Plötzlich Familie! - Zwischen Geheimnissen, sinnlichem Verlangen und einem Happy End

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ZEIT DER ZÄRTLICHKEIT von LUCY GORDON
Upps, da hat sie wohl den Rolls Royce dieses gutaussehenden Fremden erwischt! Aber ein Blechschaden kann Gina nicht aus der Fassung bringen. Sie hat schon Schlimmeres überstanden und weiß, was wirklich im Leben zählt. Fraglich nur, ob sie bei diesem Mann damit durchkommt …

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MEIN HERZ IST FREI von CATHERINE SPENCER
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  • Erscheinungstag 09.03.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521802
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Zeit der Zärtlichkeit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
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Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2000 by Lucy Gordon
Originaltitel: „For the Sake of his Child“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 1483 - 2002 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Bettina Röhricht

Umschlagsmotive: evgenyatamanenko/GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733718220

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du perfekt bist, mein Liebling? Vielleicht ein bisschen klein geraten, aber für mich bist du einfach vollkommen.

Gina erwachte aus ihrem Tagtraum und blickte sich um. Sie fürchtete, ihre Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Doch niemand schien sie bemerkt zu haben. Erleichtert wandte sie sich wieder dem kleinen Wagen zu und strich zärtlich über die Heckscheibe.

Da es bereits zwölf Jahre alt war, hatte sie das winzige Auto zu einem äußerst günstigen Preis bekommen. Die meisten Leute mussten ein Lächeln unterdrücken, wenn sie es zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Aber es hatte ihr immer treue Dienste erwiesen, und sie liebte die Art, wie es fröhlich auf der Straße dahintuckerte.

Plötzlich bemerkte Gina, dass ihr Auto zugeparkt war. Auf der einen Seite war eine Mauer, auf der anderen stand ein Rolls-Royce. Dessen Besitzer war ganz offensichtlich der Meinung, ihm würde mehr zustehen als ein einzelner Parkplatz.

„So eine Unverschämtheit“, empörte sie sich. „Ich bekomme nicht einmal die Tür weit genug auf, um einzusteigen.“

Zum Glück war der Kofferraum nicht abgetrennt, sodass sie durch die Heckklappe hineinklettern konnte. Als sie mit einiger Mühe auf den Fahrersitz gelangte, war sie verschwitzt und schlecht gelaunt.

„Was glaubt der eigentlich, wer er ist?“, fragte sie erbost.

Vorsichtig begann sie, rückwärts auszuparken. Zuerst schien alles zu klappen, doch plötzlich machte das kleine Auto einen Ruck, drehte sich und rammte mit einem lauten Knirschen den sorgfältig polierten Rolls-Royce.

Erschrocken krabbelte Gina wieder durch den Kofferraum ins Freie. Sie kniete sich hin, um den Schaden zu begutachten. Beide Autos hatten Kratzer abbekommen, den Rolls-Royce hatte es allerdings schlimmer erwischt.

„Gut gemacht“, hörte sie plötzlich jemanden hinter sich ironisch sagen. „Ich habe ihn gerade neu lackieren lassen – wirklich perfektes Timing!“

Von ihrem Blickwinkel aus wirkte der Mann sehr groß. Er hatte dichtes, dunkles Haar und breite Schultern. Schnell stand sie auf, aber noch immer überragte er sie um mindestens fünfundzwanzig Zentimeter.

„‚Gut gemacht‘ ist wohl nicht der richtige Ausdruck“, entgegnete sie. „Ich würde die Person als egoistisch und arrogant bezeichnen.“

„Wen?“

„Denjenigen, der für den Rolls-Royce zwei Parkplätze beansprucht hat, sodass ich nicht genügend Platz hatte, um einzusteigen.“

„Sehr viel Platz kann diese Erdnuss auf Rädern wohl kaum benötigen.“

„Nun, nicht alle Menschen haben das Glück, einen Rolls-Royce zu fahren“, erwiderte Gina, empört darüber, dass man ihren Liebling beleidigt hatte. „Sie haben Ihren Wagen auf meinem Parkplatz abgestellt. Dazu hatten Sie kein Recht – ich konnte nicht einmal die Tür öffnen.“

„Eigentlich habe nicht ich ihn geparkt, sondern mein Chauffeur.“

„Das hätte ich mir denken können.“

„Dann ist es also ein noch schlimmeres Verbrechen, einen Chauffeur zu haben, als einen Rolls-Royce zu besitzen?“

„Es passt einfach zusammen. Jemand, der sich so einen Wagen leisten kann, braucht keine Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen. Warum haben Sie Ihren Chauffeur nicht davon abgehalten?“

„Weil ich nicht dabei war und es nicht wusste. Ich gebe zu, dass er nicht gerade eine Glanzleistung vollbracht hat. Aber Sie hätten ausparken können, ohne einen der Wagen zu beschädigen, indem Sie rückwärtsgefahren wären, ohne einzuschlagen. Hat man Ihnen das nicht in der Fahrschule beigebracht?“

„Wenn man nicht meinen Parkplatz in Anspruch genommen hätte“, erwiderte Gina ärgerlich, „dann hätte ich den Rolls-Royce nicht gerammt, auch wenn ich eingeschlagen hätte.“

„Mit Ihrer Lenkung ist etwas nicht in Ordnung“, erklärte der Mann beneidenswert gelassen. „Sie können von Glück reden, dass Sie es beim Ausparken bemerkt haben und nicht erst bei einem Überholmanöver.“

Insgeheim musste sie ihm recht geben. Unwillkürlich dachte sie an die Reparaturen, die nun auf sie zukommen würden.

„Wie sollen wir vorgehen?“, fragte der Mann. „Geben Sie mir Ihre Versicherungsnummer, oder wollen wir uns bei Sonnenuntergang zum Duell treffen?“

„Das ist wirklich nicht komisch …“

„Sollten Sie es auf ein Gerichtsverfahren ankommen lassen, hätte ich einiges über Ihre lausige Lenkung anzumerken …“

„Hören Sie endlich auf, mein Auto zu beschimpfen!“

„Wenn man bedenkt, welchen Schaden es an meinem Rolls-Royce angerichtet hat, gehe ich noch sehr sanft mit ihm um, finde ich. Ich glaube nicht, dass Sie von der Versicherung auch nur einen Penny für diesen Blechhaufen bekommen.“

„Hören Sie mal …“

„Wie wäre es also, wenn ich die Verantwortung für den Schaden übernehmen und für sämtliche Reparaturen aufkommen würde?“

Mit diesem unerwarteten Entgegenkommen nahm er ihr völlig den Wind aus den Segeln.

„Das würden Sie tun?“

„Ja. Stellen Sie sich vor – obwohl ich einen Rolls-Royce besitze und einen Chauffeur habe, verfüge ich über einige menschliche Züge.“

„Vielen Dank“, sagte Gina unsicher.

Ein Mann mittleren Alters war hinzugekommen. Der Besitzer des Rolls-Royce wandte sich an ihn.

„Harry, was, um alles in der Welt, haben Sie sich nur dabei gedacht, den Wagen so zu parken?“

„Der Wagen, der vorhin auf der anderen Seite stand, nahm fast die Hälfte meines Parkplatzes in Anspruch, sodass ich … Ach du meine Güte!“, rief der Chauffeur, als er die Kratzer erblickte.

„Das ist nicht weiter schlimm. Fahren Sie bitte das … Auto dieser Lady zu meiner Werkstatt, und lassen Sie alle notwendigen Arbeiten vornehmen. Dann kommen Sie bitte zurück und bringen den Rolls-Royce ebenfalls zur Reparatur.“

„Wie kommt man hinein?“, fragte Harry.

„Durch den Kofferraum“, erwiderte Gina ein wenig schadenfroh.

Mit Mühe und Not gelang es ihm, sich in den kleinen Wagen zu quetschen und aus der Parklücke zu fahren, ohne den Rolls-Royce ein zweites Mal zu streifen. Dessen Besitzer warf ihr einen vielsagenden Blick zu, enthielt sich jedoch eines Kommentars.

„Es tut mir wirklich leid“, bemerkte sie zerknirscht.

„Heute ist nicht Ihr Tag, stimmt’s? Gibt es hier in der Nähe ein Café, wo wir die Angelegenheit in aller Ruhe besprechen können?“

Sie gingen in „Bob’s Café“, ein überfülltes und nicht sonderlich vornehmes kleines Lokal, wo in erster Linie Menschen aßen, die wenig Geld und ebenso wenig Zeit hatten. Ginas Begleiter schien überhaupt nicht hierher zu passen. Er war über einen Meter achtzig groß, wirkte sehr selbstbewusst und strahlte eine natürliche Autorität aus. Sein perfekt sitzender Anzug musste ein Vermögen gekostet haben.

Entmutigt ließ Gina den Blick an sich hinuntergleiten. Sie war geschmackvoll und angemessen gekleidet, aber der graue Hosenanzug war der billigste gewesen, den sie gefunden hatte. Sie versuchte immer, ihr Outfit mit Schmuck und Halstüchern aufzupeppen, doch neben diesem Mann fühlte sie sich richtig unscheinbar.

Obwohl es Mittagszeit und das Lokal gut besucht war, fand ihr Begleiter einen freien Tisch am Fenster. Männer wie er finden immer einen Fensterplatz, dachte Gina.

„Ich möchte Sie zum Kaffee einladen“, sagte sie. „Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um Ihnen zu danken.“

„Das kommt nicht infrage.“ Er begann, die Speisekarte zu lesen. „Ich habe Hunger, und ich esse nicht gern allein. Also suchen Sie sich etwas aus.“

„Zu Befehl, Sir.“

Ihr Begleiter verzog das Gesicht. „Es tut mir leid, ich bin es so gewohnt, Anweisungen zu erteilen, dass ich mich manchmal schlecht umstellen kann.“

Seine Stimme war angenehm tief und wohlklingend.

Gina wählte ein Gericht, und er winkte die Kellnerin herbei. Nachdem er bestellt hatte, wandte er sich wieder an sie. „Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Carson Page.“

„Ich bin Gina Tennison. Mr Page, ich möchte Ihnen noch einmal danken. Sie hatten völlig recht, meine Lenkung ist wirklich nicht in Ordnung – und das, wo ich den Wagen gerade erst habe reparieren lassen.“

„Dann sollten Sie sich einen guten Anwalt nehmen und die Werkstatt verklagen.“

„Ich bin selbst Anwältin.“

„Tatsächlich?“

„Eine Frau hat in einer Autowerkstatt, in der nur Männer arbeiten, keinen leichten Stand“, verteidigte sie sich. „Es hilft mir gar nichts, dass ich Anwältin bin – sie tun einfach, was sie wollen, weil sie mich für eine dumme Frau halten, die von Autos nicht die geringste Ahnung hat.“

Um seinen Mund zuckte es verdächtig.

„Sagen Sie ruhig, was Sie denken“, forderte sie ihn auf.

„Ist das wirklich nötig?“

Sie mussten beide lachen. Wenn Carson Page lachte, wirkte sein Gesicht weniger streng. Doch sofort wurde er wieder ernst, als wäre es ihm unangenehm, fröhlich und ausgelassen zu sein.

Sein Gesicht wirkte angespannt. Er hatte Ringe unter den dunklen Augen und Sorgenfalten um den Mund.

Gina versuchte, sein Alter zu schätzen. Er musste in den Dreißigern sein. Sein Körper war schlank, muskulös und durchtrainiert. Seine Bewegungen waren schnell und geschmeidig wie die eines jungen Manns, aber gleichzeitig wirkte er nachdenklich und ernst, als würde er eine schwere Last mit sich umhertragen.

„Sie sind also Rechtsanwältin. Arbeiten Sie hier in der Nähe?“

„Ja, ich bin bei Renshaw Baines angestellt.“

„Tatsächlich? Ich bin ein Mandant von Renshaw Baines – besser gesagt, ich werde es nach einem Treffen heute Nachmittag möglicherweise sein.“

„Ach du meine Güte – ich habe einen potenziellen Mandanten verärgert!“

„Ich verspreche, niemandem von dem Vorfall zu erzählen. Aber wenn Sie möchten, können Sie sich bei mir revanchieren, indem Sie mir etwas über Philip Hale erzählen. Er wird sich um meine Angelegenheiten kümmern, und ich kenne ihn noch nicht.“

„Er ist ein Juniorpartner bei Renshaw Baines“, begann Gina vorsichtig, „und arbeitet dort erst seit kurzer Zeit. Man sagt, er sei ein ausgezeichneter Anwalt.“

„Sie mögen ihn nicht, stimmt’s?“, bemerkte Carson Page, der ihre Gedanken zu lesen schien.

„Ja, das heißt, nein … eigentlich ist es eher so, dass er mich nicht mag. Er hält nicht viel von meinen Fähigkeiten, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man mich sicher nicht eingestellt.“

Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Warum traut er Ihnen denn nichts zu?“

„Er ist sehr anspruchsvoll, und vielleicht werde ich seinen Ansprüchen nicht gerecht. Allerdings kann selbst er an meiner Aktenarbeit nichts aussetzen. Einige Male musste er bereits zugeben, dass ich ausgezeichnete Arbeit leiste.“

„Aktenarbeit? Keine dramatischen Auftritte im Gerichtssaal?“

„Nein, ich stehe nicht gern im Vordergrund, sondern arbeite lieber für mich.“

„Ist das nicht ein bisschen zu langweilig für eine junge Frau?“

„Nein, gar nicht“, entgegnete Gina ernsthaft. „Wissen Sie, ich war jahrelang …“ Sie verstummte.

„Erzählen Sie weiter.“

„Ich rede die ganze Zeit nur über mich, das ist sonst gar nicht meine Art.“

„Aber es interessiert mich. Was waren Sie jahrelang?“

„Nun, ich … ich war krank, das ist alles. Und ich dachte, ich könnte nie wieder ein normales Leben führen. Doch jetzt tue ich genau das. Für Sie mag es langweilig klingen, aber mir kommt es noch immer wie ein Traum vor. Ich habe alles, was ich mir je erhofft hatte.“

Fasziniert betrachtete er ihr Gesicht. Ihre Augen leuchteten, und er fragte sich, ob er tatsächlich einem Menschen begegnet war, der die seltene Gabe besaß, mit dem, was er hatte, glücklich und zufrieden zu sein.

„Was für eine Krankheit hatten Sie denn?“, fragte er sanft.

Doch Gina schüttelte den Kopf. „Ich habe wirklich schon mehr als genug von mir erzählt.“

Zu ihrer Erleichterung ließ er es darauf beruhen.

Sie hatte sich ihr Studium hart erkämpft, und ihre Abschlussnoten waren sehr gut gewesen. Renshaw Baines war zwar nicht die größte Anwaltskanzlei in London, hatte allerdings einen ausgezeichneten Ruf, und man wählte neue Mitarbeiter sehr sorgfältig aus. Sie war stolz darauf, dort zu arbeiten.

Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und recht hübsch, denn sie war schlank, hatte rötliches Haar, einen hellen Teint und außergewöhnliche, smaragdgrüne Augen.

Doch schmerzhafte Erfahrungen hatten sie gelehrt, vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Daher kleidete sie sich unauffällig und drängte sich nie in den Vordergrund. Ihre Arbeit gab ihr Selbstvertrauen, und sie führte eine Beziehung mit einem Mann, der ihr bereits seit der Kindheit vertraut war. Sie war mit ihrem Leben zufrieden.

Carsons Handy klingelte. Es war Harry, der von der Werkstatt aus anrief.

„Die Mechaniker haben gesagt, dass ein neuer Motor in diesen Schrotthaufen eingebaut werden müsste. Das wäre ziemlich kostspielig.“

„Sie sollten einfach alles tun, was notwendig ist“, erwiderte Carson, ohne zu zögern.

„Aber Sie brauchen dieser Frau wirklich keinen neuen Motor zu kaufen …“

„Tun Sie einfach, was ich gesagt habe“, unterbrach er Harry und beendete das Gespräch. Dann wandte er sich an Gina. „Ihr Auto wird bereits repariert.“

„Wird es sehr teuer?“

Er zuckte die Schultern. „Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.“

„Aber …“

„Vergessen Sie es.“ Er klang ungeduldig. „Sie werden Ihr Auto in fahrtüchtigem Zustand wiederbekommen. Als Anwältin sollten Sie sich eigentlich einen besseren Wagen leisten können.“

„Vermutlich haben Sie recht. Ich werde darüber nachdenken.“ Impulsiv vertraute sie ihm an: „Sie werden mich bestimmt für verrückt erklären, aber es wird mir schwerfallen, mich von der kleinen ‚Erdnuss‘ zu trennen. Für mich ist das Auto fast wie ein Freund, und die Vorstellung, dass es auf einem Schrottplatz vor sich hinrostet, macht mich traurig.“

„Wenn das Auto aus der Werkstatt kommt, wird es in einem sehr guten Zustand sein. Sie können es dann jemandem verkaufen, der genauso verrückt ist wie Sie.“

„Und der es auch genauso lieben wird.“ Ihre Miene hellte sich bei diesem Gedanken auf. Gina aß den Salat, den die Kellnerin gebracht hatte, und lächelte strahlend.

