Paddington Kinderkrankenhaus - Ärzte zum Verlieben (6-teilige Serie)

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Begleiten Sie in dieser Serie die Ärzte des Paddington Kinderkrankenhauses - zwischen großer Verantwortung und großer Liebe.

NUR EINE NACHT MIT DR. MACBRIDE?
Feuer in einer Grundschule! Bis zum Rand ihrer Kräfte versorgt die hübsche Sanitäterin Victoria mit Dr. Dominic MacBride die Kinder. Doch für sie selbst kommt jede Rettung zu spät. Denn zwischen ihr und dem sexy Arzt ist etwas geschehen, das ihr Leben für immer ändern wird …

DER UNWIDERSTEHLICHE DR. NORTH
Eine Fortbildung in London: Für die junge Ärztin Claire geht ein Traum in Erfüllung! Aber ihr neuer Boss, der renommierte Neurochirurg Alistair North, ist eine echte Herausforderung. Statt ihr etwas beizubringen, wagt der umschwärmte Playboy-Doc, sie heiß zu küssen …

DIE KRANKENSCHWESTER UND DER HERZOG
Um attraktive Männer macht Schwester Rosie einen Bogen - das letzte Desaster mit einem Betrüger hat ihr gereicht. Doch warum flattert ihr dummes Herz bei dem neuen Kinderarzt Leo Marchetti? Sie ist gewarnt: Attraktiver als dieser adlige Italiener kann ein Mann nicht sein …

EIN CHIRURG ZUM VERLIEBEN
Hand in Hand kämpfen sie um das Leben von Quinns Pflegesohn: Matthew McGrory fasziniert die Lehrerin über alle Maßen. Könnte der Chirurg vielleicht auch ihr gebrochenes Herz heilen? Aber Matthew will keine Familie - es scheint, dass Quinn ihren Traum vom Glück begraben muss …

DIE ÄRZTIN UND DER SCHEICH
"Helfen Sie meiner Tochter!" Die schöne Chirurgin Robyn Kelly ist tiefbewegt von Scheich Idris Al Khalils Flehen. Ja, sie wird die kleine Amira operieren, um ihre Taubheit zu heilen. Aber was der feurige Wüstenprinz mit ihrem eigenen Herzen anstellt, muss ihr Geheimnis bleiben …

HABEN SIE KEIN HERZ, DR. WOLFE?
Als Dr. Thomas Wolfe mit seiner Ex-Frau Rebecca zusammenarbeitet, merkt er gleich: Er begehrt sie noch immer! Allerdings hat ihre Beziehung nur eine neue Chance, wenn er endlich um ihre tote Tochter trauert. Kann er es wagen, die schützende Mauer um sein Herz einzureißen?


  • Erscheinungstag 31.01.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739225
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Carol Marinelli, Fiona Lowe, Kate Hardy, Karin Baine, Annie O'neil, Alison Roberts

Paddington Kinderkrankenhaus - Ärzte zum Verlieben (6-teilige Serie)

IMPRESSUM

Nur eine Nacht mit Dr. MacBride? erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2017 by Harlequin Books S. A.
Originaltitel: „Their One Night Baby“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 106 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Karin Klas

Umschlagsmotive: FlyMint Agency_Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733739102

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Hallo, meine Hübsche!“

Victoria lächelte freundlich, als sie mit ihrem Kollegen Glen das Wohnzimmer betrat. Dort lag die sechsjährige Penny Craig auf dem Sofa. Im Flur hatte Victoria bereits mit ihrer Mutter Julia gesprochen. Normalerweise würden zwei Sanitäter in ihren grünen Uniformen eine Sechsjährige wohl erschrecken, aber Penny war leider daran gewöhnt.

„Victoria!“

Obwohl es Penny nicht gut ging, richtete sie sich ein Stück auf, und ihre großen grauen Augen leuchteten. Sie freute sich ganz offensichtlich, dass ihre Lieblingssanitäterin gekommen war, um sie in das Paddington Children’s Hospital zu fahren.

„Sie hat gehofft, dass Sie heute Dienst haben.“

Victoria lächelte Julia zu und setzte sich auf die Sofakante zu ihrer Patientin. „Gestern habe ich noch gedacht, dass ich dich lange nicht mehr gesehen habe.“

„Ihr ging es in letzter Zeit wirklich gut“, sagte Julia.

Penny Craig war mit einer seltenen angeborenen Herzkrankheit zur Welt gekommen und hatte bereits einen Großteil ihres Lebens im Paddington verbracht. Ihr dunkles Haar war zu Zöpfen geflochten, und sie steckte in einem Pyjama. Darüber hatte sie sich das kleine rosa Tanzröckchen gezogen, das sie Tag und Nacht trug. Penny wollte Balletttänzerin werden. Das erzählte sie jedem.

„Aber deine Mum sagt, dass es dir heute nicht gut geht?“, fragte Victoria und fühlte Pennys Puls.

„Mir ist übel, und ich bin febril.“

Die meisten Kinder würden wohl sagen, dass ihnen schlecht sei und sie Fieber hätten, aber Penny hatte so viel Zeit mit Ärzten verbracht, dass sie sich an ihre Sprache angepasst hatte – und das mit sechs Jahren. Sie hatte tatsächlich Fieber. Als Victoria ihre Vitalwerte überprüfte, schlug das kleine Herz viel zu schnell.

„Ich habe schon mit dem Krankenhaus gesprochen. Sie kommt direkt auf die Herzstation“, sagte Julia, während Victoria ihre Tochter gründlich untersuchte. Es war kein Notfall, aber bei Pennys Geschichte war es so besser.

„Allerdings“, fügte Julia hinzu, „wollen sie ihr zuerst in der Notaufnahme die Brust röntgen.“

Was schwierig werden könnte. In der Notaufnahme mochten sie es wirklich nicht, als Durchgangsstation für das ganze Krankenhaus betrachtet zu werden. Damit musste Victoria sich öfter herumschlagen. Erst vor drei Tagen hatte sie eine hitzige Diskussion mit Dominic MacBride darüber gehabt, einem pädiatrischen Unfallchirurgen. Victoria hoffte, dass er heute Abend nicht wieder Dienst haben würde, denn sie bekamen sich oft in die Haare, wenn sie ihre Patienten auf die Station brachte.

Ganz allgemein war es im Paddington allerdings immer noch besser als in den meisten Krankenhäusern. Die Mitarbeiter waren freundlich, und die Stationen tauschten sich untereinander aus.

Außerdem war Penny ein kleiner Star.

Sie würden es einfach auf sich zukommen lassen müssen.

„Du hast hübsche Ohrringe“, sagte Penny, als Victoria ihr den Blutdruck maß.

„Danke.“

Eigentlich trug Victoria bei der Arbeit keinen Schmuck. Das war zu unpraktisch, denn sie wusste schließlich nie, was sie erwartete. Ihre langen dunkelbraunen Haare hatte sie wie immer in einem unordentlichen Knoten zusammengefasst, und natürlich trug sie bei der Arbeit auch kein Make-up.

Deswegen fielen ihre Diamantstecker auch sofort ins Auge. Sie waren ein Geschenk ihres Vaters gewesen, und Victoria trug sie nur zu besonderen Anlässen. Gestern Abend war sie auf einer Veranstaltung gewesen und hatte vergessen, sie abzunehmen.

Penny war für die Fahrt ins Krankenhaus bereit. Um sie nicht unnötig zu beunruhigen, trugen Victoria oder Glen sie meist in das Ambulanzfahrzeug, doch seit Victoria die Krankentrage einmal als Thron bezeichnet hatte, hatte Penny, die sich für Märchen begeisterte, keine Angst mehr davor. Nun wollte sie sogar selbst draufklettern. Julia überprüfte, ob sie alles dabeihatte. Ein kurzer Ausflug ins Paddington, der sich zu einem längeren Aufenthalt entwickelte, war für sie nichts Neues mehr.

„Bereit zum Abflug?“, fragte Victoria, und Penny streckte beide Daumen in die Luft. Der Frühling ließ noch immer auf sich warten, sodass draußen Dunkelheit herrschte, obwohl erst früher Abend war.

„Hat Ihre Schicht gerade erst angefangen, oder sind Sie nach uns fertig?“, fragte Julia, als Victoria sich hinten im Krankenwagen zu ihnen setzte.

„Ich bin gleich fertig“, antwortete Victoria.

„Haben Sie heute Abend etwas Schönes vor?“

„Nicht wirklich“, erwiderte Victoria und drehte sich zu Penny.

Das stimmte nicht. Denn Victoria hatte ein Date.

Ein zweites Date. Und sie fragte sich, warum sie sich darauf eingelassen hatte, obwohl das erste Date nicht besonders gut gewesen war. Ach richtig, weil sie mit Glen gesprochen und er gemeint hatte, dass man von einem ersten Date nicht zu viel erwarten sollte.

Das würde sie Julia natürlich nicht verraten. Victoria erzählte nicht vielen Menschen etwas, insbesondere nicht den Patienten. Sie war zurückhaltend, aber nicht unzugänglich, freundlich, aber nicht zu freundlich. Ihre Patienten schätzten sie für ihr professionelles Verhalten.

Im Privatleben hatte sie Freunde, aber auch die ließ sie lieber reden, statt von sich selbst etwas preiszugeben. Victoria war von niemandem abhängig.

Sie und Glen arbeiteten seit zwei Jahren zusammen, und so lange hatte Victoria auch gebraucht, um ihm überhaupt etwas Persönliches zu erzählen. Glen war ein Familienmann mit einem Mondgesicht. Er ließ sich von Victorias Verhalten nicht einschüchtern, sondern lächelte über ihren manchmal recht schroffen Umgangston. Er war glücklich mit seiner Frau Hayley verheiratet, und sie hatten vierhundert Kinder.

Na gut, vier Kinder. Glen quasselte gern über seine Familie und all die Kleinigkeiten, die seinen Alltag ausmachten. Victoria schwieg. Nicht einmal ihm gegenüber würde sie sich groß über ihr Liebesleben auslassen.

Ihr nicht vorhandenes Liebesleben.

Wie so häufig, begann Julia nun, Penny eine Geschichte zu erzählen, während sich der Krankenwagen durch den freitäglichen Berufsverkehr schob. Blaulicht und Sirene blieben ausgeschaltet. Es war nicht nötig, und Penny war an diese Fahrten schon so gewöhnt, dass sie keine Freude mehr an dem Drama hatte.

„Ich finde, es sieht aus wie ein Zauberschloss“, sagte Penny, als sie das Paddington Children’s Hospital erblickte.

Das viktorianische Gebäude aus roten Ziegelsteinen hatte mehrere Türmchen, und Victoria musste über Pennys Bemerkung lächeln. Als sie ein Kind war, hatte sie das Gleiche gedacht. Sie wusste noch, wie sie immer auf dem Rücksitz gesessen hatte, während ihr Vater auf das Krankenhaus zuraste, wo mal wieder ein wichtiger Fall auf ihn wartete.

„Es ist ja auch ein Zauberschloss“, sagte sie, und Penny grinste.

„Und Pennys zweites Zuhause“, ergänzte Julia.

So wie es auch Victorias zweites Zuhause war. Sie kannte jeden Korridor, jeden Winkel und jede Ecke. Das Türmchen, das Penny sich gerade ansah, war über eine Tür hinter den Patientenakten am Empfang zugänglich.

Lange Zeit war es Victorias Lieblingsort gewesen. Sie hatte sich hineingeschlichen, wenn niemand hinsah, und war die Spiraltreppe hinaufgeklettert. Dort oben hatte sie getanzt, geträumt oder sich Geschichten ausgedacht.

Das machte sie noch immer. Na gut, Geschichten dachte sie sich nicht mehr aus, aber ab und zu schlich sie sich noch immer davon und genoss den Ausblick über London, der ihr ganz allein gehörte.

„Wie schade, dass es geschlossen wird“, seufzte Julia.

„Das steht ja noch gar nicht fest“, erwiderte Victoria, auch wenn sie nicht überzeugt war. Der Plan, das Paddington mit dem Riverside, einem großen, modernen Krankenhaus am Stadtrand, zusammenzulegen, schien tatsächlich konkrete Formen anzunehmen.

Deswegen demonstrierten seit einigen Tagen immer wieder einige Menschen vor dem Gebäude. Still hielten sie ihre Plakate hoch, um das Krankenhaus zu retten.

Victorias Vater arbeitete mittlerweile ebenfalls im Riverside. Wenn sie sich unterhielten, ging es bei ihnen um die Arbeit. Auch die Veranstaltung gestern Abend war für ihn gewesen: Er hatte eine Auszeichnung erhalten, und in ihrem Gespräch nach der Zeremonie hatte es sich angehört, als ob der Zusammenschluss beschlossene Sache war.

Natürlich war das Grundstück, auf dem das wunderschöne alte Gebäude stand, viel wert. Letztendlich ging es doch immer ums Geld.

„Ich will nicht, dass es geschlossen wird“, sagte Penny, während sie auf die hell erleuchtete Einfahrt vor der Notaufnahme einbogen. „Hier fühle ich mich immer so sicher.“

Bei Pennys Worten spürte Victoria, wie sich in ihrem Inneren ein Knoten bildete. Auch wenn ihr Vater damals immer nur kurz bei der Arbeit vorbeischauen wollte, blieb er meist mehrere Stunden, und Victoria musste ganz allein im Paddington auf ihn warten. Doch auch sie hatte sich immer sicher gefühlt.

„Ich weiß.“ Victoria nickte Penny zu. „Aber Riverside ist ein ganz tolles Krankenhaus, und die Mitarbeiter dort sind auch sehr nett.“

„Aber es ist nicht das Gleiche.“ Penny schüttelte den Kopf, Tränen in den grauen Augen.

„Darüber musst du dir aber jetzt keine Gedanken machen.“ Victoria versuchte, sie zu beruhigen. „Und vielleicht passiert es ja auch gar nicht.“

Nur sich selbst konnte sie leider nicht beruhigen.

„Penny!“ Karen, eine Stationsschwester, erkannte das Mädchen sofort. „Du bist doch hoffentlich nicht den weiten Weg gefahren, nur um mich zu besuchen?“

„Nein.“ Penny lachte kurz auf, aber als Victoria gerade die Übergabe beginnen wollte, erhielt Karen eine Nachricht auf dem Pager. „Schon gut.“ Victoria nickte ihr zu. „Wir können warten.“

Sie standen im Flur und passten auf Penny auf. Glen sprach mit ihrer Mutter, während Victoria die erforderlichen Formulare ausfüllte.

Er war hier.

Das wusste sie.

Und obwohl sie letztes Mal so ein unangenehmes Gespräch gehabt hatten, obwohl Victoria sich gesagt hatte, dass sie hoffte, er würde nicht da sein …

Sie hatte gelogen.

Sie wollte ihn sehen.

Dominic MacBride arbeitete seit einigen Monaten im Paddington. Er kam aus Edinburgh, und dieser niederschottische Akzent ließ ihr regelmäßig einen heißen Schauer über den Rücken fahren. Oder waren es seine blauen Augen und das wirre, schwarze Haar?

Sie wusste nicht genau, warum sie Dominic so mochte. Er war unfreundlich zu den Sanitätern, und Victoria und er bekamen sich immer wieder in die Wolle.

Ständig!

Und nun kam er zu ihr herüber.

„Jetzt geht’s wieder los“, murmelte Glen. Er erinnerte sich wohl auch nur zu gut an das letzte Wortgefecht.

Victoria war sehr selbstbewusst in allem, was sie tat, und das schien Dominic ordentlich gegen den Strich zu gehen. „Werdet ihr versorgt?“, fragte er.

„Ja, danke“, antwortete Victoria. „Karen kümmert sich um uns. Sie ist gleich zurück.“

Victoria wendete sich wieder ihrem Formular zu, als Julia zu Dominic sagte: „Penny wird direkt in der Herzstation aufgenommen, aber ihre Brust soll geröntgt werden, bevor wir hochgehen.“

„Verstehe.“ Dominic nickte und stellte sich neben Victoria. Sie spürte seine Nähe und wusste, dass er ihre Aufmerksamkeit erlangen wollte, aber sie schrieb einfach weiter und ignorierte ihn.

Er hatte einen ganz unaufdringlichen Duft, Seife, Moschus und Mann, dazu Spuren der üblichen Krankenhausgerüche.

„Kann ich dich kurz sprechen?“, fragte er.

Nun sah sie auf – weit hinauf, denn er war ziemlich groß.

Er trug die dunkelblaue Krankenhauskleidung und einen Dreitagebart. Er sah aus, als hätte er sich gerade aus dem Bett gehievt oder als ob er sich unbedingt hinlegen sollte. Aber diesen Gedanken versuchte sie nicht weiterzuverfolgen.

„Klar“, sagte Victoria. Sie wollte schon patzig „Einen Moment noch“ hinzufügen, um ihren Bericht fertigzuschreiben, aber dann folgte sie ihm doch in ein kleines Nebenzimmer.

Er lehnte sich gegen ein Waschbecken, und sie stellte sich vor ihn. Nicht gerade fluchtbereit, aber doch war es so möglich, jederzeit wieder zu gehen.

„Siehst du nicht, wie viel hier los ist?“, fragte Dominic. „Wir haben keine Zeit, auch noch die Arbeit der Stationen zu übernehmen.“

„Sind nicht meine Regeln.“

„Aber du kennst die Regeln. Wenn deine Patientin direkt aufgenommen wird, kann sie auch gleich auf die Station und dort in einem gemütlichen Bett warten.“

Victoria antwortete nicht. Sie wussten beide, dass Penny ganz inoffiziell in der Reihe derjenigen, die auf das Röntgen warteten, nach vorne geschoben werden würde, damit sie so schnell wie möglich auf die Station käme.

Dieses Zimmerchen war sehr klein.

Im Gegensatz zu Dominic.

Victoria musste seinen intensiven Blick erwidern. Sie stellte sich der Herausforderung.

Er sah sie wütend an. „Ich musste gerade einem Vater erklären, dass sein Sohn drei Stunden aufs Röntgen warten muss. Deine Patientin macht das nicht besser.“

„Was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte Victoria.

Sie schob ihm die Verantwortung für das Problem zu, denn auch wenn Penny auf der Herzstation ein gemütliches Bett haben würde, würde sie dort noch viel länger auf das Röntgen warten müssen. Vielleicht würde sie erst gegen Mitternacht in die Radiologie gebracht werden.

„Es reicht nicht, einfach einen Antrag auszufüllen“, sagte Dominic. „Sie sollte vorher untersucht werden. Wenn ihr etwas passiert, ohne dass vorher jemand …“

Victoria unterbrach ihn mit ruhiger Stimme. „Was soll ich also tun?“

Sie hasste Small Talk. Sie weigerte sich, Zeit zu vergeuden oder sich zu streiten.

„Da bist du ja.“ Karen kam ins Zimmer. „Die Nummer vier ist jetzt frei. Bringst du Penny hin?“

Victoria und Dominic starrten sich an.

Er musste entscheiden.

„Na gut“, sagte er schließlich. Karen nickte und ging zu Penny.

„Aber nächstes Mal …“, sagte Dominic warnend. Victoria zuckte nur mit den Schultern und drehte ihm den Rücken zu.

„Victoria!“

Sie hielt inne.

Seine Stimme klang wütend, aber nicht deswegen war sie stehen geblieben. Sie war überrascht, dass er überhaupt ihren Namen kannte.

„Zuck nicht einfach mit den Schultern, wenn wir eine Unterhaltung führen.“

„Eine sinnlose Unterhaltung“, sagte Victoria und drehte sich wieder zu ihm. „Die gleiche Unterhaltung haben wir doch schon vor drei Tagen geführt.“

Damals war er genauso übel gelaunt gewesen wie jetzt. Sie sah die Wut in seinen Augen.

„Wie ich vor drei Tagen bereits sagte“, fuhr sie fort, „mache ich das, was mir aufgetragen wird. Und mit den Konsequenzen muss ich zurechtkommen. Ich bekomme deine Wut ab, wenn ich die Patienten hierherbringe, und ich bekomme die Wut der Stationsmitarbeiter ab, wenn die Patienten ohne Röntgenbilder dort ankommen.“

Sie wollte sich gerade wieder umdrehen, aber entschied sich noch einmal anders. „Manchmal ist es nicht so schlimm, weil die Leute verstehen, dass ich nur meine Arbeit mache. Im Paddington ist das üblicherweise der Fall, aber das hängt wohl auch davon ab, wer gerade Dienst hat. Dann muss ich eben wieder andere Anweisungen befolgen …“ Und dann übertrat sie eine Grenze. Sie wurde persönlich. „Dein Elend ist echt ansteckend.“

Dominic sah ihr nach. Als sie das Zimmer verließ, seufzte er tief.

Sie hatten beide recht. Es gab zu viel zu tun. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin kämpfte für die Patienten, die man ihnen anvertraut hatte. Aber sie hatte ihn erwischt. Nicht nur mit ihrem letzten Kommentar, sondern auch mit dem Hinweis, dass sie die gleiche Unterhaltung erst kürzlich geführt hatten. Es war eine schwierige Zeit für Dominic, und er wusste, dass er auch vor drei Tagen nicht besonders fröhlich gewirkt haben konnte.

