Nur du kannst mein Herz retten!

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Carey wird aus Joe nicht schlau: Der attraktive Notfallmediziner nimmt sie bei sich auf, kümmert sich liebevoll um sie und will sie sogar seiner Familie vorstellen. Doch obwohl es bald immer heißer zwischen ihnen knistert, besteht er auf einer platonischen Freundschaft …


  • Erscheinungstag 05.05.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506762
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als sie in Hollywood aus dem Bus stieg, fühlte sich Carey Spencer allein wie nie zuvor in ihrem Leben.

Am selben Abend brachte Notfallsanitäter Joseph Matthews im Dienst der angesehenen Hollywood Hills Klinik eine Schauspielerin in das exklusive 20-Betten-Erholungshotel am Sunset Boulevard. Joe übernahm den Transport auf die ausdrückliche Bitte von James Rothsberg hin. Schließlich hatte die gefeierte Mimin im vorletzten Jahr einen Oscar für die beste Nebenrolle gewonnen.

Als leitender Notfallsanitäter seiner eigenen Krankentransportfirma begleitete er die Patientin, deren Name nicht laut ausgesprochen werden durfte, in die Reha-Einrichtung. Auf der Fahrt gab es keine besonderen Vorkommnisse. Die Schauspielerin war sediert, der intravenöse Zugang an Ort und Stelle, Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung lagen im grünen Bereich. Aber sie hatte so viele schönheitschirurgische Eingriffe im Gesicht, an Brüsten und Händen vornehmen lassen, dass sie mit den Bandagen aussah wie eine Mumie. Bei ihrer Ankunft strömten Ärzte und Pflegekräfte zum Wagen, als gelte es, den US-Präsidenten aufzunehmen.

Jetzt war es neun Uhr abends, und Joe lehnte sich im Beifahrersitz seines Krankentransporters zurück. Er hatte seinen Lieblingssender angestellt, um ein bisschen Musik zu hören … Jazz. Ja, ihm gehörte dieser Wagen – zusammen mit den fünf anderen –, also konnte er die Musik spielen, die er wollte! Das brachte ihn allerdings auf den Gedanken, dass einiges an Arbeit vor ihm lag. Heute war Monatserster, und er musste die Juni-Dienstpläne für seine Notfallsanitäter und Rettungshelfer kopieren, bevor sein Team morgen früh zur Arbeit erschien.

„Ich habe Hunger“, vermeldete sein Rettungshelfer Benny, der am Lenkrad saß.

Nichts Neues unter der Sonne. Der Junge war vor Kurzem zwanzig geworden und unersättlich. Doch da es ihre letzte Fahrt war und nichts weiter anlag, warum nicht einen Happen essen? „Wie wär’s mit dem Tex-Mex-Grill, wo wir neulich waren?“

„Du kannst Gedanken lesen.“ Benny grinste, und seine wilde Afromähne bebte, als er zufrieden nickte. Er bog vom Hollywood Boulevard auf den Cahuenga Boulevard ab und lenkte den Wagen zu dem Imbiss am Überland-Busbahnhof, wo gerade ein Bus einfuhr. Benny musste warten, bevor er auf einem der größeren Plätze parken konnte, und Joe betrachtete gedankenverloren, wie eine Handvoll Leute den Bus verließ.

Eine gut aussehende junge Frau mit einer riesigen Sonnenbrille war darunter. Sonnenbrille bei Nacht? wunderte sich Joe. Die Frau war groß und schlank, trug hochhackige Stiefel, Röhrenjeans und einen dunkelblauen Pulli. Soweit Joe im Licht der Bahnhofslampen erkennen konnte, war ihr gewelltes langes Haar braun. Mit einem rötlichen Schimmer? Er fragte sich, warum sie hier war und welche Geschichte dahintersteckte. Musste an den Schatten der Nacht liegen. Normalerweise verschwendete er in letzter Zeit keinen Gedanken an Frauen. Aber die hier war heiß. Eine Augenweide, wie eine Rose inmitten dorniger Sträucher.

Benny stellte die Ambulanz in der Nähe des Grills ab, und Joe stieg auf der Beifahrerseite aus. Ein verlockender Duft nach scharf gewürzten Bohnen und knusprigem Chipotle Chicken wehte ihm entgegen. Joe freute sich auf das Essen und hatte es eilig, Benny zu folgen.