Carson biss in sein Sandwich und betrachtete sie fasziniert. Er wunderte sich über sich selbst, denn er hatte immer von sich behauptet, er wäre nicht sentimental. Und doch hatte er heute bereitwillig die Verantwortung für etwas unternommen, dass nicht gänzlich seine Schuld gewesen war.

Und warum? Weil er Gina hatte lächeln sehen wollen.

Dann hatte er sein völlig irrationales Verhalten noch übertroffen, indem er mit dieser merkwürdigen jungen Frau in einem schäbigen kleinen Lokal zu mittagaß. Dabei hatte er wirklich Wichtigeres zu tun.

Oder etwa nicht?

Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz und rieb sich die Augen.

„Haben Sie Kopfschmerzen?“, fragte Gina besorgt.

„Nein, mir geht es gut“, wehrte er schnell ab.

Ihm tat wirklich der Kopf weh. Das kam in letzter Zeit allerdings so häufig vor, dass er sich daran gewöhnt hatte.

„So sehen Sie aber nicht aus“, beharrte sie.

Einen Moment lang war Carson verärgert, dass sie ihn nicht in Ruhe ließ. Doch in ihren Augen las er echte Anteilnahme, und sein Ärger verrauchte.

„Ich habe im Moment sehr viel zu tun und stehe unter starkem Stress“, gab er zu.

Einen Moment lang war er versucht, ihr von all den Problemen und Katastrophen zu erzählen, die ihn zu erdrücken drohten. Vielleicht war es leichter, einer Fremden anzuvertrauen, wie einsam er sich fühlte, seitdem sich herausgestellt hatte, dass die Frau, die er so geliebt hatte, kaltherzig und berechnend war.

Fast hätte er Gina von dem erzählt, was ihn am meisten bedrückte – von seinem kleinen Sohn, auf den er einmal so stolz gewesen war und für den er jetzt außer einer verzweifelten Liebe nur noch Mitleid empfinden konnte.

Doch dann riss er sich zusammen. Nichts lag ihm ferner, als anderen Menschen gegenüber Schwäche zu zeigen. Wie hatte er nur im Ernst mit dem Gedanken spielen können, einer Fremden sein Herz auszuschütten?

Außerdem wollte er die angenehme Stimmung nicht verderben. Gina war gutherzig und lustig, und es machte Spaß, sich mit ihr zu unterhalten.

Spaß.

Er hatte schon fast vergessen, was das Wort bedeutete. Ja, es machte Spaß, mit dieser jungen Frau Zeit zu verbringen, die an ihrem klapprigen kleinen Auto hing und mit so wenig zufrieden war. Er war froh, dass er dem Impuls nachgegeben hatte, mit ihr zu Mittag zu essen. Manchmal tat es gut, Leute kennenzulernen, die lächelnd durchs Leben gingen.

Carson blickte auf die Uhr und stellte erstaunt fest, dass bereits mehr als eine Stunde vergangen war. „Ich muss bald zu meinem Termin mit Philip Hale. Sind Sie fertig?“

„Du meine Güte!“ Schnell trank Gina den Kaffee aus. „Könnten Sie mir einen kleinen Vorsprung lassen? Mir wäre es lieber, wenn wir nicht gleichzeitig bei Renshaw Baines ankommen würden. Sonst würde man mir sicher Fragen stellen, und dann …“

„Dann würde man womöglich noch Ihr dunkles Geheimnis lüften. Einverstanden, ich gebe Ihnen fünf Minuten. Hier ist meine Visitenkarte. Ich habe die Telefonnummer der Werkstatt auf die Rückseite geschrieben. Am besten rufen Sie dort gleich morgen an.“

„Vielen Dank. Und danke für das Essen.“

„Es war mir ein Vergnügen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Sein Händedruck war so fest, dass ihr der Atem stockte. Gina hatte das Gefühl, bei der kurzen Berührung würde ein Funke zwischen ihnen überspringen. Schließlich ließ Carson ihre Hand los und nickte ihr zum Abschied kurz zu.

Schnell ging sie zurück in ihr Büro. Sie war verwirrt. Noch nie war sie einem Mann wie Carson Page begegnet. Mit seinen dunklen, ausdrucksvollen Augen war er äußerst attraktiv, und sicher wäre er auch sehr charmant, wenn er sich nur einmal entspannen würde. Allerdings war er vermutlich zu sehr Geschäftsmann, um auch nur für einen Moment zu vergessen, dass er mit ihr seine Zeit verschwendete.

Carson Page sah Gina nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand. Plötzlich hatte er das Gefühl, als wäre mit ihr auch der Sonnenschein verschwunden. Was hatte ihn nur dazu gebracht, eine ganze Stunde für etwas zu vergeuden, das sich in wenigen Minuten hätte regeln lassen können?

Er rief sich zur Ordnung. Das Essen mit Gina war sehr angenehm gewesen – wie ein Kurzurlaub, den er dringend benötigte. Doch jetzt musste er in die Realität zurückkehren, und sicher war es besser für ihn, sie nicht wieder zu sehen.

Gina betrat ihr Büro. Ihre Sekretärin Dulcie war in Schreibarbeiten vertieft und sehr beschäftigt. Sie war mittleren Alters und arbeitete bereits seit über zwanzig Jahren für Renshaw Baines. Ihren Vorgesetzten gegenüber legte sie normalerweise eine ironische Gelassenheit an den Tag, doch sie hatte Dulcie sofort ins Herz geschlossen.

Vor ihr ließ sich nur schwer etwas geheim halten. „Habe ich mich getäuscht, oder haben Sie wirklich mit Carson Page in Bob’s Café mittaggegessen?“, war ihre erste Frage.

„Du meine Güte! Sie haben doch hoffentlich niemandem etwas davon erzählt?“

„Keiner Menschenseele. Wenn Philip Hale den Eindruck bekommt, dass Sie ihm seinen vielversprechendsten Mandanten wegschnappen wollen, dann ist hier die Hölle los!“

„Ich weiß. Wenn Sie mir versprechen, es für sich zu behalten, erzähle ich Ihnen alles ganz genau.“

„Ich schweige wie ein Grab.“

Gina berichtete, was passiert war.

Dulcie lachte ungläubig. „Sie haben Carson Pages Wagen zerschrammt und sind mit dem Leben davongekommen? Und er will auch noch für sämtliche Reparaturen aufkommen? Wie haben Sie das nur angestellt?“

„Ich habe eigentlich gar nichts getan. Er ist eben einfach ein sympathischer und äußerst großzügiger Mann.“

„Oh nein, das ist er nicht“, widersprach Dulcie sofort. „Eine Freundin von mir arbeitet für die Anwaltskanzlei, bei der er früher Mandant war. Sie sagt, er wäre ein fürchterlicher Mensch. Immerhin gehört ihm Page Engineering, und wenn er nicht so aggressiv wäre, dann hätte er das Unternehmen nicht dahin gebracht, wo es heute steht.“

„Du meine Güte!“, rief Gina. „Sie meinen, es ist der Carson Page? Ich hätte nie geglaubt … Ich meine, ich …“

Carson Page hatte Page Engineering praktisch aus dem Nichts aufgebaut und dabei rücksichtslos jede Konkurrenz beiseite gefegt. Er hatte zahlreiche kleine Unternehmen aufgekauft und sich so einen großen Marktanteil gesichert. Nichts und niemand schien ihn aufhalten zu können. Wenn man den Kommentaren in den Fachzeitschriften Glauben schenken durfte, verwandelte sich alles, was er berührte, in Gold.

Es war nicht ratsam, Carson Page zum Feind zu haben, denn er schien keine Skrupel zu kennen. Und sie hatte seinen Rolls-Royce zerschrammt!

„Allem Anschein nach ist er ein ausgezeichneter Geschäftsmann“, gab Dulcie zu, „aber auch sehr anspruchsvoll und unnachgiebig.“ Sie warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Bei Ihnen scheint er allerdings eine Ausnahme gemacht zu haben.“

„Ach, hören Sie auf, Dulcie.“ Gina errötete. „Er wollte sich mir gegenüber einfach freundlich verhalten. Allerdings kam es mir so vor, als wäre er darin etwas ungeübt.“

„Das passt genau zu den Dingen, die ich über ihn gehört habe. Er ist nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt. Sie müssen ihn sehr beeindruckt haben. Wenn Sie sich ein wenig Mühe geben, könnten Sie eines Tages mit ihm in dem Rolls-Royce herumfahren.“

„So ein Unsinn. Ich werde ihn nie wieder sehen. Und außerdem habe ich doch meinen tollen Dan.“

„Mir fallen viele passende Beschreibungen für Dan ein, aber ‚toll‘ gehört eindeutig nicht dazu“, erwiderte Dulcie trocken. „Er ist langweilig und ignorant, und er weiß gar nicht, was er an Ihnen hat. Außerdem sind Sie nur deshalb mit ihm befreundet, weil Sie ihn schon seit Ihrer Kindheit kennen.“

„Und was ist so schlimm daran? Ich finde es beruhigend, jemanden sehr gut zu kennen.“

„Du meine Güte“, murmelte Dulcie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Es stimmte, dass sie, Gina, Dan bereits seit ihrer Kindheit kannte und ihre Beziehung mehr von gegenseitiger Vertrautheit geprägt war als von romantischen Gefühlen, doch was war daran falsch? Nach ihrer langen Krankheit freute sie sich über jedes kleine Glück, das ihr zuteilwurde.

Abends hatte sie sich mit Dan in einem kleinen Restaurant verabredet, das einige Meilen entfernt von ihrem Büro lag. Sie bestellte ein Taxi. Einer plötzlichen Eingebung folgend, rief sie bei der Werkstatt an, um sich nach ihrem Auto zu erkundigen.

„Sie können sich wirklich glücklich schätzen“, sagte der leitende Mechaniker. „Es war alles andere als einfach, einen passenden Motor für Ihren Wagen aufzutreiben. Aber für Mr Page haben wir natürlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt.“

„Einen neuen Motor?“, fragte sie entgeistert.

„Die einzige Möglichkeit, das Auto instand zu setzen. Wir haben auch eine neue Lenkung eingebaut.“

„Das kostet doch ein Vermögen!“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Schließlich bezahlt Mr Page die Rechnung.“

„Aber ich kann wirklich nicht zulassen …“

„Für Einwände ist es leider zu spät. Wir haben bereits mit den Arbeiten begonnen.“

Wie benommen legte Gina den Hörer auf. Sie konnte sich unmöglich von einem Fremden einen neuen Motor bezahlen lassen!

Doch Mr Page war reich, und sicher war es für ihn einfacher, alles zu bezahlen. Ich sollte mir wirklich keine Sorgen machen, dachte sie, denn ebenso wenig wird er noch einen Gedanken an mich verschwenden.

2. KAPITEL

Gina machte sich für das Abendessen mit Dan zurecht. Sie zog ein schlichtes, hochgeschlossenes Kleid an. Dann legte sie eine Halskette um, bürstete sich das Haar und schminkte sich dezent.

Einige Minuten nach der verabredeten Zeit betrat sie das Restaurant, doch Dan war nirgends zu sehen. Gina setzte sich und bestellte einen Sherry.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Sie blickte auf und sah Carson Page, der sie aufmerksam betrachtete.

„Warten Sie auf jemanden?“, erkundigte er sich höflich.

„Ja, auf meinen Freund Dan.“

„Dann werde ich Ihnen nur kurz Gesellschaft leisten.“ Er nahm Platz. „Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Ihr Wagen übermorgen fertig ist.“

„Ich weiß, ich habe bereits in der Werkstatt angerufen. Mr Page …“

„Nennen Sie mich doch bitte Carson.“

„Carson, mir war nicht klar, dass man einen neuen Motor einbauen würde. Das war wirklich nicht nötig.“

„Laut Aussage der Mechaniker war es aber unerlässlich.“

„Das meine ich nicht. Ich möchte Ihnen die Kosten für die Reparaturen erstatten, in Raten, wenn es Ihnen recht ist …“

„Gut, wenn Sie darauf bestehen, dann geben Sie mir irgendwann das Geld zurück. Können wir das Thema damit abschließen?“

Gina gab nach. Sie fürchtete, ihn zu langweilen. „Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“, fragte sie.

„Ich war in Ihrem Büro, aber ich kam zu spät und sah Sie gerade ins Taxi einsteigen. Also habe ich mir ebenfalls ein Taxi genommen und bin Ihnen gefolgt.“

Carson bestellte sich einen Drink. Gina betrachtete ihn prüfend und musste daran denken, was Dulcie ihr über ihn erzählt hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass es nicht angenehm war, ihn zum Feind zu haben. Er war höflich und zuvorkommend, doch sein unerschütterliches Selbstvertrauen und sein starker Wille waren deutlich zu spüren. Carson Page war es gewohnt, dass man seinen Wünschen immer und unverzüglich nachkam – ein gefährlicher, aber auch faszinierender Mann.

Dieser Gedanke machte Gina nervös. Vergeblich versuchte sie, ihn beiseitezuschieben.

Sie war noch nie jemandem wie Carson begegnet. Verglichen mit anderen Männern, war er wie ein Löwe unter Stubentigern. Gina wünschte, Dan würde endlich kommen. Sie hatte das Gefühl, dass ihre kleine Welt aus den Fugen geriet – und sie hoffte, es verhindern zu können.

„Wann ist Ihr Wagen fertig?“, erkundigte sie sich höflich und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie durcheinander sie war.

„Morgen schon“, erwiderte er und sah auf die Uhr. „Jetzt ist es zwanzig nach sieben. Wann sollte Ihr Freund denn hier sein?“

„Er wird sicher bald kommen“, antwortete Gina. Eigentlich hatte Dan sie schon um sieben Uhr treffen sollen. „Er arbeitet sehr viel.“

„Das tue ich auch, aber ich lasse niemals eine Lady warten, mit der ich verabredet bin.“

„Wir sind erst für halb acht verabredet, ich bin nur ein wenig früher hier gewesen“, erklärte sie ein wenig trotzig.

„Wie Sie meinen.“ Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Offensichtlich glaubte er ihr nicht.

„Was hat Philip Hale für einen Eindruck auf Sie gemacht?“, wechselte sie das Thema.

„Er ist genauso, wie ich ihn mir nach Ihrer Beschreibung vorgestellt hatte – ein brillanter Anwalt, sicher einer der besten auf seinem Gebiet. Davon abgesehen ist er einer der langweiligsten Menschen, denen ich je begegnet bin.“

Gina verschluckte sich und stellte schnell ihren Sherry ab. Ihre Schultern zuckten verdächtig.

„Lachen Sie ruhig“, ermunterte Carson sie. „Er wird es ja nie erfahren.“

„Ich habe noch nie jemanden so über ihn reden hören“, sagte sie.

„Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Jeder, der ihn länger als eine halbe Stunde ertragen hat, muss etwas Ähnliches gedacht haben.“

Er hoffte, sie würde noch einmal lachen, denn aus irgendeinem Grund hatte es ihn glücklich gemacht. Doch sie beherrschte sich, obwohl ihre Augen übermütig blitzten.

„Nun, Langweiler hin oder her, ich habe mich dafür entschieden, Renshaw Baines mit meinen Angelegenheiten zu betrauen. Morgen habe ich das nächstes Treffen mit dem guten Mr Hale. Was ist eigentlich Ihr Fachgebiet?“

„Eigentums- und Wirtschaftsrecht.“

„Dann könnten Sie also auch für mich arbeiten.“

Im Restaurant war es sehr laut. Gina runzelte die Stirn und beugte sich vor. „Wie bitte?“

„Dann könnten Sie also auch für mich arbeiten.“ Carson bemerkte ihren eindringlichen Blick. „Was ist mit Ihnen?“

„Ich bin taub“, erwiderte sie schlicht.

