme ein Taxi. Dann musst du nicht raus in die Kälte.“ Er wählte eine eng anliegende Unterhose anstatt eine seiner üblichen weiten Boxershorts mit Donald Duck-Motiv, die er im Hunderterpack besaß und beinahe jeden Tag trug.

Das kann nur bedeuten, dass er sich später vor jemandem auszieht und dabei eine gute Figur abgeben will …

Ich schluckte den Kloß im Hals so hastig herunter, dass mir übel wurde, und krächzte mit belegter Stimme: „Das Opfer bringe ich gern. Oder hast du schon vergessen, dass heute der Tag der Nettigkeiten ist?“

Er hatte natürlich bemerkt, wie gründlich ich seinen Oberkörper und seine Unterhosenauswahl verfolgt hatte – und sich einen Reim darauf gemacht. Wie gesagt, mein Mann war ein hoch sensibilisierter Wachhund, dem man nichts vormachen konnte. Leise fragte er: „Alles in Ordnung, Franziska?“

„Jaja“, sagte ich schnell. „Mir ist nur gerade aufgefallen, dass du für dein Alter einen verdammt knackigen Körper hast.“

„Danke! Du bist heute wirklich charmant. Womit habe ich das bloß verdient?“ Lachend streifte er sich seine Socken über, schlüpfte in ein langärmeliges Shirt und zog einen Kapuzensweater darüber.

„Überflüssige Frage, wenn ich dir am Tag der grundlosen Nettigkeiten einen Gefallen tue oder ein Kompliment mache.“ Breit lächelnd, zog ich mich zurück in den Flur, tauschte die Filzpuschen gegen dicke Lammfellboots und steckte noch eine dunkle Mütze in die Handtasche, unter der ich später meine roten Haare verschwinden lassen konnte.

Als Martin vor dem Haus auf seinen Volvo zusteuerte, sagte ich: „Wir nehmen den Smart.“ Er knurrte.

„Mit deinem Schiff kurve ich nachher wieder stundenlang wegen eines Parkplatzes herum“, begründete ich meine Entscheidung, ihn mit dem quietschgrünen Schuhkarton – quadratisch, praktisch, gut – zu kutschieren. In Wirklichkeit wollte ich nicht riskieren, dass Martins Auto am Hauptbahnhof abgeschleppt wurde, wenn ich es nachher dort bis morgen stehen ließ, weil ich ihm bis nach Hamburg folgte. Zähneknirschend hievte er den Koffer in den Miniverschlag des Hecks, zwängte seine Eins achtzig auf den Beifahrersitz, faltete die langen Beine zusammen und schnallte sich an. Kaum hatte ich den Motor angeschmissen, hielt er demonstrativ den Fenstergriff fest.

„Hast du Angst rauszufallen?“

Genervt verdrehte er die Augen.

„Nicht? Oh, ich interpretiere weiter: Deine Körpersprache drückt wenig Vertrauen in meine Fahrkünste aus.“

„Quatsch!“

„Die Hand am Griff ist ein Appell an mich, vorsichtig zu fahren. Jetzt fehlt nur, dass du sagst: Die Ampel vorne ist rot. Das würde nämlich bedeuten, du traust mir nicht zu, dass ich es selbst sehe.“

„Wollen wir diskutieren oder fahren? Es ist Feierabendverkehr. Wir haben noch dreiundzwanzig Minuten.“

„Keine Angst, wir sind in zehn Minuten da!“ Ich trat so heftig aufs Gas, dass die Reifen durchdrehten. Martin zog missbilligend die Mundwinkel herunter und tadelte: „Du bist nicht auf dem Nürburgring!“

„Warum machst du solchen Stress. Das Ticket ist ohne Zugbindung. Wenn wir zu spät kommen, nimmst du eben den nächsten Zug. Oder hast du heute noch was vor?“, fragte ich provozierend. Sein Blick wurde eisig. Ich bremste scharf wegen so einem Penner, der mich von rechts überholte.

