Nur einen Kuss vom Glück entfernt

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"Du wirst mich heiraten, sonst …." Ellie traut ihren Ohren nicht. Nikolai erpresst sie! Sicher, sie würde alles für seine kleine Nichte tun. Aber niemals das Bett mit dem attraktiven Russen teilen - oder doch? Wenn sein Kuss bloß nicht so unvergesslich wäre …


  • Erscheinungstag 13.03.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773335
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Kannst du dich erinnern, was passiert ist, Elizabeth?“

Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu ihr zu dringen, wie in einem Traum. Ellie schwebte zwischen Schlafen und Wachen, ihr Bewusstsein schwand und kehrte zurück, wie es ihm gerade gefiel. Sich zu konzentrieren war so gut wie unmöglich. Aber eigentlich wollte sie sich auch gar nicht konzentrieren. Lieber zog sie sich zurück in den warmen, weichen Wattebausch der Bewusstlosigkeit, in dem sie sich geborgen fühlte. Am liebsten hätte sie sich für immer dorthin zurückgezogen, denn dort war sie vor der verstörenden Wirklichkeit sicher. Jedes Mal, wenn sie zu sich kam, ergriff sie kalte Panik.

Etwas Schlimmes musste passiert sein. Warum wollte dieser Mann, dass sie sich erinnerte? Für einen kurzen Moment richtete sie den Blick direkt auf sein düsteres markantes Gesicht. Schnell schloss sie die Augen wieder. Der zusammengepresste Mund, der unbarmherzige Ausdruck, die vorwurfsvollen Augen – sie ertrug es nicht. Warum fühlte sie sich unter seinem Blick so schuldig? Als ob sie etwas Furchtbares getan hätte – etwas wirklich Furchtbares. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte …

Aber vielleicht war es besser, dass sie es nicht konnte. Gnädig erlöste sie die Bewusstlosigkeit ein weiteres Mal von den quälenden Fragen. Sie lag im Krankenhaus – so viel wusste sie. Und dieses Wissen reichte ihr vorläufig völlig.

Er war wieder da – oder noch immer. Sein schwarzer Anzug verstärkte den finsteren und bedrohlichen Eindruck noch, den er auf sie machte. Trauerte er um jemanden? Fast schien es so. Wieso stand er jedes Mal, wenn sie die Augen öffnete, an ihrem Bett? Worauf wartete er?

Vage hatte sie das Gefühl, dass eine persönliche Verbindung zwischen ihr und diesem Mann bestand. Sie spürte, dass die Erinnerung zum Greifen nahe lag, doch sie entzog sich ihr jedes Mal, wenn sie die Hand danach ausstreckte. Was blieb, war das ungute Gefühl, etwas Schreckliches getan zu haben oder zumindest dafür verantwortlich zu sein. Bewusst vermied sie, sich auszumalen, was es sein könnte, und ließ stattdessen den Blick durch das nüchtern eingerichtete Zimmer wandern. Die Wände waren in nichtssagendem Beige gestrichen. Die Luft war erfüllt von dem typisch schalen Krankenhausgeruch, der alles zu durchdringen schien. Der untere Teil ihres Körpers fühlte sich seltsam schwer an. Sie blickte an sich hinab und sah zum ersten Mal, dass ihre Beine eingegipst waren. Leise stöhnte sie auf, presste ihre Wange ins Kissen und schloss wieder die Augen.

Wenige Tage später erwachte Ellie und blickte in ein Gesicht, an das sie sich tatsächlich erinnerte: das ihres Vaters.