„Nein“, widersprach er ungläubig, „das kann nicht sein.“

Gina strahlte über das ganze Gesicht. „Vielen Dank. Das ist sicher das Netteste, was mir jemand gesagt hat, seit ich taub wurde.“

Er runzelte die Stirn. „Ich hatte den Eindruck, dass Sie mich ohne Schwierigkeiten hören können. Oder haben Sie mir etwa die ganze Zeit von den Lippen abgelesen?“

„Nein. Ich habe ein Implantat im Ohr, sodass ich die meisten Dinge problemlos hören kann. Aber wenn es sehr laut ist, verstehe ich manchmal einige Wörter nicht.“

Plötzlich wirkte er bedrückt. „Ich wäre nur niemals darauf gekommen, dass …“

„Warum sollten Sie auch? Meistens höre ich genauso gut wie alle anderen Menschen.“

„Natürlich, bitte verzeihen Sie. Ich dachte nur …“

Enttäuscht sah Gina ihn an. Sie wusste genau, was er dachte. Denn sie hatte schon oft genug erlebt, wie Menschen bei dem Wort taub zusammenzuckten.

Doch sie war so sicher gewesen, dass dieser Mann etwas Besonderes war. Sonst hätte sie sich niemals so offen darüber geäußert. Die Erkenntnis, dass er genau war wie die meisten ihrer Mitmenschen, schmerzte, und es gab Gina einen Stich. Mit einem Mal wirkte Carson distanziert und befangen. Offenbar wusste er nicht, was er sagen sollte.

Zu ihrer unendlichen Erleichterung eilte Dan im nächsten Moment herbei. „Oh Liebling, es tut mir so leid. Mir ist etwas dazwischen gekommen …“

Carson erhob sich, nickte ihm höflich zu und entfernte sich.

„Wer war das?“ Dan gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Carson Page.“

„Du liebe Güte! Der Carson Page? Liebling, du hättest ihn nicht so einfach gehen lassen dürfen. Er ist unglaublich reich und hat viel Einfluss in Wirtschaftskreisen – eine wichtige und interessante Persönlichkeit.“

„Ehrlich gesagt …“ Gina seufzte. „… finde ich, er ist genau wie alle anderen.“

Am Nachmittag des folgenden Tages rief die Frau vom Empfang an, da eine Aktenlieferung für Gina gekommen war. Da Dulcie mit einem wichtigen Schreiben beschäftigt war, ging Gina selbst hinunter. So sah sie Carson Page, der gerade mit einem kleinen Jungen von etwa acht Jahren ankam. Das Kind machte einen aufgeweckten Eindruck, schien allerdings etwas nervös zu sein.

Philip Hale begrüßte seinen Mandanten überschwänglich. Carson erwiderte den Gruß höflich, aber zurückhaltend. Doch für derart feine Nuancen war ein Mann wie Philip Hale nicht empfänglich.

Gina fiel auf, dass der Junge nichts von dem Gespräch mitzubekommen schien, das über seinen Kopf hinweg geführt wurde – fast so, als wäre er …

Wie er es versprochen hatte, tat Carson so, als würde er sie nicht wieder erkennen. Er folgte Philip Hale, wobei seine Hand auf der Schulter des Kindes ruhte.

„Was ist nur mit dem Jungen los?“, wandte Gina sich an die junge Frau am Empfang.

„Der arme Kleine ist völlig verstört. Seine Eltern haben sich getrennt, und Mr Page will verhindern, dass seine Frau Kontakt zu dem Jungen hat.“

„Das ist doch grausam!“, rief Gina entsetzt.

Erneut musste sie ihre anfängliche Meinung über Carson Page revidieren. Offensichtlich war das freundliche Verhalten, das er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte, ganz und gar untypisch. In Wirklichkeit schien er kein sehr sympathischer Zeitgenosse zu sein.

Sie kehrte zurück in ihr Büro und vertiefte sich in die Arbeit. Nach einer halben Stunde lehnte sie sich zurück und gähnte herzhaft. Es war bereits später Nachmittag, und die Sonne brannte.

„Du meine Güte!“

Gina hatte einen Blick aus dem Fenster geworfen. Was sie auf der viel befahrenen Hauptstraße sah, ließ sie vor Schreck aufspringen.

Der kleine Sohn von Mr Page lief mitten im dichten Verkehr auf der Straße umher, ohne sich um das Gehupe der aufgebrachten Autofahrer zu kümmern. Ein Wagen verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Der Besitzer des Fahrzeugs lehnte sich aus dem Fenster und schrie den Jungen an. Doch dieser wirkte, als würde er nicht begreifen, was um ihn her geschah.

„Oh nein“, flüsterte Gina, zu Tode erschrocken. „Er weiß nicht … Er kann nicht …“

Ohne länger zu überlegen, stürzte sie aus dem Büro nach draußen. Inständig betete sie, sie möge nicht zu spät kommen. Wieder ertönte wütendes Hupen, als sie auf die Straße rannte, den Jungen am Arm packte und ihn auf den Bürgersteig zog. Er versuchte, sich loszureißen, doch sie hielt ihn fest.

„Was, um alles in der Welt, hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte sie ihn schwer atmend. „Beinah wärst du überfahren worden!“

„Aaaaaaaah!“, schrie der Junge und warf sich hin und her.

Nun wusste sie, dass ihre Vermutung richtig gewesen war. Gina kniete sich hin, sodass er ihr Gesicht sehen konnte.

„Du bist taub, stimmt’s?“, erkundigte sie sich leise.

„Aaaaaaah!“

Der Junge wirkte verzweifelt und unglücklich. Plötzlich wurde sie wütend auf den Mann, der diesem hilflosen Kind die Mutter wegnehmen wollte.

„Du darfst nicht auf die Straße laufen“, fuhr sie langsam und deutlich fort. „Das ist sehr gefährlich.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.

Wieder schrie er und warf sich so heftig hin und her, dass sie beinah das Gleichgewicht verloren hätte.

„Joey!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm. „Hör auf damit!“

Es war Carson Page. Gina stand auf. „Es nützt nichts, wenn Sie ihn anschreien“, bemerkte sie. „Er kann Sie nicht hören.“

„Das weiß ich“, erwiderte er.

Er nahm den Jungen beim Arm. Joey zuckte zusammen und schrie erneut. Gina sah, dass er am ganzen Körper zitterte.

Sie kämpfte mit den Tränen, denn sie wusste nur zu gut, dass er auf diese Art seine Verzweiflung zum Ausdruck brachte. Carsons entsetzter Gesichtsausdruck rief schmerzliche Erinnerungen in ihr wach. Einem plötzlichen Gefühl folgend, legte sie die Arme um Joey.

„Ich kümmere mich um ihn. Ich bin sein Vater“, erklärte Carson.

Gina atmete tief ein und versuchte, ihre Wut zu unterdrücken. Sie verlor so gut wie nie die Beherrschung, doch jetzt zitterte sie vor Empörung.

„Wie konnten Sie zulassen, dass er allein auf die Straße läuft?“, fragte sie heftig. „Wissen Sie denn nicht, wie gefährdet taube Kinder im Straßenverkehr sind?“

„Sie brauchen mir keine Vorträge darüber zu halten, wie ich mit meinem Sohn umzugehen habe“, entgegnete er verärgert.

„Offensichtlich doch. Ein guter Vater würde sein Kind beschützen.“

Sein wütender Blick hätte sicher die meisten Menschen verstummen lassen. Gina ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken. Hier ging es um das Wohl eines Kindes.

„Ihr Sohn kann nicht hören“, rief sie. „Deshalb braucht er mehr Liebe und Verständnis als andere Kinder – nicht weniger! Und er braucht seine Mutter.“

„Das reicht.“ Carson erstarrte. „Sie wissen gar nichts über meinen Sohn. Vielleicht wären Sie jetzt so freundlich, ihn wieder hineinzubringen.“

Sie nahm das Kind bei der Hand und führte es in Philip Hales Büro. Zu ihrer Erleichterung war es leer.

„Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie meinen Sohn gerettet haben“, meinte Carson, „und dafür, dass Sie sich solche Umstände …“

„Es hat mir keine Umstände gemacht“, widersprach Gina. Sie wandte sich zu Joey um, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. „Möchtest du Milch und Schokoladenkekse?“, fragte sie langsam und deutlich.

Der Junge nickte. Er wirkte noch immer verstört. Doch als sie das Büro verlassen wollte, nahm er ihre Hand und hielt sie fest, als wäre sie seine letzte Rettung. Gina rief Dulcie an und bat sie, Kekse und Milch zu bringen.

„Kommt gleich“, sagte sie zu Joey. Er runzelte die Stirn. Offensichtlich hatte sie zu schnell gesprochen.

„Die Kekse und die Milch werden gleich gebracht“, wiederholte sie langsam. Diesmal nickte der Junge, und sie lächelte ihm aufmunternd zu. Nach kurzem Zögern brachte auch er ein schwaches Lächeln zustande. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch wieder.

Genau wie sein Vater, dachte sie.

Joey hatte ein rundes Gesicht mit markanten Zügen. Mit zunehmendem Alter würde er seinem Vater immer ähnlicher sehen. Man sah ihm an, dass er humorvoll und intelligent und eine starke Persönlichkeit war.

Als Dulcie mit den Keksen und der Milch hereinkam, leuchteten seine Augen auf. Bevor er allerdings etwas davon nahm, warf er seinem Vater einen ängstlichen Blick zu. Gina spürte erneut Verärgerung in sich aufsteigen.

„Er hat Angst vor Ihnen“, bemerkte sie vorwurfsvoll.

„Er hat vor allem und jedem Angst“, erwiderte Carson und seufzte.

„Das ist doch ganz normal. Für taube Menschen ist diese Welt sehr beängstigend, und gerade deshalb sollte er wissen, dass er sich immer auf Sie verlassen kann. Als sein Vater sollten Sie ihn vor all dem beschützen, was ihm Angst macht.“

„Aber ich weiß nicht, wie“, entgegnete Carson heftig. Sobald er es ausgesprochen hatte, wurde seine Miene wieder undurchdringlich, und er schien es zu bereuen, Schwäche gezeigt zu haben.

„Er wäre vorhin beinah von einem Auto überfahren worden. Und anstatt ihn zu umarmen und zu trösten, haben Sie lediglich mir für meine Hilfe gedankt – als ob das wichtig gewesen wäre!“

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Philip Hale sich näherte.

„Wäre es Ihnen recht, wenn ich Joey mit in mein Büro nehmen würde, damit Sie in Ruhe Ihre Besprechung führen können?“, schlug sie vor.

„Ja, vielen Dank.“

Gina wandte sich dem Jungen zu. „Komm bitte mit. Wir nehmen auch die Kekse mit.“ Gemeinsam gingen sie in ihr Büro.

Zum Glück war dort niemand, sodass sie ein wenig Zeit hatte, sich um Joey zu kümmern.

Gina kniete sich vor ihm hin. „Wie heißt du?“ Zwar kannte sie seinen Namen bereits, doch sie wollte versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Joey sah sie an, dann wandte er sich ab. Schließlich blickte er sie wieder an.

„Willst du es mir nicht verraten?“

Er atmete tief ein und brachte etwas hervor, das wie „oey“, klang.

„Joey heißt du also? Und ich bin Gina.“ Er runzelte die Stirn, und sie wiederholte ihren Namen. Vergeblich versuchte er, ihn nachzusprechen.

Ob er wohl die Taubstummensprache kennt? überlegte Gina. Sie beschloss, es zu probieren, und machte langsam das Zeichen für „G“ und für „I“. Seine Augen begannen zu leuchten, und sie buchstabierte zu Ende.

„Gina“, sagte sie noch einmal.

Joey versuchte, es nachzusprechen. Es war ein kaum verständliches Geräusch, doch sie lächelte ihm aufmunternd zu. Wieder buchstabierte sie ihren Namen mit den Fingern. Er beobachtete sie aufmerksam, dann wiederholte er die Bewegungen ohne einen einzigen Fehler.

„Sehr gut“, buchstabierte sie und reichte ihm die Kekse.

Nachdem Joey sich nun ein wenig beruhigt hatte, konnte sie ihn in Ruhe beobachten. Er wirkte sehr bedrückt und viel zu ernst für sein Alter.

Sie versuchte es mit einem etwas längeren Satz. „Schmecken dir die Kekse?“

Joey nickte und wollte etwas erwidern, verschluckte sich aber. Gina klopfte ihm auf den Rücken, und sie lachten gemeinsam.

Anschließend sagte er etwas, das sie mithilfe einiger Gesten verstand: Du sollst auch Kekse essen .

Damit war das Eis gebrochen, und sie unterhielten sich lebhaft. Der Junge strahlte über das ganze Gesicht. Er schien überglücklich darüber zu sein, sich mit jemandem austauschen zu können.

„Ich bin auch taub“, erzählte Gina. „Ich kann jetzt wieder hören, aber ich weiß genau, wie du dich fühlst – niemand versteht einen.“

Mit großen Augen nickte er. Niemand versteht einen , buchstabierte er.

„Du bist sehr klug“, sagte sie und machte die entsprechenden Gebärden.

Fragend blickte Joey sie an. Sie dachte, er hätte sie nicht verstanden, und forderte ihn auf, das Gesagte zu buchstabieren. Stattdessen machte er nur ein Geräusch: „Iiiiiii?“

Gina verstand, was er meinte. Es gab ihr einen Stich. „Ja, du, mein Kleiner“, erwiderte sie. „Du bist wirklich sehr klug.“

Joey gab keine Antwort, sondern schüttelte nur ungläubig den Kopf. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Er erwiderte die Umarmung so heftig, dass ihr beinah die Luft wegblieb.

Ich bin für den armen Kleinen eine Fremde, dachte sie traurig, und trotzdem klammert er sich an mich wie ein Ertrinkender.

Gina schloss die Augen und hielt das Kind fest an sich gedrückt. Sie hoffte, ihm wenigstens für einen Moment etwas Wärme und Zuversicht schenken zu können. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Carson Page im Türrahmen stehen, der sie mit ausdrucksloser Miene betrachtete.

„Wir müssen los“, sagte er nur.

Vorsichtig versuchte sie sich loszumachen, doch Joey klammerte sich an sie und wimmerte.

„Ganz ruhig, ich bin ja da“, tröstete sie ihn, als würde sein Vater nicht danebenstehen. Sie hätte in diesem Moment alles für den verzweifelten kleinen Jungen getan.

„Ich werde ihn jetzt mit nach Hause nehmen“, bemerkte Carson kühl.

„Nach Hause“, sagte Gina zu Joey.

Doch er schüttelte heftig den Kopf. Und als sein Vater seine Hand nahm, versuchte Joey, sich loszureißen.

„Hör auf“, befahl Carson und zog ihn mit.

Gina stand auf und blickte ihn an. „Lassen Sie ihn los.“

„Wie bitte?“

„Ich sagte, Sie sollen den Jungen loslassen. Sie haben kein Recht, ihn so zu behandeln.“

„Wie können Sie es wagen …?“

„Ich bitte Sie lediglich darum, etwas sanfter und verständnisvoller mit ihm umzugehen.“

„Ich bin sehr nachsichtig mit ihm, aber Wutanfälle lasse ich nicht durchgehen.“

Gina wurde so zornig, dass sie ihn am liebsten erwürgt hatte. Wie konnte sie diesem Mann nur begreiflich machen, was in seinem Sohn vorging?

„Er hat keinen Wutanfall“, erwiderte sie, um Fassung ringend. „Er ist einsam, und er hat Angst. Sind Sie wirklich so kaltherzig, dass Sie das nicht merken?“

Carson Page betrachtete sie sprachlos. Auch sie konnte kaum glauben, was sie getan hatte. Normalerweise war sie äußerst zurückhaltend und friedfertig. Doch Joeys Verzweiflung hatte schmerzhafte Erinnerungen in ihr wachgerufen. Einen Moment lang war sie wieder das Kind, das sich wütend und verzweifelt gegen eine Umwelt zur Wehr setzte, die ihm nichts als Unverständnis und Gleichgültigkeit entgegenbrachte.

„Miss Tennison, Sie sind entlassen und verlassen jetzt augenblicklich dieses Gebäude.“ Mr Hale gelang es nicht, seine Schadenfreude zu verbergen.