Im Augenwinkel nahm er eine plötzliche Bewegung wahr und wandte den Kopf. Jemand war hinter einer Säule hervorgekommen, packte mit einer Hand die Tasche und mit der anderen das Handgelenk einer Frau, zerrte sie aus der Menge und zog sie mit sich in eine nahe gelegene Gasse.

Es war die Frau, die Joe gerade bewundert hatte! Die meisten Reisenden waren ihrer Wege gegangen, und die wenigen anderen schienen von dem Angriff nichts mitzubekommen, obwohl die Frau aufschrie und sich wehrte.

Joe rannte zur Gasse. „Hey!“, brüllte er, während er auf die junge Frau zulief, die immer noch um ihre Tasche kämpfte.

Der lange, dürre Kerl mit dem strähnigen Haar hielt sie an Schulterriemen und Handgelenk fest und schleppte sie mit sich, weiter ins Dunkle hinein.

„Hey!“

Diesmal blieb der Typ stehen und versetzte ihr einen Faustschlag. Sie fiel hin, ihr Kopf knallte aufs Pflaster. Kaltblütig riss der Mann ihr die Umhängetasche vom Körper, wobei sie ein zweites Mal hart mit dem Kopf aufkam. Dann stieg er ungerührt über sein Opfer hinweg und ging auf Joe los, der die beiden inzwischen erreicht hatte.

Er parierte den Angriff mühelos – der andere konnte ja nicht wissen, dass Joe in seiner Freizeit boxte –, doch plötzlich hatte der Kerl ein Messer in der Hand und stieß zu. Joe landete einen Treffer, spürte gleichzeitig einen blitzschnellen heißen Schnitt quer über seine Rippen. Jetzt wurde er richtig wütend. Sein Widersacher ergriff die Flucht, Joe hinterher, bis der Dieb auf einen Müllcontainer sprang und über eine hohe Mauerruine verschwand. Ungläubig sah Joe ihm hinterher. Der Mistkerl war ziemlich flink – wahrscheinlich gut in Übung von tätlichen Übergriffen auf Wehrlose.

Die Frau! Joe sprintete zurück zu ihr, hielt sich dabei die Seite.

Benny kam zeitgleich mit ihm an. „Ich habe die Polizei gerufen. Bist du okay?“

„Nur eine oberflächliche Verletzung.“ Trotzdem sah er vorsichtshalber nach. Hohe Adrenalinausschüttung konnte schmerzlindernd wirken. Das fehlte ihm gerade noch, dass der Schnitt tiefer gegangen war und eine ernste Wunde hinterlassen hatte.

Zum Glück sickerte das Blut nur heraus, es war also keine Arterie getroffen. Sobald Benny Notfalltasche, Sauerstoff und Trage hergebracht hatte, würde er eine saugfähige Kompresse auf die Schnittwunde drücken, um die arme Frau nicht vollzubluten.

„Hol unsere Ausrüstung, okay?“ Joe schnappte sich ein Paar Handschuhe von Bennys Gürtel und kniete sich neben die Verletzte, während Benny zum Krankenwagen rannte. „Ich bin Sanitäter, Miss. Hören Sie mich?“, sagte er laut und deutlich.

Keine Reaktion.

Er berührte ihre Schulter. „Hallo? Können Sie mich hören, Miss?“

Ihre Brust hob und senkte sich, also kein Atemstillstand. Joe tastete nach dem Karotispuls, fand ihn. Frequenz und Stärke waren normal. Gut. Mit geübtem Blick suchte er nach Anzeichen weiterer Verletzungen. Vorsichtig ließ Joe die Handflächen über die Unterseiten ihrer Arme und Beine gleiten, dann über beide Seiten ihres Körpers. Kein Blut, sehr gut.

Nur die kleine Lache in der Größe eines Fünfzig-Cent-Stücks neben ihrem Kopf. Bevor Benny und er ihr eine HWS-Schiene angelegt hatten, würde er ihren Hals nicht bewegen. Hinweise auf ihre Identität fand Joe nicht, wahrscheinlich waren ihre Ausweispapiere in der Umhängetasche, mit der der gemeine Dieb verschwunden war. Also mussten sie warten, bis sie wieder bei Bewusstsein war, um herauszufinden, wer sie war.