„Keine Sorge, Kleines.“ Er tätschelte ihre Hand, als sei sie ein hilfloses Kind. „Dein alter Herr weiß, was zu tun ist. Ich werde dich so schnell wie möglich hier wegbringen. Wie man verschwindet und untertaucht, damit kennt Tommy Barnes sich aus. In zwanzig Jahren habe ich da den einen oder anderen Kniff gelernt!“

„Der Visagist ist jetzt bereit für Sie, Dr. Lyons. Susie bringt Sie hin.“

Ellie konnte nicht gerade behaupten, dass es sie sonderlich begeisterte, in einer dieser dämlichen Nachmittagstalkshows aufzutreten. Ebenso wenig erfreute sie die Bezeichnung, die ihr die Londoner Medien verpasst hatten, seit sie dem drogenabhängigen Sohn eines bekannten Politikers geholfen hatte, der obdachlos auf der Straße gelandet war: „die Pferdeschwanz-Psychologin“. Das klang, als sei sie erst fünfzehn – eine Vorstellung, die Ellie mit Grauen erfüllte. Nie wieder wollte sie ein so junges und unerfahrenes Ding sein. Mittlerweile war sie überzeugt, dass zumindest einige Dinge mit dem Alter besser wurden. Ihr Lebensweg war zwar manchmal steinig und steil gewesen, mit vielen unerwarteten Wendungen, gleichwohl hatte sie alle Hindernisse bewältigt und etwas im Leben erreicht.

Die größte Überraschung war gewesen, dass ihr Vater ihr geholfen hatte, wenn auch auf die ihm eigene chaotische und unkonventionelle Art. Nach dem Unfall vor fünf Jahren hatte er ihr beigestanden, und der Umzug von London nach Schottland war eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen. Mit frischem Elan hatte sie ihr Psychologiestudium abgeschlossen, sodass sie endlich die Arbeit machen konnte, die sie sich schon immer gewünscht hatte.

Dann, vor etwa einem Jahr, hatte sich die Möglichkeit ergeben, nach London zurückzukehren und im East End in einem Hilfsprojekt für Jugendliche mitzuarbeiten, die auf der Straße lebten. Das Projekt lag ihr sehr am Herzen. Nur zu gut kannte sie das Gefühl, einsam und verlassen zu sein, weshalb sie alles tat, den Jugendlichen so viel zu helfen wie möglich. Aber zumindest diese Woche – eventuell auch länger – wohnte und arbeitete sie nicht im armen Osten Londons, sondern im Süden der Stadt, in Chelsea. Dort hatte sie der Sender, für den sie in einem mehrteiligen Talkshow-Special über die lächerlichen Teenagerprobleme der Kinder einiger B-Promis auftrat, in einem kleinen, aber feinen Hotel untergebracht.

Eigentlich hätte sie auch gut ohne diese zusätzliche Verpflichtung leben können. Die kleine Praxis, die sie in Hackney eingerichtet hatte, lief immer besser. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, ihre Arbeit in der Unterkunft für obdachlose Jugendliche zu vernachlässigen. Schließlich war es dort, wo sie tatsächlich etwas ausrichten, Menschen in Not helfen konnte. Genau dafür hatte sie das schwere Studium auf sich genommen. Aber die Bezahlung für diesen Fernsehjob war einfach zu gut, um darauf zu verzichten. So hatte die ungewollt erlangte Berühmtheit wenigstens ein Gutes: Sie half, die magere Finanzierung für das Projekt aufzubessern.

Nach der Sendung fuhr Ellie zurück ins Hotel. Kaum war sie durch die Drehtür ins Foyer getreten, winkte die Rezeptionistin sie heran. Die junge Frau mit den kurzen auberginefarbenen Haaren trug eine makellos gebügelte Uniform. Sie sagte: „Sie haben einen Besucher, Dr. Lyons. Er wartet in einem der Konferenzzimmer auf Sie, dort sind Sie ungestört. Zimmer Nummer eins, einfach den Korridor entlang.“

Misstrauisch runzelte Ellie die Stirn. Sie hatte erfahren müssen, dass in ihrem Beruf eine gewisse Vorsicht anbracht war. Die Natur ihrer Tätigkeit brachte es mit sich, dass Patienten oder deren Angehörige manchmal wütend wurden und versuchten, sie außerhalb der Praxis abzufangen, um ihr die Meinung zu sagen. Sie war alles andere als in der Stimmung, einen empörten Zuschauer oder wütenden Verwandten eines Patienten zu besänftigen.