„Nein“, widersprach Carson Page sofort. „Ich bin Miss Tennison zu großem Dank verpflichtet und kann nicht zulassen, dass sie ihre Arbeit verliert.“

Philip Hales Gesichtsausdruck war sehenswert. Offensichtlich war er einerseits empört darüber, dass Carson ihm so energisch widersprochen hatte. Andererseits wollte er diesen wichtigen neuen Mandanten nicht verlieren. Während Philip noch schwankte, fuhr Carson fort:

„Miss Tennison, ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie meinem Sohn das Leben gerettet haben, und …“ Er zögerte einen Moment. „… und dafür, dass Sie so viel Verständnis für ihn haben. Sie sind sicher eine Bereicherung für Renshaw Baines. Gleich morgen werde ich den Seniorpartnern schreiben und sie dazu beglückwünschen, Sie eingestellt zu haben.“ Die Betonung lag eindeutig auf „Seniorpartnern“, was auch Philip Hale nicht entging. Er zog die Augenbrauen hoch.

Gina war zutiefst verwirrt. Carson mochte arrogant und brüsk sein, unfair war er nicht.

Er streckte den Arm nach seinem Sohn aus. Joey schien jeglichen Widerstand aufgegeben zu haben und nahm seine Hand, ohne zu protestieren. Doch er weinte leise vor sich hin, und es gab ihr einen Stich.

Vater und Sohn gingen zum Ausgang. Plötzlich blieb Carson stehen und betrachtete Joeys tränenüberströmtes Gesicht. Er nahm ein Taschentuch und tupfte ihm behutsam die Tränen ab. Dann sah er Gina nachdenklich an. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte er unsicher.

„Vielleicht sollten Sie uns besser begleiten“, sagte er schließlich, „wenn Sie die Zeit erübrigen können.“

Am liebsten hätte Gina sofort zugestimmt. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als diesem verzweifelten, verletzlichen Kind zu helfen, doch irgendetwas hielt sie zurück.

„Gehen Sie mit, und machen Sie sich nützlich“, wies Philip Hale sie mühsam beherrscht an. „Ich werde später noch auf diese Angelegenheit zurückkommen.“

Schnell holte Gina ihre Handtasche und eilte den beiden nach. Joey lächelte strahlend. Dann hob er die Hände und buchstabierte: Mitkommen .

„Ja“, erwiderte sie, „ich komme mit euch.“

3. KAPITEL

Niemand sprach während der Fahrt. Gina saß mit Joey hinten im Wagen. Der Junge schien überglücklich zu sein, dass sie mit ihm nach Hause kam.

Sie versuchte, ruhig zu bleiben und den Gedanken an ihre Kindheit zu verdrängen. Doch sie wusste noch allzu gut, wie hilflos sie sich gefühlt hatte – gefangen in einer Welt des Schweigens. Gina war hin und her gerissen. Sie musste Joey helfen, aber sie wollte auch um jeden Preis verhindern, dass die schmerzhaften Erinnerungen in ihr wachgerufen wurden …

Dann gab sie sich einen Ruck. Wozu zerbrach sie sich eigentlich den Kopf? Nach diesem kurzen Besuch würde sie weder Joey noch seinen Vater jemals wieder sehen.

Was Carson anging, so war sie bitterenttäuscht. Bei ihrer ersten Begegnung am vergangenen Tag hatte sie geglaubt, dass er sich unter seiner harten Schale ein weicher Kern verbarg. Doch sie hatte sich geirrt.

In Wirklichkeit war er tauben Menschen gegenüber ebenso voreingenommen wie alle anderen.

Joey versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er buchstabierte etwas, und sie antwortete. Sie führten ihre stille Unterhaltung während der ganzen Fahrt fort.

Gina kannte die Gegend, in die sie fuhren. In diesem Stadtteil wohnten wohlhabende Menschen, die ihren Reichtum nach außen zeigen wollten. In den breiten Alleen reihten sich riesige Grundstücke mit prachtvollen Villen aneinander. Einer ihrer Mandanten hatte einmal eine solche Villa gekauft, und sie, Gina, hatte sich um die rechtliche Abwicklung gekümmert. Deshalb wusste sie, dass die Grundstücke mehr kosteten, als sie in ihrem Leben verdienen würde.

Carson bog auf das größte Anwesen der ganzen Straße ein und fuhr langsam die Auffahrt entlang zum Haus.

„Normalerweise ist Mrs Saunders um diese Zeit hier“, erklärte er, als er kurz darauf die Haustür öffnete. „Sie kümmert sich um den Haushalt und passt auf Joey auf, wenn er aus der Schule kommt. Aber heute wollte sie plötzlich dringend freinehmen, sodass ich ihn mit zu meinem Termin nehmen musste.“

Sie betraten eine Eingangshalle mit glänzendem Parkett und einer breiten, geschwungenen Treppe. Mit seinen hohen Fenstern und sonnendurchfluteten Räumen war das Haus sehr schön. Es schien an nichts zu fehlen. Und trotzdem war deutlich zu spüren, dass die beiden Menschen, die hier wohnten, sich hier nicht geborgen fühlten – sie waren Gefangene ihrer Einsamkeit.

Joey hielt ihre Hand fest umklammert, und die Art, wie er sie ansah, bereitete Gina Sorgen. Sie wollte nicht, dass er sich zu sehr an sie gewöhnte, denn bald würde sie sich wieder von ihm verabschieden müssen.

Doch sie musste daran denken, wie sie sich als Kind nach einem Menschen gesehnt hatte, der immer für sie da war und auf den sie sich verlassen konnte.

Joey zog sie zum Garten. Carson folgte ihnen. Das Grundstück war groß und wunderschön. Der Junge würdigte die gepflegten Rasenflächen und riesigen Blumenbeete jedoch keines Blickes, sondern ging zielstrebig zu einem großen Teich, in dem zahlreiche bunte Fische umherschwammen. Dann erzählte er ihr in der Gebärdensprache etwas über jedes Tier.

„Er interessiert sich sehr für Fische“, bemerkte Carson. Er klang ein wenig hilflos, als wüsste er nicht recht, was er sagen sollte.

Gina merkte, dass er sich Mühe gab. Doch insgeheim machte sie ihm immer noch Vorwürfe. Schließlich lebte er bereits seit einigen Jahren mit seinem Sohn zusammen. Man könnte erwarten, dass er sich inzwischen etwas besser auf die Situation eingestellt hat, dachte sie.

Joey ging um den Teich, um einen Fisch besser beobachten zu können. Mit gerunzelter Stirn blickte er ins Wasser. Er wirkte äußerst konzentriert – wie ein kleiner Wissenschaftler.

„Warum mag Philip Hale Sie nicht?“, fragte Carson unvermittelt. „Es steckt doch noch mehr dahinter, stimmt’s?“

„Ja. Er kommt mit der Vorstellung nicht zurecht, dass er eine behinderte Mitarbeiterin hat – was ich in seinen Augen bin. Viele Menschen können nichts akzeptieren, was von der Norm abweicht“, fügte sie gelassen hinzu und sah ihn an.

„Beziehen Sie das auf mich?“, erkundigte er sich.

„Trifft es denn zu?“

„Zumindest scheinen Sie davon überzeugt zu sein. Ich dachte, Sie mögen keine Menschen, die vorschnell urteilen. Aber genau das haben Sie heute bei mir getan. Sie haben sich weder die Mühe gemacht, die Hintergründe zu erfahren, noch haben Sie mir mildernde Umstände zugestanden. Am liebsten hätten Sie mich sofort enthauptet.“

Gina musste insgeheim zugeben, dass er recht hatte, und begann, sich ein wenig unwohl zu fühlen.

„Carson, ich möchte nicht, dass Sie mich für undankbar halten. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass ich meine Arbeit Ihretwegen nicht verloren haben – nach allem, was ich Ihnen an den Kopf geworfen habe.“

„Alles andere wäre nicht fair gewesen“, antwortete er. „Außerdem brauche ich Ihre Hilfe.“

„So etwas habe ich mir schon gedacht.“

„Sie halten wohl nie mit Ihren Ansichten hinterm Berg“, stellte er trocken fest.

„Ich reagiere nur deshalb so heftig, weil ich genau weiß, was Joey fühlt. Auch ich habe das alles durchgemacht. Lassen Sie sich nicht von meinem Äußeren täuschen. Obwohl ich wirke wie eine graue Maus, bin ich zäh und kann mich durchsetzen.“

„Graue Maus?“, wiederholte er. „Mit diesem wunderschönen rötlichen Haar?“

Gina war sprachlos. Sie hatte ihr Haar nie als etwas Besonderes empfunden.

Sie gingen zurück ins Haus. Joey, der die gespannte Stimmung bemerkt hatte, beobachtete sie beide aufmerksam. Im Haus nahm er ihre Hand und zog Gina die Treppe hinauf.

„Ich glaube, er möchte Ihnen sein Zimmer zeigen“, erklärte Carson.

Gina folgte dem Jungen nach oben. In seinem Zimmer blieb sie überrascht stehen. Die Wände waren über und über mit Postern behängt. Doch es waren keine Fußballmannschaften darauf abgebildet, sondern Wale, Pinguine, Haie, Seelöwen, Fische, Korallen und Muscheln. Die Regale waren voller Bücher und Videofilme über die Fauna der Meere.

Gina wandte sich an Joey. „Du weißt sicher eine ganze Menge.“ Der Junge nickte.

„Interessierst du dich schon lange für Meerestiere?“ Sie buchstabierte das letzte Wort, und er nickte wieder.

Joey zeigte ihr das ganze Zimmer. Es gab einfach alles, sogar einen Computer, sodass er im Internet Nachforschungen betreiben konnte. Sein Vater hatte ihm alles Erdenkliche gekauft und ihm sogar eine Kreditkarte zur Verfügung gestellt, sodass Joey über das Internet Bücher bestellen konnte.

Es gab allerdings niemanden, mit dem Joey seine Begeisterung teilen konnte.

Plötzlich entdeckte Gina etwas Merkwürdiges. Auf dem Nachttisch stand ein großes gerahmtes Foto von einer jungen Frau Anfang zwanzig. Sie war stark geschminkt und wunderschön. Das dichte blonde Haar fiel ihr auf die Schultern, und sie lächelte strahlend.

Gina erkannte die Frau. Sie hieß Angelica Duvaine und war Schauspielerin. Gina hatte sie vor Kurzem in einer Nebenrolle in einem sehr erfolgreichen Film gesehen. Angelica Duvaine war zwar nicht sonderlich talentiert, aber diesen Mangel machte sie durch ihre Schönheit und ihren Charme wieder wett. Es wunderte Gina, dass sie ein solches Foto ausgerechnet im Zimmer eines Kindes fand.

Joey strahlte vor Stolz.

Meine Mutter , buchstabierte er.

„Aber …“ Sie verstummte. Man hatte dem kleinen Jungen die Mutter weggenommen, und offensichtlich hatte er sich in seiner Fantasie eine perfekte Mutter ausgedacht. Welches Recht hatte sie, diesen Traum zu zerstören?

„Sie ist sehr hübsch“, erwiderte sie stattdessen.

Joey nickte eifrig. Er zeigte auf das Bild und sagte etwas Unverständliches. Doch sie erriet, was er meinte. Sie hat es mir geschenkt. Vermutlich handelte es sich um eine Fanpostkarte, die Angelica Duvaines Agentur ihm zugeschickt hatte. Joey schien zu denken, es würde sich um ein persönliches Geschenk handeln.

„Sie hat es dir geschenkt?“, wiederholte Gina. „Das ist aber nett von ihr.“

Wieder nickte er. Sie hat mich lieb.

Sie schluckte. „Ja“, bestätigte sie dann, „natürlich.“

Carson trat ein. „Ich habe das Essen vorbereitet.“

Sie gingen nach unten in das elegante Speisezimmer. Es war sehr geschmackvoll eingerichtet und mit matt schimmerndem dunklen Holz vertäfelt. Gina fiel ein, wie unwohl sie sich als Kind in so einem Raum gefühlt hätte. Joey schien es ebenso zu gehen. Er wirkte eingeschüchtert.

Das Essen war köstlich. „Es schmeckt ausgezeichnet“, sagte Gina anerkennend.

„Mrs Saunders hat es gekocht“, gab Carson zu. „Ich habe es lediglich in der Mikrowelle aufgewärmt.“ Er blickte seinen Sohn an, der lustlos auf seinem Teller herumstocherte.

„Was ist?“, fragte Carson und berührte ihn an der Schulter.

„Was stimmt nicht mit dem Essen?“, hakte er lauter nach.

„Hört Joey gar nichts?“, erkundigte sich Gina.

„Nein, nichts.“

„Dann hilft es nichts, wenn Sie laut reden. Sprechen Sie langsam und deutlich, damit er Ihnen von den Lippen ablesen kann. Und mit dem Essen ist alles in Ordnung. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass Joey lieber einen Hamburger hätte – wie die meisten Kinder seines Alters.“

„Das ist doch minderwertiges Zeug“, entgegnete Carson abschätzig. „Das hier ist viel gesünder.“

Gina bemerkte, wie Joey ratlos von ihr zu seinem Vater blickte, ohne etwas zu verstehen. Sie nahm seine Hand, und das schien ihn zu beruhigen.

„Welches Kind will schon immer vernünftig sein?“, widersprach sie. „Haben Sie ihn denn schon einmal gefragt, was er gern isst?“

„Das ist nicht so einfach.“

„Doch, das ist es. Sie müssen ihm einfach ins Gesicht sehen, damit er Ihnen von den Lippen ablesen kann.“

„Glauben Sie denn, ich hätte das nicht versucht? Er kann mich nicht verstehen – oder er will es nicht.“

Gina wollte widersprechen, dann musste sie allerdings an ihre eigene Kindheit denken. Sie überlegte kurz. „Vermutlich kommt es darauf an, wie Sie mit ihm sprechen“, meinte sie schließlich. „Wenn er merkt, dass Sie ungeduldig werden, reagiert er vielleicht abweisend.“

„Wollen Sie damit sagen, dass er so tut, als würde er mich nicht verstehen?“

„Das weiß ich nicht, aber ich erinnere mich gut daran, dass ich mich als Kind so verhalten habe. Manche Erwachsenen fand ich unsympathisch, weil sie es offensichtlich als lästige Pflicht empfanden, mit mir zu reden. Ihnen habe ich es nicht leicht gemacht.“

„Dann bin ich also auch so ein unsympathischer Erwachsener?“

„Das wissen Sie selbst wohl am besten.“

Carson seufzte schwer. „Ich tue mein Bestes.“

„Und reicht das?“

„Nein, natürlich nicht“, brauste er auf. „Sie haben recht, ich bin ein lausiger Vater. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll – und der Junge muss darunter leiden.“

„Zumindest geben Sie es zu.“

„Aber was nützt ihm das?“, fragte er verzweifelt.

Sein Tonfall erschreckte sie. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sehr auch Carson unter Joeys Gehörlosigkeit litt.

Als sie ihm am vergangenen Abend eröffnet hatte, dass sie taub war, hatte er genauso entsetzt wie die meisten Leute reagiert. Doch jetzt wusste sie, dass es ihn an seine eigenen Probleme erinnert hatte, die er nicht bewältigen konnte.

„Was soll ich denn nur tun?“, erkundigte er sich leise. „Bitte helfen Sie mir, wenn Sie können.“

„Ich kann Ihnen zumindest erklären, was in Joey vorgeht. Wenn Sie das verstehen, wird es Ihnen vielleicht leichter fallen, mit ihm umzugehen.“ Sie bemerkte, dass Joey sie ansah, und fügte leise hinzu: „Wir reden besser später darüber.“

Während sie weiteraßen, kümmerte Gina sich um den Jungen, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlte.

„Darf ich Ihr Telefon benutzen?“, fragte sie, als ihr einfiel, dass Dan sie im Büro hatte anrufen wollen.

„Selbstverständlich. Sie können das im Zimmer nebenan nehmen.“

Gina wählte die Nummer von Dans Handy.

„Du hast mir nicht gesagt, dass du heute Abend etwas vorhast“, sagte er vorwurfsvoll.

„Es hat sich spontan ergeben.“

„Mein Chef hat uns beide zu sich nach Hause eingeladen. Es war etwas unangenehm, allein hier aufzukreuzen.“

„Es tut mir leid, aber davon wusste ich ja nichts.“

„Du könntest noch nachkommen, wenn du dich beeilst.“

„Also gut, ich werde es versuchen …“

Plötzlich bemerkte sie, dass Joey auf der Türschwelle stand und sie beobachtete.