„Anstatt Volksreden zu halten, solltest du lieber auf die Straße gucken!“

Den Rest der Fahrt schwiegen wir.

Nach zwölf Minuten hielt ich am Seitenausgang Invalidenstraße des Hauptbahnhofs. Martin faltete die Beine wieder auseinander, stieg aus, beugte sich noch mal zur Beifahrertür hinein und fragte frech: „Du willst nicht mitkommen und kontrollieren, ob ich wirklich in den Zug steige?“

Das bietest du mir doch nur an, weil du natürlich in den Zug steigst und nach Hamburg fährst. Was dort passiert und vor allem wer dort auf dich und deine eng anliegende Unterhose wartet, sehe ich ja nicht.

Beschämt von meinen eigenen Gedanken, schlug ich die Augen nieder. Meine Gefühle fuhren Achterbahn mit Doppellooping.

„Mach mit deinem Misstrauen und der Eifersucht nicht alles kaputt! Wir sehen uns morgen. Ich denke gegen fünf Uhr abends bin ich zurück. Dann kannst du uns gerne im Borchardt einen Tisch reservieren, oder wir gehen ins Kino, wie du willst.“ Martin holte sein Gepäck aus dem Kofferraum und knallte die Heckklappe zu.

Ich saß wie erstarrt hinterm Lenkrad, bis er im Bahnhof verschwunden war – innerlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach nach Hause zu fahren und ihm zu vertrauen, oder auszusteigen und ihm hinterherzuspionieren.

War mein Verdacht berechtigt? War er wirklich so ein Arsch, der heute Abend in den Armen seiner Geliebten liegt und morgen mit seiner Ehefrau ins Kino geht? Ich brauchte die Gewissheit so dringend wie der Alkoholiker den Korn im Versteck der untersten Schreibtischschublade.

Die Entscheidung war also gefallen.

Rasch stülpte ich mir die Mütze über den Kopf und versteckte die roten Haare darunter, verriegelte das Auto und ließ es in der Kurzparkzone stehen. Die Abschleppgebühr würde zwar locker dreihundert Euro betragen, aber egal: Das war mir mein Seelenfrieden wert!

Noch sieben Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Ich eilte im Stechschritt durch die menschenüberflutete Bahnhofshalle, drängelte mich auf den Rolltreppen an den Reisenden vorbei bis hinunter zum Bahnsteig. Dabei spähte ich in alle Richtungen, um Martin auszumachen, bevor er mich sah. Auf dem Bahnsteig angekommen, versteckte ich mich hinter der Anzeigentafel und kundschaftete aus, dass Wagen achtundzwanzig, in dem sein Sitzplatz reserviert war, im Abschnitt F hielt. Daran schloss sich gleich das Bordrestaurant an. Perfekt für mich. Oder doch nicht? Was, wenn er etwas essen ging? Nein, Martin war ein Feinschmecker, das Speisenangebot in Fliegern und Zügen verschmähte er aufgrund mangelnder Qualität grundsätzlich. Höchstens würde er einen Kaffee trinken – und den bekam er in der ersten Klasse am Platz serviert.

Im Windschatten einer schwarz gekleideten Reisegruppe – sie schleppten den gesamten Hausrat mit – pirschte ich mich vorsichtig Richtung seines Abschnitts.

Per Lautsprecher kündigte eine Dame in abgehackten Sätzen, die von Rauschen übertönt wurden, den einfahrenden ICE an und informierte die Wartenden über die geänderte Wagenreihung.

„Was?“ Ich hatte kein Wort verstanden. Die nörgelnde Menge setzte sich in Bewegung. Wo hielt Wagen achtundzwanzig? Welcher Zugteil wird in Spandau abgehangen und fährt nach Köln weiter? Noch während ich innerlich über den Service der Bahn fluchte, sah ich Martin, der lächelnd mit dem Handy am Ohr den Rollkoffer in die andere Richtung schob. Völlig ins Gespräch vertieft, rollte er sein Gepäck einer älteren Frau in die Hacken, weil sie unerwartet stehen blieb. Er entschuldigte sich und wich im Bogen aus.