Natürlich wusste er, woran das lag.

Dominic war immer ernst und auch ein bisschen reserviert, aber er fand es selbst schrecklich, dass er sich in letzter Zeit richtiggehend elend fühlte. Victoria hatte recht.

Allerdings achtete er darauf, dass seine Patienten davon nichts mitbekamen. Wenn er mit ihnen zu tun hatte, schob er seinen eigenen Kummer immer so weit weg wie möglich.

Von draußen hörte er ein Lachen.

Victorias Lachen.

Er trat in den Flur und sah, wie sie mit ihrem Kollegen die Trage zusammenklappte.

„Victoria.“

Sie drehte sich zu ihm. „Ja?“

„Auf ein Wort?“

Sie verdrehte die Augen, aber kam zu ihm. „Willst du das wirklich noch einmal durchkauen?“

„Nein, ich möchte mich entschuldigen.“

„Schon gut.“

Sie brauchte keine Entschuldigung. In Victorias Beruf war ein kleines Wortgefecht mit einem Arzt keinen weiteren Gedanken wert, und das sollte auch so bleiben. Aber er meinte es offensichtlich ernst und bot ihr sogar eine Erklärung. „Heute ist ein schlimmer Tag.“

Mehr kam nicht, aber sie wusste, dass er die Wahrheit sagte.

„Hoffentlich wird er noch besser“, entgegnete sie.

„Wohl kaum.“

Sie lächelte ihn an. Und einfach so war der schlimme Tag doch noch ein kleines bisschen besser geworden.

Victoria war faszinierend.

Sie trug eine grüne Uniform und schwere, schwarze Stiefel. Niemand sollte in solchen Klamotten gut aussehen, aber sie tat es. Sie trug ihre Haare zusammengebunden. Nur einige Locken fielen ihr ins Gesicht. Sie sah ihn mit haselnussbraunen Augen an.

Ja, sie war faszinierend.

Das ärgerte ihn. Dominic wollte sich nicht faszinieren lassen.

Sein Privatleben war ein einziges Chaos, und außerdem war Victoria gar nicht sein Typ.

Sie war sehr direkt, und er mochte es eher subtil. Er mochte Frauen, die … nun ja, die ein wenig im Hintergrund blieben und nicht so viel Platz benötigten.

Victoria hatte in letzter Zeit zu viele seiner Gedanken beansprucht.

„Mir tut’s auch leid“, sagte sie. „Dass ich gesagt hab, du siehst elend aus. Ich meinte …“ Sie konnte es sich nicht verkneifen, einen Scherz mit ihm zu treiben. „Ich meinte, du siehst griesgrämig aus.“

Er lächelte über ihren Witz. Es war nicht das Lächeln, das seine Patienten zu sehen bekamen, denn die liefen nicht plötzlich rot an. Dieses Lächeln schien speziell für sie gemacht, und er beobachtete sie weiter, als sie ihre ehrliche Entschuldigung zu Ende brachte. „Ich bin zu weit gegangen.“

„Schon in Ordnung.“

Und plötzlich hätte es ihm nicht weit genug gehen können.

Doch er würde garantiert nichts unternehmen. Er hatte noch viel zu viel zu erledigen, bevor er an so etwas überhaupt denken konnte. Allerdings …

„Ich würde ja vorschlagen, dass ich mich mit einem Drink richtig bei dir entschuldige, aber mit meiner derzeitigen Laune möchte ich mich wirklich niemandem aufzwingen.“

Sie musste lächeln. Sein Akzent war ganz leicht, aber sehr ansprechend. Außerdem würde er sich wirklich nicht aufzwingen müssen. Er war sexy, männlich und umwerfend. Sie fühlte sich wahnsinnig von ihm angezogen, obwohl er so anders war als die Männer, die ihr üblicherweise gefielen. Nicht dass ihr viele Männer gefielen …

Victoria schätzte, dass er Ende dreißig war. Sie war neunundzwanzig, aber wenn sie neben ihm stand, fühlte sie sich wie ein Teenager. Immer noch hatte sie das Gefühl, erröten zu müssen, aber sie weigerte sich. Das würde nicht geschehen.

Sie blickten sich in die Augen.

„Schon gut“, wiederholte sie. Das Funkgerät an ihrer Schulter fing an zu krächzen. „Victoria!“, rief Glen, doch er hielt inne. Er musste wohl die Spannung im Raum spüren. Dass es sexuelle Spannung war, schien er zum Glück nicht zu merken. „Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Alles gut“, erwiderte Dominic und verschwand.

Und nun war auch alles wieder gut – sobald er sie nicht mehr in seinem Blickfeld hatte. Fast hatte Dominic sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde. Jetzt wollte er einfach nur noch wegrennen.

So einfach war das.

Er wollte keine Nähe.

Aber das bedeutete nicht, dass er kein Verlangen nach ihr hatte.

2. KAPITEL

Dominic nahm sich die Akte, um seine neue Patientin kennenzulernen, bevor er sie zum Röntgen schickte. Er war Unfallchirurg und deshalb häufig in der Notaufnahme, auch um Kollegen zu vertreten.

„Hallo, Penelope“, sagte er, als er die Kabine betrat, in der das kleine Mädchen lag. „Ich bin Dominic.“

„Penny“, korrigierte sie ihn selbstbewusst. „Bist du neu?“

„Ich bin schon seit fast sechs Monaten hier.“

„Penny war schon seit Ewigkeiten nicht mehr in der Notaufnahme“, sagte Julia. „In letzter Zeit ging es ihr gut.“

„Das freut mich zu hören.“

Die Patientenakte war so dick, dass er bis Mitternacht darin lesen könnte, aber er hatte sich die aktuellen Vitalwerte angesehen, und Julia brachte ihn auf den neuesten Stand, was die Krankheit ihrer Tochter anging.

Penny hatte das hypoplastische Linksherz-Syndrom oder HLHS, eine seltene, angeborene Krankheit. Schon als Baby war sie operiert worden, und ihr restliches Leben war sie entweder ambulant oder stationär immer wieder ins Paddington zurückgekehrt. Einige Male hatte sie Infektionen gehabt, und das war auch jetzt die Befürchtung. Es fiel ihr schwer, sich vorzubeugen, und die geringe Anstrengung raubte ihr bereits den Atem. Außerdem waren ihre Lippen bläulich.

Natürlich war, wie Victoria gewusst haben musste, nicht nur ein Röntgenbild des Brustraums notwendig. Dominic nahm Penny Blut ab, um später Vergleichswerte zu haben. Wenn Penny in die Radiologie musste, würde sie von einer Krankenschwester begleitet werden müssen, aber es ging Dominic nicht darum, Personal zu sparen, als er sich für eines der mobilen Röntgengeräte entschied. Penny sah wirklich nicht gut aus.

Also piepte er den diensthabenden Kardiologen an, damit er sich Penny hier unten anschauen würde. Er sprach mit einem Vertretungsarzt.

Schon wieder.

Seitdem die Gerüchte umgingen, dass das Paddington geschlossen werden würde, hatten sich viele der regulären Mitarbeiter nach einem anderen Job umgesehen, und es war schwierig, neue Leute zu finden, wenn niemand wusste, ob es das Krankenhaus nächstes Jahr überhaupt noch geben wurde.

Dominic ging zurück zu Penny, um die Patientin und ihre Mutter über seinen neuen Plan zu informieren.

„Sehen Sie mal, was Penny gerade gefunden hat“, sagte Julia. Penny hielt einen Ohrring hoch.

Dominic wusste genau, wem er gehörte. Ihm war sofort aufgefallen, dass Victoria ganz anders als sonst Ohrringe getragen hatte.

Ihm war schon viel zu viel an Victoria aufgefallen.

Selbst ihre Ohrringe gefielen ihm. Es waren große Diamanten, und während ihrer Unterhaltung hatte er sich davon abhalten müssen, sich Victoria in Abendgarderobe vorzustellen.

„Das ist Victorias Ohrring“, sagte Penny zu Karen, als sie zu ihnen trat.

„Da ist er ja.“ Sie lächelte. „Victoria hat gerade angerufen. Da hast du mir ja Arbeit erspart, Penny. Gut gemacht. Ich lege ihn gleich in den Safe. Ach, Dominic, ein Anruf für dich.“

„Sie sollen eine Nachricht hinterlassen.“

„Es ist dein Vater“, erwiderte Karen. „Und er sagt, es ist wichtig.“

„Danke.“

Dominic ließ sein Handy mit Absicht zu Dienstbeginn im Spind zurück. Er wollte Privat- und Berufsleben keinesfalls vermischen. Aber das musste nun wohl sein. Diesen Anruf hatte er schon vor drei Tagen erwartet. Er war der Grund dafür, dass er so schlechte Laune hatte.

Der Telefonhörer lag auf dem Tisch, und Dominic zögerte. Er atmete aus, um sich zu beruhigen. Er hatte Monate gehabt, um sich auf diesen Moment vorzubereiten, und versucht, die Situation aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Doch nun, da er den Hörer anhob, wusste er immer noch nicht, was er sagen würde.

„Hallo?“ Er klang so kurz angebunden, wie er es auch Victoria gegenüber versucht hatte.

„Dominic …“ William MacBride räusperte sich. „Ich rufe an, um dir zu sagen, dass du vor einer Stunde Onkel geworden bist.“

Und obwohl das Baby sogar drei Tage zu spät gekommen war, wusste Dominic keine Antwort.

„Dominic?“

„Geht es ihnen gut?“

„Ja, es geht beiden gut.“

Nun sollte Dominic wohl fragen, ob Lorna und Jamie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen hatten – und er eine Nichte oder einen Neffen.

Er sah sich um. In der geschäftigen Notaufnahme des Kinderkrankenhauses war er von Kindern umgeben. Da war Penny, die gerade zu dem mobilen Röntgengerät gerollt wurde, und im Hintergrund hörte er ein Baby weinen. Jeden Tag versuchte Dominic, das Leben all dieser kleinen Menschen zu retten, sodass er selbstverständlich erleichtert sein sollte, dass es Mutter und Kind gut ging.

Und natürlich war er das auch. Aber tief in ihm gab es diesen ganzen großen Steinbruch aus Wut und Trauer.

Denn eine Weile lang hatte er gedacht, dass das Baby, das heute geboren worden war, seines sein würde.

Dominic versuchte, den Augenblick, in dem er mit der Wahrheit konfrontiert worden war, zu verdrängen. Den Augenblick, in dem er erfahren hatte, dass seine langjährige Freundin keinesfalls sein Baby unter dem Herzen trug.

Aber da sprach sein Vater auch schon von Dominics Bruder, der für diesen brutalen Augenblick der Wahrheit verantwortlich gewesen war. „Jamie ist ganz stolz und glücklich.“

Dominic schluckte ein abfälliges Schnaufen herunter.

Schließlich hatte sein Vater an dem, was geschehen war, keine Schuld. Seine Eltern wussten einfach nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Wer würde so etwas schon wissen?

„Willst du mit deinem Bruder sprechen?“

„Ich habe ihm nichts zu sagen.“

Noch vor einem Jahr wäre es vollkommen undenkbar gewesen, dass Dominic seinem kleinen Bruder an dem Tag, an dem er Vater wurde, nichts zu sagen hatte. Sie hatten sich immer gut verstanden. Dominic war fünf gewesen, als sein kleiner Bruder zur Welt gekommen war. Seine Eltern hatten sich seit Jahren ein zweites Kind gewünscht, und so war Jamie rundum verwöhnt worden. Er war frech und geriet immer wieder in Schwierigkeiten, aber der ernstere Dominic hatte immer auf ihn aufgepasst.

Zumindest hatte er das versucht. Denn als Jamie zehn und Dominic fünfzehn war, geriet Jamie in einen Autounfall. Den Fahrer traf keine Schuld, denn Jamie hatte einfach nicht aufgepasst und war auf die Straße gelaufen.

Dominic hatte ihn nicht rechtzeitig zurückziehen können. Es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis endlich der Krankenwagen da war, und Dominic sah zu, wie die Sanitäter um das Leben seines kleinen Bruders kämpften. Später im Krankenhaus wollte Dominic, während seine Eltern im Flur auf und ab liefen und weinten, mehr herausfinden. Die Türen zur Wiederbelebungsstation öffneten sich, als jemand ein Gerät hindurchschob, und er sah, wie die Ärzte versuchten, Jamie zu helfen. Plötzlich wurde er entdeckt und zurück in den Wartebereich begleitet, aber an diesem schrecklichen Tag war Dominic klar geworden, wie sein weiteres Leben aussehen würde.

Jamie hatte überlebt, und Dominic hatte sich in der Schule angestrengt, um gute Noten zu bekommen und Medizin studieren zu können.

Familie war für Dominic alles gewesen. Bis zu dem Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass seine Freundin ihn mit seinem Bruder betrogen hatte. Und dass das Baby, von dem Dominic geglaubt hatte, es sei seines, tatsächlich Jamie als Vater hatte.

Vor einigen Monaten hatten Jamie und Lorna geheiratet.

Dominic war nicht zur Feier gegangen.

Glaubten sie etwa wirklich, dass er sich dort in seinem Kilt hinstellen und in die Kamera lächeln würde? Dass er so tun würde, als wäre alles in Ordnung?

Auf keinen Fall.

Zumindest noch nicht.

„Wir müssen darüber hinwegkommen“, sagte William.

„Deshalb bin ich ja in London“, erwiderte Dominic. „Ich bin darüber hinweg.“ Er wollte auflegen, aber eine Sache musste er doch noch wissen.

„Junge oder Mädchen?“

„Ein kleiner Junge. Er heißt …“

„Das musst du mir nicht sagen“, unterbrach Dominic ihn.

„Willst du es nicht wissen?“

„Ich weiß es schon.“

Dominic war nach seinem Großvater väterlicherseits benannt, wie es in Schottland Tradition für den erstgeborenen Sohn war, und so hatte das neue Baby immer William heißen sollen – unabhängig davon, mit welchem Bruder Lorna in diesem Monat auch immer geschlafen hatte.

Verdammt, war er verbittert.

„Dominic …“ William drängte ihn, aber heute würde er keine Versöhnung in seiner Familie herbeiführen.

„Ich muss weiterarbeiten.“

Was nicht stimmte. Sein Arbeitstag war vorbei, aber er drehte noch eine Runde durch die Notaufnahme und ging dann auf die Intensivstation, um nach einer Patientin zu sehen. Alles war in Ordnung.

Allerdings wollte er einfach nicht nach Hause gehen.

Dafür müsste er erst sein Telefon aus dem Spind holen und all die verpassten Glückwunschnachrichten sehen. Außerdem würde er den ganzen Abend vermeiden wollen, Facebook zu öffnen. Jamie und Lorna hatte er zwar schon längst blockiert, und seine Eltern waren nicht in den sozialen Netzwerken, aber es gab Cousins und Cousinen sowie gemeinsame Freunde, die sich alle über das Baby freuen würden.

„Du bist so still“, sagte Glen, während sie zur Ambulanzstation zurückfuhren. „Hat MacBride dich geärgert?“

„Ach, bitte!“ Victoria verzog das Gesicht, und Glen grinste. Er wusste aus erster Hand, wie tough Victoria war. In ihrem Beruf war das anders gar nicht möglich. Sie arbeitete nicht nur mit Männern zusammen, sondern musste sich auch um all die Männer kümmern, die abends aus den Pubs und Clubs gestolpert kamen und ihr schlimmstes Verhalten an den Tag legten.

Victoria hatte eine Menge gesehen, doch sie war immer schon tough gewesen, auch bevor ihre Wahl auf den Beruf der Sanitäterin gefallen war. Sie hatte gar keine andere Wahl gehabt, denn schon als Kind hatte sich niemand sonderlich für ihre Ängste und Träume interessiert.

Äußerlich war sie gelassen und ließ sich von Dingen, die andere nerven, nicht aus der Ruhe bringen. Selbst wenn sie bemerkte, dass sie einen teuren Ohrring verloren hatte. Sie hatte einfach gründlich den Krankenwagen durchsucht und dann im Paddington angerufen, um Karen zu bitten, das Schmuckstück zu suchen.

„Du regst dich gar nicht auf“, sagte Glen. „Hayley würde hysterisch werden.“

„Tja, ich bin nicht Hayley.“ Victoria zuckte mit den Schultern.

Manchmal hätte sie es sich leichter machen können, wenn sie freundlicher gewesen wäre. Das Ego der Männer gestreichelt hätte.

Und manchmal tat sie das auch.

So wie jetzt, als sie sich in der Umkleidekabine der Ambulanzstation für ihre Verabredung zurechtmachte. Sie duschte, öffnete ihre Haare und bürstete sie, bis sie glänzten. Noch in ein Handtuch gewickelt, trug sie Mascara und Lipgloss auf. Dann zog sie ein hinreißendes schwarzes Kleid und hohe Schuhe an.

Manchmal hatte sie Freude daran, sich chic zu machen, schließlich trug sie sonst immer nur Uniform. Aber heute wusste Victoria, noch während sie sich umzog, dass aus diesem Abend nichts werden würde.

Der Mann interessierte sich nicht für ihre Arbeit – und das war kein gutes Zeichen, denn Victoria arbeitete wirklich viel. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn anziehend fand – und das war erst recht kein gutes Zeichen.

Das Kondom in ihrer Tasche würde sie heute Abend unbenutzt wieder mit nach Hause nehmen. Es ist wirklich Ewigkeiten her, dachte Victoria. Sie sehnte sich danach, jemandem nahe zu sein, wenn vielleicht auch nur kurz. Aber ihr heutiges Date löste ihn ihr einfach nicht dieses Prickeln aus, das ein gewisser Dominic ganz genau wachzurufen wusste.

Sie entschied sich abzusagen, zog sofort das Handy aus der Tasche und rief ihr Date an. Sie sagte, sie habe es sich anders überlegt.

„Vielleicht demnächst?“, fragte er, aber Victoria spielte keine Spielchen.

„Nein.“

Nun stand sie dort. Chic angezogen und ohne Ziel.

Vor einigen Monaten hatte sie mit einem Mann Schluss gemacht, als er anfing, laut über ein Zusammenziehen nachzudenken. Vergiss es! Nie im Leben würde Victoria ihre Wohnung mit jemandem teilen. Also hatte sie Schluss gemacht. Ganz ohne Drama, wie auch heute Abend. Sie zog sich den Mantel an und ging.

„Gute Nacht“, rief sie den Kollegen zu. Aber Glen holte sie zurück. „Paddington hat gerade angerufen. Dein Ohrring ist im Safe in der Notaufnahme.“

„Oh.“

„Soll ich dich dort absetzen?“, bot er an, aber Victoria lehnte ab. Die Ambulanzstation war zu Fuß nur zehn Minuten vom Paddington entfernt. Es war zwar kalt, aber trocken, und sie konnte etwas Bewegung ganz gut gebrauchen.

Ihre High Heels klackerten auf dem Asphalt, und schon bald sah sie das Paddington vor sich.

Es standen immer noch einige Demonstranten davor, die gegen die Schließung protestierten. Sie können genauso gut nach Hause gehen, dachte Victoria traurig. So, wie ihr Vater sich ausgedrückt hatte, würde es wohl bald eine offizielle Ankündigung geben.

Sie dachte daran, dass Penny gesagt hatte, sie fühle sich so sicher dort, und genau das verspürte Victoria jetzt auch wieder, als sie das Gebäude betrat. Das Paddington war wie eine warme, weiche Decke.

Als sie in die Notaufnahme kam, erblickte sie gleich Karen, die auf sie zukam. „Da hast du wirklich Schwein gehabt. Penny hat deinen Ohrring auf ihrer Krankentrage gefunden. Ich habe ihn am Empfang in den Safe einschließen lassen.“

„Vielen Dank.“ Victoria lächelte.

Dominic war nicht da, das merkte sie gleich.

Und sie war enttäuscht, das musste sie zugeben. Sie wusste, dass sie heute Abend gut aussah, und tief im Innern hatte sie wohl gehofft, dass Dominic doch noch vorschlagen würde, mit ihr etwas trinken zu gehen.

Und dann?

Sie wollte keine Beziehung. So einfach war die Sache. Und deswegen sagte sie auch immer allen ab oder machte schnell Schluss. Victoria vertraute niemandem und wollte sich bestimmt nicht auf einen Kollegen einlassen, den sie jeden Tag bei der Arbeit sehen müsste.

Am Empfang zog Karen einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete den Safe und gab Victoria den Ohrring. Victoria steckte ihn sich gleich ans Ohr, während Karen sich mit einer Kollegin unterhielt.

„Tschüs“, rief Victoria und wollte gehen. Dann prüfte sie jedoch schnell, ob die beiden Frauen in ihr Gespräch vertieft waren, und verschwand unbemerkt hinter der Abtrennung.

So hatte sie es als Kind auch immer gemacht, und ganz hatte sie diese alte Gewohnheit nie hinter sich gelassen, auch wenn sie immer dafür sorgte, dass niemand sie sah.

Sie stieg die Treppe hoch.

Damals war sie so klein gewesen und hatte so viele Stunden allein verbringen müssen, dass das Paddington viel eher ihr Zuhause gewesen war als die Wohnung, in der sie lebten. Victoria konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das Krankenhaus verkauft werden würde.