Sie sah ihm an, dass er alles begriffen hatte. Er konnte zwar die Worte nicht verstehen. Doch sie erinnerte sich gut daran, dass sie als taubes Kind immer gewusst hatte, wenn jemand sie im Stich lassen würde.

Im Stich lassen? Das war nun wirklich übertrieben! Schließlich war sie nicht für Joey verantwortlich.

Oder doch? Er war in der Angst einflößenden Welt des Schweigens gefangen, der sie entkommen war. Ob sie es wollte oder nicht, sie trug die Verantwortung für Joey, denn sie wusste, was er ertragen musste.

„Es tut mir leid, aber ich kann nicht“, entgegnete sie.

„Diese Einladung ist sehr wichtig für mich, Gina.“

„Mir ist meine Arbeit auch wichtig.“ Gina suchte nach einer Erklärung, die Dan verstehen und akzeptieren würde. „Ich habe heute einem sehr wichtigen Mandanten gegenüber einen großen Fehler gemacht und versuche jetzt, es wieder gutzumachen.“ In knappen Worten erzählte sie von dem Unfall und von Joey.

Dan schien sehr interessiert zu sein.

„Carson Page? Und du bist bei ihm – in dieser tollen Villa in der Belmere Avenue?“

„Ja.“

„Hm. Gut, ich werde mich später noch einmal melden.“

Carson war ins Zimmer gekommen, um Joey zu holen.

„Mussten Sie meinetwegen eine Verabredung absagen?“, fragte er.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Sie wandte sich an Joey. „Ich bleibe noch eine Weile hier.“

Der Junge lächelte strahlend.

Er durfte seine Lieblingsseifenoper sehen, die er mithilfe von Untertiteln verstehen konnte. Gina und Carson brachten die Teller in die Küche. Er goss ihr ein Glas Wein ein, und sie setzten sich an den Küchentisch.

„Ich habe mich noch nicht richtig bei Ihnen bedankt“, meinte Carson. „Ich hätte Joey nicht mit zu der Besprechung nehmen dürfen, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Er hat seit heute Ferien, und Mrs Saunders hatte sich ja freigenommen. Ich war dann so in das Gespräch mit Mr Hale vertieft, dass ich nicht bemerkt habe, wie Joey aus dem Zimmer gelaufen ist. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich meinen Sohn womöglich verloren.“

„Warum haben Sie mich nicht gebeten, auf ihn aufzupassen?“

„Ich hatte Ihnen doch versprochen, nicht zu erzählen, dass wir uns kennen.“

„In diesem Fall hätten Sie Ihr Versprechen ruhig brechen können.“

„Außerdem wusste ich nicht, ob Ihre Vorgesetzten wissen, dass Sie taub sind. Und da es leider viele Menschen wie Philip Hale gibt …“

„Zuerst dachte ich, Sie wären wie er“, gab Gina zu. „Als ich Ihnen gestern Abend davon erzählt habe …“

„Bei meiner Reaktion wundert es mich nicht, dass Sie keine gute Meinung von mir hatten. Aber mir macht das alles wirklich zu schaffen – obwohl es für Joey natürlich unendlich viel schwerer ist.“

„Allerdings. Als Außenstehender können Sie sich nicht vorstellen, was er durchmacht – diese Verzweiflung, wenn man sich nicht verständlich machen kann und die Menschen einen ansehen, als wäre man verrückt.“

„Sie brauchen mir nicht zu sagen, dass ich kein guter Vater bin – ich weiß es ja selbst. Ich habe keine Ahnung von den Bedürfnissen meines Sohnes.“

„Aber sicher können Sie sich vorstellen, dass er seine Mutter braucht – auch wenn Sie sich von ihr getrennt haben. In seiner Verzweiflung glaubt er sogar, Angelica Duvaine wäre seine Mutter.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er es sich ausgedacht hat?“, erkundigte sich Carson.

„Ich habe mir das Bild auf Joeys Nachttisch angesehen. Sie kann nicht älter als Anfang zwanzig sein.“

„Sie wäre sicher hocherfreut, das zu hören. Angelica ist achtundzwanzig. Das Foto ist retuschiert, aber sie sieht auch in Wirklichkeit jünger aus. Und sie tut alles dafür, dass es so bleibt. Sie wollte sich sogar einer Brustoperation unterziehen. Wir haben uns deswegen gestritten. Es war der Grund, warum sie schließlich ausgezogen ist – obwohl sie hier damals ohnehin kaum noch Zeit verbracht hat.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Angelica Duvaine wirklich Joeys Mutter ist?“, fragte Gina ungläubig.

„Ja. Ihr richtiger Name ist Brenda Page, aber sie hat ihn schon vor einigen Jahren abgelegt. In wenigen Wochen wird unsere Scheidung rechtskräftig.“ Er seufzte schwer und fuhr fort: „Ich weiß, dass Sie mich für kaltherzig halten, weil ich Mutter und Kind voneinander trenne. Doch ich würde es nicht tun, wenn sie auch nur das geringste Interesse an dem Jungen hätte. In all ihren Interviews hat sie nie auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt, dass sie einen Sohn hat. Als sich herausstellte, dass Joey nicht ist wie andere Kinder, hörte er in ihren Augen auf zu existieren. Sie schämt sich für ihn. Meiner Frau gehen Schönheit und Makellosigkeit über alles.“

„Du meine Güte“, flüsterte Gina verstört. „Das arme Kind!“

„Joey betet seine Mutter geradezu an – obwohl sie ihn praktisch ignoriert. Auch wenn sie sich monatelang nicht meldet, verzeiht er ihr sofort, wenn er sie wieder sieht.“

„Natürlich“, bestätigte sie. „Er denkt, es wäre seine Schuld, dass sie ihn so behandelt.“

Carson warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. „Haben Sie als Kind so empfunden?“

„Ja. Meine Mutter war immer für mich da und hatte viel Verständnis, aber sie starb sehr früh. Mein Vater dagegen … Ich glaube, dass er mich aufgrund meiner Behinderung abgelehnt hat. Damals dachte ich allerdings, ich müsste etwas Schreckliches getan haben.“

„Glauben Sie, dass es bei Joey ähnlich ist?“

„Er hat mir gesagt, seine Mutter hätte ihn lieb. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass er sich für ihre Abwesenheit verantwortlich fühlt. Aber ich weiß es nicht mit Sicherheit.“

„Was soll ich nur tun?“, fragte er gequält. „Ich kann ihm nicht erzählen, wie egoistisch seine Mutter ist und dass sie nur sich selbst liebt. Was glauben Sie, warum ich versuche, ihr den Kontakt zu dem Jungen zu verbieten? Ich kann es nicht ertragen, dass er so unglücklich ist, wenn sie ihn wieder allein lässt – und früher oder später tut sie es immer.“

„Bitte entschuldigen Sie, dass ich so vorschnell über Sie geurteilt habe – ohne alle Hintergründe zu kennen“, flüsterte Gina fassungslos.

Carson strich sich durchs Haar. Dann öffnete er zerstreut seine obersten Hemdknöpfe. Nichts erinnerte mehr an den selbstsicheren, arroganten Geschäftsmann. Stattdessen sah sie einen verzweifelten, hilflosen Vater vor sich.

„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf“, erwiderte er. „Auch ich bilde mir manchmal zu schnell ein Urteil. Und wann kennt man schon jemals alle Hintergründe?“

Gina wechselte das Thema. „Hat Mrs Saunders die richtige Ausbildung, um Joey betreuen zu können?“

„Zumindest dachte ich es anfangs. Brenda hat sie eingestellt, weil Mrs Saunders früher einmal in einer Sonderschule gearbeitet hat. Aber leider mag Joey sie nicht. Er hat ständig Wutanfälle. Gestern war es besonders schlimm, deswegen hat sie sich heute wohl auch freigenommen.“

„Sie tun Joey unrecht, wenn Sie seine Verzweiflung als Wutanfall bezeichnen.“

„Ja, vielleicht haben Sie recht“, gestand Carson ein. In diesem Moment klingelte es.

Er ging zur Tür und kam mit Dan zurück.

„Dein Auto ist doch noch in der Werkstatt“, sagte dieser zur Erklärung. „Deswegen wollte ich dich abholen.“

„Das ist sehr nett von Ihnen“, bemerkte Carson, „aber ich hätte Miss Tennison selbstverständlich ein Taxi bezahlt.“ Fragend blickte er sie an. „Haben Sie es eilig, nach Hause zu fahren?“

„Das hängt ganz von Joey ab.“

„Um diese Zeit geht er normalerweise schlafen.“

„Du könntest ihn doch ins Bett bringen“, schlug Dan vor. „Das würde ihm sicher gefallen.“

Sein betont fröhliches Lächeln kam Gina aufgesetzt vor. Sie wandte sich an Joey. Schlafen gehen sagte sie in der Gebärdensprache. Eifrig sprang der Junge auf und folgte ihr.

„Ich komme gleich wieder“, versicherte sie den beiden Männern.

„Lass dir ruhig Zeit, Schatz“, flüsterte Dan ihr zu. „Ich versuche schon seit Monaten, Carson Page persönlich kennenzulernen.“

Daher wehte also der Wind. Eigentlich konnte sie Dan keinen Vorwurf machen, denn er war fleißig und arbeitete hart. Und doch war sie verärgert, denn an diesem Abend sollte Joey im Mittelpunkt stehen. Dass Dan die Situation ausnutzte, gefiel ihr nicht.

Während der Junge duschte, ging Gina ins Kinderzimmer, um seinen Bademantel zu holen. Vom Treppenabsatz aus warf sie einen kurzen Blick nach unten und sah, dass Dan auf Carson einredete, der sich offensichtlich Mühe gab, höflich zu bleiben.

Joey drehte das Wasser ab und ließ sich von ihr in den Bademantel hüllen.

„…ke!“, brachte er mühevoll heraus. Danke.

Gina brachte ihn ins Bett und fragte, ob er noch lesen wolle. Lächelnd schüttelte er den Kopf. Er wirkte entspannt und glücklich. Nichts erinnerte an das scheue, verängstigte Kind, das sie am Nachmittag von der Straße gezogen hatte. Einem plötzlichen Gefühl folgend, beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss.

„Ist er fertig?“, erklang Carsons Stimme von der Tür her.

„Ja, Sie können ihm jetzt Gute Nacht sagen“, antwortete Gina. Sie stand auf, um ihm Platz zu machen. Anstatt seinen Sohn in die Arme zu schließen, sagte er allerdings nur: „Gute Nacht, mein Sohn.“

Joey gab sich große Mühe, die Worte zu wiederholen, aber sein Vater erwiderte nichts. Er wirkte angespannt und befangen.

„Gute Nacht, Joey“, sagte Gina.

Sie wollte hinausgehen, doch Joey hielt ihre Hand fest. Sie setzte sich auf die Bettkante. Er deutete erst auf sich, machte eine Gebärde und wies dann abschließend auf sie, wobei ein schüchternes Lächeln seine Lippen umspielte.

„Was bedeutet das?“, wollte Carson wissen.

„Er hat gesagt, dass er mich mag“, erklärte Gina. Lächelnd zeigte sie auf sich, machte dieselbe Gebärde und wies dann auf Joey.

Ich mag dich.

Plötzlich blieb ihr die Luft weg, denn er hatte ihr die kleinen Arme um den Hals gelegt und drückte sie mit aller Macht. Gina erwiderte die Umarmung.

Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie alles für Joey tun, was in ihrer Macht stand. Andererseits wollte sie dieses Haus, das so viele schmerzhafte Erinnerungen in ihr wachrief, so schnell wie möglich verlassen.

Nachdem Joey sie losgelassen hatte, ging Gina hinaus. Er blickte ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Vielen Dank für alles“, sagte Carson leise, „Sie haben Joey sehr glücklich gemacht. Wann können Sie wiederkommen?“

„Halten Sie das denn für richtig?“

„Ich verstehe nicht, wie Sie daran zweifeln können. Sie wissen doch viel besser als ich, was Joey braucht.“

„Aber Sie sind sein Vater. Sie müssen lernen, richtig mit ihm umzugehen. Vor allem sollte er für Sie immer an erster Stelle kommen.“

„Gut“, meinte er, nachdem er kurz geschwiegen hatte.

Sie gingen nach unten, wo Dan bereits ungeduldig wartete. Er schien entschlossen zu sein, Carson in ein längeres Gespräch zu verwickeln. Doch dieser machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem er sich dafür entschuldigte, dass er sie so lange aufgehalten hatte, und Dan und sie zur Tür begleitete.

„Auf Wiedersehen, Miss Tennison“, sagte Carson höflich. „Ich werde noch einmal über das nachdenken, was Sie mir geraten haben.“

Auf der Rückfahrt konnte Dan seine Begeisterung kaum verbergen. „Wenn ich tatsächlich unsere Zündkerzen an Page Engineering verkaufen kann, wird das ein Millionengeschäft. Endlich konnte ich einmal persönlich mit Mr Page sprechen!“

„Dan, es tut mir wirklich leid, dass ich heute Abend nicht mit zu deinem Chef gekommen bin. Aber du verstehst sicher, dass ich den armen kleinen Jungen …“

„Ich habe ihm alles über die Zündkerzen erzählt“, unterbrach Dan sie, „und er war sehr interessiert. Er hat mich gebeten, zu ihm ins Büro zu kommen, damit wir alles genau besprechen können. Ich habe das Gefühl, dass es ein ganz großer Erfolg wird.“

„Das freut mich für dich, Dan.“

„Natürlich habe ich es nicht zuletzt dir zu verdanken, wenn ein Geschäft zustande kommt“, bemerkte er gönnerhaft. „Das schätze ich so an dir – man kann sich immer auf dich verlassen.“

„Danke“, erwiderte Gina. Es war wohl als Kompliment gedacht, und eigentlich hätte sie sich darüber freuen sollen. Dann musste sie allerdings an etwas denken, was Carson zu ihr gesagt hatte: „Graue Maus? Mit diesem wunderschönen rötlichen Haar?“

Dan wollte sie noch auf einen Drink einladen, doch sie lehnte ab. Nach den aufregenden Ereignissen des Tages war sie zu erschöpft. Sie ließ sich zu Hause absetzen, und er fuhr weiter zu seiner Wohnung. In Gedanken verfasste er sicher schon den Verkaufsvertrag mit Page Engineering.

Bevor sie ins Bett ging, bürstete Gina sich das Haar und betrachtete sich eine Weile prüfend im Spiegel.

Dann atmete sie tief ein und lächelte glücklich.

Ihr Haar schimmerte tatsächlich rötlich.

Und sie hatte es nie zuvor bemerkt.

4. KAPITEL

„Die Situation ist ein wenig kompliziert“, stellte George Wainright fest. „Es ist wirklich bedauerlich, dass Philip so gegen Sie eingenommen ist.“

Es war der Morgen nach ihrem Besuch bei Joey, und Gina saß mit George, ihrem Chef, in dessen Büro. Wie sie bereits befürchtet hatte, hatte Philip Hale sich ausgiebig über sie beschwert.

„Glücklicherweise haben wir auch einen Brief von Mr Page erhalten, in dem er Sie in den höchsten Tönen lobt“, fuhr George fort. „Er wurde heute Morgen per Bote überbracht. Aber in Zukunft müssen Sie sich besser unter Kontrolle haben. Wir können es uns nicht leisten, dass unsere Mitarbeiter sich mit den Mandanten streiten.“

George Wainright war ein älterer, grauhaariger Mann, der ein so freundliches Gesicht hatte, dass jeder ihn am liebsten zum Großvater gehabt hätte. Doch Gina ließ sich dadurch nicht täuschen. Sie wusste, dass er großen Wert auf korrektes Verhalten legte und hohe Ansprüche an sich und seine Mitarbeiter stellte.

„Nun gut, lassen wir die Angelegenheit auf sich beruhen“, sagte George abschließend. „Wenn Sie Ihre Arbeit weiter so großartig machen wie bisher, wird der Zwischenfall bald vergessen sein.“

Erleichtert ging sie zurück in ihr Büro und vertiefte sich in die Arbeit. Auch sie wünschte, die Ereignisse des vergangenen Tages verdrängen zu können, die sie so aufgewühlt hatten.

Am Nachmittag erhielt Gina die Nachricht, dass am Empfang ein Besucher auf sie warte. Sofort wusste sie, um wen es sich handelte.

Ihr Herz klopfte heftig, als sie hinunterging und Joey erblickte, der ängstlich und entschlossen zugleich wirkte.

