Romana Exklusiv Band 324

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NEAPEL, DIE LIEBE UND DU! von KATE HARDY

Sie ist so lebendig wie die Straßen von Neapel: Eleanor! Der charmante Wirbelwind berührt etwas ganz tief in Orlando de Luca. Doch selbst nach einer zärtlichen Liebesnacht kann er sie nicht bitten, für immer bei ihm zu bleiben. Hat er damit sein Glück für immer verspielt?

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  • Erscheinungstag 26.06.2020
  • Bandnummer 324
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748906
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kate Hardy, Brenda Harlen, Nancy Robards Thompson

ROMANA EXKLUSIV BAND 324

1. KAPITEL

„Gibt es einen Arzt an Bord?“, drang die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher. „Dann melden Sie sich bitte sofort.“

Eleanor atmete tief durch. Das war genau die Situation, vor der jeder Arzt sich insgeheim fürchtete. Es musste sich um einen ernsthaften Notfall handeln, sonst hätte die Crew, die in Erster Hilfe ausgebildet war, sich selbst um den betroffenen Passagier gekümmert. Eleanor hob die Hand und stand auf, und die Flugbegleiterin kam eilig auf sie zu.

„Einer unserer weiblichen Passagiere ist kollabiert“, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. „Würden Sie bitte nach ihr sehen?“

„Natürlich“, stimmte Eleanor sofort zu. Im Grunde war sie sogar froh, sich ablenken zu können, denn so grübelte sie nicht den ganzen Flug darüber nach, ob ihre Entscheidung, nach Neapel zu reisen, richtig gewesen war.

„Würden Sie sich bitte zuvor noch ausweisen?“, bat die Flugbegleiterin dann etwas verlegen. „Es tut mir leid, aber ich muss Sie danach fragen.“

Eleanor lächelte. „Das ist doch selbstverständlich.“ Sie nahm ihren Klinikausweis aus der Tasche und zeigte ihn der jungen Frau. „Ich bin Notärztin.“

„Vielen Dank, Dr. Forrest. Würden Sie mir bitte folgen?“

Die Stewardess ging voraus in den vorderen Bereich der Maschine, in dem eine korpulente Frau mittleren Alters zusammengesunken auf ihrem Sitz saß. Eleanor sah sofort, dass sie ohnmächtig war, und überprüfte ihren Puls. Er war sehr schwach, und die Frau atmete nicht mehr, was bedeutete, dass sie so schnell wie möglich reanimiert werden musste.

„Was ist passiert?“, fragte Eleanor das junge Mädchen, das neben der Frau saß und offensichtlich ihre Tochter war, auf Englisch. Das Mädchen weinte jedoch nur und gab dabei einen Redeschwall auf Italienisch von sich, dem Eleanor nicht folgen konnte. Sie wollte die Stewardess gerade bitten, jemanden zu suchen, der übersetzen konnte, als ein Mann auf sie zutrat.

„Orlando de Luca, Allgemeinmediziner“, stellte er sich vor. „Kann ich helfen?“

Er sprach mit leicht italienischem Akzent, doch sein Englisch war perfekt. Eleanor blickte wie gebannt zu ihm auf. Er war der attraktivste Mann, der ihr je begegnet war! Irritiert schüttelte sie den Gedanken ab. Wie kam sie nur auf solche Gedanken, wenn es galt, ein Menschenleben zu retten?

„Eleanor Forrest, Notärztin“, erwiderte sie sachlich und wies auf die ohnmächtige Frau. „Sie atmet nicht mehr, und ihr Puls ist sehr schwach. Sie muss schnellstmöglich reanimiert werden. Ich spreche leider nur sehr wenig Italienisch, und ihre Tochter spricht kein Englisch. Ich muss wissen, welche Medikamente die Frau einnimmt und ob sie irgendwelche schweren Erkrankungen hat. Würden Sie das Mädchen wohl danach fragen?“

Orlando nickte und wandte sich der Stewardess zu. „Holen Sie bitte den Notfallkoffer und einen Defibrillator.“

Die junge Frau nickte und eilte davon.