Sie blickte hinaus in den Abend. Der Mond war riesig, und in der Entfernung sah sie die dunklen Schatten des Regent’s Park. Auf der Straße fuhren Busse und Taxis, und auch die Demonstranten standen immer noch dort, obwohl es mittlerweile regnete.

Auch sie wollten ihr Krankenhaus nicht aufgeben. Denn das war es – ihr Krankenhaus. Es gehörte all diesen Menschen, und nun sollte es verkauft und womöglich dem Erdboden gleichgemacht werden.

Victoria war tough. Sie entwickelte keine engen Beziehungen zu ihren Patienten und hatte schon während der Ausbildung entschieden, dass sie immer freundlich, aber professionell bleiben wollte. Nur dieser Ort, dieses Gebäude, ging ihr nahe. Die Wände hatten so viel Geschichte aufgesogen, und die Luft selbst roch nach Hoffnung. Es war falsch, so falsch, dass all das verschwinden sollte.

Hier gab es so viel Trost und Linderung. „Dauert nicht lange“, hatte ihr Vater immer gesagt.

Ihre Mutter war gegangen, als Victoria noch nicht einmal ein Jahr alt war, und ihr Vater konnte nichts anderes tun, als die kleine Tochter mit zur Arbeit zu nehmen. Er ließ sie in einem der Pausenräume zurück, und es gab immer jemanden vom Personal, der sich Zeit nahm, ihr etwas zu trinken oder ein Butterbrot vorbeizubringen.

Doch letztendlich mussten sie immer weiterarbeiten, und Victoria war wieder allein.

Oft durchstreifte sie dann die Gänge. Manchmal setzte sie sich in eine alte Sitzgruppe und las. Oder sie spielte auf der Treppe. Aber hier oben gefiel es ihr am besten, und die meiste Zeit hatte sie in diesem unbenutzten Raum verbracht, hatte gesungen, getanzt oder vor sich hingeträumt.

Und nun war sie wohl auch in Gedanken versunken, denn plötzlich quietschte die Tür, und sie hörte eine tiefe Stimme. „Verzeihung.“

3. KAPITEL

Nachdem Dominic verschiedene Patienten auf den Stationen besucht hatte, wollte er immer noch nicht nach Hause gehen. Stattdessen entschied er sich für einen Ort, der ihm langsam vertraut wurde.

Doch er hätte nicht damit gerechnet, hier auf Victoria zu treffen. Trotz der hohen Schuhe und des Mantels und obwohl sie ihre Haare offen trug und er sie im Dunkeln nur von hinten sah, wusste er, dass sie es war. An der Art, wie sie sich gegen das Fenster lehnte und nachdenklich hinausschaute, erkannte er, dass sie allein sein wollte. Sonst wäre sie wohl kaum hierhergekommen.

„Entschuldigung“, sagte Dominic, und sie drehte sich in Richtung seiner Stimme. „Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.“

„Schon in Ordnung.“ Sie lächelte knapp.

„Ich lass dich wieder allein“, bot er an, aber Victoria schüttelte den Kopf. „Musst du nicht.“

Er ging über den Holzfußboden auf sie zu und stellte sich neben sie.

Er hatte noch seine Arbeitskleidung an, und sie sah, wie müde er war.

„Ich dachte, ich wäre die Einzige, die weiß, dass es diesen Raum hier gibt“, sagte Victoria.

„Viele wissen wohl nicht davon“, entgegnete er. „Zumindest habe ich sonst noch niemanden hier gesehen.“

„Wie hast du ihn entdeckt?“

Dominic antwortete nicht.

Sie blickten schweigend aus dem Fenster, auch wenn sie London bei Nacht kaum wahrnahmen. Anders als im Hauptteil des Krankenhauses mit seinen modernen, dicken Glasscheiben, waren die Fenster hier dünn, einige wiesen sogar Risse auf. Aus dem Schauer war stetiger Regen geworden. Es war kalt, aber unglaublich friedlich.

„Wo hast du vorher gearbeitet?“, fragte Victoria.

„Edinburgh.“

„Da bist du schöne Aussichten ja gewöhnt.“

Er dachte an seine geliebte Stadt, die um ein Schloss herum gebaut war, und an den Arthur’s Seat, der sich als Hausberg vor der Stadt erhob. Er nickte, drehte den Kopf und sah etwas, das mindestens genauso schön war. Auch wenn er erkannte, dass sie traurig war.

„Geht es dir gut?“, fragte er und sah, dass sie nicken wollte. Dann zuckte sie jedoch nur kurz mit den Schultern. „Nur ein bisschen müde.“

Mehr sagte sie nicht.

„Hast du dich über einen Patienten geärgert?“

Bei dem Gedanken runzelte sie die Stirn und blickte ihn an.

„Penny?“, fragte er, denn es war ihm heute aufgefallen, dass viele Mitarbeiter im Paddington das kleine Mädchen ins Herz geschlossen hatten. Aber Victoria schüttelte den Kopf.

„Ich ärgere mich nicht über Patienten, und ganz bestimmt nicht über eine Routinefahrt. Sonst hätte ich wirklich den falschen Job.“

„Ich zweifle aber stark, dass du dich über mich geärgert hast“, sagte er trocken.

Sie lachte. „Nein, mit dir werde ich gut fertig.“

Victoria war froh, dass es dunkel war, denn sie spürte, wie sie rot wurde. Um ihn abzulenken, sprach sie nun doch über sich selbst. „Wenn du es wirklich wissen musst – das Paddington macht mich traurig. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es abgerissen oder in Eigentumswohnungen umgewandelt wird. Ich bin hier praktisch aufgewachsen.“

„Warst du als Kind oft krank?“

„Nein. Mein Vater hat in der Notaufnahme gearbeitet und mich oft mitgenommen. Manchmal habe ich mich hier hochgeschlichen.“ Sie sagte nicht, wie häufig das passiert war. Wie sie ihre ganze Kindheit über immer mit einem Auge von einer Krankenschwester oder einem Pfleger, einer Sekretärin, einer Empfangsmitarbeiterin oder irgendjemandem, der gerade Zeit hatte, beaufsichtigt wurde.

Und von ihrer Mutter würde sie ihm garantiert nicht erzählen. Victoria tat alles, um nicht an diese Frau zu denken, die einfach ihre Sachen gepackt hatte und verschwunden war.

„Mittlerweile arbeitet mein Vater im Riverside. Professor Christie.“

Sie blickte Dominic an, der eine Augenbraue hob.

Das war eine Überraschung. Dominic musste sich gelegentlich mit Professor Christie unterhalten und hatte ihn nicht als angenehmen Menschen in Erinnerung.

„Er ist auch ein Griesgram“, sagte Victoria.

Dominic musste etwas klarstellen. „Versteh mich nicht falsch, Victoria. Ich mag zwar griesgrämig sein, aber ich bin nicht eiskalt.“

Sie verstand ihn nicht falsch. Eher war sie erleichtert. Weil ihr Vater so weit oben in der Hackordnung stand, neigten die Leute dazu, ihn zu loben, statt ihn zu kritisieren, und das hatte Victoria früher immer irritiert.

Es irritierte sie noch heute.

Gestern bei der Preisverleihung hatte sie all den Reden gelauscht, in denen er gewürdigt wurde, und auf dem Empfang danach ging es so weiter. Der Kaiser trug tatsächlich seine neuen Kleider, aber es war niemand da, der ihn darauf ansprach.

Bis jetzt.

„Tja“, sagte Victoria. „Ich habe gestern mit ihm gesprochen, und er scheint zu denken, dass der Zusammenschluss so gut wie sicher ist.“

Dominic nickte. Das hatte er auch gehört. „Das ist wirklich eine Schande.“

„Das ist mehr als eine Schande“, erwiderte Victoria. Sie war wütend, und das zum ersten Mal. Selbst als sie wegen ihrer Patienten diskutiert hatten, war sie ruhig geblieben.

„Das Paddington ist doch viel mehr als ein Krankenhaus“, sagte sie. „Familien wissen, dass ihre Kinder sicher sind, wenn sie hierbleiben müssen. Es kann nicht einfach geschlossen werden!“

„Dann tu etwas dagegen.“

„Ich?“ Sie sah zu den Demonstranten hinunter. Ob sie sich ihnen anschließen sollte? Aber eigentlich wusste sie, dass das nicht genug war. Es brauchte mehr.

„Wenn es dir so wichtig ist“, sagte Dominic, „dann kämpfe dafür.“

Es war ihr wichtig. Und es war schön, mit ihren Gedanken nicht allein hier oben zu sein, sondern mit jemandem darüber zu sprechen.

„Wie hast du diesen Raum denn nun eigentlich gefunden?“, fragte sie erneut. Seine Antwort überraschte sie.

„Vor ein paar Monaten habe ich gesehen, wie du hinter die Abtrennung geschlichen bist, und ich habe mich gefragt, wo du hinwolltest. Und bin selbst hergekommen.“

„Du kannst mich nicht gesehen haben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich achte immer darauf, dass mich niemand sieht. Außerdem hätte ich es gewusst, wenn du in der Nähe gewesen wärst …“ Sie hielt inne, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie es immer spürte, wenn er im Krankenhaus war.

„Ich war im Wartezimmer und habe mit einem Vater gesprochen“, sagte er. „Ich habe dich durch das Glas gesehen …“

„Die grüne Uniform ist vermutlich zu auffällig.“

„Ich glaube nicht, dass das an der Uniform liegt, Victoria.“

Sie lachte leise. Momentan war sie schließlich ganz in Schwarz gekleidet.

Trotzdem – er hatte zugegeben, dass auch er sie beachtete.

„Hast du mich heute Abend auch gesehen, als ich hier hochgegangen bin?“

„Nein, ich brauchte nur ein bisschen Ruhe. Ich dachte, du hättest Feierabend.“

„Habe ich auch. Ich wollte ausgehen“, sagte Victoria, um ihren Aufzug zu erklären. „Aber ich habe abgesagt.“

Das war also der wahre Grund dafür, dass sie traurig war. „Hast du dich von jemandem getrennt?“

„Ich glaube nicht, dass man es als Trennung bezeichnen kann, wenn ich das zweite Date abgesagt habe.“

Nein, das war wohl doch nicht der Grund. Ihr wegwerfendes Schulterzucken machte das deutlich. Lag es wirklich am Gebäude?

„Er ist bestimmt ziemlich enttäuscht“, sagte Dominic und wollte es am liebsten gleich wieder zurücknehmen, denn es klang, als ob er darauf anspielte, wie gut sie aussah. „Also, ich meine …“ Er stockte. Alles, was er sagen konnte, würde nach Flirten klingen. Und das vermied er. Immer.

„Ich glaube, ich habe uns beiden einen Gefallen getan“, antwortete Victoria. „Er hat wohl das Konzept der Schichtarbeit nicht verstanden. Aber wenn nicht ich der Grund bin, weshalb du heute hier hochgestiegen bist, was dann?“

Sie wollte mehr über die schlimmen Tage erfahren, auf die er angespielt hatte.

„Ich stecke da nur gerade in etwas drin …“, sagte Dominic. „Na ja, ich stecke nicht mehr drin. Ich habe mich daraus zurückgezogen. Ich habe keine Lust mehr, mich auf irgendetwas einzulassen.“

„Gut“, erwiderte Victoria. „Ich mag es nämlich nicht, Beruf und Privatleben zu vermischen.“

Und doch standen sie hier, und die Anspannung, die sie schon in der Notaufnahme gespürt hatte, war deutlich zu spüren.

„Bist du verheiratet?“, fragte sie.

Das war eine sehr direkte Frage, aber Victoria wollte die Antwort wissen, denn ihr war plötzlich ziemlich heiß.

„Nein.“

„Freundin?“

„Natürlich nicht.“

Sonst hätte er wohl kaum seine Hand an ihre Wange gelegt. „Du hast deinen Ohrring wieder.“

„Ein Geschenk meines Vaters.“

„Wie nett“, sagte Dominic.

„Nicht wirklich. Es war nur ein Pflichtgeschenk, als ich achtzehn wurde. Wenn er mich besser gekannt hätte, hätte er gewusst, dass ich keine Diamanten mag.“

„Warum nicht?“

„Ich glaube nicht an Märchen und glücklich bis an ihr Lebensende.“

So etwas gab es einfach nicht.

Sie hielt die Luft an, als seine Finger ihre Wange berührten und ihr Ohrläppchen streiften, als er den Ohrring ansah. Jeden anderen Mann hätte sie weggestoßen. Jeden.

Und doch konnte sie es nicht. „Es war der andere Ohrring.“

Er drehte ihren Kopf und berührte das andere Ohr.

Es war dumm, das wussten sie beide. Sie wollten beide nichts mit jemandem von der Arbeit anfangen, aber die Anziehungskraft zwischen ihnen war stärker. Beide hatten ihre Gründe für ihr brüskes Verhalten.

Doch es war unwiderstehliche körperliche Anziehung.

„Victoria, ich kann mich momentan wirklich auf niemanden einlassen.“

Sie blickten sich an, er hatte noch immer seine Hände an ihren Wangen, und seine Finger lagen warm an ihren Ohren. Etwas pulsierte zwischen ihnen, aber sie wusste, dass er keine Hoffnung aufkommen lassen wollte.

„Das ist okay.“

Und es war okay.

„Wenn du keine Diamanten magst – was magst du dann?“, fragte er. Sein Mund war ihrem so nah, und obwohl es kalt war, knisterte die Hitze zwischen ihnen.

„Das hier.“

Ihre Münder trafen sich, sie spürte den warmen, leichten Druck. Seinen Duft nach Seife und Moschus würde sie mittlerweile überall wiedererkennen. Ihr wurde fast schwindelig vor Sehnsucht. Dann spürte sie seine Zunge. Er zog Victoria noch enger an sich. Mit einer Hand griff er ihr ins Haar, mit der anderen umfasste er ihre Taille. Es war, als ob sie sich zum Tanzen bereit machten, als ob die Tanzlehrerin hereingekommen wäre und gesagt hätte: Die Hände hier und hier hin.

Und dann auch wieder nicht. Denn beim Tanzen hätte Victoria trotz der warmen Hand nicht so gezittert.

Zuerst küssten sie sich ganz sanft, und er hielt ihren Kopf umfasst. Er erforschte sie mit der Zunge und traf auf ihre. Ihre Leidenschaft war endgültig geweckt, und sie pressten sich aneinander.

Der tiefe, lange Kuss erweckte in ihnen beiden die Ungeduld. Dominic hielt sie fest und küsste sie hart. Das Kratzen seines Bartes am Kinn und seine Zunge in ihrem Mund waren unglaublich. Aber dann bemerkte sie ein Zögern.

Denn Dominic wusste ganz genau, wo es hinführte. „Ich habe nichts dabei“, sagte er.

„Ich aber.“

Während ein anderer Mann sie nun nur noch härter geküsst hätte, blieb Dominic abwartend und spielte mit ihr. Er trat einen Schritt zurück und zog ihr den Mantel von den Schultern. Statt ihn auf den schmutzigen Boden fallen zu lassen, legte er ihn auf die Fensterbank, und sie griff nach ihrer Handtasche.

Während sie die Tasche durchsuchte, in der Hoffnung, dass das Kondom noch da war, stellte er sich hinter sie. Er legte ihr einen Arm um die Taille und ließ die Hand auf ihrem Bauch ruhen. Seine andere Hand glitt an ihren Oberschenkeln hoch bis zu der Feuchtigkeit dazwischen. Er streichelte sie, und sie schloss genüsslich die Augen.

„Hier.“ Sie hatte sich noch nie so gefreut, ein Kondom zu finden. Er zog ihr das Höschen herunter, und sie hob nacheinander die Beine, um sich davon zu befreien.

Noch immer stand er hinter ihr. Er hob ihr Haar an und küsste sie auf den Nacken. Seine Hand drückte auf ihren Bauch, und sie spürte seine Härte an ihrem Po. Victoria zitterte leicht und wollte sich zu ihm umdrehen.

„Komm weg vom Fenster“, sagte er und führte sie zu einer Wand im Schatten. Er drückte sie dagegen und küsste sie heftig. Dabei hielt er sie an den Hüften fest, und nun spürte Victoria seine köstliche Härte am Bauch. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und er presste sich an sie, um ihrer Hitze entgegenzukommen.

Es war schön, so schön, mit ihm so offen und direkt sein zu können.

Durch den Stoff liebkoste er ihre Brust, und da er keinen Reißverschluss an ihrem Kleid fand, schob er seine Hand mit einem verlangenden Stöhnen tief in ihren Ausschnitt. Victoria versuchte währenddessen, das Kondom festzuhalten und Dominic gleichzeitig von seiner Kleidung und Unterwäsche zu befreien. Schließlich hielt sie ihn in der Hand, und er war gleichzeitig so weich und so hart.

„Zieh das Kleid aus“, stöhnte Dominic, aber das ging nicht, weil sie ihre Münder nicht länger als eine Sekunde voneinander trennen konnten. Sie wollten sich nackt sehen und fühlen und stundenlang erforschen, aber ihre Körper gaben ihnen nicht mehr als eine Minute.

Er nahm das Kondom und streifte es über, während sie ihr Kleid hochzog. Dann hob er ihr Bein an und legte es sich um die rechte Hüfte. Nein, das war kein Tanzen!

Sie balancierte auf einem Stiletto, aber sein Griff war fest, und die Wand hinter ihr hielt sie. Sie suchten den richtigen Winkel, und Dominic fand ihn und nahm sie.

Victoria hatte noch nie so viel Kraft verspürt. Er war hart und köstlich, und zum ersten Mal im Leben hatte sie einen ebenbürtigen Partner gefunden, denn er hielt nichts zurück.

Er gab ihr alles.

Dominic spürte, wie seine Hand an ihrem Rücken von der rauen Wand aufgerissen wurde, aber das war ihm ganz egal.

„Jetzt …“, sagte sie gleichzeitig drängend und bittend.

Er erfüllte ihre Bitte und verstärkte ihr Drängen. Sie fühlte sich unglaublich an. Dominic war daran gewöhnt, sich zurückzuhalten, aber Victoria lud ihn zu dieser Intensität geradezu ein. Es war Ewigkeiten her, und er hatte sie schon so lange gewollt.

Fast machte ihn das wütend, und er stieß hart und fest und dann noch härter zu, als sie genießerisch stöhnte. Er hob sie hoch.

Victoria hatte noch nie den Boden unter beiden Füßen verloren. Sie hatte sich noch nie so gehen lassen. Seine Finger gruben sich in ihren Hintern, während er sie gegen die Wand drückte.

Seine Wange war an ihrer, und sie wollte nach seinem Mund suchen, aber die Zeit reichte nicht, denn sie kam bereits. Noch nie hatte sie einen so intensiven Orgasmus gehabt, und wenn er sie nicht gehalten hätte, wäre sie zusammengeklappt.

Ihr tiefes Erschauern ließ auch ihn kommen, und gemeinsam erlebten sie ihren Höhepunkt. Endlich fand sie seinen Mund, spürte seine kühle Zunge und trank seine Küsse. Sie lehnten sich mit der Stirn aneinander, genossen das letzte Beben und atmeten die gleiche Luft ein, bis er sie schließlich sanft absetzte.

Mit langen, langsamen Küssen drückte sie ihn von der Wand weg und zog ihr Kleid hinunter. Dann trat sie aus dem Schatten und griff nach ihrem Höschen. Sie musste sich an der Fensterbank festhalten, weil ihre Beine zitterten und sie noch immer außer Atem war.

Sie hatte sich noch nie so gehen lassen, war noch nie so intensiv gekommen und hatte garantiert noch nie so eindringlichen Sex gehabt.

Als Dominic aus dem Schatten trat, hatte er sich auch wieder angezogen. Nur seine Haare waren durcheinander. Nun hätte es richtig peinlich zwischen ihn sein können, aber das war es nicht.

„Ich sehe aus, als hätte ich mich geprügelt“, sagte er und betrachtete im Mondlicht seine Knöchel. Victoria nahm beide Hände und sah sie sich an.

„Da müssen Sie sich aber eine gute Ausrede einfallen lassen, Herr Doktor, um diese Verletzungen zu erklären.“

Er musste lachen. Nein, es war wirklich nichts Unangenehmes zwischen ihnen. Er setzte sich neben sie auf die Fensterbank.

„Victoria …“, begann er, aber wusste nicht, was er sagen sollte. Er war wirklich nicht in der Lage, irgendetwas mit ihr anzufangen. Und was gerade passiert war, hatte so überhaupt nichts damit gemein, wie er sich sonst verhielt. Auch wenn er sich großartig fühlte, als hätte er gerade einen hohen Berg bestiegen und stünde auf dem Gipfel.

„Du musst nichts erklären“, sagte Victoria.

Damit meinte sie nicht seine Knöchel, aber sie lächelte trotzdem.

„Bist du sicher?“, hakte er nach.

„Ja.“

Nie hätte sie gedacht, dass so etwas passieren könnte. Sonst war sie so anders, immer so vorsichtig, wenn es um Nähe und Intimität ging. Aber das musste sie ihm nicht gestehen.

Sie fühlte sich regelrecht befreit.

Und weiblich.