Ich versteckte mich hinter der Anzeigentafel und verfolgte ihn mit meinem Blick. Martin lief bis Abschnitt C. Der Zug fuhr ein und bremste. Räder quietschten auf Schienen. Die Türen des ICE öffneten sich. Menschen quollen heraus wie Eiter aus einer schwer entzündeten Wunde. Sie durchschritten das Spalier der ungeduldig auf und ab Trampelnden. Martin half einer jungen Frau und hievte ihr den Kinderwagen hinaus, stieg ein und ward verschluckt.

Von draußen beobachtete ich, wie er den Koffer im Gepäckfach über Kopf verstaute und sich auf seinen Platz am Gang setzte. Dabei hatte ich echt Schwein, dass er in die andere Richtung guckte.

Als ich aus meinem Sichtschutzbereich hervortrat, waren die Menschentrauben vor den Eingängen längst geschrumpft. Die Zugbegleiter warteten auf das Signal, die Türen zu schließen.

Ich huschte in Wagen neunundzwanzig hinein und hockte mich im Bordrestaurant auf den einzigen freien Platz, von dem ich den Gang bis zum Ende des Wagens achtundzwanzig voll im Blick hatte. Mein Gegenüber, ein pausbäckiger Schwammkopf mit hoher Stirn und getrockneten Schwitzflecken unter den Achseln, grinste dämlich, als ich ihn aus Höflichkeit grüßte.

In Wanderjacke und mit Mütze auf dem Kopf lehnte ich mich auf dem roten Ledersitz zurück. Mein Tischnachbar beäugte mich ungeniert. Ich guckte an ihm vorbei. Der Zug fuhr an.

„Ganz schön kalt heute“, sagte Pausbacke auf meinen Kopf zeigend. Ich starrte ihn kurz an.

Er lächelte verlegen. „Ich habe auch immer Angst, mich zu erkälten, und man weiß ja nie, ob die Heizung im ICE … Letztens … Gerade komme ich aus dem Allgäu, fahre jetzt nach Kölle … ha, ha … Frankfurt …, dann Kassel …, dann München …“, laberte er so laut, dass es der letzte Reisende im Waggon hörte. Seine Wurstfinger spielten mit der Speisekarte. Er seufzte: „Hach, als Versicherungsvertreter im Außendienst ist man ständig unterwegs …“ Unvermittelt warf er eine Bahncard wie den Joker im Skat auf die Tischplatte und triumphierte: „Als Vielfahrer bin ich quasi Stammkunde.“ Reglos schaute ich auf den vermeintlichen Trumpf und las unweigerlich seinen Namen: Klaus Abzieher. Grinsend beugte er sich nach vorne und sagte hinter vorgehaltener Hand, als verrate er mir ein Geheimnis: „Ich kenne mich mit ihrem Service aus.“ Dabei schielte er zum Zugpersonal, das die Bestellung am Nebentisch aufnahm. „Wollen Sie einmal sehen, wie man zu einem Freigetränk kommt? Passen Sie gut auf!“ Ohne meine Antwort abzuwarten, ließ er die Speisekarte unter die Bank verschwinden, rief die Dame in Uniform heran und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr. „Ich sitze jetzt seit Berlin-Südkreuz, also seit zehn Minuten, auf diesem Platz. Ich habe weder eine Speisekarte, noch haben Sie mich nach meinem Wunsch gefragt.“ Die Kellnerin schluckte, reichte dem Schwamm die Karte vom Nebentisch und wartete mit Stift und Block auf dessen Bestellung.

Vielfahrer Klaus ließ sich Zeit und die Dame vom Servicepersonal schmoren. „Ich nehme die Königsberger Klopse.“

„Oh, die sind aus.“

„Den Schwertfisch.“

„Das Mittagsmenü haben wir nur begrenzt im Angebot.“

„Spaghetti bolognese.“

„Würde etwas dauern …, wo steigen Sie denn aus?“ Langsam wurde die Kellnerin unruhig.

