Riskantes Spiel um den guten Ruf

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Obwohl Miss Ursula Nunes die Erbin einer reichen Bankiersfamilie ist, wird die temperamentvolle junge Dame doch aus den feineren Kreisen der Gesellschaft ausgeschlossen. Das kann sie nicht hinnehmen! Unermüdlich arbeitet sie an ihrem perfekten guten Ruf. Dafür fehlt ihr nur noch eines: Die Verlobung mit einem Sohn aus gutem Hause. John Truitt, ehemaliger Lebemann und äußerst erfahren, wenn es um die Fragen der feinen Gesellschaft geht, erklärt sich bereit, ihren Verlobten zu spielen. Doch bei seinen prickelnden Berührungen läuft Miss Ursula Gefahr, ihren guten Ruf sofort wieder aufs Spiel zu setzen – und auch ihr Herz zu riskieren …


  • Erscheinungstag 09.08.2025
  • Bandnummer 418
  • ISBN / Artikelnummer 0871250418
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Felicia Grossman

Riskantes Spiel um den guten Ruf

Felicia Grossman

Seit ihr Vater ihr zum ersten Mal „Die Schatzinsel“ vorgelesen hat, hat Felicia Grossman davon geträumt, selbst Autorin zu werden. Zielstrebig hat sie ihr Studium mit einem Abschluss in Englisch beendet. Mit ihrer Familie und ihren Hunden lebt Felicia im Norden der USA. Wenn sie nicht gerade schreibt, dann genießt sie ein Stück Kuchen oder singt laut Stücke aus Musicals vor sich hin.

In liebevoller Erinnerung

an Myra Lee Grossman (1931 – 2012).

Du bist immer noch die Erste, die ich am liebsten

anrufen würde, wenn etwas passiert,

egal ob gut oder schlecht, aber ich weiß,

dass du immer irgendwie bei mir bist.

Sowohl Ursula als auch ich hoffen,

dass wir eines Tages so fabelhaft sein werden

wie du.

1. KAPITEL

Juni 1841, Centerville, Delaware

Wirf mit elf Jahren einen Stuhl, und du wirst dein Leben lang eine Außenseiterin sein.

Ursula fuhr mit einem Finger über die Kante des Konsolentisches aus vergoldetem Holz in der Halle der Truitts – sie war allein. Gelächter und Gesprächsfetzen der ausgelassenen Gesellschaft, die sich im angrenzenden Salon vergnügte, wehten durch den leeren Raum zu ihr herüber, begleitet von Musik.

Ihre Anwesenheit bei der Soiree war eine reine Pflichtübung – demütigend, aber zumindest genoss sie als einziges Kind eines Bankbarons einige Vorteile. Kredite waren in der gegenwärtigen Wirtschaftslage schwer zu bekommen, besonders in Delaware. Wenn also die Ehemänner bei der Gästeliste ein Wörtchen mitzureden hatten, war den Nunes eine Einladung sicher.

Unsinn. Ihr Vater beschwerte sich immer, dass Partys oberflächlich und langweilig seien, aber wenn sie Hugo sehen wollte, musste sie sich dazu durchringen, gute Miene zu machen. Die Zeit für einen Heiratsantrag war definitiv gekommen. Zwar hatte die Saison gerade erst begonnen, aber wenn er sein Versprechen einlöste, wäre dieser leidige Abendausflug immerhin nicht vollkommen umsonst gewesen.

Entschlossenen Schrittes stieg sie die imposant geschwungene Treppe im Haus ihrer Gastgeber hinauf. Fast so beeindruckend wie die im Haus ihres Vaters, wenn auch etwas altmodisch.

Sie schob sich einen Windbeutel in den Mund, da ihr der Magen knurrte. Vielleicht sollte sie noch rasch einen Blick auf den Tisch mit den Erfrischungen werfen und sich mit ein paar Leckereien versorgen. Beim letzten Mal gab es die köstlichsten Bratäpfel, Rührkuchen mit gezuckerten Beeren und in Schokolade getauchten Früchten. Bei der Erinnerung schloss sie die Augen.

Schokolade. Ambrosia war nichts gegen Schokolade. Mit Erdbeeren. Einfach göttlich. Später – erst Hugo, dann die Süßigkeiten.

Die Ehe war die einzig vernünftige Option, die sie hatte. Hugo war ihr bester Freund, und sie war seine beste Freundin, und wenn sie nicht einander heirateten, müssten sie Fremde heiraten. Oder, schlimmer noch, niemand würde sie heiraten, und wenn ihr Vater starb, wäre sie ganz allein. Außerdem hatten sie einen Pakt geschlossen.

Sie raffte ihre Röcke und schlich sich in den Flur im Obergeschoss.

Hugo Middleton lehnte mit einer Schulter neben dem Porträt eines längst verstorbenen Truitt-Vorfahrens. Das Bild war verrutscht. Das würde sie noch richten müssen, bevor sie gingen.

Sie tippte ihm auf die Schulter. Es gab keinen Grund, um den heißen Brei herumzureden. Die Zeit war gekommen. Wenn er es jetzt tat, würden die Leute ihr gratulieren, freundlich zu ihr sein, sie anlächeln und so tun, als gehörte sie dazu. Dann müsste sie nicht länger das Gefühl haben, sich nur auf Zehenspitzen bewegen zu dürfen, um niemanden zu stören. „Wirst du heute Abend oder morgen mit meinem Vater sprechen?“

„U…ursula“, stotterte Hugo, und seine blassen Augen weiteten sich.

Sie blinzelte. War das Missfallen in seinem Gesicht? Anders als alle anderen war Hugo nie unglücklich, sie zu sehen. Unbehagen durchzuckte sie. „Du musst ihn fragen. Es ist an der Zeit.“

„Ursula, du weißt, dass ich dich verehre, d… dich schon immer verehrt habe, und wenn es nur irgendeine M…möglichkeit gäbe …“ Das Stottern wurde stärker, als er ihre Hand ergriff.

Klamme Hände. Sie rümpfte die Nase, unterdrückte ihre Abneigung aber rasch. Sie würde ihm etwas Talkum kaufen.

Er begann erneut: „Das Geschäft meiner Familie hat einige Rückschläge erlitten. Das Vermögen und der Name der Middletons sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Meine Eltern haben ein paar finanzielle Probleme.“

Der Mann machte wohl Witze! Geld? Es ging um Geld? Geld stellte nun wirklich kein Problem dar. Sie hätte vor Erleichterung tanzen mögen. Geld war das, wovon die Nunes mehr als genug hatten. Das Getuschel hinter vorgehaltenen Händen bezog sich eher darauf, dass sie zu viel davon hatten, aber gewiss nicht zu wenig.

„Hugo, meine Familie ist die reichste in Delaware. Wir könnten allein von den Zinsen leben, die unsere niederländischen und britischen Beteiligungen abwerfen, und mein Vater wird alles tun, was ich will, um deinen Eltern zu helfen, Middleton Carriers zu halten. Mein Vater ist immer auf der Suche nach Expansionsmöglichkeiten, und …“

Sie biss sich auf die Lippen. Sollte sie es sagen? Wäre es unhöflich? Ihr Vater sagte immer, dass eine Ehe Vertrauen und Ehrlichkeit erfordere. Und Hugo liebte seine Eltern, also wollte er gewiss, dass sie ganz offen sprach. Ursula spielte mit dem aus Smaragden bestehenden Löwenkopf an ihrem Armband, das eines der Lieblingsstücke ihrer Mutter gewesen war. „Ich möchte nicht aufdringlich oder unhöflich erscheinen, aber Middleton ist veraltet. Hast du dich mal mit Schienenverkehr beschäftigt? Die Dampflokomotive ist der Weg in die Zukunft.“

Hugo wischte sich die Stirn. Der Mann konnte wirklich schwitzen. Das war nicht seine vorteilhafteste Eigenschaft, aber niemand war perfekt – sie selbst war weit davon entfernt, egal, wie hart sie an sich arbeitete. Abgesehen von seiner Neigung zum Schwitzen war Hugo der ideale Mann, zumindest für sie. Er machte sich nie über sie lustig, war freundlich zu ihren Tieren, sagte ihr nie, ihre Haare wären zu zerzaust oder dass ihre Kleider nicht die richtige Farbe oder den richtigen Schnitt hätten. Außer ihrem Vater war Hugo der einzige Mensch, der ihr Luft zum Atmen ließ.