Gemeinsam mit ihm hatte sie sich selbst gefunden.

Statt also einen peinlichen Abschied zu zelebrieren, küssten sie sich lang, tief und genüsslich, bis Victoria sich zurückzog.

„Ich gehe jetzt.“

Selbst auf dem Weg zur Tür wartete sie noch auf ein unangenehmes Gefühl.

Genauso wie Dominic. Doch solche Gefühle schien es in diesem Raum nicht zu geben.

„Wenn du also keine Diamanten magst“, rief er ihr hinterher, „was magst du dann?“

Sie öffnete die Tür und lachte, weil er noch einmal auf dieses Thema zurückkam. „Perlen.“

Er saß noch immer auf der Fensterbank und blickte sich um. Der Mond schien durch das Fenster, und die Luft schien noch immer zu flirren. Seine Knöchel brannten, und ihm war schwindelig.

Perlen. War das nicht etwas, was seine Mutter oder Großmutter zu Hochzeiten oder anderen Festen trug? Er hatte Perlen noch nie sexy gefunden.

Doch das hatte sich gerade geändert.

4. KAPITEL

„Schwanger?“

Victoria sah zu, wie ihr Vater seine Brille abnahm und putzte. Sie erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal ihre Tage bekommen und ihr Vater fast genauso reagiert hatte – leicht amüsiert, ein wenig irritiert, vor allem deshalb, weil sie überhaupt mit ihm hatte sprechen wollen.

Victoria saß im Sprechzimmer ihres Vaters im Riverside Hospital und wartete. Auch wenn sie nicht wusste, worauf. Irgendwo hatte sie gelesen, dass schlimme Eltern manchmal die besten Großeltern waren. Dass sie ganz ohne die Verantwortung, die das Elternsein mit sich brachte, die Erfahrung genossen. Und sie hatte wirklich gehofft, dass es auch bei ihrem Vater so sein würde und sich dadurch ihre Beziehung verbessern würde.

Wenn sie jedoch nach seiner kühlen Reaktion ging, hatte sie umsonst gehofft.

Victoria wusste, dass sie im Grunde gar keine Beziehung zu ihrem Vater hatte, so sehr sie es sich auch wünschte. Seit der Veranstaltung hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl Victoria versucht hatte, ihn anzurufen.

Ihr Vater war brillant, aber vollkommen mit sich selbst beschäftigt.

Immer.

„Wie weit bist du?“, fragte er nun.

Seit dem Erlebnis mit Dominic waren sechs Wochen vergangen, und wenn sie die obligatorischen zwei Wochen dazurechnete …

„Acht Wochen“, sagte sie.

„Willst du es behalten?“, fragte Professor Christie.

Victoria erkannte plötzlich, dass er glaubte, sie wäre hier, um über eine Abtreibung zu sprechen. Dann hätte er ihr nämlich eine Überweisung geschrieben.

„Ja“, entgegnete sie. „Ich will es unbedingt behalten.“

Sie starrte ihn an, aber er las die Notizen auf seinem Schreibtisch.

„Was ist mit dem Vater?“ Nun blickte er hoch.

„Ihm habe ich es noch nicht gesagt. Wir sind nicht zusammen oder so. Er ist in Schottland.“ Das hatte Victoria aufgeschnappt. „Jahresurlaub.“

Wie Dominic reagieren würde, wusste sie, auch ohne dass ihr Vater sie warnte: „Das wird ja eine schöne Überraschung für ihn sein, wenn er zurückkommt.“

Er versuchte gar nicht erst, den Sarkasmus in seiner Stimme zu unterdrücken, sodass er Victoria nicht deutlicher hätte zeigen können, was er vom Thema Elternschaft hielt.

„Victoria, du solltest wirklich darüber nachdenken. Ein Kind allein aufzuziehen, das ist harte Arbeit. Ich spreche aus Erfahrung. Es wirkt sich auf dein ganzes Leben aus. Du redest doch selbst dauernd von deiner Karriere. Stell dir nur mal vor …“

Sie hatte ihn seit der Veranstaltung nicht mehr gesehen, auf der er für seine Karriere ausgezeichnet worden war. Und sie redete nicht „dauernd“ von ihrer Karriere. Einige Male hatte sie versucht, die Ähnlichkeit zwischen ihren Berufen zu einem Gesprächsthema zu machen.

Was aber nie funktioniert hatte. In seiner Welt voller Selbstliebe war kein Platz für andere.

„Ich kann dich finanziell nicht unterstützen“, sagte Professor Christie, denn er musste bereits eine kleine Sammlung von Exfrauen aushalten.

„Das habe ich noch nie verlangt.“

Nach der Schule war sie sofort ausgezogen, und sie hatte ihren Vater niemals um etwas gebeten. Das sollte sich jetzt allerdings ändern.

Sie sah ihren Vater an und wusste, dass es vollkommen sinnlos war. Er wollte mit ihr nichts zu tun haben, und öffentlich zeigte er sie nur vor, wenn er gerade noch keine nächste Frau gefunden hatte.

„Aber um etwas anderes möchte ich dich bitten …“, begann Victoria und hörte ihn irritiert ausatmen, wie er es immer tat, wenn sie einen Moment seiner kostbaren Zeit beanspruchte. „Ich möchte das Baby gern im Paddington zur Welt bringen.“

Als Victoria durch die Flure des Riverside spaziert war, hatte sie entschieden, dass sie das Kind nicht hier bekommen wollte. Am Riverside war nichts falsch, sie brachte auch oft Patienten her, aber es hatte keine Atmosphäre, und außerdem arbeitete ihr Vater hier.

Traurig, aber wahr: Sie fühlte sich dem Paddington enger verbunden als ihrem eigenen Vater. „Sie nehmen nur komplizierte Fälle“, sagte Professor Christie.

„Nicht nur“, widersprach Victoria. Sie wies ihn allerdings nicht darauf hin, dass sie dort geboren worden war und alle Mitarbeiterinnen ebenfalls versuchten, dort einen Termin für die Geburt ihrer eigenen Kinder zu bekommen. Sie würde sich nicht abwimmeln lassen.

„Es wird geschlossen“, beharrte er.

„Aber das steht doch noch nicht fest. Und wenn es wirklich geschlossen wird, bevor mein Baby kommt, kann ich mich ja immer noch überweisen lassen. Aber zumindest die Schwangerschaftsuntersuchungen würde ich gern dort durchführen lassen.“

Nun also bat sie ihren Vater zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben um etwas: „Kannst du mich da reinkriegen?“

„Ich werde es versuchen.“

„Jetzt?“ Sie wusste, dass er die Unterhaltung vergessen würde, sobald sie den Raum verließ. „Ich würde mich gern untersuchen lassen, bevor ich es bei der Arbeit bekannt gebe.“

Ihr Vater griff zum Telefonhörer, vermutlich, um sie möglichst schnell loszuwerden. Und dann war sie in der Entbindungsabteilung des Paddington angemeldet.

„Du brauchst vorher noch einen Ultraschall“, sagte Professor Christie und berichtete ihr, dass sie morgen einen Termin habe und die Überweisung am Empfang liege. „Allerdings“, fügte er an und konnte es nicht lassen, ihr noch einen Ratschlag zu geben, „würde ich an deiner Stelle wirklich noch einmal darüber nachdenken, Victoria.“

Das schmerzte. Victoria wusste, dass er sie nie gewollt hatte. Wenn ihre Mutter nicht zuerst gegangen wäre, da war Victoria sich sicher, wäre bestimmt ihr Vater verschwunden.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah, dass er sie längst vergessen hatte. Er arbeitete schon wieder, obwohl sie den Raum noch nicht mal verlassen hatte.

Dominic hatte recht: Ihr Vater war wirklich eiskalt.

„Ich verstehe, warum sie dich verlassen hat“, sagte sie plötzlich. „Meine Mutter.“

Professor Christie sah auf und starrte seine Tochter lange an. Bevor er sich wieder auf seine Notizen konzentrierte, hatte er wie immer das letzte Wort: „Dich hat sie auch verlassen.“

Am nächsten Tag hallte sein Satz immer noch in ihr nach.

„Du bist so still“, sagte Glen, während sie gemeinsam zum Paddington fuhren – zum ersten Mal nicht im Ambulanzwagen. Glen hatte ihr angeboten, mit ihr zum Ultraschall zu kommen. Victoria hatte zwar abgelehnt, aber für die Mitfahrgelegenheit war sie ihm sehr dankbar. In der U-Bahn war ihr ziemlich übel gewesen. Jetzt wurde es besser.

Glen wusste, dass sie schwanger war.

Natürlich.

Sie arbeiteten schließlich zusammen, und als Victoria zum ersten Mal so grün wurde wie ihre Uniform, hatte er sie gefragt, ob alles in Ordnung war. Victoria hatte nur genickt. Aber vor ein paar Tagen hatte er sie noch einmal und ganz direkt darauf angesprochen: „Hayley hatte diese furchtbare Morgenübelkeit, als sie mit Ryan schwanger war.“

Wenn man über einer Brechschale hinten in einem Krankenwagen saß, war es schwierig, eine Schwangerschaft zu verbergen.

„Du musst bei der Arbeit Bescheid geben“, sagte Glen.

„Ich weiß.“ Victoria schloss die Augen.

Es geschah also wirklich. Die letzten Wochen hatte sie versucht, es zu ignorieren, aber das war nicht mehr möglich. Diese Woche musste sie noch überstehen und dann ein Wochenende mit Nachtschichten. Danach hatte sie ihren Jahresurlaub, und sie hatte sich entschieden, ihrer Chefin nach dem Wochenende Bescheid zu sagen.

Glen gab ihr weitere Ratschläge, die sie wirklich nicht brauchte. Und obwohl er nicht wusste, wer der Vater war, sagte er. „Du musst dem Typen sagen, dass er ein Kind kriegt.“

„Danke, Glen“, antwortete sie bissig.

„Hör mal, Victoria …“

„Nein.“ Sie drehte sich zu ihm. „Auf deine Gardinenpredigt kann ich gut verzichten.“

Doch ihr war ja selbst klar, dass Dominic es wissen musste. Wenn er zurückkam, würde sie es ihm sagen.

Falls er zurückkam. Vielleicht gefiel es ihm zu Hause so sehr, dass er blieb. Victoria kannte ihn ja kaum. Denn nach ihrem gemeinsamen Abend hatten sie sich wieder wie Fremde verhalten. Sie flirteten nicht und sprachen definitiv nicht über das, was geschehen war. Er war immer noch grantig, und sie verhielt sich selbstbewusst wie immer. Wenn sie nicht schwanger gewesen wäre, hätte sie sich wohl gefragt, ob sie es geträumt hatte.

Es fühlte sich jedenfalls wie ein Traum an. Ein wunderschöner Traum.

„Soll ich wirklich nicht mitkommen?“, fragte Glen, aber Victoria lachte über seinen Vorschlag. Als ob sie jemanden brauchte, der ihr die Hand hielt.

„Für einen Ultraschall?“

„Hayley ist immer nervös …“ Glen sprach ständig von seiner Frau.

„Ich bin aber nicht Hayley“, antwortete Victoria wie immer. „Ich komme schon allein zurecht.“

Es würde ihr allein sogar viel besser gehen. Daran war sie schließlich gewöhnt.

Victoria lief durch die vertrauten Flure des Paddington und betrat die Radiologie. Dort gab sie ihre Überweisung der Empfangsmitarbeiterin.

„Wir sind leider etwas im Verzug“, sagte sie.

„Kein Problem“, erwiderte Victoria, obwohl sie unbedingt zur Toilette musste. Man hatte ihr gesagt, sie solle vor dem Ultraschall viel trinken, damit das Baby gut zu sehen sein würde. Aber sie hatte schon damit gerechnet, dass sie warten musste.

Neben dem Baby war in dieser Nacht noch etwas anderes in ihr entstanden. Ein Entschluss. Victoria war mittlerweile in ein Komitee eingetreten und hatte eine Kampagne gestartet, um das Paddington vor dem Zusammenschluss zu retten. Sie trafen sich jede Woche drüben im Frog and Peach – heute Abend auch wieder.

Allerdings war es schwerer als gedacht, die Dinge ins Rollen zu bringen. Die meisten Leute dachten, es stünde schon längst fest, dass das Paddington schließen müsste. Hier und da wurde in der Presse in wenigen Zeilen über die Kampagne berichtet, aber das war alles. Victoria wusste nicht, was sie als Nächstes vorschlagen sollte.

Rosie, eine Kinderkrankenschwester, und Robin, der die Chirurgie leitete, waren ihr eine große Hilfe. Victoria hoffte, vor dem Treffen noch mit ihnen sprechen zu können. Sie schickte eine Gruppennachricht, um an den Termin zu erinnern, und beantwortete einige E-Mails. Doch obwohl ihr das Krankenhaus unendlich wichtig war, konnte sie sich momentan nicht voll darauf konzentrieren.

Sie war nervös.

Das hätte sie Glen natürlich niemals gestanden, aber ihr war richtig flau im Magen. Sie saß neben einer hochschwangeren Frau und lauschte der Unterhaltung, die sie mit ihrer Mutter führte.

Victoria hatte ihre Mutter nie mehr gesehen, seit sie damals verschwunden war. Kein einziges Mal. Als Kind hatte sie natürlich nach ihr gefragt, aber nie viel erfahren. Ihr Vater weigerte sich, über seine erste Frau zu sprechen, und außer einigen Fotos, die Victoria bis heute in einer Schublade ihres Nachttischs aufbewahrte, wusste sie kaum etwas über ihre Mutter. Nur dass sie im Paddington gearbeitet hatte.

Als Victoria älter geworden war und ihr die schwierige Persönlichkeit ihres Vaters verständlicher wurde, hatte sie erst geglaubt, ihre Mutter wäre bestimmt verschwunden, weil sie unglücklich war. Später gab es eine Phase, in der sie dachte, ihre Mutter wäre tot, weil niemand einfach so ein Kind zurücklassen würde.

So war es ein Schock und eine Riesenenttäuschung, als Victoria schließlich herausfand, dass sie doch noch lebte und es ihr gut ging. Mehr als gut, wie Victoria den sozialen Netzwerken entnahm. Sie lebte in Italien. Mit ihrem zweiten Ehemann. Und war glückliche Mutter zweier erwachsener Söhne. Victoria wurde nicht erwähnt.

Sie hatte sie kontaktiert, aber keine Antwort bekommen.

Das hatte noch einmal wehgetan, und Victoria hatte sich entschieden, sich von ihrer Mutter nie mehr verletzen zu lassen. Aber hier und heute vor dem Ultraschall ließ der Schmerz sich nicht abstellen. Sie war neidisch auf die fremde Frau, die neben ihr saß. Mit ihrer Mutter.

Sie versuchte, sich auf eine E-Mail zu konzentrieren. Als sie hörte, dass die Türen geöffnet wurden, zog sie die Beine an, damit die Krankenschwester einen kleinen Patienten auf einer Rollliege vorbeischieben konnte. Das Kind weinte, und Victoria sah ihm nach. Sie fragte sich, was es wohl hatte, und in diesem Augenblick blickte sie direkt in Dominics Augen – er ging neben der Trage her.

Üblicherweise ignorierten sie sich oder sprachen nur über Patienten. Augenkontakt vermieden sie, wann immer möglich, aber nun blickten sie sich an. Er hatte die Stirn gerunzelt.

Kein Wunder. Sie saß schließlich vor der Ultraschallabteilung in einem Kinderkrankenhaus.

Victoria hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass sie ihn heute hier treffen könnte. Außerdem hatte sie gedacht, er wäre noch im Urlaub.

Er konnte nicht stehen bleiben – das Kind auf der Trage schien wirklich sehr krank zu sein –, aber er sah sie fragend an, während er an ihr vorbeiging. Victoria wusste nicht, was sie machen sollte.

Dominic sprach mit der Krankenschwester, und sie verschwanden in einem der Räume.

Victoria überlegte, ob sie nach dem Ultraschall in die Notaufnahme gehen und mit ihm reden sollte. Bevor er die Tür schloss, sah er noch einmal in ihre Richtung, aber zum Glück summte ihr Telefon, sodass sie den Blick senken konnte. Alle Gedanken an Babys, Väter und Ultraschall waren verschwunden, als sie die Nachricht las:

Warnung: Großschadensereignis

Alle Mitarbeiter zur Ambulanzstation.

Manchmal gab es Simulationen solcher Großschadensereignisse, aber man musste diese Warnungen unbedingt ernst nehmen, weil so die Reaktionszeit der Mitarbeiter gemessen werden konnte. Die Telefonleitungen und Zentralen sollten nicht von zweifelnden Anrufern belästigt werden, die nachfragten, ob der Vorfall wirklich echt war.

Victoria hatte das Gefühl, dass es dieses Mal nicht um eine Simulation ging. Sie sah auf den Fernseher an der Wand, aber dort gab es noch keine Nachrichten. Ihr Telefon piepte noch einmal mit einer dringenden Warnung. Der Ultraschall würde wohl warten müssen.

Victoria war durch und durch praktisch veranlagt, sodass sie zuallererst die Toilette aufsuchte. Damit war ein Problem gelöst. Als sie wieder auf den Flur hinaustrat, hörte sie es überall pingen und piepen. Das Warnsystem im Paddington war ebenfalls aktiv.

„Victoria Christie“, sagte sie der Empfangsmitarbeiterin. „Ich bin Sanitäterin. Ich muss los.“

Die Frau nickte. Sie war auch schon aufgestanden. Wenn es sich tatsächlich um ein Großschadensereignis handelte, mussten alle nicht dringenden Fälle verschoben werden, damit die Station für die Notfälle gerüstet war.

„Ich rufe an, um einen neuen Termin zu machen“, sagte Victoria. Als sie loslief, klingelte ihr Handy. Es war Glen, der ihr sagte, er würde sie vor dem Eingang treffen.

Es war wirklich keine Simulation. Das wurde Victoria noch einmal klar, als sie Dominic aus dem Ultraschallraum eilen sah. Jemand musste ihn dort abgelöst haben.

„Weißt du, was los ist?“, fragte sie ihn, als er sie erreicht hatte.

„Nein.“

Er war schneller als sie und lief davon. Als sie die Notaufnahme erreichte, trug Dominic einen Schutzhelm. Er wurde vor Ort geschickt. Mitarbeiter luden Koffer in den Wagen, mit dem er losfahren sollte, und Karen brachte wertvolles O-Negativ-Blut, das für Tage wie diesen in der Notaufnahme aufbewahrt wurde.

Die Ambulanzstation war nicht weit vom Krankenhaus entfernt, aber Glen, der die gleiche Nachricht erhalten hatte, wartete trotzdem auf sie.

„In der Westbourne Grove brennt es“, sagte er und fuhr, nachdem Victoria die Tür geschlossen hatte, sofort Richtung Ambulanzstation. Sie legte den Sicherheitsgurt an. „Klingt schlimm.“

Victoria antwortete nicht. Doch ihr Herz klopfte immer schneller.

Westbourne Grove war eine Grundschule. Heute war ein Wochentag …

„Es sind wohl Kinder im Gebäude gefangen“, sagte Glen mit zusammengebissenen Zähnen.

5. KAPITEL

Jede Sekunde zählte.

Victoria war für Großschadensereignisse geschult. Sie sprangen aus dem Auto, um sich umzuziehen. Viele Fahrzeuge verließen die Station bereits, um zum Brand zu fahren. Mitarbeiter, die keinen Dienst gehabt hatten, kamen an, um als Verstärkung und Ablösung bereitzustehen.

Sie ging in den Umkleideraum und tauschte Jeans und seidiges Top gegen Uniform und Stiefel. Im Zentralbereich der Station schnappte sie sich ihr Funkgerät und lief auf Glen zu, der bereits in einen Ambulanzwagen stieg.

Sofort standen sie in zähem Verkehr. Einige Notfallwagen kamen bereits mit heulenden Sirenen zurück und rasten weiter zum Paddington. Sie waren wohl in der Nähe des Feuers gewesen.

Es dauerte Ewigkeiten.

Sie hatten Sirene und Blaulicht eingeschaltet, aber die Londoner Straßen waren verstopft. Die Autofahrer versuchten, ihre Wagen auf den Bürgersteig zu lenken, um ihnen Platz zu machen. Neben den Sanitätsfahrzeugen sah Victoria Feuerwehrwagen, Polizei in Autos und auf Motorrädern. Der Lärm der Sirenen schwoll an, als sie sich der Schule näherten.

Aus den Funkgeräten drangen zahlreiche Stimmen. Kinder wurden aus den Flammen gezogen, und es wurde berichtet, dass die Feuerwehrleute immer wieder in das Gebäude vordrangen, um gefangene Kinder zu retten. Die meisten waren evakuiert worden und standen, wie es das Protokoll verlangte, auf dem Spielplatz, weit genug entfernt vom brennenden Gebäude. Sie mussten gezählt und ständig wieder gezählt werden, und als die ersten panischen Eltern ankamen, hatte die Polizei Schwierigkeiten, sie zurückzuhalten. Sie wollten mit eigenen Augen sehen, dass es ihren Sprösslingen gut ging.

„Deine Kinder gehen nicht auf die Westbourne Grove?“, vergewisserte Victoria sich.