Schnell brachte sie ihn in ihr Büro und verschloss die Tür vor den neugierigen Blicken der Kollegen. „Was machst du hier?“, fragte sie ihn.

Der Junge antwortete in der Gebärdensprache. Ich wollte zu dir.

„Hat dich jemand begleitet?“

Nein.

„Was ist passiert?“

Joey schwieg und senkte den Blick. Er wirkte verstört, und Gina beschloss, seinen Vater anzurufen.

Sie wählte die Nummer von Page Engineering, und es dauerte eine Weile, bis sie durchgestellt wurde.

Schließlich meldete Carson sich. Seine Stimme klang tief und angenehm.

„Hier ist Gina Tennison. Joey ist allein zu mir ins Büro gekommen, und er scheint wegen irgendetwas verstört zu sein.“

„Allein? Wo ist denn Mrs Saunders?“

„Einen Moment, ich werde ihn fragen.“

Gina wandte sich an Joey und buchstabierte Mrs Saunders’ Namen. Seine Antwort überraschte sie so sehr, dass sie ihre Frage wiederholte.

„Er sagt, sie wäre weggegangen.“

„Sie hat ihn allein gelassen?“

Sie erkundigte sich bei dem Jungen und erwiderte dann: „Er sagt Ja.“

Carson fluchte leise.

„Könnten Sie ihn bitte so bald wie möglich abholen? Er wirkt sehr aufgeregt und braucht dringend Trost.“

„Das geht nicht. Ich bin in einer wichtigen Besprechung. Außerdem will er offensichtlich nicht bei mir sein, sondern bei Ihnen.“

„Aber Sie sind sein Vater. Was kann wichtiger sein als Ihr eigener Sohn?“

„Ich rufe Sie in fünf Minuten zurück“, antwortete Carson kurz angebunden und legte auf.

Gina sah Joey an. Er wusste, mit wem sie gesprochen hatte und worüber. Seinem Blick entnahm sie, dass er keine andere Antwort von seinem Vater erwartet hatte.

Sie brachte ihm einige Kekse und unterhielt sich mit ihm. Joey erzählte, dass Mrs Saunders am Vormittag das Haus verlassen und angekündigt hätte, sie würde bald wiederkommen. Doch drei Stunden später war sie noch immer nicht zurück gewesen.

Einsam und verlassen, hatte der Junge sich auf den Weg zu dem einzigen Menschen gemacht, bei dem er sich geborgen fühlte – nicht zu seinem Vater, sondern zu ihr, Gina.

„Wie bist du hierher gekommen?“, erkundigte sie sich.

Ich habe die Adresse aufgeschrieben und bin zum Bahnhof gegangen. Dort gibt es Taxis.

Ein achtjähriges, hilfloses Kind, das sich ganz allein auf den Weg durch London machte.

Endlich rief Carson zurück.

„Ich fürchte, ich muss Ihre Hilfsbereitschaft noch eine Weile in Anspruch nehmen“, sagte er. „Wären Sie so nett, Joey nach Hause zu bringen und auf ihn aufzupassen, bis ich zurückkomme? Ich habe bereits mit Ihrem Chef gesprochen. Ihr Auto ist doch inzwischen fertig, stimmt’s?“

„Ja. Aber wie komme ich ins Haus?“

„Unter einem der Rosenbüsche bei der Veranda liegt ein Ersatzschlüssel. Joey kennt das Versteck. Ich komme, sobald ich kann. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Sie haben mir ja keine Wahl gela…“, begann Gina, doch er hatte bereits aufgelegt.

George Wainright erschien auf der Türschwelle. „Wie ich sehe, haben Sie bereits mit Mr Page gesprochen“, verkündete er strahlend. „Philip und ich haben uns darauf geeinigt, Ihnen freizugeben.“

„Sie meinen, Mr Page hat es beschlossen“, berichtigte sie ihn trocken.

„Ja, da haben Sie wohl recht“, gab George zu. „Wie dem auch sein, wenn Sie ihm den Gefallen tun, wird sicher das ganze Unternehmen davon profitieren.“

Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als sich mit Joey auf den Weg zu machen. In ihrer Gegenwart wirkte er entspannt und glücklich.

Sie gingen ins Parkhaus. Trotz seiner guten Manieren musste Joey beim Anblick der „Erdnuss“ lachen.

„Et tu, Brute?“, meinte Gina entrüstet.

Was heißt das? fragte er.

„Dass alle über mein kleines Auto lachen – sogar du!“

Schalkhaft sah er sie an. Aber es ist doch wirklich lustig!

„Schon gut. Pass auf, ich erzähle dir, wie ich deinen Vater kennengelernt habe.“

Mit Worten und Gebärden beschrieb sie, was passiert war. Als sie berichtete, wie sie durch den Kofferraum hatte hineinkriechen müssen, wollte er sich fast ausschütten vor Lachen.

„Willst du es auch einmal versuchen?“ Sie öffnete die Heckklappe, und der Junge krabbelte eifrig hinein.

Mrs Saunders war offenbar noch nicht zu Hause. Doch als sie eintraten, klingelte das Telefon. Es war eine Angestellte des nächsten Krankenhauses.

„Mrs Saunders hat uns gebeten, unter dieser Nummer eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen“, erklärte sie. „Sie hatte einen Autounfall und wird einige Tage hierbleiben müssen.“

Gina erklärte Joey, was mit Mrs Saunders passiert war. Sie versuchte, ihm deutlich zu machen, dass die Frau ihn nicht absichtlich im Stich gelassen hatte. Doch der Junge schien nur einen Gedanken zu haben – dass er sie nun ganz für sich hatte. Seine Freude darüber rührte und ängstigte sie zugleich.

Da es bereits Zeit zum Essen war, machte Gina Rührei mit Speck. Zum Nachtisch gab es Eiscreme aus der Tiefkühltruhe. Sie schlemmten ausgiebig und unterhielten sich während des Essens in der Gebärdensprache. Joey wirkte fröhlich und ausgelassen. Seine Finger standen keine Sekunde still.

Er war ein lebhaftes, tapferes und intelligentes Kind. Zudem besaß er einen ausgeprägten Sinn für Humor. Und wenn er über sein Lieblingsthema, Meerestiere, sprach, war er überhaupt nicht mehr zu bremsen. Gina hatte noch nie ein Kind gesehen, das sich so intensiv und ernsthaft mit einem Thema befasste.

Als sie das Geschirr wegräumten, klingelte das Telefon erneut. Vermutlich Carson, der sich verspäten wird, dachte Gina und hob den Hörer ab.

Doch es war eine Frau. „Mit wem spreche ich?“, fragte sie mit tiefer, verführerischer Stimme.

„Mein Name ist Gina Tennison, ich passe auf Joey auf.“

„Und ich bin Angelica Duvaine. Bitte sagen Sie Carson, dass ich mit ihm reden möchte.“

„Es tut mir leid, aber er ist noch in einer Besprechung.“

„Zum Teufel mit seinen Terminen! Er hat nicht einmal Zeit für seine eigene Frau.“

„Ich werde Joey holen. Er wird sich sehr freuen.“

„Wozu, um alles in der Welt? Er kann mich doch sowieso nicht hören.“ Die Frau klang ungeduldig.

Gina atmete tief ein und zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ich beherrsche die Gebärdensprache und kann übersetzen, was Sie ihm sagen wollen“, erwiderte sie dann.

„Können Sie nicht einfach Carson etwas von mir ausrichten?“

„Das werde ich gern tun, nachdem Sie mit Joey gesprochen haben“, antwortete Gina freundlich, aber bestimmt.

Sie hörte, wie die Frau am anderen Ende scharf einatmete. Offensichtlich war sie es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach. Gina holte Joey ans Telefon. Deine Mutter , sagte sie in der Gebärdensprache. Sofort strahlte er übers ganze Gesicht. Dann machte er unverständliches Geräusch, das sie mit „Hallo, Mummy“, übersetzte.

„Was möchten Sie Joey mitteilen?“, fragte sie die Mutter des Jungen.

„Nun, dass ich hoffe, er ist brav.“

„Soll ich ihm auch sagen, dass Sie ihn lieb haben?“, erkundigte sich Gina. Um Joeys willen ließ sie sich nicht anmerken, wie aufgebracht sie war.

„Was? Ja, natürlich.“

Gina wandte sich dem Jungen zu. Mummy hat dich sehr lieb und hofft, dass du brav bist.

„Joey möchte wissen, wo Sie gerade sind.“

„In Los Angeles.“

„Er fragt, ob Sie ihn vermissen.“

„Natürlich vermisse ich ihn. Er ist doch mein kleiner Liebling.“

Joey strahlte, als Gina es ihm ausrichtete.

Sie gab sich große Mühe, das Gespräch in Gang zu halten. Häufig musste sie Angelica Duvaine zur Hilfe kommen, denn dieser fiel kaum etwas ein, was sie ihrem Sohn mitteilen wollte. Nach einer Weile hatte Angelica sich jedoch in ihre Rolle eingefunden, und Gina musste ihre Äußerungen nur noch dann und wann etwas beschönigen. Joey schien überglücklich zu sein.

Plötzlich wurde die Haustür aufgeschlossen, und Carson trat ein.

„Joeys Mutter ist am Telefon“, informierte Gina ihn.

Er runzelte die Stirn.

Mummy muss sich jetzt leider von dir verabschieden. Sie vermisst dich sehr. Nachdem Gina für Joey übersetzt hatte, sprach sie wieder ins Telefon: „Joey sagt, dass er Sie auch sehr vermisst, und er würde gern wissen …“

Sie wurde von Carson unterbrochen, der ihr den Hörer aus der Hand riss. „Brenda, was, um alles in der Welt, soll das bedeuten?“

Schnell führte Gina Joey weg. Der Junge war so glücklich, dass er nicht bemerkte, wie aufgebracht sein Vater reagiert hatte. Sie hörte Carson wütend sagen: „Ich habe dir klargemacht, dass du dich an meinen Anwalt wenden sollst, wenn du etwas von mir willst. Und spiel jetzt bloß nicht die liebevolle Mutter. Du hast mich lange genug hinters Licht geführt.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und fuhr Gina an: „Wie kommen Sie eigentlich dazu, so etwas zu tun? Brenda hat sich noch nie die Mühe gemacht, Joey etwas ausrichten zu lassen. Das Ganze ist eine einzige Farce.“

„Aber es hat ihm unendlich viel bedeutet …“

„Vor allem führt so etwas dazu, dass er sich Hoffnungen macht. Haben Sie sich überhaupt gefragt, wie er sich fühlen wird, wenn seine Mutter diese Hoffnungen nicht erfüllt?“

„Nein“, gestand sie bestürzt ein, „ich wollte ihn nur für eine Weile glücklich machen. Weiter habe ich nicht gedacht.“

„Wie konnten Sie nur so dumm …“ Plötzlich merkte Carson, dass Joey ihn beobachtete.

„Hallo, Joey“, begrüßte er ihn etwas unbeholfen und strich ihm durchs Haar. Der Junge legte die Arme um ihn, und Carson erwiderte die Umarmung.

In seinem Gesicht spiegelten sich Verzweiflung und tiefe Liebe für seinen Sohn. Schnell wandte Gina den Blick ab.

„Joey und ich haben schon gegessen“, sagte sie nach einer Weile. „Aber ich kann Ihnen gern noch etwas kochen.“

„Was ist mit Mrs Saunders?“

„Sie hatte einen Autounfall und muss einige Tage im Krankenhaus bleiben.“

„Einige Tage?“, wiederholte er entsetzt. „Es tut mir leid, was ihr passiert ist, aber sie hätte Joey nicht einfach allein lassen dürfen, nicht einmal für eine Minute.“

„Das finde ich auch. Aber Joey hatte sich gestern die Adresse von Renshaw Baines gemerkt, sie auf einen Zettel geschrieben und ist dann mit dem Taxi zu mir gekommen. Er ist wirklich bemerkenswert intelligent und selbstständig.“

„Und offensichtlich wusste er auch genau, zu wem er fahren musste“, bemerkte er.

Er wirkte verletzt. Gina war überrascht.

„Er weiß doch, wie beschäftigt Sie immer sind …“, begann sie.

Carson warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Sie brauchen mich nicht zu trösten. Sagen Sie mir lieber, was ich jetzt ohne Mrs Saunders anfangen soll.“

„Nun, sicher haben Sie schon beschlossen, dass ich hierbleiben und mich um Joey kümmern werde, bis sie wieder gesund ist“, erwiderte sie betont lässig.

„Ich wollte Sie darum bitten “, verteidigte er sich. „Sie scheinen das alles so mühelos zu meistern.“

Sie musste lächeln. „Ja, ich werde schon mit Joey fertig – und mit Ihnen. Denn wenn ich ehrlich sein soll, sind Sie der schwierigere Fall.“

„Vielen Dank“, meinte er leicht schuldbewusst. „Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Sie tun sollte.“

Gina schrieb ihm etwas auf einen Zettel. „Das ist die private Telefonnummer von George Wainright. Am besten besprechen Sie alles mit ihm.“

Er wirkte entsetzt. „Sie haben mich wirklich durchschaut, stimmt’s?“

„Man braucht ja auch kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass Sie sich mit ihrer etwas ruppigen Art wieder einmal durchsetzen würden“, stellte sie trocken fest.

„Sie glauben also, dass ich nichts weiter als ein unsensibler Egoist bin?“

Sie musste an den Tag denken, an dem sie Carson kennengelernt und einen ganz anderen Eindruck von ihm gehabt hatte. „Nein“, entgegnete sie, „aber wenn es für Sie von Vorteil ist, können Sie sehr rücksichtslos sein.“

„Und Sie finden, dass es sehr häufig der Fall ist, stimmt’s?“

„Da Sie inzwischen praktisch mein Arbeitgeber sind, wäre es wohl nicht angemessen, diese Frage zu beantworten“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen.

„Tun Sie nie etwas Unangemessenes?“

„Doch, wie Sie wissen. Schließlich habe ich Ärger mit meinen Vorgesetzten, weil ich Ihnen die Meinung gesagt habe.“

Carson lächelte entwaffnend. „Sagen Sie mir ruhig, was Sie denken.“

Sein Lächeln war ansteckend. „Ich werde Joey jetzt ins Bett bringen“, wich sie aus. „Wie wäre es, wenn Sie in der Zwischenzeit mit Mr Wainright sprechen würden?“

„In Ordnung.“

Gina brachte Joey in sein Zimmer. Er nickte sofort zufrieden ein. Als sie wieder nach unten kam, erwartete Carson sie bereits.

„Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.“

„Ich fürchte, ich muss zuerst nach Hause fahren und einige Sachen für die nächsten Tage packen. In ein paar Stunden bin ich wieder hier.“

„Ich werde Sie fahren. Nein“, korrigierte er sich sofort, „ich kann Joey ja nicht einfach allein lassen. Wie dumm, dass er schon schläft …“

„Carson“, ermahnte sie ihn sanft, „früher oder später werden Sie lernen müssen, mit ihm allein zu sein.“

„Ja, natürlich.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin ein ziemlich schwerer Fall, stimmt’s?“

„Sie tun Ihr Bestes.“ Sie lächelte ebenfalls. „Ich komme so bald wie möglich zurück.“

Im Vergleich zu Carsons Villa wirkte ihre kleine Wohnung geradezu winzig. Doch sie fühlte sich darin zu Hause. „In ein paar Tagen bin ich ja wieder hier“, dachte Gina wehmütig, während sie ihren Koffer packte.

Obwohl sie schon nach kurzer Zeit wieder in der Belmere Avenue war, wartete Carson bereits vor der Haustür auf sie.

„Joey ist aufgewacht“, erklärte er. „Er glaubte, Sie hätten ihn im Stich gelassen. Ich wollte ihn trösten, aber ich dringe nicht zu ihm durch.“

Schnell ging Gina zu Joey. Der Junge saß auf der Treppe, die Arme um die Knie gelegt, und schluchzte verzweifelt. Erst nach einer Weile gelang es ihr, ihn so weit zu beruhigen, dass sie mit ihm reden konnte.

„Joey, ich bin wieder da. Ich habe dich nicht im Stich gelassen“, sagte sie langsam und deutlich.

Der Junge wollte etwas in Gebärdensprache zu erwidern, doch er war zu erschöpft. Er versuchte zu sprechen, und sie hörte aufmerksam zu.

„Was hat er gesagt?“, fragte Carson.