„Ja, Himmelherrgott, was für ein Saftladen! Ich werde mich an allerhöchster Stelle beschweren. Ihr Name?“ Er plusterte sich auf wie ein Truthahn zur Paarungszeit.

„Entschuldigen Sie bitte, mein Herr! Für die Unannehmlichkeiten bringe ich Ihnen gerne ein Freigetränk, suchen Sie sich etwas aus.“

„Das ist das Mindeste. Ich nehme ein Bier“, sagte er versöhnlich und zwinkerte mir zu, als die Kellnerin davoneilte. Keine dreißig Sekunden später nuckelte der Typ zufrieden an seinem Glas und wischte sich dann den Schaum von den Lippen ab.

„Und was darf ich Ihnen bringen?“, fragte die Bahnangestellte mit verkniffenem Mund. Die dachte doch nicht etwa, dass ich zu diesem Abzocker gehörte? Ich klimperte mit den Wimpern.

„Oh, danke, erst einmal nichts.“ Die Uniformierte runzelte abschätzig die Stirn. „Dann muss ich Sie bitten, den Platz freizugeben. Das Bordrestaurant ist ausschließlich für Fahrgäste reserviert, die etwas essen oder ein Getränk zu sich nehmen möchten“, sagte sie schnippisch.

Ich nahm die Speisekarte in die Hand: „Klopse und Schwertfisch sind ja leider aus. Einen Tee.“

„Welche Farbe?“

„Türkis?“, fragte ich keck zurück. Mein Gegenüber gluckste wie ein verstopftes Rohr und schlug sich auf den Oberschenkel. „Der war gut!“ Was der Typ zu viel hatte, hatte die Dame mit dem Stift in der Hand zu wenig: Humor. Sie verzog keine Miene und wiederholte ihre Frage im Ton einer Mathelehrerin, die dem dümmsten Schüler den Satz des Pythagoras entlocken will: „Welche Farbe? Schwarz, rot oder grün?“

„Was ist rot?“

Ihre Gesichtszüge erschlafften. Sie atmete hörbar aus. „Früchtetee!“

„Erdbeere, Hagebutte, Johannisbeere?“

„Hagebutte.“

Dann sag das doch gleich, Mädel! „Ich nehme schwarz.“

Die bockige Beförderungsfachangestellte zog ab.

Mein Gegenüber wollte mir ein Gespräch aufdrängen. „Sie haben echt Humor. Wo geht denn die Reise hin?“ Konnte der mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich war nun wirklich nicht zum Spaß hier.

Zum Glück hatte ich endlich eine Idee, wie ich den pausbäckigen Rüpel in die Flucht schlagen könnte.

Ächzend ergriff ich seine fleischige Hand: „Ich … Ich muss zurück in die Klinik.“

„Wat ham’ Se denn?“, fragte der Typ misstrauisch und rückte ein Stück weiter weg.

„Kolibrugenoveritis im Endstadium“, sagte ich todernst und schlug hustend die Augen nieder. „Hochgradig ansteckend, die Viren werden durch das Kohlenmonoxid beim Ausatmen übertr…“

Abzieher-Klaus erblasste, schnappte sein Bier und setzte sich an einen Tisch am anderen Ende des Waggons. Das war ja einfacher als gedacht.

Erleichtert widmete ich mich der Observation und starrte auf den rechten Ellbogen meines Mannes, den ich von hier super im Blick hatte. Gerade als der Schaffner den nächsten Halt in Spandau nuschelnd ankündigte und nochmals auf die dortige Teilung des Zuges hinwies – von der ich auch dieses Mal kein Wort verstand –, kam Bewegung in das Bild. Martin stand auf.

Saß er im falschen Abteil? Das konnte aber eigentlich nicht sein. Wollte er etwas essen?

Adrenalinspiegel: hoch!

Ich versteckte mich hinter der aufgestellten Speisekarte und kroch quasi unter den Tisch. Er reckte sich nach seinem Koffer und hob ihn aus der Ablage über dem Kopf. Dann zog er die Jacke an und reihte sich mit dem Rücken zu mir in die Schlange der Reisenden ein, die den Zug verlassen wollten.