„Nein“, antwortete Glen. „Gott sei Dank.“

Die kurze Stille zwischen seinen Worten klang viel lauter als das, was er gesagt hatte. Victoria wusste, dass Glen sich nun vorstellte, wie seine Kinder in einer brennenden Schule gefangen waren.

Als sie vor einigen Monaten zu einem außergewöhnlich schlimmen Autounfall gerufen worden waren, hatte Glen die Geschehnisse auch gleich mit seiner Familie in Zusammenhang gebracht. Er nahm immer alles sehr persönlich, und es wurde mit jedem Mal schlimmer.

Victoria hatte ihn schon mehrmals gewarnt, dass er Probleme bekäme, wenn er so weitermachte. Sie hatte ihm vorgeschlagen, mit jemandem darüber zu sprechen. Glen sagte jedoch, alles sei in Ordnung und jeder habe seine Achillesferse. „Außer dir, Victoria“, hatte er gespottet.

Das hatte sie tatsächlich zum Schweigen gebracht. Denn auch wenn Glens offensichtlicher Stress ihr Sorgen machte, wusste sie, dass sie das genaue Gegenteil tat und alles in sich hineinfraß, sodass nicht einmal ihr Kollege, dem sie vertraute, wusste, was in ihrem Kopf vorging.

Vielleicht hatte Glen recht. Vielleicht waren seine Reaktionen normaler als ihre. Und vielleicht war sie ein wenig neidisch. Nicht nur auf Glen und seine Fähigkeiten, Gefühle zu zeigen, sondern auch darauf, dass er Teil einer liebevollen Familie war und ständig an sie dachte. So wie seine Familie auch an ihn dachte. Hayley rief tagsüber an, und wenn es Bettzeit für die Kinder war, versuchte Glen immer, ihnen telefonisch eine gute Nacht zu wünschen.

„Hoffentlich sind jetzt alle draußen“, sagte Victoria mit einem Blick auf die Schule.

Dicker Rauch stieg in die Luft, schwarz und schwer, während ihnen jemand die Absperrung öffnete. Einige Eltern mussten wirklich mit Gewalt zurückgehalten werden, weil sie einfach nicht verstanden, welches Chaos sie verursachen würden.

Victoria und Glen parkten neben den Feuerwehrautos, hoben die Krankentrage und ihre Ausrüstung aus dem Wagen. Auf dem Schulhof standen Feuerwehrmänner und atmeten Sauerstoff aus Flaschen ein. In ordentlichen Reihen standen die Kinder auf dem angrenzenden Spielplatz. Sie weinten und hatten ganz offensichtlich Angst.

Aber sie lebten und waren in Sicherheit. Zwei Kinder sollten noch im Gebäude sein, erfuhren Victoria und Glen.

Sie erblickte Dominic, der sich um ein schwer verletztes Kind kümmerte und gemeinsam mit zwei Sanitätern die Verbrennungen versorgte. Als sie es auf eine Trage hoben, mussten Victoria und Glen zur Seite springen.

„Zurückbleiben!“ Ein Feuerwehrmann drängte sie zurück. „Eine der Binnenstrukturen fällt gleich zusammen.“

Sie waren an der Reihe. Der nächste Verletzte, ob Kind, Lehrerin oder Feuerwehrmann, würde von Victoria und Glen versorgt werden. Doch nun konnten sie erst einmal nur warten und zusehen.

Plötzlich war eine laute Explosion zu hören, dann tödliche Stille. Dominic, der das Kind in den Ambulanzwagen schob, drehte sich um und blickte auf das Gebäude.

Es waren nicht nur Kinder darin, sondern auch Feuerwehrleute.

Doch er hatte jeden Tag mit Verletzten und Unfällen zu tun. Es war sein Beruf, in solchen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Sobald das Kind sicher im Wagen lag, rannte er zurück zu den wartenden Sanitätern. Da sah er einen Feuerwehrmann aus dem Gebäude kommen – und Victoria, die auf den Mann zulief. Wut stieg in ihm auf: Sie verstieß gegen die Regeln. Nicht nur Dominic rief ihr nach. Aber nun rannte auch Glen auf den Feuerwehrmann zu, der ein Kind bei sich hatte.

Victoria wusste, wie wichtig Sicherheit war.

Zwar sollten sie sich fernhalten, weil auf eine Explosion oft eine zweite folgte, aber dieses kleine Leben war wirklich in Gefahr.

Der Feuerwehrmann stolperte und fiel auf die Knie, als sie ihn erreichte. Sie sah, dass er auch verletzt war und alles getan hatte, um das Kind aus dem Gebäude zu holen. Ihm würde gleich geholfen werden würde. Victoria sorgte sich mehr um das Kind.

Es war ein kleiner Junge, der stark aus einer Halswunde blutete. Als sie ihn auf den Boden legte, wusste sie, dass nicht mehr viel Zeit blieb, bevor er verbluten würde. Sie übte mit ihren behandschuhten Fingern Druck auf die Wunde auf, während Glen, der den Befehl zurückzubleiben, ebenfalls nicht befolgt hatte, eine Packung aufriss. Er reichte ihr mehrere Kompressen, aber das Kind blutete noch immer. Doch dann fand sie die richtige Stelle. Victoria atmete erleichtert auf. Die Blutung war gestoppt.

Sie blickte auf und sah, wie Dominic auf sie zugerannt kam, mit Wut in den Augen. „Wie könnt ihr einfach losrennen, wenn ihr stehen bleiben solltet?“

Victoria warf ihm einen Blick zu, der besagen sollte, dass sie gerade wirklich Wichtigeres zu tun hatte. Dominic kniete sich neben sie. Er sagte nichts mehr, und sie wusste, dass er mit ihr einer Meinung war. Er untersuchte den Jungen.

„Es ist Venenblut“, sagte Victoria und hielt ihre Finger, wo sie waren. Wenn es eine Arterie gewesen wäre, wäre der Junge schon tot gewesen, bevor der Feuerwehrmann ihn hätte hinausbringen können. Aber auch so hatte er praktisch sein gesamtes Blut verloren.

Glen versorgte ihn mit Sauerstoff. Dominic legte eine Infusion und nahm Blut ab, um die Blutgruppe des Kindes zu bestimmen. Er rief Karen zu, das O-Negativ-Blut zu nutzen, das sie in der mobilen Einheit mitgebracht hatten. O-Negativ-Blut war bei Großschadensereignissen der wichtigste Stoff überhaupt, denn ihn vertrugen alle Menschen, ganz unabhängig von der Blutgruppe. Deswegen wurde es nur in Notfällen genutzt, wenn man nicht auf das Ergebnis der Laboruntersuchung warten konnte. Und dieses Kind konnte nicht warten.

„Er muss ins Paddington“, sagte Dominic. „Und zwar sofort.“

Sie behandelten ihn weiter auf dem Spielplatz, und Victoria blickte sich nach Glen um. „Kannst du den Wagen näher hierherbringen?“

In dem Moment sah Victoria, dass noch ein Feuerwehrmann aus dem Gebäude kam, ein Kind in den Armen. Es hatte rote Haare. Mehr konnte sie nicht sehen. Außer dass es leblos in seinen Armen hing. Andere Sanitäter standen bereit, sodass sie sich wieder auf ihren eigenen Patienten kümmern konnte.

Eine Lehrerin trat zu ihnen und erkannte den Jungen als Lewis Evans. „Seine Mutter ist hier. Und halb wahnsinnig.“

„Die Polizei soll sie ins Krankenhaus bringen“, sagte Dominic. „Dort kann ich mit ihr sprechen.“

Dominic sah, wie das rothaarige Kind von zwei Sanitätern und einer Ärztin versorgt wurde. Er entschied sich, seinen eigenen Patienten zu begleiten. Es war schwierig, das Kind in den Krankenwagen zu heben. Als sie Lewis auf die Trage legten, verrutschten Victorias Finger für einige Sekunden.

Das durfte nicht noch einmal passieren.

Mit Blaulicht schlängelten sie sich durch die Straßen. Die Polizei hatte den Stau unter Kontrolle gebracht und einige Routen gesperrt, sodass sie zum Glück schneller waren als auf der Hinfahrt.

Victorias Arm schmerzte. Sie kniete auf dem Boden des Fahrzeugs. Dominic rief im Paddington an, um einen Operationssaal zu reservieren und den Chirurgen für Kopf- und Halsverletzungen vorzuwarnen. Plötzlich sah Victoria, dass Lewis’ Augen flackerten. Das Blut und der Sauerstoff schienen zu wirken.

„Hallo, Lewis“, sagte sie. „Du musst ganz still liegen bleiben. Du bist in einem Krankenwagen, und wir fahren dich zum Paddington Children’s Hospital.“

Lewis antwortete nicht, aber sie redete ganz ruhig mit ihm, als ob er sie hören konnte. „Ich bin Victoria. Du machst das ganz toll. Du hast bestimmt Angst und auch Schmerzen, aber es kommt alles wieder in Ordnung. Du musst nur ganz ruhig liegen bleiben.“

Dann sah sie auf und streckte ihren Rücken durch. Dominic bot ihr Wasser an, und sie nickte.

Er hielt sie fest, und sie nahm einen Schluck aus der Flasche. Endlich erblickte sie durch das Fenster das vertraute Gebäude, aber noch konnte sie sich nicht entspannen. Lewis hatte viel zu viel Blut verloren, sein Herz schlug schnell, und sein Blutdruck war kaum vernehmbar.

„Weiter gedrückt halten“, sagte Dominic, Victoria verdrehte kurz die Augen. Sie würde wohl kaum loslassen. Die Trage wurde ganz langsam abgesenkt, sodass Victoria den Druckpunkt nicht verlor.

„Gut gemacht“, sagte Dominic, und jemand half ihr aus dem Wagen. Sie seufzte. Es war gut, festen Boden unter den Füßen zu haben und das Kind im Paddington zu wissen, wo es zumindest eine Chance hatte.

Vor dem Krankenhaus war das Chaos ausgebrochen. Sicherheitsleute und Polizei halfen, den Eingang frei zu halten, damit die ankommenden Patienten gleich versorgt werden konnten.

Einige Eltern waren gleich ins Krankenhaus gefahren. Außerdem einige Reporter und wie immer diese unsäglichen Leute, die Freude daran hatten, sich das Unglück anderer Menschen anzusehen.

Endlich waren sie im Gebäude. Sie brachten Lewis jedoch nicht in die Notaufnahme, sondern eilten, von einem Teamleiter geführt, durch die Flure. Erleichtert sah Victoria, dass ihnen jemand einen Aufzug reserviert hatte.

Im Operationssaal war alles vorbereitet, und das Team war so bewundernswert gut eingespielt, dass Dominic sich entschied, wieder runter in die Notaufnahme zu rasen, da sie ihn dort gut gebrauchen konnten.

Es war so ruhig im Saal, dass Victoria durchatmete.

Der Kopf- und Hals-Chirurg hatte sich gründlich gewaschen und sprach nun mit der Anästhesistin, wie sie die Halswunde angehen würden. Lewis bekam inzwischen bereits über beide Arme Blut verabreicht und war vor der Intubation sediert worden.

Victoria war schwindelig. Nicht drauf achten, sagte sie sich. Aber sie stand jetzt wirklich schon seit einer ganzen Weile und drückte immer noch auf die Wunde.

„Wie lange noch?“, fragte sie und sah Sterne vor den Augen. Sie wusste nicht, ob es an ihrer Stimme lag oder ihrer Blässe oder plötzlich alles bereit war, aber zum Glück übernahm gerade noch rechtzeitig eine OP-Schwester ihre Position.

„Komm mit“, sagte Glen. Er führte sie aus dem Operationssaal und einen Flur hinunter. Victoria blieb stehen, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Sie atmete einige Male tief ein. Aber das war nicht genug, sodass sie sich schließlich auf den Boden setzte, die Knie anzog und den Kopf senkte.

„Müssen wir zurück zur Schule?“, fragte sie.

„Nein, wir sollen hierbleiben“, antwortete Glen. „Ich hole dir ein Glas Wasser.“

„Haben es alle geschafft?“, fragte sie, ohne aufzublicken.

„Ich glaube schon.“

Kurze Zeit später war er wieder da, und Victoria trank einen großen Schluck.

„Ein paar wurden nach Riverside gebracht“, fuhr er fort, „aber die meisten sind hier.“

Sie nickte und senkte wieder den Kopf. Ihr war nicht mehr ganz so schwindelig, aber sie dachte über ihre Rettungsaktion nach und ob es richtig gewesen war, die Anweisungen zu ignorieren. Es war ganz instinktiv geschehen, das wusste sie, aber nun begriff sie, dass sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte.

Und so fand Dominic sie eine Weile später. Er war bestimmt wieder stinksauer auf sie, weil sie gegen die Regeln verstoßen hatte.

„Wie geht’s dem rothaarigen Jungen?“, fragte Glen.

„Ich hab ihn gerade zu einem dringenden Kopf-CT gebracht und an Alistair übergeben, den Neurochirurgen.“

Dominic stand über ihr, während sie immer noch gegen die Wand gelehnt saß. Sie spürte geradezu, dass sie ihm in die Augen sehen sollte. Sie blickte auf, in sein finsteres Gesicht, auch wenn seine Stimme ruhig klang.

„Wie schlimm ist es?“, fragte Glen weiter.

„GCS von sechs“, antwortete Dominic, während er weiter Victoria ansah. „Er hatte sich in einem Schrank versteckt.“

„Armer Kleiner“, sagte Glen.

Dominic bemerkte, dass Glen die Fragen stellte. Dabei hatte er selbst eine Frage, die er an Victoria richtete. „Ignorierst du eigentlich immer alle Anweisungen? Du solltest zurückbleiben, weil das Gebäude einsturzgefährdet war.“

„Ich hab gesehen, wie der Feuerwehrmann fast gestolpert wäre“, erklärte Victoria. „Und dass das Kind stark blutete.“

Victoria fühlte sich etwas besser, wusste aber selbst nicht, ob sie richtig gehandelt hatte. Sie wollte gerade wirklich nicht mit Dominic sprechen, also stand sie auf und sah Glen an. „Lass uns zurück zum Wagen gehen.“

„Einen Moment …“

Victoria drehte sich nach Robyns Stimme um. Robyn Kelly war die Leiterin der chirurgischen Abteilung und setzte sich stark mit dafür ein, dass das Paddington gerettet wurde. „Dominic, wir müssen mit der Presse reden.“

Zwar hatte das Krankenhaus heute einiges zu bewältigen gehabt, aber die kritisch Verletzten waren nun alle versorgt, und es kehrte wieder Routine ein. Es gehörte zum Job, danach mit der Presse zu reden. Dominic nickte.

„Und du auch“, sagte Robyn und blickte Victoria an.

„Ich?“

„Sie hätten gern einen Vertreter aus allen Bereichen der Erstversorger“, erläuterte Robyn und wies mit dem Kopf zu einem Mitarbeiterzimmer. „Schaut euch das an.“

Im Fernsehen liefen die Nachrichten, und die Kameras zeigten das immer noch nicht gelöschte Feuer, das jedoch unter Kontrolle schien. Oben rechts war ein kleineres Bild zu sehen, in dem sich Dominic und Victoria über den kleinen Lewis beugten und um sein Leben kämpften.

„Angela Marton, eine Reporterin, hat gerade darauf hingewiesen, wie viel schlimmer die Sache ausgegangen wäre, wenn das Paddington nicht so nah gewesen wäre. Darüber sprechen jetzt alle.“ Sie sah Victoria an. „Endlich regt sich jemand über die Übernahme auf.“

„Gut“, erwiderte Victoria.

„Euer Bild ist auf allen Sendern …“

Dominic und Victoria wussten beide nicht, wie sie darauf reagieren sollten, dass sie das neue Aushängeschild für die Rettungskampagne des Krankenhauses geworden waren: Save Paddington.

Robyn musste weiter. Dominic, Victoria und Glen gingen gemeinsam die Flure hinunter. Glen stellte weitere Fragen zu den Verletzungen, und Dominic gab sich Mühe, alles zu beantworten, aber dachte eigentlich an etwas anderes. Auch nicht an die Brandkatastrophe, sondern an den Moment, kurz bevor der Alarm losging und Victoria vor der Radiologie saß. Und wie sie gerade zusammengesunken und blass im Flur vor dem Operationssaal gehockt hatte.

Es war ganz normal, dass man sich nach solch einer Sache flau im Magen fühlte. Victoria hatte praktisch stundenlang Druck auf Lewis’ Wunde ausgeübt.

Als er zu ihr hinübersah, ging sie mit starr nach vorn gerichtetem Blick neben ihm her.

Sie näherten sich dem Pressebereich, wo Victoria kurz mit ihrer Chefin redete. Zuerst würde die Polizei sprechen, dann die Feuerwehr. Danach sollte Dominic an die Reihe kommen, gefolgt von Victoria.

„Das letzte Kind, das gerettet wurde, war Ryan Walker“, informierte die Chefin sie. „Er ist sechs.“

„Okay“, sagte Victoria und sah mit Absicht nicht zu Glen hinüber. Sein Sohn hieß Ryan, und sie wusste, dass diese Verbindung ihm wieder zusetzen würde.

Sie nahm ihre Position in der Reihe ein.

Während sie überlegte, wie sie das Thema ansprechen sollte, das ihr so wichtig war, konnte sie nicht den Mann ausblenden, der so nah neben ihr stand. Die Kameras waren auf sie gerichtet, Seite an Seite, und sie spürte, wie angespannt er war.

Wenn auch dieses Mal nicht in sexueller Hinsicht.

„Wir müssen reden“, sagte Victoria, während sie weiter geradeaus blickte. „Aber nicht hier.“

„Offensichtlich“, sagte Dominic trocken.

Sie blickte ihn an und fragte sich, ob es ihn ärgerte, dass sie beide als Repräsentanten für Save Paddington ausgewählt worden waren. Zumindest hatte Robyn es so dargestellt.

Oder ob er wusste, was los war.

6. KAPITEL

Dominic wusste, was los war.

Zumindest verstand er es ganz langsam!

Er hoffte sehr, dass sie nicht wirklich von ihm schwanger war, und sagte sich, dass er das nicht noch einmal durchmachen würde. Dass er nicht noch einmal wie der letzte Idiot dastehen würde.

Die Pressekonferenz lief gut. Dominic sagte, alle hätten eng zusammengearbeitet, Victoria gelang es, die geplante Schließung anzusprechen, indem sie sagte, die Nähe des Paddington zum Brandort habe Schlimmeres verhindert.

In der Notaufnahme war der Stress groß. Alles war voller Ruß, und es roch nach Rauch. Neben den verletzten Kindern verursachten auch die Angestellten und Feuerwehrleute den Trubel, aber nach und nach wurde es ruhiger.

Dominic war seit sieben Uhr morgens im Dienst, und nach zwölf ereignisreichen Stunden sollte er wohl Feierabend machen.

Stattdessen duschte er, zog sich eine schwarze Jeans und ein Hemd an und ging hinüber zum Pub, dem Frog and Peach, wo das Treffen für Save Paddington stattfinden sollte. Dort erfuhr er jedoch, dass es wegen des Brandes in der Westbourne Grove abgesagt worden war und einige Tage später in einem Hörsaal des Krankenhauses stattfinden sollte.

Heute Abend wäre nicht mit einer vernünftigen Unterhaltung zu rechnen gewesen.

Die Mitarbeiter mussten sich entspannen und die Ereignisse noch einmal durchsprechen. Es war laut im Pub.

Dann sah er Victoria. Sie trug die Jeans und das rostrote Top, in denen er sie auch in der Radiologie gesehen hatte. Sie sprach mit Rosie, einer der Pädiatrie-Krankenschwestern.

Und … sie trank Mineralwasser.

Nicht dass das etwas zu bedeuten hatte.

Er wusste schließlich nicht, ob sie normalerweise etwas Alkoholisches bestellt hätte. Tatsache war: Er wusste nichts über sie. Nur was sie in dieser einen Nacht vor ein paar Wochen getan hatte.

„Hallo, Dominic“, grüßte Rosie, als er auf sie zukam. „Wie war dein Urlaub?“

„Schön“, antwortete er.

„Warst du weg?“

„In Schottland.“

„Familienbesuch?“

Er nickte kurz. Das war einfacher, als zuzugeben, dass er zwar geplant hatte, seine Familie zu besuchen und seine Wut hinter sich zu lassen, dann aber doch noch nicht bereit gewesen war.

Dominic wollte überhaupt nicht an eine neue Beziehung denken, bevor er nicht all die belastenden Erinnerungen an die letzte verarbeitet hatte. Aber der Gedanke, Victoria zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde, hatte ihn zumindest dazu gebracht, wenigstens zu versuchen, nach Hause zu fahren. Er hatte es nicht geschafft.

Das war keine Sturheit. Es war Ehrlichkeit. Er konnte nicht einfach hinfahren und so tun, als wäre nichts passiert. Dominic wollte wieder eine echte Beziehung zu seinem Bruder und seinem neuen Neffen aufbauen, und ja, auch zu Lorna, doch er würde sich nicht drängen lassen. Wenn er um des lieben Familienfriedens willen nachgeben würde, wäre es ein falscher Frieden.