„Wer ist es?“, fragte Ellie.

Die junge Angestellte warf ihr einen vielsagenden, beinahe bewundernden Blick zu. Er schien zu besagen, dass es sich nicht um irgendwen handele. Ellie konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken.

„Mr Nikolai Golitsyn“, antwortete die Rezeptionistin mit wichtiger Miene.

„Sind Sie sicher?“, fragte Ellie erstaunt zurück, mit einem Mal hellwach.

Unversehens wurden ihre Knie weich wie Butter. Alle Kraft schien aus ihrem Körper zu schwinden. Für einen kurzen Augenblick drehte sich ihr alles vor Augen. Nikolai Golitsyn … Der Name des Mannes, der sie bis in ihre Träume verfolgte und der ihr das Leben noch schwerer gemacht hatte als ihr unzuverlässiger Vater. Obwohl sie sich davor ängstigte, ihn wiederzusehen, regte sich jenseits der Angst eine leise Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die über die Jahre nie nachgelassen hatte.

„Selbstverständlich bin ich sicher, Dr. Lyons!“, erwiderte die junge Frau beinahe beleidigt.

Ellie biss sich nervös auf die Lippe. Wie hat er mich nach all den Jahren gefunden? Ihr Vater hatte alle Spuren sorgfältig verwischt und sie sogar dazu überredet, den Mädchennamen ihrer Mutter anzunehmen und „Elizabeth“ offiziell zu „Ellie“ zu verkürzen. Aber natürlich war es angesichts ihrer Medienpräsenz in der letzten Zeit nicht auszuschließen gewesen, dass ihr ehemaliger Arbeitgeber sie aufspürte. Von Zeit zu Zeit hatte sie besorgt darüber nachgedacht.

Sie tastete nach ihrem blonden Pferdeschwanz. Ihre Finger zitterten, was sie kaum überraschte. „Danke“, murmelte sie.

„Gern geschehen!“ Der Anflug von Ärger in der Stimme der jungen Frau war verflogen – sie lächelte wieder breit und strahlend.

Sie lächelt wie jemand, der liebevoll behütet in einer intakten Familie aufgewachsen ist, dachte Ellie. Mit Freunden, die einen auffangen, wenn es mal nicht so gut läuft. Sie wird noch lernen, dass das Leben auch hart sein kann. Leichter Neid stieg in ihr auf. Noch einmal fuhr sie sich mit der Hand übers Haar und ordnete ein paar lose Strähnen, die sich aus dem Haarband gelöst hatten. Dann strich sie den Stoff ihres eleganten schwarzen Hosenanzugs glatt und machte sich auf den Weg zum Konferenzzimmer. Sie fühlte sich wie ein Häftling auf dem Weg zur Verurteilung, und dieses Gefühl gefiel ihr gar nicht.

„Hallo.“ Die alltägliche Begrüßung, die ihr völlig automatisch über die Lippen kam, klang falsch und unpassend.

Der Mann saß an dem langen polierten Konferenztisch und trommelte laut mit den Fingern darauf, als sei seine Geduld schon vor Stunden erschöpft gewesen. Als Ellie eintrat, erhob er sich. Seine Präsenz war beeindruckend, mit einem Mal war die Luft wie elektrisiert. Er war groß und durchtrainiert, dabei wirkte er gleichzeitig schlank. Der maßgeschneiderte Anzug brachte seine breiten Schultern vorzüglich zur Geltung, und unter dem teuren Stoff ließen sich feste Muskeln erahnen. „Beeindruckend“ war eigentlich eine Untertreibung – er wirkte einschüchternd. Dieser Mann hätte einer Armee aus hartgesottenen Söldnern Respekt eingeflößt.