Selbst im schwachen Licht der Straßenlampen waren die Blutergüsse um ihr Auge zu erkennen. Und da sie die Umhängetasche quer am Körper getragen hatte, war ihr auch der Pullover heruntergerissen worden und ihr linker Arm teilweise entblößt. Auch hier Hämatome. Sie war zwar überfallen worden, doch das blaue Auge und die Stellen am Arm waren schon älter. Zorn erfasste Joe. Jemand hatte sie schon vor Tagen verprügelt.

Wer vergriff sich so an einer Frau?

Er schüttelte den Kopf. Sie war buchstäblich vom Regen in die Traufe gekommen – kaum hatte sie den Bus verlassen, wurde sie ausgeraubt und bewusstlos geschlagen. Joe war froh, dass er zufällig hier war. Nicht auszudenken, was mit ihr passiert wäre …

Insgeheim nahm er sich vor, auf die schöne Unbekannte aufzupassen. Verdammt, wenn jemand einen Schutzengel brauchte, dann sie!

Benny hatte den Krankenwagen herangefahren und brachte die Ausrüstung zu ihnen. Joe ließ sich von ihm einen provisorischen Verband anlegen, während er erneut die Atemwege seiner Patientin checkte. Obwohl alles in Ordnung schien, ließ er sie nicht aus den Augen. Bei der Kopfverletzung war es nicht ausgeschlossen, dass sie sich erbrach und etwas davon in die Luftröhre gelangte.

„Wir geben Ihnen Sauerstoff und legen Ihnen eine Halskrause um“, erklärte er ruhig, für den Fall, dass sie langsam das Bewusstsein wiedererlangte.

Bald darauf hatten sie Jane Doe – wie alle namenlosen weiblichen Opfer genannt wurden, bis man sie identifizieren konnte – auf dem Rettungsbrett stabilisiert. Sie lag immer noch reglos da, atmete jedoch gleichmäßig. Mit dem langen kastanienbraunen Haar, das ihr über die Schultern fiel, und den auf dem Spineboard fixierten Armen bot sie ein berührendes Bild.

Großstadt-Dornröschen.

„Fertig zum Transport?“, fragte Joe, um sich von seinen Gedanken abzulenken.

„Willst du nicht auf die Polizei warten?“

„Falls sie nicht hier sind, bis wir sie im Wagen haben, ruf an und sag, sie sollen in die Klinik kommen. Wir müssen mit Schädelfraktur oder subduraler Blutung rechnen. Sie muss so schnell wie möglich ärztlich betreut werden.“ Bei potenziellen Hirnverletzungen war das Zeitfenster knapp bemessen. Von der Goldenen Stunde der Rettung blieben ihr noch knappe fünfundvierzig Minuten. „Ich werde Dr. Rothsberg verständigen.“

Joe sprang in den Ambulanzwagen, um die Trage mit Rettungsbrett und Patientin vom Kopfende her hineinzulotsen, während Benny das andere Ende schob.

Keine Minute später war die Trage am Boden des Wagens gesichert. Joe untersuchte noch einmal Dornröschens Zustand und rief James an. Der sagte ihm unerwartet, dass er sie ins Hollywood Hills bringen solle. Joe war mehr als einverstanden. Er wäre sonst versucht gewesen, sie eher mit nach Hause zu nehmen, als sie einem schlecht ausgestatteten öffentlichen Krankenhaus mit überarbeitetem Personal zu überlassen.

Er zog sich das Hemd aus und nahm den Verband ab, um sich seine Verletzung bei Licht anzusehen. Die lange, gezackte Wunde blutete noch und musste definitiv genäht werden.

Benny sprach mit der Polizei, die gerade eingetroffen war, und zeigte ihnen, wo sie Jane Doe gefunden hatten und der Dieb über die Mauer geflüchtet war. Joe säuberte derweil seine Wunde, um sie neu zu verbinden. Das Desinfektionsmittel brannte höllisch!

Bevor sich die Polizisten auf die Suche nach Zeugen machten, die sie befragen konnten, warf einer der Beamten einen Blick ins Wageninnere. Er musterte erst die junge Frau und dann Joes Wunde, nickte und verschwand Richtung Gasse.