„Dass er aufgewacht ist und ich nicht mehr da war“, erwiderte sie.

„Ich war doch da!“, rief er.

Daddy war bei dir , übersetzte sie in die Gebärdensprache. Der Junge schüttelte heftig den Kopf und wies auf sie.

„Das brauchen Sie nicht zu erklären.“ Carson wirkte verletzt.

Gina brachte Joey ins Bett. Erst nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie zu Hause ihren Koffer hatte packen müssen, war er beruhigt und lächelte strahlend.

Du bleibst hier!

„Nur ein paar Tage“, wandte sie ein.

Du bleibst hier.

Gina seufzte nur und schwieg. Sollte er ruhig für einen Moment glücklich sein. Sie würde ihm später erklären, dass sie nur bis zu Mrs Saunders’ Rückkehr bleiben würde. Sie gab ihm einen Gutenachtkuss. Nachdem er eingeschlafen war, ging sie leise aus dem Zimmer.

Carson wartete bereits auf sie. „Ich habe Ihr Gepäck in das Zimmer nebenan gebracht“, informierte er sie. „Es ist recht klein, hat aber eine Verbindungstür zu Joeys.“

„Vielen Dank.“

Zu ihrer Überraschung half er ihr beim Beziehen des Betts.

„Meine Mutter hat es mir beigebracht, und sie war sehr streng“, erklärte er lächelnd. „Von ihr habe ich auch gelernt, wie man Kaffee kocht. Wenn Sie möchten, mache ich gleich welchen.“ Er ging hinunter, während sie ihren Koffer auspackte.

Als sie ins Wohnzimmer kam, stand bereits frisch aufgebrühter Kaffee auf dem Tisch. Carson schenkte ihr eine Tasse ein, und sie trank einen Schluck.

„Einfach perfekt“, stellte sie fest.

„Wie gesagt, ich hatte eine strenge Lehrerin.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Ich war immer stolz darauf, mit jeder Situation fertig werden können. Und im Beruf ist das auch der Fall. Aber mit Joey …“ Er seufzte.

„Wie kommt es, dass Sie ihm gegenüber so befangen sind?“

„Ich weiß ja, dass ich daran schuld bin …“

„Ich mache Ihnen keine Vorwürfe“, erwiderte Gina. „Ich möchte nur Joey helfen.“

„Als er zur Welt kam, waren wir unendlich stolz und glücklich“, erinnerte sich Carson. „Erst nach ein paar Jahren begann er, taub zu werden.“

„Er konnte also früher einmal hören?“

„Ja. Wir gingen mit ihm zum Arzt, und er bekam ein Hörgerät. Brenda war ihm bis dahin eine gute Mutter gewesen. Sie war sehr eingespannt, weil sie gerade Karriere zu machen begann. Aber wann immer sie konnte, kümmerte sie sich liebevoll um Joey. Außerdem hatten wir ein ausgezeichnetes Kindermädchen.“

„Wie viel Zeit haben Sie mit ihm verbracht?“, fragte Gina sanft.

„Da ich damals gerade das Unternehmen aufgebaut habe, war ich sehr häufig auf Geschäftsreisen. Doch wenn ich zu Hause war … Joey wuchs und entwickelte sich unglaublich schnell. Er war so intelligent und strotzte vor Gesundheit …“ Carson schloss die Augen. Er schien in Gedanken in jener glücklichen Zeit zu sein, bevor das Unglück über sein Leben hereingebrochen war.

„Immer wenn ich nach Hause fuhr, dachte ich an meinen kleinen Sohn und freute mich auf ihn“, fuhr er leise fort. Nach einer Weile öffnete er die Augen und sah Gina an.

„Was passierte, als Joey das Hörgerät bekam?“, erkundigte sie sich.

Carson lehnte sich zurück und blickte starr an die Decke.

„Eine Weile ging alles gut“, erwiderte er leise. „Er begann, Laute zu bilden, die sich fast wie Worte anhörten. Er kämpfte gegen die stärker werdende Gehörlosigkeit an, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Wir gingen noch einmal mit ihm zu dem Spezialisten. Der stellte fest, dass sein Gehör noch schlechter geworden war. Joey bekam ein leistungsstärkeres Hörgerät. Das alles wiederholte sich mehrmals, bis er vor etwa einem Jahr völlig taub wurde.“

„Und seither schämen Sie sich für ihn“, bemerkte Gina.

Er setzte sich auf. „Nein, ich habe mich nie für meinen Sohn geschämt.“

„Sind Sie denn stolz auf ihn?“, fragte sie unbarmherzig.

„Nein, wie könnte ich das? Er tut mir leid.“

„Dazu besteht kein Grund. Joey ist hochintelligent. Er buchstabiert sogar die schwierigsten Wörter richtig. Wie alt ist er, acht Jahre?“

„Er wird in ein paar Wochen acht.“

„Ich würde schätzen, dass seine Lesefähigkeiten denen eines Zwölfjährigen entsprechen.“

„Ja, das sagen auch seine Lehrer. Allerdings scheint ihnen nicht klar zu sein, dass dadurch alles noch schwieriger für ihn ist. Ich weiß wirklich nicht, wie er sich in der heutigen Zeit behaupten soll.“

Gina seufzte. Sie konnte sich gut vorstellen, wie hilflos Carson sich fühlte. Er war ein Kämpfer und es gewohnt, sich durchzusetzen. Doch das galt nur für seinen Beruf. Denn das Schicksal hatte es so gewollt, dass sein eigener Sohn nicht einmal für die Überlebenskämpfe des Alltags ausgerüstet war.

„Erzählen Sie mir ein wenig von Joeys Schule“, bat sie.

„Er besucht eine Schule für gehörlose Kinder hier in der Nähe. Dort hat man ihm die Gebärdensprache beigebracht. Außerdem hat er gelernt, von den Lippen abzulesen. Aber beim Sprechen macht er kaum Fortschritte.“

Gina nickte nachdenklich. „Wenn er spricht, gewinnt man den Eindruck, dass er noch nie eine menschliche Stimme gehört hat.“

„Als Kleinkind konnte er hören.“

„Vermutlich konnte er die Wörter damals noch nicht verstehen. Und als er dann alt genug dafür war, begann er bereits, taub zu werden.“

Sie vermutete, dass Joey sich in sich zurückgezogen hatte, nachdem seine Mutter ihn verlassen hatte. Da auch sein Vater ihn nicht zu verstehen schien, hatte er es aufgegeben, sprechen zu lernen. Stattdessen war er ganz in seine eigene Welt eingetaucht – die Welt der Fische, Haie und Muscheln, in der er sich geborgen fühlte und die ihm vertraut war.

Doch Gina behielt diesen Gedanken für sich, um Carson nicht zu entmutigen. Denn er schien sich große Mühe zu geben, seinen Sohn besser zu verstehen.

„Sie werden viel Geduld mit Joey haben müssen“, sagte sie. „Sobald er merkt, dass Sie enttäuscht über seine geringen Fortschritte sind, wird er es nicht wieder versuchen.“

„Wie sollte er das merken?“

„Unterschätzen Sie ihn nicht. Er hat ein ausgezeichnetes Gespür und kennt Sie viel besser als Sie ihn. Es ist wirklich schade, dass Sie sich so wenig mit ihm beschäftigt haben.“

„Ich habe immer dafür gesorgt, dass er von allem nur das Beste bekommt …“

Nun verlor sie die Geduld. „Sie meinen, er hat alles, was sich mit Geld kaufen lässt“, bemerkte sie ironisch. „Nur leider konnten Sie ihm nicht auch die besten Eltern kaufen.“

Sofort erschrak sie über ihre unbedachten Worte. Normalerweise verlor sie nicht so leicht die Beherrschung.

„Bitte entschuldigen Sie, das hätte ich nicht sagen dürfen.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“ Carson lächelte traurig. „Ich schätze es sehr, wenn man mir gegenüber offen ist. Und ich nehme an, Sie haben nicht umsonst rötliches Haar.“

„So ein Unsinn“, entgegnete sie und errötete.

„Ich bin jedenfalls noch keiner blonden oder brünetten Frau begegnet, die mir so unverblümt die Meinung gesagt hat wie Sie. Allerdings kenne ich auch niemanden, der so wunderschönes rötliches Haar hat wie Sie.“

„Könnten wir bitte das Thema wechseln?“, fragte Gina kühl.

„Natürlich, aber es sollte Ihnen nicht unangenehm sein, wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie schön sind.“

„Wir wollten über Joey sprechen, nicht über mich.“

„Und was ist mit Ihrem Freund, dem Zündkerzenverkäufer? Sagt er Ihnen nie, dass Sie schön sind?“

„Nein, er sagt …“ Sie zögerte.

„Was?“

„Dass er sich immer auf mich verlassen kann“, gab Gina widerstrebend zu.

„Du meine Güte – er scheint ja ein wahrer Romantiker zu sein!“

Ihre Mundwinkel zuckten. „Er hat recht – ich bin wirklich sehr zuverlässig.“

„Davon bin ich überzeugt. Aber könnten Sie sich nicht ein schöneres Kompliment vorstellen?“

„Dan arbeitet sehr viel und ist sehr beschäftigt“, verteidigte sie ihren Freund. „Er ist Ihnen ziemlich ähnlich.“

„Er ist mir überhaupt nicht ähnlich“, widersprach Carson empört. „Lieben Sie ihn?“

„Ich … ich weiß nicht.“ Sie fühlte sich überrumpelt. „Dan und ich kennen uns schon seit unserer Kindheit. Seine Mutter war Lehrerin für Gebärdensprache und unterrichtete mich bei sich zu Hause. So lernte ich Dan kennen. Wir freundeten uns an, denn er war einer der wenigen Menschen, denen meine Gehörlosigkeit nichts ausmachte.“

„Das klingt so, als wären Sie und Dan vor allem aus alter Gewohnheit ein Paar.“

„Gewohnheiten können doch auch sehr nett sein“, wandte sie ein.

„Sicher. Aber wünschen Sie sich denn nicht mehr?“

Mehr als den gutmütigen, aber langweiligen und nicht übermäßig intelligenten Dan? Gina sah auf und bemerkte, dass Carson sie betrachtete. Sein Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck angenommen. Plötzlich fühlte sie sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen.

Aber wünschen Sie sich denn nicht mehr?

„Ich erwarte nicht viel vom Leben und stelle keine hohen Ansprüche“, sagte sie und hoffte, er würde nicht merken, wie nervös sie war. „Auf diese Weise wird man nicht so leicht enttäuscht.“

„Warum sind Sie so feige? Jeder Mensch sollte Risiken eingehen. Und wenn man enttäuscht wird, muss man eben wieder von vorn beginnen.“

„Nicht alle Menschen können so leben wie Sie.“

„Natürlich können sie das! Es gibt keine Grenzen außer denen, die man sich selbst setzt.“ Er machte eine Pause und fuhr dann nachdenklich fort: „Joey hat die Einschränkungen in seinem Leben nicht selbst geschaffen. Und Sie ebenso wenig. Warum unterbrechen Sie mich nicht, wenn ich solchen Unfug rede?“

Gina musste lächeln.

„Hätte ich das denn so einfach gekonnt?“, fragte sie.

„Vermutlich nicht“, gab Carson zu und lächelte ein wenig zerknirscht. „Ich gehe besser schlafen, bevor ich noch mehr Dummheiten erzähle.“

5. KAPITEL

Wegen seiner Gehörlosigkeit war Joey ein zurückhaltendes Kind. Aber Gina merkte schon bald, dass er auch ein richtiger kleiner Frechdachs sein konnte. Doch er besaß so viel Charme, dass sie ihm nie lange böse sein konnte.

Als sie ihm sagte, sie würden Mrs Saunders besuchen, schüttelte er den Kopf und warf ihr einen trotzigen Blick zu.

„Oh doch, Joey. Wir fahren ins Krankenhaus – und zwar jetzt.“

Prüfend sah der Junge sie an. Er schien abzuwägen, wie entschlossen sie war.

„Warum magst du Mrs Saunders nicht?“, fragte Gina.

Weil sie mich nicht mag.

Sie hütete sich, ihm einfach zu widersprechen. Stattdessen legte sie ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Gehen wir. Was sein muss, muss sein.“

Er schnitt ein Gesicht. Gina tat es ihm nach, und sie lachten gemeinsam.

Mrs Saunders war eine Frau mittleren Alters. Sie warf Joey einen feindseligen Blick zu, als er mit Gina das Krankenzimmer betrat. Er erwiderte den Blick ebenso unfreundlich.

„Ich hoffe, er bekommt nicht wieder einen seiner Wutanfälle“, erklärte Mrs Saunders, noch bevor sie sie begrüßt hatte.

„Es sind keine Wutanfälle …“, begann Gina, doch Mrs Saunders unterbrach sie.

„Und ob! Er schreit und tobt …“

„Das tut er nur, weil er es nicht erträgt, dass niemand ihn versteht. Wenn Sie wiederkommen …“

„Ich komme nicht wieder. Wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen werde, trete ich eine neue Stelle an.“

„Wie bitte?“

„Letzte Woche habe ich mir einen Tag freigenommen, um zu einem Vorstellungsgespräch zu gehen. Am Tag darauf sollte ich zu einem zweiten Gespräch kommen. Auf dem Rückweg hatte ich dann den Unfall.“

„Deshalb haben Sie Joey also allein gelassen.“ Gina war empört.

„Ich konnte ihn schließlich nicht mitnehmen. Wie dem auch sei, ich werde jedenfalls nicht zurückkommen.“

Als sie nach Hause fuhren, strahlte Joey übers ganze Gesicht. Offenbar hatte er alles verstanden.

Insgeheim begann Gina, einen Plan zu schmieden. Und koste es, was es wolle, sie würde ihn in die Tat umsetzen. Carson rief an, um ihr mitzuteilen, dass er spät nach Hause kommen würde. Sie sagte ihm, er solle sich keine Gedanken machen. Beruhigt legte er auf.

Umso mehr erschrak er, als er um zehn Uhr nach Hause kam und ihre gepackten Koffer in der Eingangshalle stehen sah.

„Sie wollen doch nicht etwa nach Hause?“, fragte er entgeistert. „Das können Sie nicht tun!“

„Oh doch, ich kann. Und es ist mir egal, was Sie mit meinen Vorgesetzten besprochen haben. Sollen die mich doch entlassen, wenn sie wollen.“

„Gina, bitte, Sie brauchen nur zu bleiben, bis Mrs Saunders wiederkommt …“

„Das wird sie nicht. Sie tritt eine andere Stelle an.“

Carson flucht leise. „Gut, dann werde ich jemand anders für Joey finden. Aber bis dahin …“

„Joey braucht niemand anders. Nicht mich oder Mrs Saunders oder irgendein fremdes Kindermädchen. Er braucht Sie – seinen Vater.“

„Ich muss mich um meine Geschäfte kümmern …“

„Das ist doch nur ein Vorwand, weil Sie es nicht ertragen, mit Joey allein zu sein.“

„Aber nur, weil ich nicht weiß, wie ich mit ihm umgehen muss.“

„Das lässt sich leicht ändern.“

„Und wie?“

„Zuerst sollten Sie die Gebärdensprache lernen, damit Sie sich endlich mit Ihrem Sohn unterhalten können. Das hätten Sie schon vor langer Zeit tun sollen.“

„Dafür habe ich keine Zeit.“

„Carson, ich bin ein wenig enttäuscht von Ihnen. Ich dachte, Sie wären ehrlich – sich selbst und anderen gegenüber.“

„Wollen Sie damit behaupten, dass ich lüge?“

„Warum geben Sie nicht zu, warum Sie nie die Gebärdensprache gelernt haben? Sie wollen sich noch immer nicht eingestehen, dass Ihr Sohn taub ist.“

„Vielleicht haben Sie recht“, gab Carson widerstrebend zu.

„Aber Joey kann es nicht so einfach verdrängen. Er ist gefangen in einer Welt des Schweigens, aus der er allein nicht ausbrechen kann – und wenn Sie noch so viel Geld für ihn ausgeben. Sie können ihm nur helfen, indem Sie seine Welt kennenlernen. Und vielleicht werden Sie eines Tages in der Lage sein, ihn aus dem Gefängnis zu befreien – zumindest bis zu einem gewissen Grad.“ Gina sah ihn prüfend an. „Wenn Sie dazu nicht bereit sind, werde ich keine Minute länger hierbleiben.“

Schweigend blickten sie einander an. „Sie wollen mich erpressen“, stellte Carson schließlich fest.