Vor allem aber fühlte sich Ellie emotional bedroht, was sie zutiefst beunruhigte. Sie holte tief Luft, um sich wieder zu fangen. Beim Anblick der militärisch kurzen blonden Haare und des glatten Gesichts war Ellies erster Gedanke, dass die letzten Jahre spurlos an ihm vorübergegangen waren – wenn da nicht dieser bittere Zug um den Mund und die hervorstechenden Wangenknochen gewesen wären.

„Elizabeth.“

Seine kalten blauen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen und schienen Ellie mit dem Blick zu durchbohren. Unwillkürlich lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken.

„Eigentlich möchte ich lieber Ellie genannt werden. So heiße ich nämlich mittlerweile.“ Ihre Stimme klang verschüchtert. Sie verachtete sich dafür, konnte aber nichts daran ändern. Wo zum Teufel war ihre professionelle Selbstbeherrschung, wenn sie sie brauchte?

„Das glaube ich gerne.“ Der Russe verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. „Bestimmt hättest du dich am liebsten für den Rest deines Lebens versteckt, jedenfalls vor mir. Aber du hattest keine Chance, von Anfang an nicht. Übrigens hast du mir sehr geholfen, indem du dich so ins Licht der Öffentlichkeit gedrängt hast. Es hat mich ziemlich überrascht, muss ich zugeben, aber wahrscheinlich warst du nach der langen Zeit einfach sicher, dass ich die Suche längst aufgegeben hätte. Bedank dich bei deiner Eitelkeit dafür, dass ich dich gefunden habe!“

Die Züge seines attraktiven Gesichts wurden kalt und hart wie Stein. Ellie fröstelte. Eigentlich hatte sie längst ein heißes Bad nehmen wollen. Es war nicht geplant gewesen, Auge in Auge dem Mann gegenüberzustehen, der sie vor fünf Jahren beschuldigt hatte, seinen Bruder getötet zu haben. Und wegen dem sie aus ihrer Heimatstadt London geflohen war.

Ihre Kehle fühlte sich ausgedörrt an. Sie sehnte sich nach einem kühlen Glas Wasser. „Ich muss mich vor nichts und niemandem verstecken!“, entgegnete sie heftig. „Der einzige Grund, warum ich damals gegangen bin, war der, dass mein Vater sich Sorgen um mich gemacht hat. Er wollte, dass ich an einem Ort bin, an dem ich mich von meinen Verletzungen erholen und wieder ganz gesund werden kann!“

„Das war wohl kaum der einzige Grund. Warum sonst die Namensänderung? Dr. Lyons?“ Die Ironie und Verachtung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Nikolai kam auf sie zu.

Ellie stand wie gelähmt da. Nun sehnte sie sich nicht mehr nach einem Glas Wasser, sondern nach einem Wunder, das sie auf der Stelle unsichtbar machte. Doch auch das hätte sie nur zeitweilig gerettet, das wusste sie. Es war besser, sich ihren Dämonen zu stellen, so furchterregend sie auch sein mochten.

Sie raffte ihren Mut zusammen. Nein, sie würde keine Angst zeigen! Doch leider war das leichter gesagt als getan. Schon vor fünf Jahren, als seine Haare noch länger und seine Züge weniger streng gewesen waren, hatte sie bei Nikolai Golitsyn stets das Gefühl gehabt, auf der Hut sein zu müssen. Er hatte etwas Herausforderndes, etwas Geheimnisvolles an sich, das ihre Muskeln in Spannung versetzte, wann immer er in der Nähe war. Sein Bruder Sasha hatte sie einmal gewarnt, dass Nikolai auch erschreckend kalt und erbarmungslos sein könne, sollte sie es sich mit ihm verscherzen. Anderen zu vergeben sei nicht besonders typisch für ihn. Besser, man mache ihn sich nicht zum Feind.