Benny schloss die Doppeltüren, schwang sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. „Sie nehmen unsere Aussagen später in der Klinik auf.“

„Gut.“ Joe war fertig mit seinem Verband und wandte sich wieder seiner Patientin zu.

Während sie mit blitzendem Blaulicht dahinfuhren, überprüfte er die Vitalzeichen und horchte ihre Lungen ab. Als Nächstes leuchtete er ihr mit der schmalen Stablampe in die Augen, um die Pupillenreaktion zu testen. Dazu musste er ihr das Haar aus dem Gesicht streichen. Es war dicht und seidig, und unsinnigerweise fühlte sich Joe bei einer intimen Geste ertappt. Vielleicht weil es lange her war, dass er die Hände ins weiche Haar einer Frau geschoben hatte. Natürlich war die Situation nicht damit zu vergleichen, aber er ärgerte sich über sich selbst, dass er plötzlich Verlangen danach verspürte.

Zu seiner Erleichterung reagierten die Pupillen normal. Die Verfärbungen um ihr Auge herum sahen allerdings böse aus. Da hatte jemand sie übel zugerichtet. Wieder kochte Ärger in ihm hoch – wegen einer Frau, über die er nicht das Geringste wusste. Joe beschloss, eine Verweilkanüle zu legen, damit sie in der Klinik gleich einen intravenösen Zugang hatten. Nach einer Kopfverletzung konnte der Hirndruck gefährlich ansteigen, und das wollte er mit Flüssigkeitsgaben nicht noch steigern. Außerdem war ihr Blutdruck normal.

Während er die Kanüle legte, ging er in Gedanken durch, was er über die schlafende Schönheit wusste. Außer ihrer Tasche hatte sie kein Gepäck dabeigehabt. Wahrscheinlich hatte sie sich nur das Nötigste geschnappt und war vor dem Typen geflüchtet, der sie verprügelt hatte.

„Wer bist du?“, fragte Joe leise. „Woher kommst du?“

Er nahm ihre Hand in seine, wieder von dem starken Bedürfnis erfüllt, die Unbekannte zu beschützen. Ihre Finger waren lang und zierlich, mit gepflegten, unlackierten Nägeln. Mach dir keine Sorgen, versprach er ihr stumm. Ich passe auf dich auf.

Nachdem sie die schmalen Straßen mit ihren Haarnadelkurven überwunden hatten, erreichten sie die Hollywood Hills Klinik, weit unterhalb der berühmten weißen Lettern, die das Hollywood-Zeichen bildeten.

Die noble Privatklinik, ein moderner Bau, dessen Flächen fast zur Hälfte aus erdbebensicherem Spezialglas bestanden, funkelte nachts wie ein in den Hügel gefasster Diamant. Warmes goldenes Licht schien aus jedem der überdimensionalen Fenster und signalisierte, dass die Klinik rund um die Uhr geöffnet war. Hohe Zäune schützten Privatsphäre und Sicherheit der Klienten. Jedes Fahrzeug wurde angehalten und überprüft.

Ambulanzen ausgenommen. Sobald das Tor weit genug geöffnet war, brausten sie mit ihrem Krankentransport aufs Klinikgelände. Benny lenkte den Wagen zur Rückseite des Gebäudes. Joe zog sich das Hemd wieder über und knöpfte es vorsichtig über dem Verband zu.

Wieder einmal konnte er sein Glück nicht fassen, dass er mit seiner Firma nur zwei Jahre nach Gründung den Zuschlag bekommen hatte, für James Rothsbergs Klinik arbeiten zu dürfen. Damals war er dreiundzwanzig gewesen, fertig ausgebildeter Notfallsanitäter mit einem Plan und einer guten Portion Unternehmergeist, den sein hart arbeitender Vater in ihm geweckt hatte.

Vielleicht hatte James in ihm etwas gesehen, das ihn für den Job prädestinierte. Vielleicht war es auch nur perfektes Timing gewesen, nachdem Joes Vorgänger das Vertrauen seiner Arbeitgeber massiv enttäuscht hatte, als er in einer Fernsehshow Indiskretionen über illustre Klientinnen der Klinik ausplauderte.

James’ Eltern Michael Rothsberg und Aubrey St. Claire hätten mit ihren Skandalen Bücher füllen können. Jeder, selbst Joe, erinnerte sich an die Schlagzeilen, obwohl er damals noch ein Teenager gewesen war. Jede Boulevardzeitung und jede Talkshow berichtete über ihre Affären. Die beiden gehörten zur Crème de la Crème von Hollywood und zu den bestbezahlten Schauspielern ihrer Zeit.