„Ja.“

„Geben Sie mir ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken …“

„Nein. Sie müssen sich jetzt entscheiden. Ich stelle keine unmöglichen Forderungen. Joey hat Sommerferien, und ich möchte, dass Sie diese sechs Wochen nutzen, so gut Sie können. Sie müssen die Gebärdensprache lernen und sich mit ihm unterhalten. Und Sie müssen ihm zuhören – Sie werden es sicher nicht bereuen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr Gina fort: „Außerdem erwarte ich, dass Sie keine Überstunden mehr machen und früher von der Arbeit nach Hause kommen. Und Sie sollten sich mindestens eine Woche Urlaub nehmen, um mit Joey wegzufahren. Wenn Sie mir das alles nicht versprechen, fahre ich sofort nach Hause. Dann müssen Sie sich morgen früh eine gute Erklärung für meine Abreise einfallen lassen.“

„Es würde Joey das Herz brechen. Sie wollten ihm doch helfen!“

„Das möchte ich auch. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, oder soll ich meinen Mantel holen?“

Carson schwieg. „Sie hatten mich gewarnt – Sie können sich wirklich durchsetzen“, bemerkte er dann.

„Das muss ich auch, ebenso wie Joey.“

„Ich sehe schon, Sie sind auf seiner Seite.“

„Was erwarten Sie denn? Der kleine Junge bewältigt seine Probleme mit Mut und Humor, während sein Vater lieber die Augen davor verschließt.“

„Ich gebe Ihnen mein Wort, wenn Sie mir auch etwas versprechen. Ich möchte, dass Sie die sechs Wochen bei uns bleiben. Ich werde mein Bestes tun, Gina, aber ich brauche Ihre Hilfe.“

„Ich werde bleiben, wenn meine Vorgesetzten einverstanden sind.“

„Das sind sie sicher.“

Sie lächelte glücklich, denn sie wusste, dass sie gewonnen hatte. „Gut, ich verspreche es.“

„Geben Sie mir die Hand darauf.“

Sie reichten einander die Hände. Erst vor zwei Tagen hatten sie einander zum ersten Mal die Hand geschüttelt. Seitdem schien unendlich viel passiert zu sein.

Beim Abendessen war Gina in Hochstimmung. Sie schenkte Carson Wein ein und prostete ihm siegessicher zu.

„Ich bin froh, dass ich mit Ihnen keine geschäftlichen Verhandlungen führen muss“, meinte er unwirsch. „Sie würden mich in den Bankrott treiben.“

Er schenkte Wein nach. „Erzählen Sie mir das Wichtigste über die Gebärdensprache“, bat er sie anschließend.

„Sie besteht aus zwei Elementen. Zuerst einmal gibt es das Fingeralphabet – ein Zeichen für jeden Buchstaben. Da es aber zu lange dauern würde, alles zu buchstabieren, existieren für viele Begriffe auch eigene Gebärden, zum Beispiel diese.“

Gina vollführte mit der rechten Hand eine Bewegung von der Körpermitte nach außen.

„Das bedeutet ‚bitte‘“, erläuterte sie.

Ungeschickt versuchte Carson, es ihr nachzumachen.

„Die Handfläche muss nach oben zeigen.“

Beim zweiten Versuch klappte es besser.

„Sehr gut“, lobte sie ihn, „Ihr erstes Wort in der Gebärdensprache. Und so würde es buchstabiert aussehen.“ Sie führte die einzelnen Buchstaben vor.

„Meinen Sie, dass ich das alles jemals lernen werde?“

„Wollen Sie mir etwa weismachen, dass Sie ein Unternehmen wie Page Engineering aufgebaut haben, aber vor etwas kapitulieren, das Ihr kleiner Sohn im Schlaf beherrscht?“

„Sie argumentieren wirklich geschickt. Machen Sie es Joey gegenüber genauso?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich mit ihm in dieser Hinsicht weniger Schwierigkeiten. Er zweifelt nie daran, dass er etwas erreichen wird.“

„Schon gut, Frau Lehrerin, ich habe verstanden.“ Er lächelte entwaffnend, und ihr Herz klopfte schneller.

Glücklich darüber, dass sie ihn hatte überzeugen können, erwiderte sie sein Lächeln. „Es ist nicht so schwer, wie es auf den ersten Blick aussieht“, beruhigte sie ihn. „Außerdem wird Joey Ihnen sicher helfen.“

„Nie und nimmer werde ich zulassen, dass mein Sohn mir bei meinen kümmerlichen Versuchen zusieht“, protestierte er.

„Du meine Güte! Carson, Joey wird begeistert sein, wenn er erfährt, was Sie vorhaben. Es wird ihn überglücklich machen, Ihnen zu helfen.“

Carson musste sich offensichtlich erst mit dem Gedanken anfreunden, dass jemand ihm bei etwas zusah, das er nicht perfekt machte.

„Ich glaube nicht, dass es Ihnen schwerfallen wird, die Zeichen zu lernen. Aber Sie müssen auch das Alphabet beherrschen.“

„Dann sollte ich besser sofort damit beginnen.“

Gina zeigte ihm langsam alle Buchstaben und begann dann wieder von vorn. Konzentriert sah Carson ihr zu und prägte es sich ein. Nach einer Weile konnte er das Alphabet bis zum „M“ fehlerlos aus dem Gedächtnis wiederholen. Er war nicht zufrieden, doch sie lobte ihn.

„Was würden Sie tun, wenn ich mein Versprechen brechen würde – zum Beispiel, was den Urlaub mit Joey angeht?“

Sie lächelte. „Aus irgendeinem Grund habe ich nie daran gezweifelt, dass Sie ihr Wort halten würden. Habe ich mich etwa getäuscht?“

„Nein, aber es ist erschreckend, wie gut Sie mich durchschauen.“ Carson überlegte einen Moment. „Einer meiner Freunde besitzt ein Reisebüro. Vermutlich ist es schon etwas spät, um noch Eintrittskarten für Disneyland zu bekommen, aber wenn ich persönlich mit ihm spreche …“

„Nein, wir sollten mit Joey nach Kenningham fahren, nicht nach Disneyland.“

„In dieses schäbige kleine Seebad an der Westküste?“

„Dort gibt es das beste Aquarium in ganz England. Sie wissen doch, wie sehr Joey sich für Meerestiere interessiert und wie intensiv er sich schon damit beschäftigt hat. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag zur Forschung leisten würde.“

„Natürlich“, erwiderte er ironisch.

„Ich meine es ernst. Joey kann nicht hören, aber er ist nicht dumm, sondern hochintelligent.“

Carson warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Denken Sie etwa, dass ich Joey nur dann lieben kann, wenn ich davon überzeugt bin, dass er intelligent ist?“

„Ist es denn so?“

„Nein“, entgegnete er. „auch wenn Sie es nicht glauben, ich liebe meinen Sohn über alles. Geben Sie mir Ihr Glas.“

Er schenkte ihr Wein nach. Da er offensichtlich nicht weiter über seine Gefühle für Joey sprechen wollte, ließ Gina es auf sich beruhen. Doch sie war überzeugt, dass er die Wahrheit gesagt hatte.

Sie trank einen Schluck Wein. „Was wissen Sie eigentlich über Lippfische?“, erkundigte sie sich anschließend.

„Nichts.“

„Joey interessiert sich sehr für diese Tiere und kann ganze Vorträge über sie halten.“

„Ich werde mich informieren …“

„Nein, fragen Sie Joey. Er ist Experte auf diesem Gebiet.“

„Würde ihn das glücklich machen?“ Erwartungsvoll sah er sie an.

Gina nickte. „Ganz bestimmt“, versicherte sie.

„Dann werde ich ihn fragen.“

Sie beugte sich vor und stellte das Weinglas ab. Carson strich ihr das Haar zurück, das sie offen trug. Nun war der winzige Prozessor hinter ihrem Ohr zu sehen.

„Ist das das Implantat, von dem Sie erzählt haben?“

„Ja. Ein Teil davon befindet sich im Inneren des Ohrs. Es wurde mir bei einer Operation eingepflanzt.“

„Und mithilfe dieses Geräts wurden Sie von Ihrer Gehörlosigkeit geheilt?“

„Nein, ich bin nach wie vor taub. Wenn es ausgeschaltet ist, höre ich ebenso wenig wie Joey. Aber ich kann damit Laute erkennen und verstehen. Natürlich ist es nicht mit dem Gehör eines gesunden Menschen zu vergleichen, doch es reicht, um ein normales Leben zu führen.“

„Das verstehe ich nicht. Wie können Sie hören, wenn Sie eigentlich taub sind?“

„Bei gesunden Menschen werden Geräusche über den Gehörgang an den Hörnerv weitergegeben. Aber wenn die feinen Härchen im Inneren beschädigt sind, funktioniert es nicht. Das Implantat stimuliert die Härchen durch elektrische Reize, sodass Geräusche auf diese Art übertragen werden. Hat Ihnen der Arzt, der Joey vor einem Jahr untersucht hat, denn nicht von den Implantaten erzählt?“

„Doch. Aber mich hat die Vorstellung abgeschreckt, dass bei der Operation die Schädeldecke durchbohrt werden muss.“ Carson seufzte tief. „Wir schoben es also eine Weile vor uns her. Dann hatte Joey eine Lungenentzündung. Er war schon immer anfällig für Atemwegserkrankungen. Nach der Lungenentzündung bekam er Grippe, danach Bronchitis, und so ging es weiter. An eine Operation war natürlich nicht zu denken.“

„Und jetzt?“

„Jetzt ist er ja wieder gesund und kräftig, also … Glauben Sie, dass …?“ Er blickte sie aufgeregt an und sah seinem Sohn mit einem Mal sehr ähnlich. Gina musste lächeln.

„Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihn noch einmal untersuchen zu lassen und mit dem Arzt über ein Implantat zu sprechen“, erwiderte sie vorsichtig. „Aber bitte setzen Sie nicht all Ihre Hoffnungen darauf, Carson. Nicht in jedem Fall kann es helfen. Auf jeden Fall lohnt sich, das herauszufinden. Und wenn Joey tatsächlich operiert wird, möchte ich dabei sein.“

„Vielleicht wird er eines Tages wieder hören können“, sagte Carson langsam, „und sogar sprechen …“

„Er würde es von Grund auf lernen müssen, wie ein Kleinkind. Und natürlich wird es ihm schwererfallen“, gab sie zu bedenken. „Ich hatte Glück, dass ich schon sprechen konnte, als ich taub wurde. Aber Joey kann sich vermutlich kaum an Klänge erinnern. Er müsste eine Sprachtherapie machen, was mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen würde.“ Sie warf ihm einen schalkhaften Blick zu. „Sie müssen also trotzdem die Gebärdensprache lernen, damit Sie sich bis dahin mit ihm unterhalten können.“

„Ich tue alles, was Sie sagen“, versprach er lächelnd.

„Ich würde gern einen Termin bei Joeys Arzt vereinbaren.“

„Einverstanden.“

Sie gingen nach oben, um nach Joey zu sehen. Der Junge schlief tief und fest. Carson sagte leise Gute Nacht und ging tief in Gedanken versunken ins Schlafzimmer.

Er war fasziniert von Gina und musste die ganze Zeit an sie denken. Zuerst hatte er sie als eine freundliche, verträumte junge Frau betrachtet, die sein Auto zerschrammt und ihn mit ihrer natürlichen Art verzaubert hatte – allerdings nur für einige Stunden.

Bei ihrer nächsten Begegnung war alles anders gewesen. Gina hatte Joey kennengelernt und ihrer Empörung über sein, Carsons Verhalten, Luft gemacht.

Und nun kommandierte sie ihn herum wie eine Lehrerin einen Grundschüler – und er ließ es sich auch noch gefallen. Carson musste lächeln.

Er konnte nicht glauben, dass sie sich selbst als graue Maus sah, denn das war sie ganz und gar nicht. Für Joey würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Mit Leichtigkeit hatte sie ihn, Carson Page, den erfolgreichen und gefürchteten Geschäftsmann, dazu gebracht, zu tun, was sie für richtig hielt. Er wusste nicht, wohin all das führen würde. Doch ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass Gina das Richtige für Joey tun würde – und vielleicht auch für ihn, Carson.

Am nächsten Tag brachte Carson die kopierte Anleitung zum Lernen der Gebärdensprache mit.

„Ich habe im Büro geübt“, berichtete er Gina. „Aber dann ist meine Sekretärin hereingekommen und hat mir einen sehr merkwürdigen Blick zugeworfen.“

„Warum wundert Sie sich denn darüber?“

„Weil Sie nicht weiß, dass mein Sohn taub ist. Niemand weiß es.“ Als Gina nichts erwiderte, forderte er sie ungeduldig auf: „Sagen Sie ruhig, was Sie denken.“

„Niemand soll erfahren, dass es in Ihrem Leben etwas gibt, was nicht perfekt ist.“

Carson spürte, wie Wut in ihm hochstieg. Er tat sein Bestes, doch Gina weigerte sich, es anzuerkennen.

Aufgebracht stürmte er aus dem Zimmer und prallte mit Joey zusammen, der gerade durch die Tür kam. Der Junge fiel hin, und auch Carson hätte beinah das Gleichgewicht verloren.

Joey stand sofort wieder auf und machte eine Gebärde.

„Was bedeutet das?“, fragte Carson angespannt.

„Es ist das Zeichen für ‚Entschuldigung‘“, erklärte Gina.

„Aber es war meine Schuld.“

„Dann entschuldigen Sie sich bei ihm. Es ist ganz einfach.“

Joey wollte nochmals um Verzeihung bitten, doch Carson hielt ihn zurück, indem er seine Hand nahm. Langsam ahmte er dann die Gebärde nach.

Entschuldigung.

Joey sah ihn so ungläubig und verwirrt zugleich an, dass es Carson einen Stich gab.

„Haben Sie ihn vorher noch nie um Verzeihung gebeten?“, fragte Gina Carson leise.

Das Sprechen fiel ihm schwer. „Ich … ich glaube nicht“, brachte er schließlich gequält hervor und wiederholte die Gebärde.

Plötzlich erschien ein glückliches Lächeln auf Joeys Gesicht. Er nahm seine Hand und hielt sie fest – genau wie er, Carson, es bei ihm getan hatte. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen , wollte er damit sagen.

Carson atmete tief ein. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn dieses erste Gespräch mit seinem tauben Sohn berührt hatte. Für einen kurzen Moment hatten er und Joey die Rollen getauscht. Der kleine Junge hatte ihn beruhigt und ihm versichert, dass sie es gemeinsam schaffen würden.

Doch die ungewohnte Nähe machte Joey unsicher, und er schien sich innerlich zurückzuziehen.

Dann bemerkte er die Übungsblätter, die Carson mitgebracht hatte. Er warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Wollen Sie Joey nicht erzählen, dass Sie angefangen haben, die Gebärdensprache zu lernen?“, erkundigte sich Gina.

„Ich kenne die entsprechenden Zeichen noch nicht.“

„Dann reden Sie mit ihm. Er kann sehr gut von den Lippen ablesen.“

Carson beugte sich zu seinem Sohn hinunter. „Ich lerne die Gebärdensprache, damit wir uns unterhalten können.“

Joey runzelte verständnislos die Stirn.

„Sie müssen langsamer sprechen“, riet Gina.

Carson wiederholte die Worte langsam, und dieses Mal verstand der Junge ihn. Er hob die rechte Hand. Die Spitzen von Zeigefinger und Daumen lagen aneinander.

„Das bedeutet ‚gut‘“, erklärte Gina. „Versuchen Sie es auch einmal.“

Carson lächelte und wiederholte die Gebärde.

„Haben Sie sich nie mit ihm unterhalten, seit er taub ist?“, fragte Gina später, als sie gemeinsam den Tisch deckten.

„Ich habe es versucht, aber meistens hat er mich nicht verstanden.“

„Vielleicht hatten Sie zu wenig Geduld.“

„Sie klingen ja wie meine frühere Lehrerin“, meinte er unwirsch. „Wenn Joey verstand, was ich gesagt hatte, versuchte er, mir zu antworten, und dann …“

„Dann machte er diese Geräusche, die Sie so schrecklich finden“, ergänzte Gina unbarmherzig.

Er atmete tief ein. „Sie haben wirklich gar kein Mitleid mit mir.“

„Nein“, bestätigte sie. „Wollen Sie schon aufgeben?“

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