„Wir können nicht heiraten. Ich weiß, wir hatten Pläne, um uns gegenseitig Schutz zu bieten, aber meine Eltern haben es verboten. Es tut mir leid. Es geht nicht nur ums Geschäft, es geht auch um meinen Vater. Er will – braucht, um genau zu sein – ein Richteramt, ein Bundesrichteramt. Wir ziehen nach Philadelphia, und zwar sofort. Meine Eltern wollen, dass ich eine Frau heirate, die …“ Hugo murmelte das Ende des Satzes in seinen Ärmel.

Ihr begann das Herz zu rasen, und alle Hoffnungen, das Erwachsenenalter zu überleben, lösten sich mit einem Schlag in Luft auf.

Was hatte sie dieses Mal falsch gemacht? War es wieder der Stuhl? Oder die Flambierpfanne? Sie hatte sich so viel Mühe gegeben. Sie hatte sich benommen. Sie hatte sich auch an die meisten Regeln gehalten. Und wer konnte schon behalten, welche Wörter unhöflich waren oder wie man eine Serviette faltete? Was wurde denn noch alles verlangt? Ihr war der Hals wie zugeschnürt, als hätte sie einen ganzen Keks verschluckt – einen aus Blei.

„Eine Frau, die was?“ Was war denn nur mit ihrer Stimme los? Himmel, eine Nunes weinte nicht. Selbst wenn sie verlor. Weinen war Schwäche, und die Menschen in ihrem Umfeld verspeisten die Schwachen zum Frühstück.

„Ursula, es tut mir leid. Wirklich. Ich bete dich an. Du bist immer noch die einzige Frau, die ich jemals heiraten möchte.“ Er nestelte an seiner Manschette herum. „Aber dein Vater ist, nun ja, nicht christlich.“

Mist, doppelter Mist, und verdammt.

Warum zur Hölle stellte das so ein Problem dar? Es war doch egal. Es sollte egal sein. Warum war ihr Geld gut genug, aber sie nicht? Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, bis sich ihr die Fingernägel schmerzhaft in die Haut bohrten.

Sie würde ihn überzeugen. Niemand konnte so argumentieren wie sie. Das hatte ihr Vater gesagt, und ihr Vater hatte immer recht, außer wenn er Nein zu ihr sagte, was fast eigentlich nie der Fall war.

Sie straffte die Schultern.

„Das würde dir nie auffallen. Wir verbringen nie Zeit mit anderen Juden. Ich meine, wir leben in Delaware.“ Sie zitterte, während sie sprach, unfähig, sich zu beherrschen. Einzelne Strähnen lösten sich aus ihrer Frisur und fielen ihr ins Gesicht. „Wir treffen unsere Familie, das ja, aber selten. Mein Vater nimmt mich mit auf Partys und in die Oper, aber nicht in die Synagoge. Und wir beten, bevor die meisten Menschen aufwachen. Du würdest es gar nicht mitkriegen.“

Sie verschränkte die Finger ineinander. Es ergab Sinn. Sie und Hugo ergaben Sinn. War das nicht genug?

„Ursula, ich kann nicht, ich kann einfach nicht.“ Hugo warf ihr einen letzten Blick zu, bevor er mit flatternden Rockschößen die Treppe hinunterfloh und sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Jay Truitt lehnte sich gegen den Türrahmen und trank den Rest seines Champagner, sein drittes Glas, nicht genug, um einzuschlafen, aber genug, um das Gefühl zu lindern, Steine im Magen mit sich herumzutragen. Die Luft im Haus seiner Eltern war dick wie Teer.

Die Weste machte ihn noch wahnsinnig! Er zerrte an dem Kleidungsstück. Wenigstens war er nicht alt und steif und brauchte ein Korsett wie die Hälfte der Leute auf dieser unsäglichen Veranstaltung.

Warum hatte seine Mutter ihn überhaupt nach Hause eingeladen? Er war ein Versager. Das auf zwei Monate angelegte Experiment der Frau war sinnlos. Eigentlich sollte er auf der Stelle verschwinden, anstatt darauf zu warten, dass sein Vater das Kommando übernahm. Jay schluckte. Auf keinen Fall würde er die „Heilung“ des Mannes noch einmal überleben.

Zum dritten Mal tastete er die Wand im Gästezimmer im zweiten Stock ab. Er hätte schwören können, dass er hinter dem Spiegel ein Versteck angelegt hatte. Verdammt. Das war das Werk seiner Eltern. Zwei Jahre lang hatte er sich zusammenreißen können, aber seit dem Moment, in dem er nach Hause zurückgekehrt war, beherrschte ein einziges Verlangen seine Sinne – zu viele Menschen, zu viele Regeln, zu viele Erinnerungen.

Zumindest erlaubte ihm seine prekäre Situation, Zeuge eines ziemlich unterhaltsamen Gesprächs zu sein und die Bestätigung zu erhalten, dass er nicht der einzige unglückliche Mensch in diesem Haus war. Na bravo. Er sollte auf das unglückliche Paar anstoßen.

Armer, armer Hugo. Er und Ursula Nunes würden nie zusammenpassen. Der Name Middleton, obwohl so alt wie sein eigener, brachte weder Prestige noch finanzielle Mittel mit sich. Die Besitztümer der Familie hatten sich dramatisch dezimiert, als die amerikanischen Banken zusammenbrachen, und den Middletons fehlte der politische Einfluss, um die Ambitionen von Hugos Vater durchzusetzen. Sein eigener Vater, der vierte John Thaddeus Truitt, hatte sich erst neulich Abend über die ganze Angelegenheit ausführlich ausgelassen. Vielleicht hätte er besser zuhören sollen.

Oder auch nicht. Die Middletons und ihre Probleme waren langweilig – Delaware-langweilig.

Die Frau, um die es ging, war etwas ganz anderes. Wie alt war sie noch mal? Zwanzig, einundzwanzig? Sie konnte nicht älter als vierzehn gewesen sein, als sie das letzte Mal zu einer Party in seinem Haus gewesen war.

Ursula Nunes war jetzt erwachsen. Große blaue Augen, lange Wimpern, blonde Locken, ein bezaubernder, kecker Mund, einfach alles, was man sich wünschen konnte. Ihr Kiefer war ein wenig markant, und ihre Augenbrauen waren etwas breit, aber niemand war perfekt.

Außerdem war es ihre Figur, die die kleine Miss Nunes interessant und so überaus reizvoll machte – ihre Kurven kamen in ihrem eng anliegenden Miederkleid voll zur Geltung, das so geschnitten war, dass man ihre Schultern und ihre eleganten Schlüsselbeine sehen konnte. Und ihr beeindruckendes Dekolleté – zwei Sahnehäubchen auf zuckersüßem Baiser. Für den Geschmack mancher Leute vielleicht etwas zu viel, aber nur wenn man der Ansicht war, es gebe zu viel des Guten, was er definitiv anders sah.

Ihr Desinteresse am Geld oder am Status anderer war erfrischend, ebenso wie ihr Selbstbewusstsein. Aber Hugo? Armer, armer Hugo. Er würde an ihrer Seite niemals sein Glück finden, es sei denn, der Mann strebte einen Herzinfarkt und ein frühes Grab an. Jeder in Delaware wusste, dass die Middletons so bieder waren, dass Puritaner im Vergleich zu ihnen hedonistisch wirkten.

Jay hielt sich beide Hände vor den Mund, um nicht loszuprusten. Er konnte nicht anders, als sich die kurvige Blondine neben Hugo in der Lower Brandywine Presbyterian Church in Scharlachrot oder etwas ähnlich Unangemessenem vorzustellen. Wahrscheinlich würde sie am Gottesdienst herummäkeln.

Lautstark.