Rothsberg und St. Claire vom Olymp stürzen zu sehen wurde zur Lieblingsbeschäftigung der Nation, nachdem ein Exlover in seinem Buch enthüllt hatte, dass sich hinter dem schönen Schein die hässliche Fratze von Lug und Betrug verbarg. Ihre Ehe war eine einzige Farce, und am meisten litten darunter ihre Kinder James und Freya.

James hatte Joe deutlich zu verstehen gegeben, dass Loyalität zur Klinik und ihren Patienten oberstes Gebot sei. Alles andere würde er nicht tolerieren. Und Joe hielt bis heute sein Versprechen, ihn nicht zu enttäuschen. An jenem Tag war er aus James’ Büro marschiert und hatte sich gefühlt wie der glücklichste Mann auf Erden. Das Schicksal meinte es gut mit ihm!

Er konnte nicht ahnen, dass er bald selbst erfahren sollte, wie es war, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Genau wie bei James war es nicht seine Schuld, aber deshalb war es nicht leichter zu verkraften.

Inzwischen glaubte Joe weder ans Schicksal noch an glückliche Zufälle. Nein, seiner Meinung nach hatte alles einen Grund. Auch seine verfluchte Zeugungsunfähigkeit, obwohl er sich noch nicht damit abgefunden hatte. Er warf einen Blick auf seine Hand, wo der Ehering gesteckt hatte. Nein, Joe wollte nicht daran, sondern lieber an das Positive denken. An das Hier und Jetzt. Dass es geschäftlich gut für ihn lief. Dass er einen sicheren Job hatte.

Gerade erst hatte er einen neuen Vertrag über fünf Jahre mit der Hollywood Hills Klinik unterzeichnet. War er nicht auch eine Hollywood-Erfolgsgeschichte? Mit gerade einmal achtundzwanzig besaß er ein eigenes Unternehmen und arbeitete für die renommierteste Klinik der Stadt. Doch wie konnte er von Erfolg reden, wenn der Rest seines Lebens in Trümmern lag?

James Rothsberg kam persönlich an den Krankenwagen, begleitet von einem weiteren Arzt, einer Krankenschwester und einem Pfleger. Der Leiter der Hollywood Hills Klinik war etwas größer als Joe, stand ihm mit seinem athletischen, durchtrainierten Körper in puncto Fitness jedoch in nichts nach. Was sein Aussehen betraf, so fand Joe, dass er in einer völlig anderen Liga spielte.

In der Regenbogenpresse schwärmte man von dem Sohn zweier Hollywood-Größen, er sei ein „Adonis im Arztkittel“. Ja, er sah klasse aus, ein charmanter, weltgewandter Beau, von dem Frauen träumten und mit dem Männer sofort tauschen würden. Joe scheute sich nicht zuzugeben, dass er ihn aufrichtig bewunderte. Der Arzt leitete eine Privatklinik, in die die Reichen und Berühmten strömten, bereit, jeden Preis für seine schönheitschirurgischen Dienste zu bezahlen.

„James, was tun Sie denn noch hier?“

„Sie haben mich neugierig gemacht“, antwortete er. „Ich wollte Jane Doe mit eigenen Augen sehen.“

Joe schob die Rollliege aus dem Wagen, und Rick, einer der Nachtpfleger, zog am anderen Ende.

James betrachtete die bewusstlose Patientin. „Das Veilchen ist aber nicht von heute Abend.“

„Nein. Jemand hatte ihr schon übel mitgespielt, bevor sie ausgeraubt wurde.“

„Apropos – die Polizei hat gerade angerufen. Sie werden gleich hier sein, um Ihre Aussage aufzunehmen.“ James tippte auf seinen Arm. „Vorher möchte ich mir Ihre Verletzung genauer ansehen, okay?“

Joe zögerte. Sollte er sich um Dornröschen kümmern oder erst um sich selbst? Er beruhigte sich damit, dass sie hier in den besten Händen war. Außerdem kam es nicht jeden Tag vor, dass der Klinikchef einem Angestellten anbot, ihn höchstpersönlich zu verarzten.