Aber es hatte sie nicht gewundert, dass gerade Sasha ihr das erzählte. Er hatte seinen erfolgreichen Bruder stets beneidet. Er selbst gewann mit seinem leichten Charme zwar schnell Freunde, aber sein älterer Bruder wurde von allen Seiten für seine Verlässlichkeit und seinen unermüdlichen Fleiß bewundert, und genau diese Art von Respekt hatte Sasha nie erfahren. Das war Ellie schon am ersten Tag klar gewesen, als sie ihre Aufgabe als Kindermädchen für das Baby von Sasha und ihrer Schwester Jackie, die während der Geburt gestorben war, übernommen hatte.

Gut erinnerte sie sich noch daran, wie die Wände gewackelt hatten, wenn die beiden Brüder sich stritten. Aber trotz allem, was Sasha über seinen Bruder gesagt hatte, war es in ihrer Erinnerung immer Nikolai gewesen, der den ersten Schritt zur Versöhnung getan hatte.

„Was willst du von mir?“, fragte sie, während ihr Herz immer wilder hämmerte, je näher er ihr kam.

„Fragst du das im Ernst? Nach allem, was passiert ist?“

Außer seiner Muttersprache Russisch sprach er noch mehrere andere Sprachen, und sein Englisch war nahezu perfekt. Jetzt jedoch klang deutlich ein russischer Akzent durch. Und darunter kochte die Wut – Wut, die sich erbarmungslos gegen sie richtete.

„Es ist furchtbar, was mit Sasha passiert ist“, antwortete sie mit unsicherer Stimme. „Wir können gerne darüber sprechen, aber ich glaube nicht, dass ich dir etwas Neues erzählen kann.“

„Tatsächlich?“

„Nikolai, ich kann verstehen, wie hart die Jahre seit Sashas Tod für dich gewesen sein müssen. Aber ich habe immer gehofft, du würdest eines Tages einsehen, dass ich nicht schuld an dem Unfall war.“

„So, so, das hast du also gehofft … Dann muss ich dir leider sagen, dass diese Hoffnung völlige Zeitverschwendung war! Anstatt damals nach der gerichtlichen Untersuchung mit mir zu reden, wie es sich gehört hätte, oder dich wenigstens zu versichern, ob es deiner Nichte gutging, bist du lieber mit deinem zwielichtigen Vater abgehauen! Seitdem hast du offensichtlich ein ganz angenehmes Leben geführt. Klar, das willst du jetzt natürlich nicht verlieren! Aber verlass dich nicht darauf! Seit Sashas Tod ist kein Tag vergangen, an dem ich mir nicht das Hirn zermartert hätte, wieso du damals eingewilligt hast, ihn zu fahren. Noch dazu in meinem Wagen und obwohl du gerade erst den Führerschein gemacht hattest! Dabei hatte ich ihm ausdrücklich gesagt, er soll sich nicht vom Fleck rühren, bis ich zurückkomme! Glaub mir, ich bekomme die Antwort auf diese Frage noch!“

Nikolai hatte ihr am Tag der Untersuchung ganz ähnliche Worte ins Gesicht geschrien, bis ihr Vater den Arm um sie gelegt und sie lautstark verteidigt hatte. „Lass sie in Ruhe!“, hatte er zurückgebrüllt. „Meinst du nicht, sie hat genug durchgemacht?“

„Aber ich kann dir immer noch keine Antwort geben“, erwiderte Ellie leise. „Du weißt doch, dass ich eine Kopfverletzung hatte und mich an den Tag nicht erinnern kann. Es tut mir leid, dass meine Erinnerung bis heute nicht zurückgekehrt ist, aber so ist es. Die Ärzte im Krankenhaus haben gesagt, mein Gedächtnis könnte irgendwann ganz plötzlich zurückkehren – oder auch nie. Und das ist die Wahrheit, auch wenn du sie nicht glauben willst!“

„Wie praktisch für dich!“, fuhr er sie an.