Er spähte durch den Türspalt des Gästezimmers. Ihr Aussehen war wirklich eine Verschwendung. Wenn sie Glück gehabt hätte, wäre sie als fügsam und unscheinbar oder zumindest als mittelmäßig hübsch geboren worden. Die Gesellschaft belohnte Konformität. Die Frau war zum Scheitern verurteilt. Ursula Nunes war eine viermalige Abweichlerin: Ihr Glaube, ihr Reichtum, ihre fast aufdringliche Schönheit und ihr Charme – oder ihr Mangel daran – machten sie zu einer Ausnahmeerscheinung, die die Gesellschaft hoffnungslos überforderte.

Jay hielt inne, während sie sich die Arme enger um den Körper schlang und ihre Ellbogen umklammerte. Ihre Schultern zitterten, aber sie gab keinen Laut von sich.

„Was tun, was tun?“, wiederholte sie immer wieder leise, während sie zwischen dem Treppengeländer und der Wand auf und ab schritt.

Er blinzelte. Mein Gott, jetzt hüpfte sie. Die Puffärmel rutschten ihr von den schmalen Schultern. Jay schluckte. Es war zu lange her. Viel zu lange. Warum hatte er sich von Frauen abgewandt? Wer auch immer entschieden hatte, dass die Mode in diesem Jahr bloße Schultern waren, sollte zum Präsidenten gewählt werden, oder besser, er sollte seinen eigenen Schaufelraddampfer bekommen.

„Philadelphia. Ich muss nach Philadelphia. Wenn ich mit seinen Eltern sprechen kann, werde ich es ihnen schon klarmachen. Sie werden uns heiraten lassen müssen, wenn ich nur die richtige Argumente vortrage. Ich muss nur zu den Partys eingeladen werden. Wie schwer kann das schon sein?“ Sie knabberte an ihren Fingernägeln, was ihre Attraktivität ein wenig schmälerte.

Er hielt den Atem an, um ein Kichern zu unterdrücken.

Die Frau war seltsam, aber faszinierend. Nicht einmal ihr Vater mit all seinem Geld wäre in der Lage, die richtigen Einladungen außerhalb von Wilmington zu ergattern.

Und Hugos Eltern mit guten Argumenten zu vermitteln, dass Hugo und sie heiraten mussten? Ja, eine perfekte Möglichkeit, ihre soziale Kompetenz unter Beweis zu stellen. Jay schluckte sein Kichern herunter. Wenn Ursula Nunes glaubte, sie könnte diese selbstgefälligen Snobs von irgendetwas überzeugen, dann gehörte sie in eine Anstalt. Nicht er.

Er zog die Tür ein wenig weiter auf. Ihre Wimpern waren feucht, aber ihre Wangen blieben trocken. Die meisten Menschen, nicht nur Frauen, wären einem Zusammenbruch nahe gewesen. In der Tat faszinierend.

Plötzlich kam ihm eine Idee – eine schreckliche, furchtbare, wunderbare Idee. Die Worte seiner Mutter hallten in seinem Kopf wider.

Du bist besser, als du denkst, Jay. Alles, was du brauchst, ist ein bisschen Stabilität, vielleicht eine Frau. Komm nach Hause. Wenn du deinem Vater zeigen kannst, dass du dich geändert hast, wird er dir vertrauen, und wir können wieder eine Familie sein.

Als ob sein Vater ihm jemals vertrauen würde. Der Mann hatte bereits etwas an dem Ton seiner Schreie auszusetzen gehabt, als er das Licht der Welt erblickte. Und was eine Frau anging – nie wieder! Wenn seine Mutter nur wüsste …

Jay atmete durch die Nase ein. Wenn sein eben gefasster Plan aufging, würden ihn seine Eltern vielleicht in Ruhe lassen. Was Miss Nunes betraf, nun, er würde sein Bestes tun. Vielleicht konnte er ihr ein paar Tipps geben.

Er spähte durch den Spalt. Murmelte sie immer noch wie von Sinnen vor sich hin? Vielleicht würde er mir mehr als nur ein paar Tipps geben. Nicht die schlechteste Beschäftigung für seinen Geist.

Selbst wenn er sie am Ende nicht retten konnte, würde es eine gute Ablenkung für die nächsten zwei Monate sein, ihrem und Hugos Drama aus der ersten Reihe zuzusehen.

Ja, das war doch eigentlich eine ganz verlockende Aussicht. Jetzt musste nur noch handeln. Zeit, seinen Charme spielen zu lassen – ein letztes Mal der alte Jay sein, der auf jeder Party mehrere Strumpfbänder einsammelte.

Immer noch mit dem Champagnerglas in der Hand stieß er die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte. Ursula zuckte zusammen. Er lehnte sich gegen den Rahmen.

„Guten Abend, Miss Nunes.“ Er hob das Glas in ihre Richtung. „Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Ich bin Jay. Dies ist das Haus meiner Eltern, und ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“

2. KAPITEL

Hatte er die ganze Zeit zugehört? Ursula wurde rot. Jay, Jay Truitt. John war sein richtiger Name, oder? John Thaddeus-der-Irgendwas, wie sein Vater. Er war seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen.

Es wurde über ihn getratscht, und nicht gerade Gutes. Sie runzelte die Stirn. Hatte es etwas damit zu tun, dass er ein Trinker war? Er starrte sie jedenfalls mit einem besonders dämlichen Grinsen an – wahrscheinlich lag ihm ein vernichtender Witz auf ihre Kosten auf der Zunge. Als ob sie das nötig hätte. Ihr brannten die Augen.

Es war an der Zeit, ihn loszuwerden.

„Ich mache keine Geschäfte mit betrunkenen Personen.“ Sie zeigte auf sein leeres Glas, falls er sie nicht verstanden haben sollte.

Schule. Das war der Tenor der Gerüchte. Nun, eigentlich Schulen. Plural. Er war von mehreren Schulen geflogen, eine beachtliche Leistung für jemanden mit dem Namen und dem Erbe der Truitts.

Verschwenderischer Schurke.

„Ich bin nicht betrunken.“ Er hob das Glas und schüttelte es. „Ich hatte zwei oder drei davon.“

Er hatte einen Schluckauf.

Typisch.

Die Gesellschaft war ein Rätsel. Dieser Mann wurde gefeiert, während sie genau wie ihre Mutter vor ihr wegen ein paar Perlen zu viel und einigen harmlosen Versprechern geächtet wurde?

„Drei Gläser Champagner sind nichts für mich. Ich bin kein kleiner Mann.“ Als wollte er seine Aussage unterstreichen, straffte er den Rücken und trat auf sie zu.

Nein, er war nicht klein. Sie war selbst auch nicht gerade klein, aber er war mindestens einen Kopf größer und im Licht des Kronleuchters viel attraktiver als beim letzten Mal, als sich ihre Wege gekreuzt hatten. Sein kastanienbraunes Haar, voll und dicht, war kürzer als derzeit in Mode war, und er hatte keine Koteletten.

Er war eher sehnig und gar nicht klobig, Jay war einfach, nun ja, groß, wie eine Deutsche Dogge. Mit der Ausstrahlung eines Wolfes. Er war sicherlich kein Bernhardiner, der darauf aus war, Unschuldige zu retten, aber wer würde sie schon retten wollen?

Ursula schluckte. Seine Augen waren besonders. Welche Farbe hatten sie? Grün, Braun, Grau, oder alle drei? Eine außergewöhnliche Mischung.

„Trotzdem wäre es einfach nicht fair.“ Sie schlang die Arme fester um sich. Am liebsten hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst.

Sein Grinsen wurde breiter. Sie schluckte.

„Was wäre nicht fair?“ Ein großer Schritt, und er war fast bei ihr.

Lass dich nicht einschüchtern, Ursula, lass dich nicht einschüchtern.

„Einen armen Trunkenbold auszunutzen.“ Sie wies auf ihn und nickte nachdrücklich.

Das Korsett drohte ihr die Rippen zu sprengen. Sie musste ihren Vater finden. Sie würde ihn überzeugen, mit ihr nach Philadelphia zu fahren. Er würde sie auf die Partys mitnehmen. Geld war Geld. Jeder hatte seinen Preis. Wo sie übernachten sollte, war eine andere Frage. Nein, eins nach dem anderen. Als Erstes musste sie Jay Truitt loswerden.

Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, von einem selbstgefälligen, verwöhnten Taugenichts gedemütigt zu werden. Seine Sorte verehrte sie für ihre „Streiche“. Sie konnte sich nach dem, was mit Hugo passiert war, keinen weiteren „versehentlichen“ Fleck auf ihrem Kleid oder Wein in ihren Haaren leisten.

Der Keks aus Blei war zurück und schnürte ihr die Luft ab, und ihr brannten die Augen – schon wieder.

Denk nach Ursula, denk nach.

Sie überlegte, welche Gemeinheit sie ihm entgegenschleudern könnte, um ihn abzuwehren. „Wurden Sie nicht deshalb von der Schule geworfen, wo war das noch gleich, Harvard? Und dann Yale?“

Jay schlenderte herüber und lehnte sich gegen das Geländer, er war ihr jetzt so nah, dass die Wolle seines Gehrockes die Seide ihres Ärmels berührte.

„Das hätten meine Eltern vorgezogen.“ Er reckte und streckte sich auf die würdeloseste Art und Weise, überaus selbstzufrieden. „Der Dekan von Harvard war nicht begeistert von meiner Freundschaft mit seiner Tochter, und der Dekan von Yale hielt ebenso wenig von meiner Beziehung zu seiner Nichte. Glücklicherweise hatte der Dekan von Brown nur Söhne. Um ehrlich zu sein, waren meine Noten auch nicht gerade berauschend.“

Jays Arm streifte wieder den ihren, und sie erschauerte.

Als sie seinen Blick auffing, legte er den Kopf schief, als forderte er sie heraus, zu reagieren, sich zu entfernen oder, schlimmer noch, näherzukommen. Als würde sie ihm jemals irgendwelche Freiheiten gestatten!

„Es ist ein Wunder, dass Sie überhaupt einen Abschluss haben.“ Ursula rümpfte die Nase. „Also ein Dummkopf, kein Trinker, und dazu noch ein Wüstling. Ich bin mir nicht sicher, ob das so viel besser ist.“

„Haben Sie sich mit meinem Vater unterhalten?“

Er hob eine Augenbraue und wagte es, ihr zuzuzwinkern, als wäre sie eine Bardame. Warum spielten die Leute so mit ihr? Warum konnten sie sie nicht in Ruhe lassen? Das war nicht in Ordnung. Das war es einfach nicht.

„Ich behaupte gern, dass ich ein klitzekleines Bisschen ein Versager bin“, fügte er hinzu.

„So oder so glaube ich nicht, dass Sie mir etwas von Wert zu bieten haben, Mr. Truitt, und ich glaube, dass jede Verhandlung Ihnen zum Nachteil gereichen würde. Ich versuche, sehr vorsichtig mit jenen umzugehen, die in bestimmten Bereichen nicht so gesegnet sind wie ich.“

Sie nestelte an ihrem Kleid. Gütiger Himmel, sie schwitzte schlimmer als Hugo.

Jay stellte das Glas auf den Boden. Er rollte seine Schultern und schüttelte seinen Rücken, wie ein Pfau, der seine Schwanzfedern aufstellt. Er war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, sodass sie sehen konnte, wie seine Brust sich hob und senkte. Ein schwacher Geruch – fast wie Gewürznelken, gemischt mit Holz und einer Spur von Süße, aber herb, wie Kirschen – stieg ihr in die Nase. Sie hätte auf Alkohol getippt. Es war ein Hauch von etwas Hochprozentigem, vielleicht Whisky, aber nicht aufdringlich oder gar unangenehm. Der Blick, den er ihr zuwarf, hatte jedoch eine andere Wirkung – eine Wirkung, die ihr Unbehagen verursachte.

„Sie sind sicherlich gut ausgestattet, in mehr als einer Hinsicht.“ Er sah ihr nicht ins Gesicht, sein Blick war stattdessen etwas tiefer hängen geblieben.

Oh, um Himmels willen – nun, zumindest leisteten das Korsett und das Kleid, was sie sollten. Alle ihre Bediensteten schworen, dass ihre Figur perfekt wäre und die anderen Mädchen nur eifersüchtig wären, obwohl das wahrscheinlich eine Lüge war, um sich die zusätzliche Arbeit zu ersparen, die es machte, Tränenflecken aus Seide zu entfernen.

Sie biss die Zähne zusammen. Sie sollte ihm eine Ohrfeige verpassen. Das sollte sie wirklich, aber irgendwie brachte sie es nicht über sich. Da war etwas an ihm – wie hieß das Wort? Jungenhaft, ja, jungenhaft – das war es. Und die Art, wie er sie neckte, war so … nein. Nein, nein, nein, nein.

Wie schaffte er es, sie so durcheinanderzubringen?

Ursula seufzte. „Was wollen Sie, Mr. Truitt?“ Sie konnte ihn genauso gut anhören. Sie würde ihn nie wiedersehen. Wenn er fertig war, würde sie ihren Vater finden, in Ruhe einen Plan schmieden und alles würde nach ihrem Kopf gehen. Sie würde es schaffen.

„Ich heiße Jay, und ich möchte mich verloben. Mit Ihnen.“

Sie blinzelte und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Nur Zucker, sie hatte keinen Alkohol getrunken und war also nicht betrunken. Aber sie hatte sich wohl verhört. „Wie bitte?“

„Heute Abend, wenn möglich, obwohl ich wohl morgen offiziell die Erlaubnis Ihres Vaters einholen müsste.“ Seine Mundwinkel zuckte.

„Warum?“ Das Wort kam eher einem Keuchen gleich.

War er verrückt geworden? Außerdem, musste er so nah bei ihr stehen? Sie rümpfte die Nase. „Warum wollen Sie sich mit mir verloben? Wir kennen uns nicht einmal. Wir haben nichts gemeinsam.“

Und so war es auch. Sie waren vielleicht weniger als drei Kilometer voneinander entfernt in ähnlichen Häusern geboren worden, aber sie waren so unterschiedlich aufgewachsen, dass die Kluft zwischen ihnen unüberbrückbar war. Jay lebte in einer Welt ohne echte Konsequenzen. Er gehörte zu den Menschen, die einen Hungerlohn für ihre Fehler zahlten, wenn überhaupt, während sie zu jenen gehörte, die sich nichts zuschulden kommen ließen, und denen trotzdem selbst die kleinsten Chancen verwehrt blieben.

Ursula ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sie zitterten. „Ich will damit sagen, ich meine es ernst. Ich mag Zahlen und Bücher. Ich brauche einen Ehemann, der meine Interessen teilt, einen, der in die Nunes-Geschäfte einsteigen kann, und ich weiß, die Leute sagen, Sie seien charmant oder so einen Unsinn, aber ich bin …“

Ohne Vorwarnung legte er ihr einen Finger an die Lippen. Sie blinzelte wieder und wieder. Sie musste träumen. Er konnte doch nicht wirklich ihren Mund berühren!

„Ich habe diesen Monolog beendet, bevor Sie etwas sagen, das Sie bereuen würden, oder wahrscheinlicher, bevor Sie etwas sagen, das Sie bereuen sollten. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob Sie zu diesem Gefühl fähig sind.“ Er schloss für einen Moment die Augen. „Ich will Sie eigentlich gar nicht heiraten, Ursula.“

Sie packte ihn am Ärmel und riss seine Hand herunter. Material und Nähte seines Jacketts waren von hervorragender Qualität. Der Mann mochte zwar ein verantwortungsloser selbstverliebter Geck sein, aber zumindest hatte er Geschmack.

„Warum wollen Sie dann …?“ Sie konnte nicht den Satz nicht zu Ende sprechen.