„Danke, Doc, das ist nett.“

„Und absolut eigennützig. Ich muss doch auf meinen besten Notfallsanitäter gut aufpassen, oder?“

Noch etwas, was Joe an ihm mochte. James war bescheiden genug, um nie mit seinem Reichtum oder seinem gesellschaftlichen Status zu protzen.

Nachdem die Pflegehelferin den Verband entfernt hatte, inspizierte James die Wunde. „Also, was ist passiert?“

Während James eine Kompresse auf die Wunde drückte, die immer noch blutete, berichtete Joe.

„Wenn das so ist, muss ich Ihnen auf jeden Fall eine Tetanusspritze verpassen. Wer weiß, was so alles an diesem Messer klebte.“

„Ja, der miese Kerl war wirklich eklig.“

„Gut, dass Sie einen erfahrenen Schönheitschirurgen zur Hand haben, der den Schnitt näht. Es wäre ein Jammer, diesen perfekten Waschbrettbauch zu ruinieren.“

Joe lachte. Hartes Workout und sein Boxtraining hielten ihn fit. Besonders das Boxen hatte ihm geholfen, bei Verstand zu bleiben, als er während der Scheidung nicht nur einmal versucht war, seinen besten Freund windelweich zu prügeln. „Au!“, stieß er hervor, überrascht, wie empfindlich er reagierte, als die Pflegehelferin die Wunde reinigte.

„Au“, wiederholte er, als James die lokale Betäubung injizierte.

Der Arzt lachte. „Seien Sie ein Mann, Kumpel. Ich habe noch nicht einmal angefangen.“

Ja, sei ein Mann, zeugungsunfähig, aber ein Mann! Joe konnte ein ironisches Lachen nicht unterdrücken.

„In ein paar Minuten spüren Sie nichts mehr“, versprach James.

Natürlich kannte Joe das Prozedere. Er hatte schließlich oft genug Wunden geflickt. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war er der Patient, bei dem genäht werden musste.

„Noch einmal zurück zu der jungen Frau mit dem blauen Auge.“ James zog sterile Handschuhe über und beugte sich über das Instrumententablett. „Ich frage mich, ob sie schon vor dem Überfall intrakranielle Verletzungen hatte, die zu ihrer Bewusstlosigkeit beigetragen haben.“

„Ich hatte den gleichen Gedanken, aber sie ist mit dem Kopf wirklich hart aufgeschlagen. Hoffentlich entwickelt sie kein subdurales Hämatom.“

„Das untersuchen wir gründlich.“

„Danke. Kann sein, dass es komisch klingt, aber ich fühle mich für sie verantwortlich, seit ich das Ganze miterlebt habe. Ich war nicht schnell genug bei ihr, habe sie als Erster behandelt und so weiter. Und es macht mir Sorgen, dass wir nicht wissen, wer sie ist.“

„Da haben Sie eine Regel gebrochen, hm? Wir sollten professionelle Distanz zu unseren Patienten wahren.“

„Stimmt, und ich weiß, es ist dumm, aber …“

James hielt inne und blickte auf. „Wenn die Polizei kommt, werden wir ihnen mitteilen, dass wir unsere Jane Doe nicht nur behandeln, sondern auch hierbehalten werden, bis sie sich erholt hat.“

Einen Moment lang fehlten Joe die Worte. Die Kosten für Behandlung und Unterbringung in dieser exklusiven Klinik waren astronomisch hoch, und er wollte dem Arzt dankbar die Hand schütteln. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er sterile Handschuhe trug.

„Danke, das ist großartig.“ Joe verstummte, als er sah, wie die gebogene Nadel durch die Haut stach. Zwar fühlte er absolut nichts, aber er mochte sich auch nicht rühren.

„Wenn ich das so nähe, wird die Narbe so gut wie unsichtbar sein“, meinte James und grinste. „Andererseits könnte ich Ihnen auch aus dem Sixpack ein Sevenpack machen.“

Joe musste an eine Fernsehserie denken, während er sich krampfhaft das Lachen verbiss. Der Titel: „Es tut nur weh, wenn ich lache.“

Zwei Stunden später hatte die Polizei einen umfangreichen Bericht aufgenommen. Leider konnten sie bisher niemanden ausfindig machen, auf den die Beschreibung zweier Zeugen passte. Auch von Jane Does Umhängetasche fehlte jede Spur.