Orlando de Luca wandte sich nun an das Mädchen und stellte ihm mehrere Fragen, von denen Eleanor keine einzige verstand. Sie hatte zwar vor einigen Wochen einen Italienischkurs besucht und die Abschlussprüfung abgelegt, aber ihr Wissen reichte natürlich bei Weitem nicht aus, um sich problemlos verständigen zu können. Doch dann hörte sie Orlando l’infarto sagen, was so viel bedeutete wie Herzinfarkt.

„Unsere Patientin heißt Giulietta Russo, und das ist ihre Tochter Fabiola“, erklärte er. „Giulietta hat über Schmerzen in der Brust geklagt, bevor sie kollabierte. Fabiola weiß nichts von möglichen schwereren Erkrankungen.“

„Gut, dann fangen wir an.“

Orlando und Eleanor hoben die Patientin vorsichtig aus dem Sitz, legten sie flach auf den Boden und begannen mit der Reanimation. Im nächsten Moment erschien die Stewardess mit dem Notfallkoffer.

„Ich sehe gleich nach dem Defibrillator“, sagte sie aufgeregt.

Eleanor konnte nur hoffen, dass sich ein solches Gerät an Bord befand, mit dem sie das Herz hoffentlich wieder zum Schlagen bringen konnten. Außerdem würde sie Sauerstoff benötigen, wenn sie das Bewusstsein wiedererlangte. „Gibt es zusätzlichen Sauerstoff an Bord?“, fragte sie deshalb die Stewardess.

„Ich sehe nach.“ Die junge Frau eilte erneut davon und kam kurze Zeit später mit dem Defibrillator zurück.

„Ich schließe das Gerät an, und Sie fahren mit der Reanimation fort, einverstanden?“, schlug Eleanor vor, und Orlando nickte lächelnd.

Du meine Güte, was für ein Lächeln! Eleanor hätte glattweg weiche Knie bekommen und die Balance verloren, wenn sie nicht schon auf dem Boden gehockt hätte. Sie blickte zur Stewardess auf. „Sie helfen bitte Dr. Luca, ja? Folgen Sie einfach seinen Anweisungen.“

Die junge Frau tat wie geheißen, während Eleanor den Defibrillator anschloss. Dreimal hintereinander musste sie ihn einsetzen, bis Giulietta endlich wieder zu atmen begann.

Eleanor atmete erleichtert auf. „Sagen Sie Fabiola bitte, dass ihre Mutter über den Berg ist. Sie muss aber so schnell wie möglich in ein Krankenhaus gebracht werden.“

Orlando nickte und wandte sich an die Flugbegleiterin. „Fragen Sie den Kapitän, ob wir auf dem nächstgelegenen Flughafen landen können. Die Patientin muss schnellstmöglich in eine Klinik gebracht werden.“ Dann sprach er beruhigend auf Fabiola ein, die endlich zu weinen aufgehört hatte.

Kurz darauf kam die Stewardess zurück. „Der Captain sagt, wir werden in etwa zwanzig Minuten in Mailand landen. Und hier ist der Sauerstoff.“

„Gut gemacht“, meinte Orlando anerkennend und schenkte ihr sein umwerfendes Lächeln. „Vielen Dank, Signorina …?“

„Melanie“, antwortete die Stewardess verlegen und errötete dabei leicht.

Er verdreht allen Frauen den Kopf, schoss es Eleanor durch den Sinn, und sie ärgerte sich erneut, dass sie sich überhaupt Gedanken um diesen Mann machte. Jeremy hatte auch zu den Männern gehört, denen die Frauen zu Füßen lagen, und auf einen derartigen Charme würde sie bestimmt nicht mehr hereinfallen. Außerdem konnte es ihr gleich sein, mit wem Orlando de Luca flirtete, schließlich kannte sie ihn ja kaum. Sie konzentrierte sich wieder auf Giulietta Russo und legte ihr die Sauerstoffmaske an.

„Ist es in Ordnung für Ihre Begleitung, wenn Sie die Maschine kurz in Mailand verlassen?“, fragte Orlando unvermittelt.