Er hatte gehofft, seine Familie zu besuchen und das Baby kennenzulernen, aber es tat immer noch zu weh. Also war er in einem Hotel untergekommen und in dem Land herumgefahren, das er so sehr liebte. Und er hatte viel nachgedacht.

Viel über sie nachgedacht.

Victoria.

„Wir haben uns entschieden, das Treffen zu verschieben“, begann sie mit einer Erklärung. „Wir werden …“

„Hab ich schon gehört“, erwiderte Dominic. Als Rosie sich umdrehte und eine andere Unterhaltung begann, waren es nur noch sie beide.

„Hast du Hunger?“, fragte er.

„Ich habe gerade etwas gegessen. Du?“

„Nein.“

Er wollte nicht versuchen, in dem überfüllten Pub nach einem Tisch zu suchen. Schon kam Robyn auf sie zu, vermutlich, um sie zu dem Gespräch mit den Journalisten zu befragen.

„Komm mit“, sagte Dominic zu Victoria. Hier würden sie sich nicht ohne ständige Unterbrechungen unterhalten können. Sie traten auf die Straße, aber auch hier war nicht der beste Ort für ein Gespräch.

„Wir könnten zu mir gehen“, schlug Victoria vor, aber Dominic schüttelte den Kopf.

Er wollte Victoria definitiv nicht noch näherkommen. Er wollte nicht wissen, wo sie lebte, wollte sich nicht gemütlich bei ihr aufs Sofa setzen und mit ihr quatschen.

„Nicht nötig“, erwiderte er. „Wir können auch alles, was wir zu sagen haben, hier sagen.“

Victoria runzelte die Stirn. „Sicher?“

„Ganz sicher.“

Tja, dann würde sie es ihm hier sagen. Keine weiteren Ausflüchte. „Ich bin in der achten Woche schwanger.“

Als Arzt sollte er wissen, dass man zwei Wochen dazu rechnen musste, um herauszufinden, wann das Kind gezeugt worden war. Doch da er sie befremdet ansah, fügte sie hinzu: „Es ist deins.“

Dominic antwortete nicht.

Was sollte er auch sagen?

Mit Lorna hatte er diese Unterhaltung nicht geführt. Er hatte ihr vollkommen vertraut, und er wusste ja, was daraus geworden war. Wie sollte er ihr glauben? Der Sex war spontan gewesen, sie hatten ein Kondom benutzt, und sie hatte ihm an dem Abend gestanden, dass sie gerade mit jemand anderem Schluss gemacht hatte.

Nein, er würde sich nicht noch einmal reinlegen lassen.

„Ich musste den Termin für meinen Ultraschall verlegen“, sagte Victoria. „Ich wusste nicht, ob du dabei sein wolltest.“

Er schnaufte und dachte an den letzten Ultraschall und was dort geschehen war – wie der Arzt das Datum genannt und er ihn gebeten hatte, es zu wiederholen. Und wie Lorna ihm nicht in die Augen blicken konnte.

Victoria sah seinen Ausdruck und interpretierte ihn ganz richtig. „Du musst mir nicht die Hand halten, Dominic. Ich kann gut verstehen, dass du nicht glaubst, dass es deins ist, aber beim Ultraschall würde dir das Datum bestätigt.“

„Nein, würde es nicht. Du sagst, du bist in der achten Woche. Das heißt, sie können dir nur Parameter zwischen fünf und sieben Tagen geben …“

„Na, vielen Dank.“ Victoria klang bissig.

„Wir haben ein Kondom benutzt.“

„Ich werde nicht versuchen, dich zu überzeugen“, sagte Victoria. „Ich weiß, dass es deins ist, aber ich akzeptiere, dass du es mir nicht glaubst. Wie auch immer. Ich dachte, du hast ein Recht, es zu erfahren. Jetzt weißt du es.“

Dominic stand da und wusste nicht, was er sagen sollte. Sie war so direkt und sachlich wie immer, aber er war letztes Mal so verletzt worden, dass er sich garantiert nicht noch einmal auf solch eine Sache einlassen würde. Er würde Abstand wahren, bis es sicher war.

„Wenn das Baby geboren ist, machen wir einen Vaterschaftstest. Wenn es meins ist, können wir weiterreden.“

„Das ist alles?“, fragte Victoria.

„Was sonst noch?“

„Wenn du so eingestellt bist: gar nichts.“ Sie drehte sich um und ging.

Er sah ihr hinterher. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und überquerte die Straße. Kurz bevor sie in der U-Bahn-Station verschwand, rannte er plötzlich hinter ihr her.

„Warte!“

Sie hielt nicht an. Sie betrat die Rolltreppe, blieb aber nicht stehen, sondern stieg die hohen Stufen hinauf. Doch Dominic war schnell und hatte sie bald eingeholt.

„Victoria, warte.“

„Nein.“ Hier unten war es genauso voll wie oben im Pub. Ein Gespräch würde hier nicht funktionieren, und so wie er vorhin reagiert hatte, würde sie ihn bestimmt nicht noch einmal zu sich einladen. „Ich bin müde, Dominic. Es war ein verdammt langer Tag, und ich will nur noch ins Bett.“

Er konnte sehen, wie müde sie war. Der Tag musste sie wirklich geschlaucht haben. Und er erinnerte sich, wie wütend er gewesen war, als sie auf das Kind und den Feuerwehrmann zugelaufen war.

Nein, nicht wütend.

Er hatte Angst gehabt.

Er schob sie an einen ruhigen Fleck, wo sie aufrecht stehen blieb, statt sich gegen die Wand zu lehnen. Mit einem Arm versuchte er, sie von den Leuten abzuschirmen, die an ihnen vorbeiliefen.

„Hast du bei der Arbeit Bescheid gesagt?“, fragte Dominic, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte.

„Noch nicht. Aber mein Kollege weiß es.“

„Du musst es ihnen sagen.“ Der Brand heute war nur eine von vielen Situationen, in denen es gefährlich wurde. „Victoria!“

„Das ist meine Sache“, antwortete sie.

Natürlich hatte sie eigentlich keine Wahl, das wusste sie. Sie musste Bescheid sagen, sobald sie erfuhr, dass sie schwanger war. Aber Victoria hatte es selbst immer noch nicht ganz verstanden und es deshalb aufgeschoben.

„Hör mal …“, begann Dominic, aber sie schüttelte den Kopf und wollte gehen.

„Ich will das nicht hier bereden. Du warst derjenige, der es draußen auf der Straße erfahren wollte.“

Das stimmte. Damit sie nicht davonlief, entschied er sich, ihr einen Teil der Wahrheit zu sagen.

„Weißt du, woher ich die Sache mit den Parametern weiß?“

„Weil du Arzt bist?“

„Weil ich darüber in den Babybüchern gelesen habe. Vor ein paar Monaten saß ich mit meiner Ex in so einem Ultraschallraum und musste herausfinden, dass das Baby, das wir erwarteten, nicht meins sein konnte, weil ich in Indien war, als es gezeugt wurde. Deswegen bin ich nach London gezogen. Deswegen bin ich hier.“

Sie sah ihn an. Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Doch statt ihn zu bemitleiden, hatte auch Victoria eine Wahrheit: „Ich bin nicht deine Ex.“

Und dann duckte sie sich unter seinem Arm durch und war verschwunden.

7. KAPITEL

Nein, sie war garantiert nicht seine Ex.

Zwei Tage später saß Dominic ganz hinten im Vorlesungssaal und sah zu, wie Victoria hinter das Mikrofon trat. Sie trug ein graues Leinenkleid mit Ballerinas. Ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie war klein und zart, aber sie fiel auf. Obwohl immer noch Leute hereinkamen, fing sie pünktlich an.

„Wir legen los“, sagte sie. „Wie schön, dass ihr alle gekommen seid.“

Sie hielt inne, als ein Telefon klingelte. Dominic merkte, dass Victoria den Mann böse anstarrte, statt abwartend zu lächeln. „Bitte schaltet alle eure Handys aus.“

„Aber es könnte wichtig sein, Victoria“, rief jemand. Dominic lächelte. Das konnte in ihrem Beruf immer der Fall sein.

„Dann reicht auch Vibrationsalarm“, erwiderte sie. „Wir haben eine Menge zu besprechen, und wenn alle paar Minuten ein Handy oder ein Pager losgeht, kommen wir nicht weit.“

In der kurzen Pause schalteten viele Anwesenden ihre Telefone auf lautlosen Empfang. Dominics war schon aus. Mittlerweile ließ er es zwar nicht mehr im Spind liegen, aber klingeln sollte es während der Arbeit auch nicht. Dort hatte sein Privatleben nichts zu suchen. Falls seine Eltern anriefen, was sie ziemlich oft taten, hinterließen sie eine Nachricht, sodass er sie zurückrief, wenn gerade nicht viel zu tun war. Er ließ sie zumindest nicht mehr bis zum Schichtende warten.

Es gab noch immer nicht viel zu sagen. Sie sprachen lieber über das Wetter, statt sich der Tatsache zu stellen, was ihr jüngster Sohn getan hatte.

Dominic wusste, dass er sein Elend und sein Misstrauen an Victoria ausgelassen hatte.

Deswegen war er heute Abend hier. Er hoffte, nachher mit ihr zu sprechen. Doch nun hörte er ihr erst einmal zu.

„Das Feuer hat den Leuten gezeigt, wie wichtig das Krankenhaus ist.“

Robyn hatte mit ihrer Ahnung recht behalten, und Victoria und Dominic waren zum Aushängeschild für die Save Paddington – Kampagne geworden. Ihr Bild wurde hinter Victoria an die Wand geworden, und Victoria versuchte, nicht zu Dominic zu blicken. Er war noch nie bei einem Treffen gewesen, auch wenn er, wie sie wusste, freigehabt hatte. Sie war froh, wie viele Kollegen hier heute ihre Unterstützung zeigten, aber sie hätte sich gefreut, wenn Dominic nicht gekommen wäre. Er lenkte sie nur ab.

Und das tat er seit ihrem gemeinsamen Abend – er lenkte sie ab. Von ihrem Leben.

Schon zuvor hatte sie immer nach ihm gesucht, wenn Glen und sie einen Patienten ins Paddington brachten.

„Die Transportzeit sollten wir unbedingt als Argument mit aufnehmen“, sagte Matthew McGrory, ein Spezialist für Verbrennungen. Er hatte sich rund um die Uhr mit den Patienten beschäftigt, die während des Schulbrandes verletzt worden waren, und sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. „Weil es so viele Opfer gab, wurden einige ins Riverside gebracht, aber die wirklich schwer verletzten Kinder haben wir hier aufgenommen und schnell behandelt. Die erste Stunde ist immer am wichtigsten, und es wäre viel Zeit verloren gegangen, wenn es das Paddington nicht gegeben hätte.“

„Richtig“, sagte Victoria. „Das müssen wir betonen. Welchen Unterschied es für alle Einwohner in der Gegend macht. Aber es kommen auch Patienten aus weiterer Entfernung zu uns. Das dürfen wir nicht unter den Tisch fallen lassen. Dafür müssen wir uns die passende Strategie ausdenken.“

„In der Presse spielen wir momentan eine große Rolle“, sagte Robyn. „Das müssen wir ausnutzen. Die Aufmerksamkeit darf nicht wieder verloren gehen.“

Rebecca Martin, eine Herz-Lungen-Chirurgin, die das Transplantationsteam leitete, wies darauf hin, dass viele Ärzte kündigten und die Kardiologie in Schwierigkeiten geriet. „Wir können nur Verträge mit extrem kurzer Laufzeit anbieten. Dabei haben im Paddington immer die besten Ärzte gearbeitet. Das darf sich nicht ändern. Die Kampagne muss das Krankenhaus im besten Licht darstellen.“

Nach und nach entstanden Ideen, die sie weiterverfolgten. Schließlich wurde entschieden, dass das erste Event eine Spendenveranstaltung sein sollte, ein abendlicher Ball.

Das Treffen dauerte einige Stunden. Dominic sah und hörte zu.

Victoria war wirklich bewundernswert.

Aus einigen verstreuten Protesten wurde eine richtige Kampagne, um das Paddington zu retten. Die Leute verstanden langsam, wie wichtig es war, ihr Krankenhaus zu behalten, und das Feuer hatte einiges dazu beigetragen.

„Gut“, sagte Victoria. „Ich glaube, für heute reicht es erst einmal. Natürlich können wir gern weiterdiskutieren. Ich glaube, die meisten, die keine Schicht haben, werden ins Peach and Frog gehen.“

Die Handys wurden wieder eingeschaltet, und die ersten Anwesenden verließen den Raum.

Dominic ging zu Victoria hinunter. „Gut gemacht“, sagte er.

Victoria ignorierte ihn und packte stumm ihren Computer und andere Unterlagen zusammen.

Nach dem Brand hatte sie einige Tage freigehabt und hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem sie ihn von dem Baby erzählt hatte. Und jetzt wollte sie ihn auch nicht sehen.

Aber sie kam wohl nicht um ein Gespräch herum. Er wartete, bis alle anderen gegangen waren. Als sie allein waren, drehte sie sich zu ihm um.

„Ich möchte mich für neulich entschuldigen“, sagte Dominic.

Victoria hatte wütend in der Bahn gesessen, aber als sie zu Hause ankam, hatte sie verstanden, warum er so reagiert hatte. Dominic hatte jedes Recht, insbesondere wegen seines Erlebnisses mit seiner Exfreundin, daran zu zweifeln, dass das Kind seins war. Doch sie hatte auch das Recht, ihm nicht gleich zu verzeihen.

„Dominic“, sagte sie. „Ich bin schwanger von unserem One-Night-Stand. Aber ich akzeptiere, dass du, so wie ich mich verhalten habe, den Eindruck haben kannst, dass ich so etwas öfter mache …“ Sie sah ihn an. „Das ist aber nicht der Fall. Ich habe vor Weihnachten mit jemandem Schluss gemacht und seitdem …“

„Du musst mir das nicht erzählen, Victoria. Ich bin achtunddreißig. Ich bin mir sicher, dass wir beide diverse Beziehungen hinter uns haben.“

Und genau in diesem Augenblick erkannte sie, wie unterschiedlich sie wirklich waren.

Victoria war neunundzwanzig, und was Beziehungen anging …

Etwas, was man wirklich so nennen konnte, hatte sie nie gehabt.

Es gab einige feste Freunde, mit denen sie je für ein paar Monate zusammen gewesen war, aber sie hatte nie mit jemandem zusammengelebt und war, ganz ehrlich, auch noch nie richtig verliebt gewesen.

„Da solltest du dir nicht so sicher sein“, antwortete sie jetzt. „Ich habe es nicht so mit Beziehungen, deswegen halte ich mich davon lieber fern. Wie gesagt, kurz vor Weihnachten habe ich mich von jemandem getrennt, und abgesehen von ein paar ersten Dates, aus denen nichts weiter geworden ist, hat es seitdem niemanden mehr gegeben.“ Kein Wunder, dass das Kondom versagt hatte. Es hatte schließlich monatelang in ihrer Tasche gelegen. „Dieses Jahr hat es, von einem aufregenden Abenteuer hoch in einem Turm abgesehen, niemanden gegeben.“ Sie lächelte bei ihrer eigenen Beschreibung. „Und ich glaube, dieses aufregende Abenteuer warst du.“

„Allerdings.“

„Und es tut mir leid, dass deine Ex dich betrogen hat und du noch nicht über sie hinweg bist. Aber das ist dein Problem und …“

„Darum geht es nicht“, unterbrach Dominic sie.

Sie zog die Augenbrauen hoch. Dominic musste lächeln. Natürlich klang es für sie so, als sei er noch nicht über seine Ex hinweg. Victoria glaubte wahrscheinlich, dass er nach England abgehauen war, weil er sich von ihr getrennt hatte. Das musste er wohl noch etwas genauer erklären. „Derjenige, mit dem Lorna mich betrogen hat, war mein Bruder.“

„Oh“, sagte Victoria.

Er wartete, dass sie ihren Blick abwenden oder, wie alle anderen, schnell das Thema wechseln würde, aber sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Das ist peinlich.“

Und er lachte und wiederholte: „Allerdings.“

„Hattet ihr eine enge Beziehung, du und dein Bruder?“

„Vorher schon.“

„Und warst du schon lang mit deiner Freundin zusammen?“

„Ja.“

„Habt ihr zusammengelebt?“

„Ja.“ Er nickte. Er wollte auf all diese Fragen nicht antworten. Er wollte ihr nur etwas besser erklären, warum er auf ihre Ankündigung, dass sie schwanger war, so merkwürdig reagiert hatte. „Darüber will ich gar nicht sprechen.“

Dominic hatte noch mit niemandem darüber gesprochen.

Alle aus der Familie wollten so schnell wie möglich über das peinliche Thema hinweggehen und so tun, als wäre nichts passiert. Victoria war da anders. Sie brachte ihn sogar zum Lächeln.

„Mit aufregenden Abenteuern hast du es also.“

„Macht wohl den Eindruck.“

„Habt ihr beide mit ihr geschlafen?“

„Ich will wirklich nicht darüber reden“, sagte er warnend.

„Na gut.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann gehe ich mit meinem Komitee was trinken.“

„Haben wir nicht noch einiges zu besprechen?“

„Schon gut“, antwortete Victoria. „Ich komme zurecht. Momentan gibt es wirklich nichts zu sagen. Wenn du einen Vaterschaftstest willst, sobald das Baby da ist, ist das auch in Ordnung.“

Sie gingen den Korridor hinunter, aber während Dominic weiter geradeaus lief, bog sie links ab.

„Wohin gehst du?“

„Das ist eine Abkürzung.“

Dominic wollte keine Abkürzung gehen. Er wollte so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen, auch wenn er das nicht zugeben wollte. Es war schön, mit ihr zu sprechen und nebeneinander herzugehen.

Die Abkürzung war ein alter Innenhof, den er noch nie gesehen hatte. Ein Stück blauer Himmel war zu sehen, und die Luft roch frisch. Dominic wollte sich den Ort merken, um an einem langen Arbeitswochenende wieder herzukommen.

„Vielleicht ist es doch keine Abkürzung“, sagte Victoria und legte den Kopf in den Nacken. Die kühle Luft im Gesicht tat gut. „Eher die landschaftlich schönere Strecke.“

„Du kennst das Krankenhaus wirklich wie deine Westentasche“, sagte Dominic. „Warst du oft mit deinem Vater hier?“

„Ja, es gab immer wieder neue Kindermädchen, und zwischendrin war ich immer hier, bis er einen Ersatz gefunden hatte.“

Einige der Kindermädchen hatte sie gerngehabt, aber alle hatten es schnell unerträglich gefunden, für ihren Vater zu arbeiten, sodass sie bald wieder gekündigt hatten. So war es auch mit seinen Freundinnen. Erst versuchten sie, die Tochter für sich zu gewinnen, um den Vater zu beeindrucken, aber sobald die Beziehung beendet war, ließen sie sich nicht mehr blicken.

Selbst als Victoria etwas älter war, war sie oft nach der Schule oder an langen Wochenenden hergekommen. Es war langweilig, allein zu Hause zu sitzen. Hier im Innenhof hatte sie bei schönem Wetter viele Schulaufgaben erledigt.

„Was ist mit deiner Mutter?“, fragte Dominic, als sie schließlich weitergingen.

„Sie haben sich getrennt.“ Mehr sagte sie nicht dazu. Stattdessen sah sie ihn an. „Ich werde nicht zulassen, dass du im Leben meines Kindes auftauchst und plötzlich abhaust. Und es wird auch nicht einfach hier abgeladen, wenn du arbeiten musst. Mein Baby wird bei mir zu Hause bleiben.“

Dominic antwortete nicht. Wenn Victoria meinte, dass er sich als Vater nicht kümmern würde, lag sie falsch, aber darüber würde er jetzt nicht diskutieren. Stattdessen wollte er sie um etwas bitten. „Ich wäre gern beim Ultraschall dabei.“

Doch Victoria schüttelte sofort den Kopf, als hätte sie viel darüber nachgedacht. „Besser nicht. Das Angebot ziehe ich wieder zurück.“

„Weshalb?“

„Deshalb.“

Dominic wusste, dass er kein Recht dazu hatte, und drängte nicht weiter.

Jedenfalls nicht sofort.

Sie verließen das Krankenhaus und gingen zum Frog and Peach hinüber.

Doch plötzlich hatte sie keine Lust mehr auf den Pub.

„Kommst du nicht mit?“, fragte er, als sie nach links abbog.

„Nein.“

Sie erklärte ihm nichts. Sie war ihm keine Erklärung schuldig und ärgerte sich, als er ihr hinterherkam. „Was?“

„Wir haben noch viel zu besprechen.“

„Ich glaube nicht. Ich schicke dir die Bilder, dann kannst du …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann kannst du machen, was immer du willst. Kannst die Parameter durchrechnen und überlegen, ob es vielleicht deins ist.“

Dieses Mal ging sie entschiedener davon.

Langsam fühlte es sich alles furchtbar real an.

Wochenlang hatte sie befürchtet, schwanger zu sein. Mittlerweile wusste sie es.