Seufzend schüttelte Joe den Kopf. Sie würde Madam X bleiben, bis sie wieder aufwachte. Was hoffentlich bald der Fall sein würde.

„Einen kleinen Hinweis haben wir allerdings“, fügte der Beamte hinzu.

„Und welchen?“ Erwartungsvoll sah Joe ihn an.

„Eine Krankenschwester fand in der Jeans der Patientin ein Busticket. Falls es mit Kreditkarte bezahlt wurde, können wir das zurückverfolgen und darüber ihre Identität feststellen.“

„Sehr gut. Und wenn sie bar bezahlt hat?“

„Das könnte darauf hindeuten, dass sie nicht gefunden werden will.“

„Was zu den Blutergüssen passen würde.“

„Richtig. In jedem Fall lässt sich der Ursprung des Fahrscheins klären, also in welcher Stadt sie in den Bus gestiegen ist. Aber sie müsste doch bald aufwachen, oder?“

Joe blickte zu ihr hinüber. Sie trug inzwischen eins der schicken Krankenhaushemden der Klinik, hatte einen i. v.-Zugang im Arm und lag friedlich da wie ein schlafendes Kind.

„Schwer zu sagen bei einer Gehirnerschütterung und möglicherweise einem Hirnödem. Soweit ich weiß, schließen die Ärzte eine Operation noch nicht aus.“

Der junge Polizist nickte teilnahmsvoll. „Okay, wir bleiben in Verbindung.“ Er gab Joe seine Karte. „Wenn sie aufwacht, oder falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Ich werde mich melden, sobald es etwas Neues gibt.“

„Danke.“

Ein Stationshelfer und eine Krankenschwester rollten Jane an Joe vorbei.

„Wo geht’s hin?“

„In ihr Zimmer auf der Überwachungsstation. Sie kommt in 17A.“

Auf dieser Station wurden Patienten betreut, die eine besondere Pflege brauchten. Unter der Leitung von Dr. Di Williams lief die Abteilung wie eine geölte Maschine. Für Jane war also gut gesorgt.

Trotzdem … Joe traf eine spontane Entscheidung. Heute Abend würde er nicht nach Hause fahren. Vorausgesetzt, dass James und Di einverstanden waren, wollte er an Ort und Stelle abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.

Eine Viertelstunde später lag Dornröschen in einem luxuriösen Einzelzimmer, das eher in ein nobles Wellnesshotel gepasst hätte als in ein Krankenhaus. Die einzigen Hinweise waren das Bettgitter und die hinter großen Vasen und üppigen Blumenarrangements verborgenen Monitore. Die geschmackvolle Farbgebung in Beige, Weiß und Creme wirkte beruhigend, doch Joe verspürte keine Müdigkeit. Stattdessen saß er in dem bequem gepolsterten Sessel am Bett und betrachtete seinen schlafenden Schützling.

Wo kommst du her? Was hast du erlebt? Es waren nicht die einzigen Fragen, die er sich stellte. Eine betraf ihn selbst. Warum fühlte er sich für sie verantwortlich? Weil sie vollkommen schutzlos war, nahezu ausgeliefert und zutiefst verletzlich? Ja, er kannte das Gefühl, und deshalb musste neben einer Krankenschwester noch jemand auf sie aufpassen. Zumindest, bis man herausgefunden hatte, wer sie war, damit man ihre Familie benachrichtigen konnte.

Das blaue Auge und die hässlichen Spuren an den Armen deuteten auf häusliche Gewalt hin. Wahrscheinlich war sie von dem Mann, den sie einmal geliebt haben musste, verprügelt worden.

Unwillkürlich rieb Joe über seinen Ringfinger, während er sich daran erinnerte, wie sehr Liebe wehtun konnte.

2. KAPITEL

Eine feste Hand katapultierte Joe aus seinem träumerischen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Er hatte gelächelt, schwebend, dahintreibend in unendlichen Weiten.

Der Griff an seine Schulter löste einen Adrenalinstoß aus, der seinen Puls hochjagte. Joe fuhr hoch, schlug die Augen auf. In weniger als einer Sekunde erinnerte er sich, wo er war, wandte den Kopf und starrte die ältere Nachtschwester an.

Autor

Lynne Marshall
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