„Meine Begleitung?“, wiederholte Eleanor verblüfft, dann erst begriff sie, was Orlando meinte. „Oh … ich bin allein unterwegs, das ist also kein Problem, Dr. de Luca.“

„Bitte nennen Sie mich Orlando.“

Orlando – allein sein Name war pure Erotik! Unwillkürlich musste Eleanor an den Ratschlag ihrer besten Freundin Tamsin denken, bevor sie weggefahren war: Gönn dir eine Auszeit, Ellie. Und eine aufregende Romanze mit einem heißblütigen Italiener wäre genau das Richtige für dich, um diesen Schuft von Jeremy zu vergessen!

Ein heißblütiger Italiener – genau das schien dieser Orlando de Luca zu sein. Eleanor musste unwillkürlich lächeln. Tamsin würde Augen machen, wenn sie ihn sähe …

„Ist mein Name so amüsant?“, riss Orlandos Frage sie prompt aus ihren Gedanken.

„O nein, natürlich nicht“, erwiderte Eleanor schnell und spürte, wie ihr vor Verlegenheit die Hitze in die Wangen stieg. „Mi dispiace – entschuldigen Sie bitte.“

„Sie sprechen ja doch Italienisch.“

„Nur ein bisschen, aber es reicht bei Weitem nicht aus, um mich fließend zu unterhalten. Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben – grazie.“

Prego, gern geschehen.“

In nächsten Moment kam Giulietta zu Bewusstsein. Orlando nahm ihr die Maske ab und sprach beruhigend auf sie ein. Inzwischen hatte die Stewardess arrangiert, dass die beiden Sitze neben Giulietta frei gemacht wurden, sodass Orlando und Eleanor sie nutzen konnten, um sich während des Landeanflugs weiterhin um ihre Patientin zu kümmern.

Etwa zehn Minuten später landete die Maschine in Mailand, und Orlando übergab die Patientin dem bereitstehenden Notfallteam. Nachdem alles Wichtige geklärt war, stiegen sie gemeinsam zurück in die Maschine, und jeder kehrte an seinen eigenen Platz zurück.

Eleanor wusste nicht, weshalb, aber irgendwie war sie enttäuscht, dass Orlando de Luca ihr nicht den Vorschlag gemacht hatte, weiterhin nebeneinander zu sitzen. Dieser Mann interessierte und faszinierte sie auf eine seltsame Art und Weise. Einerseits ließ er ihr Herz höher schlagen, wenn er sie nur ansah, andererseits strahlte er so viel Ruhe und Sicherheit aus, dass sie sich auf Anhieb bei ihm hätte geborgen fühlen können.

Doch dann musste sie daran denken, wie schlecht ihre Menschenkenntnis in Bezug auf Männer bisher gewesen war. Wie sehr hatte sie sich in Jeremy getäuscht! Nur weil Orlando ein guter Arzt zu sein schien, musste er noch lange kein guter Partner sein. Außerdem war er vermutlich verheiratet oder zumindest in festen Händen. Ein derart gut aussehender Mann blieb sicher nicht lange allein. Also brauchte sie erst gar nicht an Tamsins Ratschlag zu denken, denn Orlando de Luca war bestimmt nicht der geeignete Mann für ein unverbindliches Abenteuer.

Eleanor schloss die Augen und dachte an das, was ihr in den nächsten Tagen bevorstand. Morgen würde sie sich mit einem Mann treffen, der behauptete, ihr leiblicher Vater zu sein. Wenn sich dies tatsächlich als richtig erwies und sie diesen Mann auch noch mochte, dann würde sich vielleicht ihre große Hoffnung erfüllen – die Hoffnung auf eine neue Familie und das Ende ihrer Einsamkeit.

2. KAPITEL

Die Maschine landete mit zwei Stunden Verspätung in Neapel. Eleanor ging zur Gepäckausgabe und wartete dort auf ihren Koffer, doch vergeblich. Nachdem das Band nun schon zum dritten Mal durchgelaufen war, wurde ihr klar, dass der Koffer verloren gegangen sein musste.

Na, großartig! dachte sie frustriert. Zwar hatte sie die wichtigsten Dinge ins Handgepäck gepackt, doch ohne frische Kleidung würde sie natürlich nicht auskommen. Schon morgen stand das Treffen mit Bartolomeo an, sodass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als in aller Frühe in die Innenstadt zu fahren, um sich etwas zum Anziehen zu kaufen, bis ihr Koffer gefunden war.