„Sie haben ein Problem. Sie möchten Zugang zu einigen der exklusivsten gesellschaftlichen Veranstaltungen in Philadelphia bekommen, um Hugo Middletons Eltern davon zu überzeugen, ihrem Sohn zu gestatten, Sie zu heiraten oder, besser gesagt, ihn davon zu überzeugen, dass er – wie soll ich es taktvoll ausdrücken? – Rückgrat zeigt. Allerdings werden Ihr Nachname, Ihre Herkunft und bestimmte Vorfälle in Ihrer Vergangenheit, zumindest habe ich davon gehört, das Unterfangen ziemlich schwierig gestalten. Ich habe keine derartigen Probleme, trotz meines Rufs. Mein Name beeindruckt die Leute immer noch. Besser noch, Leute einer bestimmten Schicht begehren, was die Truitts haben. Neid kann Berge versetzen.“

Ursula biss sich auf die Lippen. Warum ergab sein Vorschlag tatsächlich einen Sinn? Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er einfach auf der Treppe ohnmächtig geworden wäre oder etwas anderes getan hätte, was verantwortungslose Verschwender tun. Schlimmer noch, was war los mit ihr, dass sie nicht nur zuhörte, sondern seinen Plan sogar in Betracht zog? War die Ehe mit Hugo diese Art von Scharade wert?

Ein Bild von sich selbst, wie sie mit faltigem Gesicht und in bedrückender Stille durch das dunkle Haus ihres Vaters schlurfte, schoss ihr durch den Kopf. Keine Einladungen. Keine Besucher. Die Familie ihres Vaters, die ihr die Kontrolle über das Geschäft entreißt … sie würde sich so langweilen und einsam sein, dass sie anfangen würde, so zu tun, als würden ihre Tiere mit ihr sprechen.

Ihr zog sich das Herz zusammen.

Doch, es wäre es wert. Sehr sogar. Denn mal ehrlich, wer außer Hugo käme überhaupt auf die Idee, sie zu heiraten? Da ihre Mutter tot war und sie keine nennenswerten Freunde hatte, brauchte sie jemanden, der ihr half.

Sie atmete aus. „Was erhoffen Sie sich von einer solchen Vereinbarung?“

Jay drehte sich um und blickte über das Geländer in die Halle hinunter. Er strich sich mit den Fingern durch die Haare. Sie stellte sich neben ihn und ahmte seine Haltung nach, die Ellbogen auf dem auf Hochglanz polierten Geländer abgestützt.

„Meine Eltern wollen, dass ich nach Delaware zurückkehre, mich niederlasse und das Geschäft übernehme.“

„Und Sie wollen das nicht?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte er das nicht wollen? Truitt Industries war riesig und bedeutend, auch wenn es seine profitabelste Produktlinie vor zwei Jahren für einen Spottpreis verkauft hatte. Das Unternehmen hatte zuvor den Markt für Laudanum in Amerika beherrscht, aber selbst ohne diesen Verkaufsschlager … wäre es unglaublich, ein solches Geschäft zu leiten. Jay könnte eine Strategie entwickeln, um die Gewinne über eine Vielzahl von Produktlinien und Märkten zu maximieren. Es wäre, als würde man Schach, Billard und Karten gleichzeitig spielen.

„Nein.“ Jay zuckte mit den Schultern, seine Stimme klang fast ernst. „Ich habe kein Talent dafür. Es ist besser, wenn ich mich da raushalte. Ich habe Cousins, die dafür geeigneter sind.“

„Was wollen Sie stattdessen machen?“ Sie musterte ihn. Was machte diesem Mann Spaß? Abgesehen von dem Offensichtlichen?

„Ich weiß nicht. Ich habe noch nie wirklich darüber nachgedacht.“ Er zuckte abermals mit den Schultern und blickte nach unten in die Halle, in der sich jetzt einzelne Gästegrüppchen versammelt hatten. „Reisen? Ich treffe gern Leute.“

„Ja, um sie auszuziehen.“ Sie schnaubte.

Er riss den Kopf herum, seine Augen groß, und sie schlug sich beide Hände vor den Mund. Igitt, jetzt klang sie wirklich wie eine Bardame. Ihr Gesicht wurde heiß. Doppeltes Igitt, Rot stand ihr gar nicht.

Jay jauchzte, sein Gelächter war so laut, dass es ein Wunder war, dass die Partygäste unten nicht zu ihnen hochstarrten.

„Das war nicht schlecht.“ Er wischte sich über die Augen. „War das ein Angebot?“

Der Kerl hatte die Frechheit, sich über die Unterlippe zu lecken. Seine volle, perfekte Unterlippe.

„Wohl kaum.“ Verdammt, sie schwitzte schon wieder. Vor der nächsten Party würde sie sich mit Talkumpuder einreiben. „Das ist eine Verhandlung, die Sie niemals gewinnen werden, Mr. Truitt.“

„Nie ist eine lange Zeit, Miss Nunes.“

Ihr zitterten die Hände so stark, dass der Fächer, der an ihrem Handgelenk baumelte, wackelte. Sie konnte ihn nicht benutzen. Sie traute sich nicht.

„Also.“ Ursula räusperte sich. „Zurück zum eigentlichen Thema: Wie würde eine vorübergehende Verlobung Ihr Problem lösen?“

Jay zerrte an seinem steifen Kragen. Vielleicht war ihm auch ein wenig warm geworden. Wie bedauerlich für ihn, dass er keinen Fächer hatte. So viele Schichten Kleidung … vielleicht hatte das Frausein doch einige Vorteile. Zumindest lag ihr Hals frei.

„Reicht es nicht, dass ich Sie amüsant finde? Hugo auf die Existenz von Dampflokomotiven aufmerksam zu machen, war brillant. Meiner Meinung nach sind Sie die am wenigsten langweilige Person in Delaware. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alle Geschichten aus Ihrer Vergangenheit wissen möchte, aber solange ich nach Beendigung der Verlobung noch alle meine Gliedmaßen habe, sollte ich höchst zufrieden sein.“

Lügner.

Sie straffte die Schultern. „Das glaube ich Ihnen nicht. Niemand, außer meinem Vater und Hugo, wollte jemals Zeit mit mir verbringen.“ Sie verschränkte die Arme und funkelte ihn so finster an, wie sie nur konnte. „Das ist besser kein ausgeklügelter Streich, der darauf abzielt, mich zu demütigen, denn wenn es so sein sollte, werde ich dafür sorgen, dass keines der Truitt-Unternehmen jemals wieder einen Kredit von uns bekommt. Oder von irgendeiner anderen Bank.“

Jay hielt abwehrend die Hände hoch, fast so, als würde er sich vor einem Schlag schützen wollen. „Woah, schon gut. Nein, ich schwöre, es ist kein Streich, sondern mein voller Ernst.“ Er stupste ihre Schulter mit seiner an, als wären sie beste Freunde. „Schauen Sie, ich soll mich sowieso auf den Partys blicken lassen, und das am besten mit einer schönen Frau am Arm, die Humor hat und von mir nicht verlangt, dass ich jemand anderes bin als der, der ich nun mal bin … Alles, was Sie tun müssen, ist, mich später sitzen zu lassen. Ausnahmsweise wäre ich nicht der Bösewicht. Ein gutes vorgetäuschtes gebrochenes Herz wird ausreichen, um meine Eltern davon abzuhalten, von mir etwas zu fordern, was ich ihnen nicht geben kann.“

Sie blickte ihm in die Augen und runzelte die Stirn. War er ehrlich? Seine Erklärung klang fast zu einfach. Es musste mehr dahinterstecken, aber offenbar war er nicht bereit, ihr mitzuteilen, worum es sich handelte. Pustekuchen. Sie war noch nie in der Lage gewesen, Menschen zu lesen, und Jay Truitt war, gelinde gesagt, verwirrend.

Aber was genau hatte sie zu verlieren? Er hatte in vielerlei Hinsicht recht. Ihre Gedanken wanderten zu den Briefen, die ihr Vater an das Hartford Female Seminary, St. Mary’s Hall, Mount Holyoke Female Seminary und mehrere andere geschrieben hatte, in denen er großzügige Spenden für ihre Aufnahme anbot. Die Antworten waren immer gleich gewesen. Der Kloß in ihrem Hals wurde zu einem Klumpen. Bestimmte Türen würden ihr oder ihresgleichen niemals offen stehen. Jay Truitt war wahrscheinlich ihre einzige Hoffnung, in den nächsten Wochen auch nur in die Nähe von Hugo zu kommen.