Ellie rang die Hände vor der Brust. Nikolais Ausbruch verletzte sie tief. Glaubte er wirklich, es sei leicht für sie zu akzeptieren, dass ein kompletter Tag einfach so aus ihrem Gedächtnis ausradiert worden war? Wie schlimm auch immer dieser Tag gewesen sein mochte. Mancher hätte den Gedächtnisverlust vielleicht als Segen betrachtet, aber sie wurde seit damals unablässig von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt. Denn auch sie verstand ganz und gar nicht, was sie zu der Fahrlässigkeit bewegt hatte, sich so kurz nach ihrer Führerscheinprüfung hinter das Steuer eines Autos zu setzen. Mit zwei weiteren Menschen im Wagen.

Sasha war immer ein Charmeur gewesen, keine Frage, aber auch unberechenbar und manchmal etwas zu draufgängerisch. Dann hatte der Verlust Jackies ihn endgültig aus der Bahn geworfen. Er hatte keinerlei Anstalten gemacht, sich um seine kleine Tochter zu kümmern und ihr die Mutter zu ersetzen. Wäre Nikolai nicht eingeschritten und hätte Arina ein Zuhause gegeben, wäre ihr familiäre Wärme und Nähe wohl versagt geblieben, da war sich Ellie sicher. Aber am meisten hatte sie damals Sashas auffälliges Suchtverhalten beunruhigt, daran erinnerte sie sich noch gut.

„Von wegen praktisch!“, rief sie. „Wie kannst du so etwas behaupten? Glaubst du, ich habe keine Narben davongetragen? Und damit meine ich nicht nur die Narben an meinem Körper!“

„Natürlich, Dr. Lyons, mit psychischen Traumata kennen Sie sich bestimmt bestens aus. Besonders mit solchen, die mit extremer Schuld zu tun haben!“

Verunsichert wich Ellie vor Nikolai zurück. Er schien seinen Zorn kaum noch unter Kontrolle halten zu können. Doch auch ihr fiel es immer schwerer, die Fassung zu bewahren. Alte Wunden brachen in ihr auf und versetzten ihre Gefühle in Aufruhr.

„Ich bestreite gar nicht, dass ich Schuld trage“, fuhr sie fort. „Aber deswegen, weil ich Arina verlassen habe, und nicht wegen des Unfalls. Wieso sollte ich mich einfach so schuldig bekennen, wo ich mich doch an nichts erinnern kann?“

„Mein Bruder war erst achtundzwanzig, verdammt! Sein Tod war so sinnlos! Ich kann diese Sache nicht abschließen, bevor ich nicht weiß, warum er sterben musste. Was soll ich denn seiner Tochter sagen, wenn sie groß ist? Hast du auch einmal daran gedacht?“

Ellie war wie betäubt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Am schlimmsten ist nicht einmal, dass er tot ist. Nicht nur, dass du sein Leben riskiert hast, als du dich hinters Steuer gesetzt hast, nein, du hast auch noch Arina mitgenommen! Sie war ein Baby! Was ist damals eigentlich in deinem Kopf vorgegangen?“

Wie durch ein Wunder hatte Arina den schrecklichen Unfall, bei dem ihr Vater umgekommen und ihre Tante schwer verletzt worden war, unbeschadet überstanden. Sie war in ihrem Kindersitz auf der Rückbank sicher angeschnallt gewesen und hatte keinen Kratzer abbekommen, als bei der Kollision der vordere Teil des Wagens völlig zerstört worden war. Seit dem Tag des Unfalls hatte sich Ellie oft unter Tränen bei dem Schutzengel bedankt, der Arina damals behütet hatte.

„Was soll ich noch sagen?“, fragte sie. „Ich war Arinas Kindermädchen, und ich habe die Aufgabe sehr ernst genommen. Ich hätte sie niemals in Gefahr gebracht!“

„Und trotzdem hast du genau das getan, oder? Sie hätte sterben können wie ihr Vater!“ Nikolai warf ihr einen vernichtenden Blick zu, der Ellie durch Mark und Bein ging. Sie fühlte sich elend und wäre am liebsten auf der Stelle tot umgefallen.