„Ist alles in Ordnung?“

Eleanor fuhr erschrocken zusammen. Orlandos aufregend dunkle Stimme ließ ihr Herz schon wieder höher schlagen. „Oh … ich warte nur auf meinen Koffer, aber er scheint nicht da zu sein.“ Auf dem Rollband lagen nur noch drei Gepäckstücke, von denen keines ihr gehörte. „Ich glaube, ich werde mal nachfragen.“

„Lassen Sie mich das machen“, bot Orlando spontan an. „Für mich ist es viel einfacher als für Sie.“

Eleanor zögerte. Sollte sie Orlando de Lucas Angebot annehmen? Einerseits wäre es nur vernünftig, da er Italiener war und noch dazu perfekt Englisch sprach, andererseits hatte sie Bedenken, sich von ihm helfen zu lassen, da allein schon sein Anblick sie aus der Fassung brachte. „Das ist sehr nett von Ihnen“, antwortete sie schließlich. „Aber ich möchte Sie nicht aufhalten, denn zu Hause werden Sie bestimmt schon erwartet.“

Orlando schüttelte den Kopf. „Non importa – es wartet niemand auf mich. Ich lebe allein.“

Damit hatte Eleanor nicht gerechnet. Sie war sicher gewesen, dass ein derart gut aussehender und gebildeter Mann verheiratet sein und eine Familie oder zumindest eine feste Freundin haben musste.

„Ihr Koffer ist bestimmt nur irgendwo stecken geblieben. Wie sieht er denn aus?“

„Es ist ein Trolley – ungefähr so groß.“ Sie beschrieb die Größe mit den Händen. „Und er ist … knallgelb“, gab sie etwas verlegen zu.

„Knallgelb“, wiederholte Orlando amüsiert.

Eleanor wusste genau, was er jetzt dachte: Wie kam eine erwachsene Frau und noch dazu seriöse Ärztin dazu, sich wie ein Teenager einen knallgelben Koffer zuzulegen? Aber sie hatte diese unkonventionelle Farbe gewählt, weil sie sich viel schneller unter der Masse der anderen ausmachen ließ.

„Kommen Sie mit, ich frage gleich nach.“

Eleanor folgte Orlando zur Information und hörte angestrengt zu, wie er sich mit dem Mann am Schalter unterhielt. Etwas anderes als „Koffer“ und „Dottoressa Forrest“ konnte sie allerdings nicht verstehen. Gleich darauf wandte Orlando sich wieder ihr zu.

„Er wird sich sofort darum kümmern. Ich habe ihm gesagt, dass Sie die kompetente Ärztin sind, die der Patientin in der Maschine nach Neapel das Leben gerettet hat“, erklärte er lächelnd. „Also sollte er tunlichst dafür sorgen, dass Ihnen geholfen wird.“

Eleanor errötete leicht. „Das war aber nicht allein mein Verdienst. Ohne Sie hätte ich es nicht so leicht geschafft.“

„Nun, dann würde ich sagen, wir waren ein gutes Team.“ Plötzlich wurde Orlando ernst. „Sie sehen müde aus, Eleanor. Ist auch kein Wunder nach all dem Stress im Flugzeug, und nun auch noch der Ärger mit dem Koffer. Kommen Sie, setzen wir uns irgendwohin, und trinken wir einen Kaffee.“

Wieder wusste Eleanor nicht, was sie dazu sagen sollte. Einerseits wollte sie nicht unhöflich sein und Orlandos Angebot ablehnen, andererseits mochte sie seine Hilfe nicht länger als nötig in Anspruch nehmen.

„Es kann noch eine ganze Weile dauern, bis sie Ihren Koffer finden“, meinte er, als würde er ihr Zögern richtig deuten. „Warum also hier herumstehen, wenn wir es uns gemütlich machen können?“

Orlando hatte recht. Sie war wirklich sehr müde und sehnte sich nach einem guten Kaffee. Also willigte sie ein, und sie setzten sich in das kleine Bistro nebenan.

Geschafft! dachte Orlando erleichtert. Er hatte schon befürchtet, dieses zauberhafte Wesen könnte ihm entgleiten. Diese Dottoressa Forrest hatte etwas an sich, das ihn begeisterte, deshalb musste er sie unbedingt näher kennenlernen. Schon auf den ersten Blick war er von ihr fasziniert gewesen. Ihr ruhiges und kompetentes Handeln während des Notfalls hatte ihn schwer beeindruckt, und ihre natürliche Schönheit, ihre Anmut und die Wärme, die sie ausstrahlte, zogen ihn unwiderstehlich an.