Puh, er hat mich nicht gesehen. Adrenalinspiegel: runter!

Wollte er in Spandau aus- oder umsteigen? Adrenalinspiegel: wieder hoch! Der Zug fuhr ein. Ich hatte keine Zeit, weiter darüber zu grübeln, wo die Reise hinging. Lass dich überraschen, schipperte die Titelmelodie einer uralten Fernsehshow mit Rudi Carrell wie ein Ausflugsdampfer durch mein Gehirn. Ich sprang auf. Genau in dem Moment servierte mir die Beförderungsfachangestellte den Tee. Meine Schulter stieß an das Tablett mit der Tasse, in der kochend heiße Flüssigkeit dampfte. Sie jonglierte es im letzten Moment gekonnt aus und rief: „Ihr Tee!“ Dabei klang ihre Stimme schrill, denn sie hatte sich genauso erschreckt wie ich.

Der Zug hielt. Martin stieg aus und verschwand aus meinem Gesichtsfeld. So eine Kacke! Hektisch kramte ich das Portemonnaie aus der Tasche, drückte der Kellnerin zehn Euro in die Hand und sprang im letzten Moment aus dem Zug, bevor sich die Türen automatisch schlossen und er abfuhr.

Ratlos guckte ich mich auf dem Bahnsteig nach meinem Mann um. Das war es dann wohl! Wenn er nur in einen anderen Waggon umgestiegen war, hatte ich ihn verloren. Ich könnte Abzieher-Klaus den Hals umdrehen. Hätte er sein blödes Spiel nicht veranstaltet …

Ich ließ die Schultern hängen. Es machte wenig Sinn, sich jetzt darüber aufzuregen. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zurückzukehren. Frustriert reihte ich mich in die Menschenmenge und nahm die Rolltreppe, um auf den Bahnsteig, von dem die S-Bahn fährt, zu wechseln.

Ha! Da war Martin! Er schlenderte Richtung Ausgang. Puh!

Ganz nach dem Motto: Folgen Sie dem grünen Pfeil, lief ich ihm im Schutz des Gedränges wie ein unsichtbarer Schatten hinterher. Ich musste verdammt aufpassen. Martin wirkte zwar arglos, aber ich wusste, dass er die Umgebung – auch alles hinter seinem Rücken – stets im Blick hatte. Das lag ihm irgendwie im Blut. Ähnlich einem Tick, konnte er es nicht abstellen, selbst wenn wir privat unterwegs waren.

Er verschwand in einem Spirituosenladen, ich versteckte mich hinter einer Litfaßsäule und hoffte, dass ihn die Plakate mit den Veranstaltungsankündigungen nicht interessierten. Drei Minuten später kam er mit einer Papiertüte wieder heraus und lief zu den Bahnsteigen hinüber. Spandau war also nur die Zwischenstation.

Ich folgte ihm in der Menschenmenge. Er nahm die Rolltreppe zum S- Bahnsteig, wo der rot-gelbe Zug Richtung Ostkreuz gerade einfuhr. Menschen strömten hinaus, Menschen strömten hinein. Alle kamen irgendwoher, wollten irgendwohin, und jeder hatte eine Geschichte, die dahintersteckte. Wie Martin, der seine Frau belogen hatte und wahrscheinlich auf dem Weg zu seiner Geliebten war, die ihn vielleicht in einem Hotel erwartete. Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Wie ferngesteuert schnappte ich mir eine weggeworfene Zeitung und huschte einen Wagen weiter hinten in die Bahn. Ich setzte mich so, dass ich ihn im Blick hatte, die BZ als Schutzschild vor dem Gesicht.

Dedüm, dedüm, dedüm … rumpelte der Zug über die Schienen bis zur Endstation. Dann stieg Martin um, in Richtung Erkner.

In Hirschgarten verließ er mit zwei anderen Reisenden die Bahn.