Aber es war nicht nur das Baby und das Wissen, dass sie bei der Arbeit Bescheid sagen musste, was Victoria beschäftigte. Es war Dominic MacBride.

Sie hatte herausgehört, wie besorgt er neulich war, dass sie noch arbeitete, und das spürte sie noch immer. Das Gefühl würde nur noch stärker werden.

Aber sie wollte sich nicht von ihm abhängig machen. Sie dachte an ihre eigene Mutter, die einfach verschwunden war, an all die Kindermädchen, Freundinnen und neuen Frauen, die ihr Vater verschlissen hatte. In ihrem Leben hatte es niemanden gegeben, der lange blieb. Nur ihr Vater, und der hatte sie mit zur Arbeit geschleift und an andere abgegeben.

Sie wollte sich nicht von einem Mann abhängig machen, der bestimmt bald das Interesse verlieren und ebenfalls verschwinden würde. Das würde sie ihrem Kind nicht antun.

8. KAPITEL

Dominic erwachte vom Klang der Sirenen unten auf der Straße.

Er hatte sich eine Dreizimmerwohnung nahe dem Krankenhaus gekauft, und da auch die Ambulanzstation nicht weit entfernt war, waren die Sirenen täglich zu hören. Und jedes Mal fragte Dominic sich, ob es wohl Victoria war, die in ihrem Krankenwagen losfuhr.

Sie würde nicht einmal wissen, dass sie an seiner Wohnung vorbeifuhr, dachte Dominic, denn sie wusste ja nicht, wo er lebte.

Sie wussten nichts voneinander.

Trotzdem dachte er die ganze Zeit an sie.

Er mochte sie.

Oder besser: Er fühlte sich unheimlich zu ihr hingezogen. Was nicht gerade dabei half, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.

Seit ihrem gemeinsamen Abend im Paddington dachte er an sie.

Eigentlich schon vorher.

Als er von Jamie und Lorna erfahren hatte, hatte er niemanden mehr an sich herangelassen und sich stattdessen in die Arbeit gestürzt. Das war seine Rettung gewesen, seine Therapie gegen den Schmerz und die Wut, und Dominic hatte wirklich nicht vorgehabt, mit jemand anderem etwas anzufangen.

Doch dann war sie mit ihren schweren Stiefeln und kurz angebundenen Übergaben in seine Gedanken getrampelt. Ihr selbstbewusstes Lächeln war wie ein Eindringling gewesen – und doch hatte er immer nach ihr geschaut.

Hatte sie bemerkt.

Victoria war ganz anders als die Frauen, die er sonst mochte.

Sie hatte ihn interessiert, obwohl Dominic nicht interessiert sein wollte, sogar so sehr, dass er sie beobachtete, wie sie einen Patienten an der Aufnahme registrieren ließ, während er selbst mit besorgten Eltern sprach. Er hatte gesehen, wie sie hinter den Regalen verschwunden war, und den Raum gefunden, in dem sie sich versteckt hatte.

Seitdem war er selbst einige Male dorthin verschwunden.

Einmal hatte er im Operationssaal ein kleines Kind nicht retten können und musste es den Eltern sagen. Damals waren es Victoria und Glen gewesen, die die Patientin eingeliefert hatten. Es war eine schreckliche, furchtbare Nacht. In seinem Beruf hatte er jeden Tag mit dem Tod zu tun, aber dieser Verlust war besonders schlimm gewesen.

Die Eltern wollten die Organe ihres Mädchens spenden, damit anderen Kindern geholfen wurde. Zum Glück kam Rebecca herein. Als sie Dominic sah, sagte sie ihm, sie würde den Fall übernehmen. Er war ihr sehr dankbar für ihr Mitgefühl, und Dominic beneidete sie um ihren sicheren Umgang mit den Eltern.

Er legte sich im Bereitschaftsraum hin und fragte sich die ganze Nacht über, ob er etwas anders hätte machen können, auch wenn er genau wusste, dass das Leben des Mädchens mit dem Aufprall vorbei gewesen war. Er konnte nicht einschlafen, stand auf und kletterte hinauf in Victorias Turm, wo er über die stillen Dächer von London blickte.

Dort, weit entfernt von den ständigen Hintergrundgeräuschen des Krankenhauses, dachte er an die Ärzte, die damals so sehr darum gekämpft hatten, seinen Bruder zu retten. Er erkannte, dass er genau das auch für das Mädchen getan hatte. Dass er sie nicht retten konnte, musste er akzeptieren.

Der ruhige Raum hatte ihn getröstet.

Und später, an einem ganz anderen Abend, hatten er und Victoria dort erneut gemeinsam erst Leidenschaft und dann gemeinsam Ruhe gefunden. An dem Abend, an dem der kleine William geboren worden war.

Die Vernunft in ihm mahnte, er solle vorsichtig sein. Er könnte wieder verletzt werden.

Aber die Vernunft konnte nichts ausrichten gegen den Zauber der Nacht, gegen die Unterstützung, die sie sich gegenseitig gewesen waren. Victoria hatte zwar gesagt, sie mache sich nur wegen des Krankenhauses Sorgen, doch er war sich sicher, dass es noch andere Gründe für ihre Traurigkeit gab.

Er wollte Victoria besser kennenlernen.

Trotz des Babys. Trotz seiner mahnenden Vernunft. Er wollte die Frau hinter der kühlen Fassade kennenlernen. Es war höchste Zeit, etwas zu unternehmen.

„Du hast einen Verehrer, Victoria!“

Die flachsenden Kollegen empfingen sie, als Victoria von einer Fahrt mit Glen in die Ambulanzstation zurückkam. Ein riesiger Strauß wunderschöner Blumen stand dort und wartete auf sie. Es waren Freesien, ihre Lieblingsblumen, dazu Hyazinthen und andere. Die Station war von dem reichen, süßen Duft erfüllt, und die Farben sorgten für regelrechte Frühlingsgefühle.

Ihr Herz schlug schnell, aber sie zeigte ihre Aufregung nicht. Stattdessen verdrehte sie, während sie die Karte öffnete, die Augen. Sie war sich ziemlich sicher, wer die Blumen geschickt hatte.

Wenn Dominic glaubte, dass so wundervolle Blumen ihm eine zweite Chance geben und er sie doch noch zum Ultraschall begleiten dürfte, hatte er sich getäuscht. Doch dann las sie die Karte und fand heraus, dass er gar nicht an sie gedacht hatte.

„Von Lewis’ Eltern“, sagte sie lächelnd. „Lewis war der Junge mit der Halswunde aus der Westbourne Grove.“

„Wie geht es ihm?“, fragte Victorias Chefin.

„Anscheinend sehr gut. Er darf bald nach Hause.“

Das wusste sie nur von der Karte. Anders als Glen, der fast immer nachfragte, kümmerte Victoria sich später nicht mehr um ihre Patienten. Nicht, weil sie sich nicht um sie sorgte, sondern weil schlechte Nachrichten sie zu sehr mitnahmen. Deswegen hatte sie sich bewusst entschlossen, sich fernzuhalten.

Lewis’ Eltern hatten auch für Glen ein Geschenk dagelassen – eine gute Flasche Wein. Er schloss sie in seinen Spind ein und sagte, dort würde sie warten, bis sie ihre Nachtschichten nächste Woche überstanden hätten. Denn am Montag darauf war sein und Hayleys Hochzeitstag.

Glen erzählte Victoria von ihren Plänen für diesen Abend, während sie wieder im Wagen saßen. „Zehn Jahre“, sagte er. „Ich kann es kaum glauben.“

Victoria konnte es sich auch nicht vorstellen. „Was schenkst du ihr?“

„Hayley sagt, sie will nichts. Sie wünscht sich nur …“ Glen zögerte und entschied sich offensichtlich, etwas anderes zu antworten. „Ich schenke ihr einen Ewigkeitsring. Saphir und Diamanten.“

„Das klingt toll“, sagte Victoria. „Was wünscht sie sich wirklich?“ Sie blickte zu Glen hinüber, der sich auf die Straße konzentrierte. Aber sie konnte erraten, was Hayley sich wünschte, und das wusste wiederum auch Glen.

„Lass es, Victoria.“

Aber sie konnte es nicht lassen.

„Wie ging es dir nach dem Brand in der Schule?“, fragte sie.

„Gut. Sie haben ja alle gerettet.“

Victoria wusste, dass Glen Probleme hatte. Sie arbeiteten schließlich schon seit zwei Jahren zusammen. Auch wenn sie selbst Zeit gebraucht hatte, Vertrauen zu ihm zu fassen, war Glen ihr gegenüber von Anfang an offen gewesen. Er war immer freundlich und entspannt und gut in seinem Job. Aber in letzter Zeit hatten sich die Dinge geändert.

Vor einigen Monaten waren sie zu einem Autounfall gerufen worden und hatten ein schwer verletztes Mädchen ins Paddington fahren müssen, wo die Kleine schließlich gestorben war.

Einige Fahrten waren schlimmer als andere, und Glen hatte es sehr persönlich genommen. Das kleine Mädchen war genauso alt gewesen wie seine Tochter, und der Unfall war auf einer Strecke passiert, auf der seine Frau oft mit ihrer Tochter unterwegs war.

Einige Wochen später hatte Victoria gemerkt, dass Glen sich verändert hatte. Er war nicht mehr so locker wie vorher, sondern oft angespannt. Dann rief er zu Hause an, um Hayley zu fragen, ob alles in Ordnung war.

Obwohl Glen darauf bestand, dass es ihm gut ging, war Victoria sich sicher, dass Hayley sich von Glen wünschte, er würde mit einem der Therapeuten sprechen, die ihnen zur Verfügung standen. Aber Glen weigerte sich.

Sie würde abwarten, entschied Victoria sich, und in der Zwischenzeit weiter auf ihn aufpassen.

„Die Blumen waren schön“, sagte Glen.

„Sehr schön“, stimmte Victoria zu.

Trotzdem ärgerte es sie, dass sie enttäuscht war, weil diese schönen Blumen nicht Dominics Idee gewesen waren.

An diesem Vormittag war viel zu tun, und als sie gerade anfingen, über das Mittagessen nachzudenken, wurden sie zu einer Frau geschickt, die in einem Geschäft umgekippt war.

„Ich muss nicht ins Krankenhaus“, protestierte sie. Ihre kleine Tochter war dabei, und während sie die Frau in die Ambulanz schoben, fanden sie heraus, dass das Mädchen heute ihren neunten Geburtstag hatte.

„Hast du keine Schule?“, fragte Glen.

„Sie geht in die Westbourne Grove“, antwortete die Mutter.

Victoria lächelte das Mädchen an. „Du musst im Moment wohl einiges mitmachen, hm?“

Die Kleine nickte. „Mein Freund Ryan ist sehr krank.“

„Das ist bestimmt nicht leicht.“

Sie fuhren Mutter und Tochter nach Riverside. Als sie gerade die Krankentrage wieder in den Wagen schieben wollte, sah Victoria ihren Vater in die Notaufnahme kommen.

Er sah sie kühl an. „Victoria.“

Sie nickte zurück und schnaufte, als er vorüber war.

„Wer ist das?“, fragte Glen, aber Victoria zuckte nur mit den Schultern. Sie würde Glen bestimmt nicht sagen, dass er ihr Vater war. Glen sprach die ganze Zeit über seine Familie und trieb Victoria damit manchmal in den Wahnsinn, aber eigentlich mochte sie es, Einblicke in sein so sympathisches Privatleben zu bekommen, und schämte sich für ihr eigenes.

Sie begannen erneut, über ihr Mittagessen nachzudenken, als die Zentrale sie bat, einen Patienten aus der Kinderabteilung des Riverside in die Verbrennungsabteilung im Paddington zu fahren. Nach dem Feuer war das Paddington bis auf den letzten Platz belegt gewesen, aber nun war ein Bett frei geworden, und ein süßes, kleines Mädchen namens Amber sollte heute Vormittag zu den anderen verlegt werden.

„Hallo, Amber“, begrüßte Victoria sie.

Das Mädchen hatte eine schwere Verbrennung an Hand, Arm und Schulter, für die eine Hauttransplantation notwendig war. Amber stiegen die Tränen in die Augen, als sie die Krankentrage sah.

„Kein Problem“, sagte Glen. „Wir können dich auch in einem Rollstuhl bis zum Ambulanzwagen bringen, wenn dir das lieber ist.“

Das schien sie zu erleichtern, und Glen suchte und fand einen Rollstuhl. Doch als sie das Auto erreichten, wurde Amber wieder unruhig. Sie erinnerte sich bestimmt an die Schmerzen, die sie bei ihrem letzten Transport gehabt haben musste, an ihre Angst, die Blaulichter und Sirenen.

„Schau mal, ich mache dir ein Hühnchen“, sagte Glen. Victoria lächelte, als ihr Kollege einen Gummihandschuh aus der Tasche zog und ihn aufblies. Er war gut mit kleinen Kindern und wusste genau, wie er ihnen eine Freude machen und sie ablenken konnte. Victoria überließ ihm diese Aufgaben gern.

Wenig später saß Amber mit ihrem „Hühnchen“ im Krankenwagen, und die Fahrt war kein Problem mehr. Als sie im Paddington die Verbrennungsabteilung betraten, sah Victoria, wie Dominic auf dem Flur auf sie zukam. Er hatte nicht seine Krankenhausklamotten an, sondern Anzug und Krawatte und sah einfach unverschämt gut aus.

Sollte sie nicken und grüßen? Dominic nahm ihr die Entscheidung ab. Er grüßte sie beide, und Victoria lächelte kurz zurück.

Glen war frecher. „Direktaufnahme“, sagte er im Vorübergehen. „Wir bringen sie gleich auf die Station.“

„Sehr gut“, rief Dominic zurück.

Es war nur ein kleiner, spaßiger Austausch, aber seine Stimme und die trockene Reaktion brachten Victoria zum Lächeln. Ihr wurde warm im Gesicht.

Auf der Verbrennungsabteilung war viel los, aber Amber wurde freundlich willkommen geheißen.

„Hallo, du“, sagte Matthew, der Verbrennungsspezialist, und lächelte Amber im Rollstuhl zu. „Ich bin Matt.“

Glen und Victoria brachten Amber in ein Untersuchungszimmer, während Matthew kurz mit der Mutter des Mädchens sprach. Dann kam die Frau zu ihnen. „Wie schön, dass wir jetzt auch im Paddington sind“, sagte sie und wirkte erleichtert. „Amber, es sind schon ein paar Freunde von dir hier.“

„Als wärst du wieder in der Schule.“ Victoria lächelte.

Schließlich war Amber versorgt. In der Verbrennungsabteilung war es immer furchtbar heiß, weil die Temperatur für die Patienten hochgehalten wurde. Bevor Victoria ging, unterhielt sie sich kurz mit Matt, der auch auf dem Treffen für Save Paddington gesprochen hatte.

„Immer noch viel los?“, fragte sie.

Er nickte. „Das wird sich wohl auch nicht so bald ändern. Ich habe ernst gemeint, was ich gesagt habe – dass es gut war, dass das Feuer bei uns in der Nähe war. Für einige Kinder war es wirklich die Rettung. Hast du Simon hergebracht?“

„Simon?“ Victoria schüttelte den Kopf.

„Den kleinen Jungen mit der Pflegefamilie?“ Glen wusste wirklich über alle Patienten Bescheid, und Matt nickte.

„Nein, das war ein anderes Team. Wie geht es ihm?“

Victoria fühlte sich überhitzt. „Ich brauche etwas zu trinken“, sagte sie. Glen konnte sich stundenlang unterhalten, und es war wirklich heiß hier. Er folgte ihr. Der Getränkeautomat funktionierte nicht, aber als sie an der Kantine vorbeikamen, fasste Glen sie am Arm. „Komm, wir essen zu Mittag.“

Sie konnte kaum protestieren. Sie mussten keine Trage zurück zum Wagen bringen. Und selbst wenn Dominic in der Nähe war, wusste Victoria, dass sie ihm nicht ständig aus dem Weg gehen konnte.

Sie hoffte nur, dass er nicht in die Kantine kommen würde.

„Was willst du?“, fragte Glen. Eigentlich hatten sie eine Routine: Victoria besetzte einen Tisch, und Glen holte das Essen.

Doch da war Dominic.

Sie wusste es, sobald sie den Raum betraten. Sie zwang sich, nicht zu ihm zu blicken, aber aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass er in einer Ecke saß und mit einer Frau sprach.

Dominic sollte sie nicht allein sehen, um erneut ein Gespräch zu suchen oder sie zu bitten, mit zum Ultraschall zu dürfen.

„Victoria?“, fragte Glen. Sie hatte seine Frage noch nicht beantwortet.

„Ich weiß noch nicht. Ich komme mit.“

Sie entschied sich für ein Sandwich mit Salat, dazu eine heiße Schokolade und eine Flasche Wasser. Glen nahm die Tomatensuppe mit einem Brötchen. Der Tisch, den sie fanden, stand zum Glück weit entfernt von Dominics.

Sie trank das halbe Wasser und biss nicht besonders begeistert in das Sandwich. Glen schlürfte die heiße Suppe. „Kann ich dich was fragen, Victoria?“

„Was?“ Er würde sie nur wieder fragen, wann sie bei der Arbeit Bescheid geben würde. Oder ob sie dem Vater schon von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Das fragte er regelmäßig, seit sie ihm von dem Baby berichtet hatte. „Schmierst du Butter unter deine Erdnussbutter?“

Victoria lächelte. Sie mochte ihre oft sinnlosen Gespräche, und es half ihr, nicht mehr an Dominic zu denken.

„Natürlich.“

„Hayley nicht. Und als ich neulich ein Sandwich für Adam gemacht habe, meinte er, er wolle keine Butter.“

„Adam ist neun?“, versicherte Victoria sich. Glen nickte und schlürfte weiter an der Suppe. „Tja, ich würde sagen, wenn er so wählerisch ist, soll er sich seine Brote in Zukunft selber machen.“

„Du hast noch nie versucht, vier Kinder gleichzeitig für die Schule fertigzukriegen, oder?“ Glen seufzte. „Wenn sie sich alle ihr Brot selbst schmieren würden, würden sie nicht nur ein Chaos hinterlassen, sondern auch dauernd zu spät kommen.“

Was sollte sie da sagen? Natürlich hatte sie noch nie vier Kinder zur Schule bringen müssen. Aber hoffentlich in ein paar Jahren wenigstens ein Kind. Die Schwangerschaft wurde für Victoria immer realer, und sie freute sich darauf, bald Mutter zu werden. Ihr gefielen die Geschichten, die Glen aus seinem Familienleben erzählte. So konnte sie sich besser vorstellen, wie ihr Leben aussehen würde.

Wenn Glen Frühschicht hatte, machte er für alle die Brote. So hatte Hayley mehr Zeit.

Ihr eigener Vater hatte ihr damals nie etwas zu essen eingepackt. Da hätte sie genauso gut warten können, dass er mit ihr zum Mond flog. Auch zu Hause hatten sie niemals zusammen gegessen. Immer nur, wenn sie auf irgendeiner Veranstaltung eingeladen waren.

„Hast du dem Kerl schon berichtet, dass er Vater wird?“, fragte Glen jetzt, und Victoria seufzte. Sie wollte ihm gerade sagen, dass er seine Nase nicht in ihre Angelegenheiten stecken solle, als jemand anders die Frage für sie beantwortete. „Ja, Glen, das hat sie.“

Sie starrte auf ihr angebissenes Sandwich, statt Dominic anzusehen, der sich zu ihnen setzte.

„Wie gut, dass das nicht peinlich ist“, sagte sie.

„Wieso peinlich?“, entgegnete Dominic. „Wir wissen doch alle drei, dass du schwanger bist.“ Er sah Glen an. „Hast du nicht gewusst, dass ich der Vater bin?“

„Ich hatte so eine Ahnung“, gab Glen zu, und Victoria sah ihn böse an, als sie begriff, dass er sie mit Absicht in die Kantine gebracht hatte. Glen nahm sein Brötchen und stand auf. „Ich gehe schon mal zum Krankenwagen, Victoria.“

Victoria sah Dominic an. „Mit dem werde ich noch ein Wörtchen zu reden haben.“

„Mach dir nichts draus“, sagte Dominic. „Ich wollte heute Abend sowieso bei der Ambulanzstation vorbeigehen und eine Nachricht für dich hinterlassen. Damit du dich meldest.“

„Warum?“

„Weil wir miteinander reden müssen.“

„Worüber?“

„Also, Glen weiß es …“, begann Dominic.

„Er hat es selbst herausgefunden“, unterbrach Victoria ihn. Sie dachte, er wäre böse, dass andere von der Schwangerschaft wussten.

„Victoria, ich finde es gut, dass er es weiß. Es ist gut, dass er sich um dich kümmert. Und er hätte dich aufhalten sollen, als du während des Feuers losgelaufen bist.“

„Meine Arbeit geht dich nichts an“, sagte Victoria. „Er ist mein Partner, nicht mein Vorgesetzter. Ich entscheide immer noch selbst.“

„Natürlich“, sagte Dominic. Er versuchte, sie wie eine Kollegin zu behandeln, schaffte es aber nicht. Er redete sich ein, er habe jedes Recht, sich Sorgen zu machen. Schließlich trug sie sein Kind unter dem Herzen. Nur war es, als es gebrannt hatte, nicht dieses Kind, um das er Angst gehabt hatte. Denn damals wusste er noch gar nicht, dass sie schwanger war.