Doch dann rief sie sich zur Vernunft. Hatte sie nicht bereits mehr als genug gelitten? Es war sinnlos, immer wieder in die Vergangenheit zurückzukehren. Das Leben ging weiter, so hart es auch klang, selbst für sie. Aber Nikolai schienen die Ereignisse von vor fünf Jahren immer noch nicht loszulassen. Er suchte die Schuld immer noch bei ihr, wollte sie für das bestrafen, was seinem Bruder widerfahren war.

Ellie verschränkte die Arme und schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich hätte es nie zugelassen, dass irgendwer oder irgendetwas Arina wehtut. Sie war doch noch so klein und verletzlich. I … ich …“

„Was?“

„Sie war wie eine Tochter für mich! Ich habe sie geliebt … und das tue ich immer noch.“

Doch Nikolai schien das nicht zu überzeugen. Ihre Empathie und Erfahrung als Psychologin sagten ihr, dass dieser Mann seelisch litt. Das durfte sie nicht vergessen. Er hatte seinen einzigen Bruder verloren und dann noch den Schock verkraften müssen, dass auch seine kleine Nichte mit im Unfallwagen gewesen war. Sie musste ihm seinen Zorn verzeihen. Aber war es nicht auch an ihm, ihr zu verzeihen und einzusehen, dass fünf Jahre vergangen waren? Was erwartete er von ihr? Sollte sie auf ein eigenes Leben verzichten, bloß weil sie überlebt hatte und Sasha nicht? War das die Strafe, auf die Nikolai aus war? Ganz offensichtlich missgönnte er ihr den Erfolg, den sie seit dem Unfall gehabt hatte.

„Ich kann wirklich verstehen, dass du wissen willst, was passiert ist“, sagte sie und sah ihn verständnisvoll an. Hoffnung keimte in ihr auf: Vielleicht hatte er doch eine weiche Seite, an die sie appellieren konnte? Oder war der Gedanke völlig abwegig?

Nikolai Golitsyn war ihr immer ein Rätsel gewesen. Einerseits war er reserviert und beherrscht, mitunter barsch. Eiskalt. Als Ellie begonnen hatte, für ihn zu arbeiten, hatte sie sich oft gefragt, wie man diesen dicken Panzer aus Eis, mit dem er sich umgab, wohl durchdringen könne. Allerdings hatte sie ihn einige Male auch ganz anders erlebt: warm und herzlich, besonders, wenn er seine Nichte besuchte. Der Gedanke, dass sich hinter der kalten Fassade ein warmes Herz verbarg, hatte sie angezogen und fasziniert. Beunruhigend stark fasziniert …

Nikolai schob die Hände in die Taschen und seufzte, jedoch ohne eine Spur von Mitgefühl. „Egal, ob du dein Gedächtnis wiederfindest oder nicht – wir beide haben noch eine Rechnung offen!“ Er presste die Zähne aufeinander, sodass seine Kiefermuskeln hervortraten. „Du wirst die Konsequenzen für dein Davonlaufen tragen – das ist dir hoffentlich klar.“

Ellie erbleichte. „Konsequenzen?“

„Genau. Aber ich muss jetzt gehen. Ich habe für später einen Tisch im Hotelrestaurant reserviert. Wir unterhalten uns beim Abendessen weiter. Und ich akzeptiere keine Widerworte!“

Autor

Maggie Cox
<p>Schreiben und Lesen gingen bei Maggie Cox schon immer Hand in Hand. Als Kind waren ihre liebsten Beschäftigungen Tagträumen und das Erfinden von Geschichten. Auch als Maggie erwachsen wurde, zu arbeiten begann, heiratete und eine Familie gründete blieben ihre erfundenen Heldinnen und Helden ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Was immer...
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