Der Bahnsteig war wie ausgefegt. Kruzifix! Wie sollte ich ihm unbemerkt folgen? Ich wartete, bis er auf der Treppe nach unten verschwand, und sprang in letzter Sekunde aus dem Zug.

Hirschgarten? Was will er denn hier?

Ich erinnerte mich, schon einmal hier gewesen zu sein. Klar! Tante Ruths Erbe. Mein Mann hatte die Immobilie vor sechzehn Jahren gleich nach der Testamentsverkündung verscherbelt. Was sollten wir sonst mit dieser heruntergekommenen Gärtnerei im Osten anfangen, zu der ein marodes Siedlungshaus aus den Fünfzigern gehörte? Martin hätte es gern behalten – er hing an seiner Tante – und versuchte, mich damals mit den tollsten Aus- und Umbauplänen für Haus und Grundstück umzustimmen. Doch ich wollte auf keinen Fall so weit aus der Stadt ziehen. Hätten wir gewartet, hätten wir jetzt ein Vermögen mit dem Verkauf verdient. Ein Fehler. Egal! Geld macht auch nicht glücklich, dachte ich, als Martin genau vor dem Grundstück stehen blieb. Es sah immer noch so heruntergekommen aus wie früher.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss der Gartenpforte und guckte in den Briefkasten daneben. Hä? Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Völlig baff beobachtete ich im Schutz einer dicken Eiche, wie mein Gatte einen Plausch mit den Nachbarn, einem Ehepaar im fortgeschrittenen Rentenalter, führte, die mit dem ebenso greisen Hund Gassi gehen wollten. Der alte Mann trottete zurück und kam mit einem Paket wieder, dass er Martin überreichte. Dann verschwand meine bessere Hälfte in dem Haus, wo er einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte.

Aber wir hatten es doch verkauft … Wie war das noch? Ich hatte ihn gedrängt, es loszuwerden, und mich dann nicht weiter damit beschäftigt, weil es angeblich nichts wert war. Damals waren die Immobilienpreise im Keller. Das hatte Martin zumindest gesagt …

Was hatten wir eigentlich mit dem Geld angestellt? Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob er mich nicht auch da schon belogen hatte. Ich fühlte mich wie auf einer Eisscholle, die stückchenweise abbrach. Der Radius meiner vertrauten Welt schrumpfte zusehends.

Das Rentnerehepaar wechselte die Straßenseite und kam mir direkt entgegen. Sie musterten mich skeptisch. Ich wühlte demonstrativ in der Handtasche herum, fingerte den Brief an die Akademie mit meiner Honorarabrechnung heraus, den ich heute Nachmittag zum Briefkasten bringen wollte. Ich tat, als prüfte ich die Adresse und suchte das Straßenschild. Als die alten Herrschaften an mir vorbeigingen, fragte ich: „Entschuldigung, zum Marienwerderweg?“ Dort wohnte ein Student von mir, und ich wusste, dass er immer in Hirschgarten ausstieg und eine Abkürzung zu seiner Straße im Stadtteil Friedrichshagen nahm. Ich sagte: „Meine Kollegin meinte, ich soll in Hirschgarten aussteigen. Da gibt es eine Abkürzung.“

„Oh, da müssen Sie sich hinterm Bahnhof links halten, bis zum letzten Einfamilienhaus laufen und dann rechts den Weg über die Brücke nehmen.“

„Danke, da bin ich wohl falsch abgebogen.“

Ich lief die Straße in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Die Rentner marschierten in die andere Richtung, drehten sich noch mehrmals um und schauten mir hinterher, als vermuteten sie in mir eine Einbrecherin. Erst als sie sicher waren, dass ich mich wirklich nur verlaufen hatte, bogen sie in eine Seitenstraße ein.

Ich nutzte die Gelegenheit und pirschte mich im Schutz der schwach beleuchteten Straße zurück zur Gärtnerei, kroch durch ein Loch im Zaun und umrundete das Wohnhaus.

Hinten waren alle Jalousien heruntergelassen. Ich hörte, wie ein Auto vor dem Haus anhielt. Vorsichtig schlich ich zwischen die Gewächshäuser, an eine Stelle, von der ich ganz nah an der Straße und vor allem am Eingang des Hauses war, ohne dass mich jemand sah.