Er hatte ein Kind in den Krankenwagen geschoben und sich umgedreht, als er den Knall gehört hatte. Er hatte gesehen, wie sie auf den Feuerwehrmann zugerannt war. Glen hinterher.

Und er hatte auch gesehen, wie all die Feuerwehrleute wieder und wieder in das brennende Gebäude gelaufen waren und sich in Gefahr begaben. Aber es war nur Victoria gewesen, die er zurückholen wollte.

Schon da hatte er gewusst, dass sie anders war als andere Frauen.

Deswegen reagierte er so.

Er hatte gesehen, wie sie in die Kantine gekommen war, erhitzt und etwas zerstreut. Als sie die halbe Flasche Wasser herunterstürzte, hatte er begriffen, dass sie gerade aus der Verbrennungsabteilung gekommen war, und mit den schweren Stiefeln und der Uniform war es dort bestimmt nicht gerade angenehm.

Er hatte ihr und Glen zugesehen, während sie sich beim Auswählen ihrer Mahlzeiten entspannt unterhalten hatten.

Er war wirklich froh, dass Glen Bescheid wusste.

„Ich wollte niemandem verraten, dass du der Vater bist“, sagte sie. „Zumindest nicht, bevor wir die Ergebnisse haben.“

„Wer weiß noch Bescheid? Was ist mit deiner Familie?“, fragte er. Ob sie diese Sache ganz allein durchstand?

„Ich habe es meinem Vater erzählt.“

„Was hat er gesagt?“

„Nicht viel.“

„Ist er wütend?“

„Wütend?“, wiederholte Victoria.

„Na ja, weil du allein lebst.“

„Ich glaube nicht, dass ich ihm wichtig genug bin, um wütend zu werden. Er war irritiert. Ich habe ihn gefragt, ob er seine Beziehungen spielen lassen könne, damit ich zur Geburt hier ins Paddington kommen kann. Das hat er gemacht.“ Sie schloss kurz die Augen. „Gerade bin ich ihm dann im Riverside begegnet.“ Und sie gestand Dominic, was sie nicht einmal Glen hatte sagen können. „Wir haben kaum Hallo gesagt. Neulich hatten wir ein unangenehmes Gespräch.“

„Über das Baby?“

„Mehr oder weniger.“ Sie zuckte unbehaglich mit den Schultern.

„Ich habe mich ein paar Mal mit deinem Vater unterhalten“, sagte Dominic und sah, wie sie blinzelte, während er ihr – ohne etwas auszusprechen – zu verstehen gab, was ein fürchterlicher Mensch der alte Mann war. Als sie nichts erwiderte, sprach er weiter. „Was ist mit deiner Mutter?“

„Die spielt keine Rolle. Das habe ich dir schon gesagt.“

Victoria nahm einen großen Schluck Wasser und entschloss sich, doch weiterzureden. „Genau darüber habe ich mich mit meinem Vater unterhalten.“

Seine Geduld war angenehm. Er wartete, während sie ihn forschend anblickte und überlegte, wie viel sie erzählen sollte. „Er meinte, ich solle es mir gründlich überlegen, die Schwangerschaft fortzuführen, und dass er weiß, wie schwierig es ist, sich allein um ein Kind zu kümmern.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Er hat sich allerdings auch nicht wirklich um mich gekümmert.“

„Hast du ihm das so gesagt?“

„Nein.“

„Sondern?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts.“

Und so wusste Dominic, um dreizehn Uhr fünfzehn in der inzwischen lauten Krankenhauskantine, dass er wirklich Vater wurde. Denn Victoria hatte ihn gerade angelogen. Es war noch irgendetwas anderes passiert in dem Gespräch mit ihrem Vater. Und wenn er wusste, wann sie log, dann wusste er auch, dass der Rest die Wahrheit war.

„Ich schätze“, sagte Victoria, „ich werde mich daran gewöhnen müssen, dass ich die Einzige bin, die sich auf das Baby freut.“

Sie sah ihn an und hoffte, dass er aufspringen und rufen würde: Nein, nein, ich freue mich doch auch, Victoria! Doch er sah sie einfach nur an, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

Außerdem würde sie ihm sowieso nicht glauben.

Wie könnte er sich freuen, wenn ein One-Night-Stand zu einem Baby führte?

Warum nur war es dann so angenehm, hier mit ihm zu sitzen? Seine Körpersprache wirkte so geduldig, so gemessen und reif. Oh Gott, was tat er ihr nur an? Denn Victoria hatte vergessen, wieder wegzusehen, und blickte ihm immer noch in die Augen.

Zwischen ihnen gab es eine so starke Anziehungskraft, dass es schien, als ob die anderen Menschen in der Kantine gar nicht mehr da waren.

„Wollen wir heute Abend etwas essen gehen?“, fragte Dominic.

„Essen?“ Sie runzelte die Stirn. Sie hatte gerade gesagt, dass niemand außer ihr sich auf das Baby freute, und er wollte mit ihr ausgehen? „Was ist das denn für eine Antwort?“

„Eine sehr vernünftige“, antwortete er.

Zumindest log er nicht. Er würde nicht so tun, als ob er sich freute, nur um sie zu beruhigen. „Eine Verabredung“, fügte er an.

„Nein!“

„Nur ein Abendessen“, sagte er, als hätte sie nicht gerade abgelehnt. „Wir reden nicht über Babys und nicht über Vaterschaftstests. Wir finden nur heraus, ob wir miteinander zurechtkommen. Ob wir uns mögen.“

Sie lachte. „Das ist doch das Einzige, was wir wissen.“

Der letzte Satz gefiel ihm. „Das ist doch schon mal ein guter Anfang“, sagte Dominic. „Zumindest für eine erste Verabredung.“

9. KAPITEL

Ein guter Anfang? Victoria war noch nie so aufgeregt gewesen, während sie sich für ein Date vorbereitete.

Sobald ihre Schicht vorbei gewesen war, war sie aus der Station gestürzt und noch einmal zurückgerannt, als Glen hinter ihr herrief, dass sie die Blumen vergessen habe.

Dann eilte sie ins Einkaufszentrum, wo sie frische Bettwäsche kaufte. Sie hatte ja auch wirklich schon seit Langem neue kaufen wollen – und sie war im Angebot. Aber warum machte sie sich eigentlich etwas vor? Es gab nur einen Grund, warum ihr Schlafzimmer schön aussehen sollte.

So unruhig war sie schon lange nicht mehr gewesen. Eigentlich war es das erste Mal überhaupt, dass sie sich freute, jemanden in ihre Wohnung einzuladen. Sie machte das Bett, arrangierte die Blumen in eine Vase und stellte sie im Wohnzimmer auf die Fensterbank. Im Schlafzimmer überlegte sie lange, was sie anziehen sollte, und nahm die beste Unterwäsche aus der Schublade. Dann sprang sie unter die Dusche.

Dominic parkte vor der Wohnung, und als er klingelte, öffnete Victoria ihn die Tür. Sie war noch im Bademantel und hatte nasse Haare.

„Tut mir leid, wir mussten in letzter Minute noch einen Patienten fahren …“

„Kein Problem.“

„Ich brauche nicht lange.“

Ihre Wohnung war winzig und richtig hübsch, auch wenn die Aussicht auf die Bahngleise nicht gerade idyllisch wirkte. Tatsächlich war sie, entschied Dominic, während er im Wohnzimmer stand, viel unkomplizierter und gemütlicher als ihre Bewohnerin. Ein Zweiersofa und ein Sessel, offenkundig ihr Lieblingsplatz, weil ein Stapel Zeitschriften danebenlag. Im kleinen Regal standen medizinische Handbücher. Sie war sauber, aber nicht so ordentlich, wie er es erwartet hatte. Es war die Wohnung einer ganztags arbeitenden Frau.

Auf der Fensterbank stand ein riesiger Blumenstrauß, und Victoria ertappte ihn dabei, wie er versuchte, die Karte zu lesen.

Sie trat ins Wohnzimmer und grinste. „Die sind von Lewis’ Eltern“, sagte sie. „Lewis war der mit der Wunde am Hals aus der Westbourne Grove.“

„Gut.“

„Ich habe keinen heimlichen Verehrer.“

„Nein, aber einen ganz offensichtlichen“, erwiderte er. „Du siehst toll aus.“

Sie glaubte ihm. Das lag an seinem Blick.

Ob in Stiefel und Uniform mit locker zusammengebundenem Haar oder aber chic angezogen wie heute Abend, unter seinem Blick fühlte sie sich immer schön. Jetzt trug sie ein seidiges, auberginenfarbenes Kleid und schwarze High Heels. Das Haar hatte sie offen gelassen.

„Wo gehen wir hin?“, fragte sie.

Ins Bett, wollte er sagen.

Ins Bett, wollte sie hören.

Doch es gab so viel zu klären, und das sollten sie wohl besser mit einem Tisch zwischen ihnen machen.

„Es gibt ein französisches Restaurant, von dem ich nur Positives gehört habe. Ich habe es allerdings noch nicht ausprobiert“, sagte Dominic.

„Klingt gut.“

In seinem schottischen Dialekt klang alles gut. Er hätte Fish and Chips vorschlagen können, und sie wäre ihm gefolgt. Sie nahm ihre Diamantohrstecker und lächelte, als sie sah, wie er ihr beim Anlegen zusah. „Die haben uns in diese furchtbare Lage gebracht.“

„Daran ist nichts furchtbar“, widersprach er. „Es ist ein Baby, und es wird sich schon alles klären.“

Das wünschte sie sich sehr, denn in ihrem Kopf ging alles drunter und drüber. Sie wollte ihn küssen, sie wollte von ihm berührt werden, sie wollte wie ein Pärchen mit ihm essen gehen oder aber einfach später aus dem Bett eine Pizza bestellen. Sie hatten alles verkehrt herum gemacht, und er hatte erst mit ihr ausgehen wollen, als er wusste, dass sie schwanger war.

Dieser Schmerz würde, falls sie sich näherkamen, zusammen mit dem Baby wachsen, das wusste sie.

„Kommst du?“, fragte er.

Das Restaurant war reizend und klein. Sie wurden zu einem ruhigen Tisch geführt, der so schmal war, dass sich ihre Knie berührten. Was sie beide nicht störte.

Auch die Speisekarte klang großartig, und Victoria stöhnte, als sie all die Saucen mit Käse und rohen Eiern sah, die sie momentan meiden sollte. „Wenn ich nicht mehr schwanger bin, werde ich noch einmal herkommen und all das essen, was ich jetzt nicht darf.“

„Habe ich schlecht gewählt?“, fragte Dominic, der daran wohl nicht gedacht hatte.

„Nein, ich beschwere mich ja nicht.“

Sie bestellte Coq au Vin und er ein Steak béarnaise. Ihre Unterhaltung blieb gezwungen, bis das Essen kam.

„Köstlich“, sagte Victoria, als sie ihr Hühnchen probierte. „Ich mache Coq au Vin manchmal selbst, aber an das hier kommt es wirklich nicht ran …“

„Wäre ja auch schlimm.“

Sie sah ihn an. „Wieso?“

„Du bist ja schließlich keine französische Köchin.“

Sie musste lächeln. Er forderte sie heraus. „Hätte ich aber sein können, wenn ich es gewollt hätte. Na ja, Köchin zumindest, französisch wohl eher nicht.“

Sie sprachen über die Rettungskampagne für das Krankenhaus und den Wohltätigkeitsball. Dann fragte sie ihn, ob er seine Arbeitsstelle in Schottland vermisse.

Dominic hielt inne und überlegte. Er war zufrieden gewesen, aber im Paddington lernte er noch immer dazu und fühlte sich langsam richtig wohl. „Als ich Schottland verließ, hatte ich eigentlich nicht vor, meine Karriere in diese Richtung zu lenken. Aber es ist eine großartige Stelle, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht bekommen hätte, wenn nicht die Schließung drohend über uns hängen würde.“

„Weil so viele kündigen?“

Dominic nickte. „Sie haben gerade einen neuen Kardiologen eingestellt, aber ich weiß, dass in vielen Abteilungen nur noch Vertretungen arbeiten.“

„War es denn schwer für dich, Edinburgh zu verlassen?“

„Natürlich.“

„Vermisst du es?“

Das konnte er nicht beantworten. Als er im Urlaub in seine Heimat geflogen war, hatte er sich diese Frage selbst gestellt. Aber Tatsache war, dass er seine Arbeit mochte und sich gefreut hatte, nach London zurückzukehren. Er sah Victoria an, die ihr Essen aufgegeben hatte, und ihn anblickte. „Teilweise.“

Sie hatte Angst zu fragen, welcher Teil das war.

Dabei wollte sie so viel wissen.

Aber manche Gespräche führte man am besten über Schokoladencrêpes und Vanilleeis. Zum Beispiel ein Gespräch über Lorna und Jamie. So köstlich das Essen auch war, das Thema war es nicht. Doch sie schafften es durch beides.

„Hast du jemals vermutet, dass zwischen ihnen etwas war?“

„Nein, sie haben sich nur einmal getroffen …“ Er schluckte und fuhr dann fort. „Alle paar Jahre fliege ich nach Indien, um dort zu arbeiten. Das erste Mal war ich noch an der Uni, und einige von uns haben die Tradition beibehalten. In der Woche, bevor ich wieder hinfliegen wollte, war eine Familienfeier. Jamie, mein Bruder, war lange im Ausland gewesen und gerade erst zurückgekommen, deswegen kannte er Lorna noch nicht. Tja, sie haben sich gut verstanden …“

„Offensichtlich!“

Dominic fand es fast angenehm, offen mit Victoria zu sprechen. Sie war jedenfalls nicht so verkrampft wie die anderen.

„Ein paar Tage später haben sie sich zufällig wiedergetroffen.“

„Glaubst du, dass es ein Zufall war?“

Sie stellte dieselbe Frage, die Dominic sich schon oft genug selbst gestellt hatte. „Nein.“

„Und ist dir das wichtig?“

„Damals war es das, aber mittlerweile nicht mehr so sehr.“ Und statt nun endlich zu sagen, dass er keine Lust mehr auf diese Unterhaltung hatte, redete er weiter. Er, der einsame Wolf.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen er viel mit seiner Familie gesprochen hatte. Nicht über alles natürlich. Über seine Gefühle hatte er noch nie gern geredet, aber im Allgemeinen sprachen sie viel miteinander. Doch über diese Sache wurde geschwiegen. Seine Eltern wollten es beiseitewischen, als wäre es nie passiert.

Victoria war der erste Mensch, dem er wirklich davon erzählen konnte.

„Als ich aus Indien zurückkam, musste Lorna sich ständig übergeben.“

„Musst du mir nicht sagen“, seufzte Victoria.

„Ist dir auch morgens übel?“

Sie nickte. „Aber es wird langsam besser.“

Er wusste, dass sie heute Abend nicht über ihr Baby sprachen. Aber Dominic musste fragen.

„Was heißt das?“

„Übel ist mir fast gar nicht mehr, aber ich bin immer so schnell müde. Wenn ich nicht gerade zum Essen eingeladen werde, bin ich momentan um acht im Bett.“ Sie verdrehte die Augen. „Nächste Woche habe ich auch noch Spätschicht.“

Er sah sie an und fühlte einen Stich, weil er nicht für sie da gewesen war. Victoria musste alles allein durchmachen.

„Kannst du deine Schicht nicht tauschen?“

„So was mache ich nicht“, sagte Victoria und wechselte wieder das Thema. „Lorna ging es also nicht gut?“

„Genau.“ Er nickte. „Ich sagte ihr, dass sie bestimmt schwanger ist, aber sie meinte, das könne nicht sein. Dann habe ich einen Test gekauft. Und natürlich war sie schwanger.“

„Hast du dich gefreut?“

„Ich weiß nicht“, gab er zu. „Ich glaube schon, aber es ging alles ziemlich schnell.“

Sie grinsten sich an. Was für eine Ironie in ihrer Situation.

„Lorna wollte warten, bevor wir es unseren Familien erzählten.“

„Kein Wunder.“

„Aber ich habe es Jamie gesagt“, fuhr Dominic fort. „Wir hatten immer ein enges Verhältnis.“

„Und wie hat er reagiert?“

„Er hat mir gratuliert, aber sonst nichts gesagt.“ Dominic zuckte mit den Schultern. „Er war immer viel mehr ein Partymensch als ich, und ich dachte, dass er es sich einfach nicht vorstellen konnte, was daran aufregend war, Vater zu werden.“

„Dann hast du es also erst beim Ultraschall herausgefunden“, meinte Victoria verwundert. „Konnte sie sich nicht denken, dass du dort die Wahrheit erfahren würdest? Ganz schön brutal, die Sache mit deinem Bruder zu verheimlichen.“

„Fairerweise muss ich sagen, dass Lorna Blutungen hatte und wir deswegen ins Krankenhaus gefahren sind. Noch nicht wegen eines Ultraschalls. Aber den haben sie dann natürlich auch gemacht. Bei so frühen Schwangerschaften kann man das Datum ziemlich exakt berechnen. Ich dachte, sie würde in der neunten Woche sein, aber sie war erst in der sechsten.“

„Und da ist es dir klar geworden?“ Jetzt verstand Victoria anscheinend, wieso er sich anfangs so sehr gegen ihren Ultraschall gesperrt hatte.

„Genau“, antwortete Dominic. „Ich habe den Arzt gebeten, das Datum zu wiederholen. Ich habe ehrlich erst gedacht, dass er sich versprochen hatte. Aber nein.“

„Was hast du gemacht?“

„Vor dem Arzt gar nichts. Lorna hat mich nicht angeschaut. Der Arzt sagte noch, dem Baby gehe es gut, und als er dann ging, haben Lorna und ich gesprochen. Sie gab zu, dass sie jemanden getroffen hatte, als ich weg war. Sie meinte, sie hatte es mir die ganze Zeit sagen wollen, aber als sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war, wusste sie einfach nicht, wie. Auch weil sie nicht wusste, wer der Vater war.“

„Hat sie dir dann gesagt, dass es dein Bruder war?“

„Als ich sie gedrängt habe.“

„Hast du kurz davor einen Verdacht gehabt?“

„Nicht einen Augenblick“, sagte Dominic. „Selbst als sie meinte, es sei Jamie, habe ich überlegt, wen wir kennen, der Jamie heißt. Ein Kollege? Ein Freund? Wie blöd ist das?“

„Gar nicht blöd“, sagte Victoria. „Es zeigt doch nur, wie sehr du ihm vertraut hast. Was hast du dann getan?“

„Ich habe ihr gesagt, sie soll sich ein Taxi rufen. Und dass ich ihr alles Gute wünsche. Allerdings nicht besonders höflich. Dann bin ich zu Jamie gefahren. Ich würde gern sagen, dass ich ihn verprügelt habe, aber …“ Er schüttelte den Kopf. „Mein Bruder hatte einen Autounfall, als er zehn war. Er wäre fast gestorben. Und ich konnte einfach nicht …“

Victoria sah den Konflikt in seinem Gesicht. Sie dachte an all die blutigen, testosterongesteuerten Kämpfe, die sie in ihrem Beruf zu sehen bekam, und bewunderte Dominic dafür, dass er sich zurückgehalten hatte.

„Jamie weinte und jammerte wie ein Baby. Er meinte, er liebt sie, und wie sie sofort gewusst hätten, dass sie füreinander geschaffen sind, als sie sich zum ersten Mal gesehen haben. Und sie wussten beide nicht, was sie tun sollten.“

Sie schloss die Augen. Alles in allem war es eine ziemlich traurige Angelegenheit. „Liebst du sie noch?“

„Nein.“

Glaubte sie ihm das? Victoria wusste es selbst nicht.

War es wichtig? Ja, das war es.

Ihr war es wichtig. Aber so direkt sie ihn auch nach seinem Bruder gefragt hatte, so wenig direkt konnte sie ihr eigenes Herz befragen.

„Ich habe ihm mitgeteilt, ich würde es ihm überlassen, es unseren Eltern zu sagen.“ Er seufzte. „Ich habe praktisch mein ganzes Leben hinter mir gelassen.“

„Aber du bist doch wieder hingefahren?“, fragte sie.

„Nein.“

„Du warst doch gerade erst in Schottland?“

„Schon, nur habe ich meine Familie nicht besucht.“

Das verunsicherte sie. Sehr. Er hatte sein Leben hinter sich gelassen, und selbst nach all den Monaten hatten sie sich noch nicht wieder angenähert.

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Wir telefonieren, aber sie wollen die ganze Sache einfach vergessen. Nicht drüber reden. Damit alles so ist, wie es mal war.“

„Was hast du dann in Schottland gemacht?“

„Nachgedacht.“

Nun dachte auch sie nach. Vor sich sah sie einen Mann, der abgehauen war. „Hast du mir nicht gesagt, man solle für das kämpfen, was wichtig ist?“

„Ja“, erwiderte Dominic. „Aber man muss ja nicht mit den Fäusten kämpfen.“

„Davon rede ich auch nicht. Sondern von deiner Familie.“

Autor

Fiona Lowe
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