Außerdem wäre es nicht so schlimm. Am Ende würde sie gewinnen. Sie würde eine große, wunderschöne Hochzeit mit Tonnen von Blumen und Juwelen feiern und einem Kleid, wie es noch nie jemand in Delaware gesehen hatte, und sie würde eine Middleton sein. Niemand würde jemals wieder gemein zu ihr sein oder sich über sie lustig machen. Und sie würde einen menschlichen Gefährten haben, der nicht mit ihr verwandt war. Der sie ausgewählt hatte.

Sie holte tief Luft – verflixtes Korsett, morgen würde sie voller blauer Flecken sein. Jay zwinkerte ihr erneut zu, und ihr knurrte der Magen. Wenn sie doch nur noch einen Windbeutel gegessen hätte.

„Also, wenn ich zustimme, wie genau würden wir es anstellen?“

3. KAPITEL

Die Kutsche der Nunes fuhr über eine Bodenwelle, und Jay stieß mit dem Kopf gegen das Wagendach – der Fluch seiner imposanten Körpergröße. Wenigstens war das Fahrzeug gut ausgestattet, wenn auch für seinen Geschmack etwas protzig. Wer hätte gedacht, dass man so viele verschiedene Materialien vergolden konnte? Er hatte mindestens zwei Dutzend gezählt. Ganz zu schweigen von den Zierleisten. Aber was sollte er sonst tun? Seit er vor fast einer Stunde Platz genommen hatte, hatte ihn niemand auch nur eines Blickes gewürdigt. Er zerrte an seinem Halsbinder.

Zu schade, dass die Familie Nunes bei all ihrem Reichtum vergessen hatte, Eis auf die Fahrt mitzunehmen. Die Kiste war wie ein glühender Ofen. Schlimmer als draußen. Eine schwierige Aufgabe, da die Hölle im Vergleich zum Sommer in Philadelphia ein Ort der Erholung war.

„Sie denken, ich werde scheitern.“ Ursula wählte einen feindseligen Ton für ihre Eröffnungsbemerkung.

Passend. Schließlich hatte sie sich nicht durchgesetzt. Keine ihrer Ausreden war überzeugend gewesen, und sie musste die ganze Fahrt mit ihm verbringen. Die Art und Weise, wie sie nichts verbarg – jede Emotion lag offen auf der Oberfläche – und die Probleme, die ihr dadurch entstanden, waren faszinierend. So faszinierend, dass er seit der Party seiner Eltern vor drei Tagen kaum an etwas anderes als an sie gedacht hatte.

Er stammelte eine vage Antwort, die mit einem lauten Schnauben quittiert wurde.

„Verdammt, Jay, das war keine Antwort. Hat man Ihnen in diesen schicken Schulen nicht die Kunst der Konversation beigebracht?“

Er rang sich ein bellendes Lachen ab. Man musste ihr zugutehalten, dass sie leeres Geschwätz oder auch nur Höflichkeiten ablehnte. Sie hatte einen etwas eigenwilligen Verstand, wie eine Art Rattenfänger. Eine wohlgeformte, blonde Rattenfängerin. Aber ihre blonden Locken erinnerten eher an einen Pudel.

Was war überhaupt so besonders an Hugo Middleton? Wie jemand denken konnte, dass dieser schleimige, nichtssagende Lakai so viel Ärger wert war, war ihm ein Rätsel.

Ein Harvard-Abschluss war eine Sache, aber der Mann war nicht einmal besonders anzusehen. Dünn und blass, wie ein Invalide, mit Brauen, die ineinanderwuchsen. Sein Kleidungsgeschmack war mies. Er trank nicht, erzählte keine Witze und tanzte, als hätte er auf einem Eisenbahnnagel gesessen – nachdem ihm jemand auf den Kopf geschlagen hatte.

Der Mann entsprach ganz und gar nicht Ursulas Kragenweite, und sie darin zu unterstützen, ihn als Ehemann zu gewinnen, kam einer Freveltat gleich.

Jay holte tief Luft. „Ich glaube, Sie unterschätzen den Druck, unter dem Hugo steht.“

„Aber warum?“ Die Frage klang wie ein Miauen. Wie eine Oboe. Eine ungestimmte.

Gerade als sie sein Mitgefühl geweckt hatte. Jay konnte über sich nur den Kopf schütteln. Ein Mann musste betrunken, tot oder ein kompletter Idiot sein, um Jammern attraktiv zu finden. Vor allem bei Ursulas Präsenz. Und ihrer Stimmlage.

Vielleicht sollte er nach Philadelphia laufen, um seine Ohren zu retten. Und seine Nerven.

Er betrachtete ihre Tiere. Die Katze schnarchte, und der Affe war von den sanften Hügeln draußen vor dem Fenster abgelenkt. Wie hießen sie noch mal? Artemis – Arte und Hecate? Lächerlich. Wenigstens hatte sie den verdammten Vogel nicht mitgenommen. Das Ding hatte ihm fast den Kopf zerkratzt.

Und der Hund, der zum Glück ebenfalls daheim bleiben musste, hatte seinen Schuh getränkt. Gott sei Dank war der Großteil seiner umfangreichen Garderobe unversehrt geblieben. Zumindest noch. Er schauderte.

Im Moment war die Situation jedoch unverfänglich. Zu dumm, dass sie einen Reisemantel trug. Das Verhältnis von Haut zu Stoff war unproportional.

Außerdem gab es da noch die Sache mit Rose, ihrer Zofe. Obwohl sie schwieg, verriet das Funkeln in ihren Augen, dass sie keine Hilfe sein würde, zumindest nicht für ihn.

Er trommelte sich mit den Fingern aufs Knie. Wie sollte er sich seiner Scheinverlobten gegenüber verhalten?

„Die Middletons brauchen eher Beziehungen als Geld, und die können Sie ihnen nicht bieten.“ Er bemühte sich, geduldig zu klingen, und ahmte dabei seine Mutter nach, nicht seinen Vater.

„Diese sozialen Konstrukte haben doch inzwischen an Bedeutung verloren. Ich meine, Präsident Jackson war eine Abscheulichkeit, aber niemand kann sagen, dass er nicht über sich hinausgewachsen ist. Männer haben ihn gewählt, obwohl er ungebildet und inkompetent ist. Ich hätte es auf jeden Fall besser als er gemacht. Ich würde die Bank of the United States niemals abschaffen. Außerdem, sollte es nicht genügen, dass Hugo mich heiraten will, um sie zum Einlenken zu bewegen? Mein Vater würde es mir nie antun, mir etwas vorzuenthalten, was mich glücklich machen würde.“

„Ihr Vater ist …“ Jay spitzte die Lippen und suchte nach dem richtigen Wort. Seine Gedanken waren ein wenig abgeschweift, als sie das Wort „Bank“ sagte. Was man auf einer Bank alles machen konnte … Und natürlich dachte er dabei keineswegs an ein Geldinstitut. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, Wörter vorzuschlagen, die in gesellschaftlichen Situationen nicht laut ausgesprochen werden durften, ohne dafür in Grund und Boden gestampft zu werden.

Und wie sollte man ihren Vater erklären? Der Mann war … ungewöhnlich. Ursula hatte ihm den Plan geschildert, und Nunes hatte ihm trotz seiner Absurdität zugestimmt – er hatte seiner Tochter erlaubt, entweder Hugo Middleton zu heiraten oder sich bei dem Versuch lächerlich zu machen.

„Bestimmte Dinge muss man selbst erfahren, selbst die Klügsten unter uns.“

Was auch immer Nunes damit gemeint hatte. Sie befanden sich in einer Art Spiel, aber wie die Regeln lauteten, konnte man nur vermuten.

Das ganze Treffen mit dem Mann war merkwürdig gewesen. Ein privates Gespräch mit dem Vater einer jungen Dame war noch nie Jays Lieblingsbeschäftigung gewesen. Judah Nunes hatte wie ein König auf seinem Thron gesessen und Brandy aus einem goldenen Glas getrunken, ohne Jay einen Tropfen anzubieten.

Und bei der Familie in Philadelphia zu wohnen, verlobt, aber nicht verheiratet? Der Mann hatte das Arrangement einfach angeboten – hervorragend für ihre Verschwörung, aber vollkommen unangemessen. Keine Eltern, die er kannte, hätten dies nicht nur nicht geduldet, sondern selbstverständlich niemals vorgeschlagen. War das eine Art jüdische Tradition?