Ein Taxifahrer hob Gepäck aus dem Kofferraum und übergab es einer blonden Schönheit, der beim Sprechen kleine Atemwölkchen aus dem Mund schwebten.

Katharina Wolff-Perez wirkte in ihrem camelfarbigen Kaschmirmantel wie ein Fremdkörper in der Siedlung, die den nicht gerade mondänen Charme der DDR in den Achtzigern ausstrahlte. Sie bedankte sich höflich beim Taxifahrer und steuerte auf die Gartenpforte zu. Mein Mann eilte ihr mit der Weinflasche in der Hand entgegen. Sie umarmten sich herzlich, und er nahm ihr den Weekender sowie eine Papiertüte vom Feinkosthändler ab, in der ich Lebensmittel vermutete.

Wütend schlug ich auf den Palettenstapel vor mir, sodass eine kleine Schneewolke aufstob. Katharina griff lächelnd nach dem Wein und strich dabei über Martins Hand. Das wirkte so vertraut, dass mir die Beine wegsackten. Um nicht zu schreien, biss ich mir auf die Zunge.

Sie las das Etikett und säuselte: „Oh, ein Chardonnay.“ Auf die Papiertüte in Martins Hand zeigend, ergänzte sie: „Der passt prima zu Lamm.“

Seit wann isst Martin denn wieder Fleisch? Noch ein Betrug!

Sie gab ihm einen Wangenkuss, der wie der Auftakt zu einem romantischen Abend wirkte. Sie gingen hinein, und die Tür schloss sich hinter beiden.

„Bah!“ Ein Brechreiz überkam mich. Ich würgte und stützte mich nach vorn gebeugt an den Paletten ab. Es kam nichts.

Ich atmete flach und war wie gelähmt. Martin führte also ein Doppelleben. Mein Bauch sagte mir, dass hier mehr als eine billige Affäre dahintersteckte. Die beiden hatten sich irgendwo wiedergefunden und ihre alte Liebe zueinander entdeckt. Warum konnte er nicht wie andere Männer einfach in den Puff gehen, oder sich mit einer Zwanzigjährigen lächerlich machen? Ich fühlte mich hilflos. Gegen eine alte Flamme von früher hatte ich genauso viele Chancen wie eine Frau, deren Ehemann sich als schwul outet. Um den Schmerz noch zu steigern, zückte ich das Handy und rief ihn an. Entgegen meiner Erwartung ging er ran. „Hallo? Franziska, was gibt’s denn?“ Seine Stimme klang überrascht, aber keinesfalls abweisend.

Meine dagegen zitterte. „Och, ich wollte nur hören, ob du gut angekommen bist?“

„Ich bin noch am Bahnhof, hole mir was zu essen, und dann sehe ich zu, dass ich ins Bett komme …“ Ha! Das konnte ich mir vorstellen. „Du liegst doch bestimmt längst in der Wanne?“ Er war eindeutig der bessere Schauspieler von uns beiden. Wie konnte er nur so dreist lügen? War ich ihm so egal? Hatten wir uns so entfremdet, ohne dass es mir aufgefallen war?

Nach einem kurzen Austausch höflicher Nichtigkeiten beendeten wir das Gespräch. Ich steckte das Handy in die Tasche.

Was sollte ich bloß tun? Klingeln, ihn zur Rede stellen?

KAPITEL 4

Was hat sie, was ich nicht habe? Ich liebe ihn doch so sehr …

Autor

Cathrin Moeller

In der Grundschule ließ Cathrin Moeller noch andere für sich schreiben: Ihre Mutter verfasste die verhassten Deutsch-Aufsätze. Erst später, in ihrem Beruf als Theaterpädagogin, entdeckte sie den Spaß am Schreiben. Seitdem schleicht sie sich täglich morgens um fünf Uhr ins Wohnzimmer und kuschelt sich mit dem Hund Giovanni aufs Sofa,...

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