Jay runzelte die Stirn, als er an seinem Schuh roch. Das Grinsen seines unechten Schwiegervaters, als der Butler ihn abtrocknete, schoss ihm durch den Kopf. Die Chelsea-Boots waren seine Lieblingsstiefel. Er selbst war vielleicht nicht mehr zu retten, aber seine unschuldige Garderobe sollte nicht dafür büßen müssen.

Nun gut. Wenn Ursulas Vater es für vertretbar hielt, dann würde er es dem Mann nicht ausreden. Die Familie Nunes konnten sich selbst gegen den Tratsch wehren.

Jay wandte sich wieder Ursula zu. Warum war er so zimperlich? Sie konnte mit der Wahrheit umgehen.

Sie verschränkte die Arme und wies mit dem beschuhten Zeh auf ihn, offenbar nicht einverstanden mit seinem rücksichtsvollen Schweigen.

Er verkniff sich eine unhöflichen Geste. Sie war schließlich immer noch eine Dame. Sozusagen.

„Ihre Beziehung zu Ihrem Vater ist einzigartig. Er ist Ihnen ergeben, nicht umgekehrt. Ich bin sicher, dass es einen Grund dafür gibt, aber so ist es normalerweise nicht üblich, vor allem, wenn es die Söhne betrifft, erstgeborenen Söhne, Söhne mit Verantwortung für ihre Familien.“

„Kannst du denn gar nichts ernst nehmen, Jay? Gibt es irgendetwas, das dir wichtig ist, außer deinem eigenen Vergnügen?“ Wie alt war er gewesen, als sein Vater ihm diese Fragen zum ersten Mal stellte? Sieben?

„Wirklich?“ Sie legte den Kopf schief. „Wie passen Ihre Reisen nach New Orleans und New York dazu? Warum durften Sie mehrere Schulen abbrechen, während Hugo alles aufgeben muss, was er sich ersehnt?“

New Orleans. Sie musste diese Stadt erwähnen, den Ort, an dem er seine Seele zurückgelassen hatte, wenn er jemals eine gehabt hatte. Er biss die Zähne zusammen. „Ich durfte nicht mehrere Schulen abbrechen. Meine Eltern waren alles andere als erfreut. Wir hatten gerade genug Geld, dass es kein Problem war. Das Leben ist nicht fair, Ursula.“

Warum stichelte sie so sehr? Sie hatte keine Ahnung, wer er war oder wie sein Leben aussah. Sie hatte keine Pflichten, außer jemanden zu heiraten, der kein kompletter Dummkopf war und nicht eines der am schnellsten wachsenden Bankimperien der Welt zerstören würde. Außerdem hatte sie noch nie jemanden im Stich gelassen.

Ihm juckte die Haut. Jay bohrte sich die Nägel in die Handflächen, um sich nicht zu kratzen. Obwohl er es zwei Jahre lang geschafft hatte, Verzicht zu üben, war das Sehnen in dem Moment zurückgekehrt, als er Delaware erreichte. Er meinte, den Stoff sogar riechen zu können, obwohl sein Vater auch noch den letzten Hauch davon verbrannt und anscheinend alles gefunden hatte, was er im Haus und auf dem Grundstück versteckt hatte. Die Versuchung entfachte all seine Sinne. Trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die seine Familie ergriffen hatte, wäre es ein Leichtes, die Substanz bekommen, nach der sein Körper verlangte. Er hatte immer noch Quellen. Er hätte sie schon längst aufgesucht, wenn er nicht so von Ursula abgelenkt gewesen wäre.

„Sagt der Mann, der in dieser Gleichung immer gewinnt.“ Sie wandte sich ab und drückte die Nase gegen das Fenster, ohne sich um sein Unbehagen zu kümmern.

Der Affe warf ihm einen kritischen Blick zu, bevor er sie an der Wange kraulte.

Er zog seine Hose zurecht. „Ihr Leben wird zufriedenstellend sein, Ursula, auch wenn sie Hugo Middleton nicht heiraten. Sie werden jemanden finden. Ich bin sicher, jemanden von Ihrer Art …“

Ihr Kopf schoss herum. „Meiner Art?“ Ihre Stimme hob sich um eine Oktave.

Jay verzog das Gesicht. Nicht ganz das, was er beabsichtigt hatte. Was war heute nur in ihn gefahren? Menschen waren seine Stärke, aber Ursula löste etwas in ihm aus, das sich seiner Kontrolle zu entziehen schien. Katastrophal. Der Kurs musste geändert werden, und zwar schnell.

„Ich bitte um Verzeihung, Ursula.“ Er zwang sich, innezuhalten, zu atmen, nachzudenken. „Ich meinte, wäre Ihr Vater nicht glücklicher, wenn Sie jemanden heiraten würden, der ihm ähnlicher ist?“

„Mein Vater ist etwas Besonderes. Aber wenn Sie einen Juden meinen, vielleicht.“ Sie berührte eine goldene Quaste an einem der Sitzkissen. „Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Meine Eltern waren nie wirklich Teil der Gemeinschaft. Wir beten morgens, zünden Kerzen an, essen kein Schweinefleisch, fasten an bestimmten Tagen, aber das bedeutet für uns eigentlich nur, dass wir auf gewisse Aktivitäten verzichten, die Menschen unternehmen, die keine Juden sind.“

Kein Schweinefleisch? Wie tragisch. Jay leckte sich die Lippen zu Ehren seines morgendlichen Schinkens.

„Wir haben unsere Kontakte zur Gemeinde in Philadelphia eingeschränkt, obwohl mein Onkel sehr engagiert ist. Das hat alles damit zu tun, dass meine Mutter nicht mit der Familie meines Vaters zurechtkam. Sie mochten sie nicht oder sie mochte sie nicht.“ Sie runzelte die Stirn. „Mir hat nie jemand die ganze Geschichte erzählt.“

Ein Geheimnis. Jay unterdrückte ein Keuchen. „Und Sie haben nie gefragt?“

Er hätte so lange nachgebohrt, bis sein Vater ihn ohne Abendessen ins Bett geschickt hätte. Danach wäre er in jedes Büro eingebrochen, das der Mann besaß, um nach der Wahrheit zu suchen. Es war schon erstaunlich, dass sie angesichts der Tatsache, wie gut sie sich an ihn von früher erinnerte, einen bloßen Bekannten, der Delaware verlassen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war, nicht jedes Detail im Leben ihrer Eltern studiert und analysiert hatte.

Ursula klang wieder nachdenklich. „Meine Mutter war lange krank, und als sie starb, war alles andere nicht mehr so wichtig.“

Nicht mehr wichtig? Wie konnte Ursula so wenig Interesse an ihrer eigenen Familie und ihrem eigenen Leben haben? Aber wenn ihre Mutter krank gewesen war, hatte sie das vielleicht vollkommen mit Beschlag belegt. „Wie lange ist sie schon tot?“

„Seit sieben Jahren.“ Ursula streichelte die Katze und kraulte ihr die Ohren. Es war nicht zu übersehen, dass das Thema ihr Kummer bereitete. „Ein Geschwür.“

„Das tut mir leid.“ Und das stimmte. Egal, welche Probleme er mit seinen eigenen Eltern hatte, zumindest waren sie beide am Leben.

Er kramte in seinem Gehirn nach Erinnerungen an Ursulas Mutter. Ein vages Bild einer Frau mit aschfarbenen Locken tauchte in seinem Kopf auf. Er war in den Ferien zu Hause gewesen und hatte ein Gespräch zwischen seinen Tanten über die verstorbene Mrs. Nunes mitbekommen, und zwar kein besonders wohlgesinntes, da es sich um den recht prominenten Busen der Frau drehte. Nun, den zumindest hatte Ursula von ihr geerbt.

Aber woher hatte Ursula die blonden Haare? Ihr Vater war so dunkel. Von der Art war sie ihm recht ähnlich – das war sicher.

Als könnte sie seine Gedanken hören, winkte Ursula mit einer Hand ab. „Schon gut. Mein Vater tut mir aber schrecklich leid. Der Arme ist ganz allein.“

Jay dachte an Nunes’ Grinsen und dessen missliche Lage, und ob Witwer oder nicht, es gelang ihm nicht, diesem Mann genug Mitgefühl entgegenzubringen, um ihn als „arm“ zu bezeichnen.

„Möchten Sie ihm Enkelkinder schenken?“ War das der Grund, warum Ursula so sehr auf eine Heirat mit Hugo aus war?

„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher, was sein oder mein Leben verbessern würde. Ich bin einundzwanzig, also habe ich vermutlich auch nicht mehr so viel Zeit.“

Ihr rutschte der Umhang von den Schultern und gewährte ihm endlich einen Blick auf ihre wohlgerundeten Schultern.

Was für eine Frau redete schon so früh in der Saison wie eine verhärmte Witwe? Sie war ein Rätsel.

„Wie romantisch. Hugo muss sich sehr geschmeichelt fühlen“, sagte er.

„Ich verehre Hugo. Er ist der einzige Mensch in Delaware, abgesehen von meinen Eltern, der mich nie verspottet hat. Als wir klein waren, war ich zum Tee bei einer seiner Cousinen und weinte im Garten, weil ein paar der anderen Mädchen, nun ja …“ Ursula schluckte. „Meine Mutter hatte mich für den Besuch angezogen. Ich fand sie immer schön, obwohl sie, wenn ich so zurückdenke, nie ganz im Trend lag.“ Ursula runzelte die Stirn. „Ich habe vielleicht auch ein bisschen geflunkert, um nicht dumm dazustehen, und wie sollte ich auch wissen, dass ein Kaleidoskop kein medizinisches Gerät ist und …“

Oh, warum erzählte sie ihm das?

„Viele Tränen?“, fragte er.

„Erst nachdem ich sie angeschrien und mit einer ganzen Reihe von Schimpfwörtern belegt hatte, auf die Nichtjuden besonders empfindlich reagieren, und vielleicht eine Flambierpfanne nach ihnen geworfen habe.“

Ursula lächelte, obwohl ihre Augen etwas zu sehr schimmerten. „Aber Hugo kam in den Garten und setzte sich zu mir, und wir unterhielten uns. Er las die gleichen Bücher wie ich. Wir waren beide begeistert von Fouriers Werken, und danach fanden wir immer einen Vorwand, um zusammenzusitzen und einfach nur zu lesen oder über für uns spannende Themen zu diskutieren.“

Und darum ging es doch, oder? Sie waren Freunde. Das erklärte so vieles. Eine merkwürdige Freundschaft, aber Hugo war so bescheiden, fleißig und ruhig, dass die Leute oft vergaßen, dass er überhaupt existierte. Ursula war wahrscheinlich einer der wenigen Menschen, die ihn überhaupt wahrnahmen.

Jay runzelte die Stirn. Bevor er noch etwas sagen konnte, stieß Ursula einen lauten Seufzer aus. Sie fischte einen ledergebundenen Band aus ihrer Reisetasche, blätterte durch die Seiten, verzog den Mund zur Seite und zupfte an einer Locke.

Seltsam, aber faszinierend.

Warum schossen ihm immer diese beiden Wörter durch den Kopf, wenn er sie beobachtete? Sie zog fester an der Locke, während sie vollkommen vertieft in ihre Lektüre zu sein schien. Die Katze fauchte ihn warnend an. Er fletschte die Zähne und starrte drohend zurück. Lächerliches Biest. Ursula bemerkte es nicht einmal. Jetzt wurde er neugierig.

„Was lesen Sie da?“, fragte er.

Sie hielt inne, sah ihm aber nicht in die Augen. „Nur die Bücher eines der Unternehmen, in die Nunes investiert hat. Wir halten nur einen kleinen Anteil, aber ich überprüfe die Zahlen und Berichte, die wir bekommen, gern persönlich. Alle drei Monate erhalten wir eine aussagekräftige Zusammenfassung.“

Sie gestikulierte, während sie erklärte, und schlug versehentlich mit einer Hand gegen das Fenster, sodass der Affe zusammenschreckte. Ihre Stimme wurde lauter und enthusiastischer, obwohl sie den Kopf immer noch nicht gehoben hatte. Waren die Zahlen so interessant, dass sie ihn nicht einmal ansehen wollte? Was war los mit ihr?

„Haben Sie keinen Buchhalter?“, fragte er.

„Er überprüft die Bücher zuerst. Ich studiere sie dann als Zweites.“ Mit einer Geste bedeutete sie ihm, dass er sie nun in Ruhe lassen möge. Sie meinte es ernst. Bilanzen stahlen ihm, Jay Truitt, ihre Aufmerksamkeit.

Jay warf einen Blick zu ihrer Zofe. Die hatte die Lippen zusammengepresst, als müsste sie ein Lachen unterdrücken. Er richtete den Blick wieder auf Ursulas Kopf.

„Finden Sie Fehler?“

„Manchmal.“ Sie fuhr mit einem Zeigefinger über jede Zeile. „Die finden sich normalerweise in den Büchern der Wohltätigkeitsorganisationen, die wir unterstützen. Die Buchhalter dort werden nicht gut bezahlt, trotz meiner Empfehlungen, sie besser zu entlohnen.“

Bei dem Gedanken daran, wie sie mit gelangweilten Damen der Gesellschaft darüber stritt, wie hoch der Lohn des Personals von Wohltätigkeitsorganisationen ausfallen sollte, musste auch er ein Lachen unterdrücken. Das waren gewiss immer überaus vergnügliche Zusammenkünfte!

Sie wartete nicht auf seine Antwort. „Es geht mehr darum zu wissen, ob es sich lohnen würde, unsere Investitionen zu erhöhen oder wir uns zurückziehen sollten, um unsere Verluste zu reduzieren. Meine Einschätzungen zu den Geschäften unserer Partner schreibe ich für meinen Vater auf, und er übermittelt sie an die Unternehmen. Manchmal nehmen sie die Vorschläge an, manchmal nicht, aber ich behalte das Geschehen immer im Blick. Die Bank ist die Haupteinnahmequelle, aber ich möchte alternative Geschäftsmodelle erschließen und den Investmentbereich von Nunes ausbauen.“

Je mehr Ursula sprach, desto schneller und lebhafter wurde ihre Stimme. Den Kopf hielt sie jedoch nach wie vor gesenkt, den Blick auf die Seiten in ihrem Schoß gerichtet, sodass ihre hübschen Gesichtszüge nicht zu sehen waren.

„Stellen Sie beim Sprechen jemals Augenkontakt her?“ Er hätte sich fast eine Hand vor den Mund geschlagen. Warum war ihre Offenheit so ansteckend?

Sie hob den Blick, und ihre strahlend blauen Augen glitzerten. Topas, kein Saphir, ein brillanteres Naturprodukt hatte die Natur noch nicht hervorgebracht. Jay stockte der Atem. So viel Leidenschaft. Sie war atemberaubend.

„Ich bin nicht gut darin, Blickkontakt zu halten. Außerdem muss ich mich konzentrieren.“ Sie senkte den Kopf wieder, und es war, als wäre es in der Kutsche dunkler geworden.

„Na gut. Ich hätte wohl etwas Lesestoff mitbringen sollen“, sagte er.

„In der Tat, das wäre hilfreich gewesen! Dümmer macht das Lesen einen Menschen jedenfalls nicht.“

Ihm klappte die Kinnlade herunter. Was hatte er getan, um so kühl von ihr behandelt zu werden? Und mehr noch, woher wusste Ursula bei all ihrer sozialen Unbeholfenheit genau, wo sie ihren Schlag landen musste?

„Ich hätte gern eine Erklärung für diese Noten, Jay. Bist du dumm, faul oder einfach nur respektlos?“

Benommen unterdrückte Jay das Echo seines Vaters. 

„Habe ich Sie beleidigt?“ Er bemühte sich um Milde, aber er konnte nicht verhindern, dass sich ein feindseliger Ton einschlich. Er faltete die Hände. Eine natürliche Reaktion auf ihr Verhalten ihm gegenüber, das ist alles, dachte er.

...

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