Er kaufte zwei Tassen Kaffee mit Cantuccini, einem beliebten toskanischen Mandelgebäck, und trug die Sachen zu Eleanor an den Tisch. „Die habe ich sehr vermisst, als ich in England war“, meinte er lächelnd. „Englische Kekse kann man nicht so gut in den Kaffee tunken.“

Eleanor lachte. „Wir Engländer haben eben nicht so seltsame Gebräuche wie ihr Italiener. Aber nun mal Spaß beiseite – was bin ich für den Kaffee schuldig?“

„Nichts, ich lade Sie ein.“

Da wurde Eleanor unvermittelt ernst, und ein trauriger Ausdruck trat in ihr Gesicht.

Ob sie jetzt an jemanden denkt, der sie sehr verletzt oder enttäuscht hat? fragte Orlando sich.

„Keine Angst, Sie sind mir zu nichts verpflichtet“, versicherte er sanft. „Was auch immer Sie über italienische Männer gehört haben, vergessen Sie es. Ich habe nichts in Ihren Kaffee getan, und Sie werden auch morgen früh nicht in meiner Wohnung aufwachen und allein ohne Geld und Papiere dastehen.“

Verlegen senkte Eleanor den Blick. „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht beleidigen, das lag nicht in meiner Absicht.“

„Das weiß ich, Eleanor. Aber Sie haben recht, man sollte nicht jedem Fremden vertrauen.“ Er lächelte. „Von mir haben Sie aber wirklich nichts zu befürchten. Ich bin nur ein ganz normaler Arzt, der eine nette Kollegin zum Kaffee einlädt, weiter nichts.“

Nun erwiderte Eleanor sein Lächeln. „Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen.“

Orlando tauchte seinen Keks in den Kaffee und biss ein Stück davon ab. „Sie machen also Urlaub in Neapel?“

„So ungefähr.“

„Aha, Ihre Mamma hat Ihnen eingeschärft, Fremden nichts Persönliches über sich preiszugeben, stimmt’s?“, fragte er amüsiert.

Eleanor schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.“

Mi dispiace, Eleanor, das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht kränken.“

„Das haben Sie nicht, Sie konnten es ja nicht wissen.“

Orlando betrachtete eingehend ihr zartes Gesicht. Bildete er es sich nur ein, oder steckte hinter ihrer Traurigkeit mehr als nur der Verlust ihrer Mutter? Gab es vielleicht einen Mann, der Eleanor zutiefst enttäuscht hatte? Orlando beschloss, nicht weiter nachzuhaken und ein unverfängliches Thema anzuschneiden. „Sie sind Notärztin, nicht wahr?“

„Ja. Ich arbeite in einer Londoner Klinik.“

„London ist eine interessante und aufregende Stadt. Ich komme gerade von dort, habe meinen Freund Max besucht. Er ist ein ehemaliger Kollege, mit dem ich vor Jahren eine Wohnung in London teilte. Er hatte mich zur Taufe seines Sohnes eingeladen.“

„Wie schön. Waren Sie Taufpate?“

„Ja“, gab Orlando zu und musste unwillkürlich daran denken, wie verliebt Max und seine Frau Rachel ineinander waren.

Er selbst hatte schon vor langer Zeit aufgehört, an die Liebe zu glauben. Das Schicksal seiner Mutter hatte ihm vor Augen geführt, dass die große, wahre Liebe offenbar nicht existierte. Nach der fünften Scheidung hatte seine Mutter die Hoffnung auf den Richtigen aufgegeben. Seit er jedoch gesehen hatte, wie glücklich sein Freund Max mit Rachel und dem kleinen Connor war, begann er allmählich an seiner Einstellung zu zweifeln. Vielleicht gab es die „wahre Liebe“ ja doch, und man musste nur fest daran glauben, sie irgendwann zu finden.

Wo aber sollte er nach ihr suchen? Oder sollte er besser darauf warten, dass ihm die Richtige irgendwann zufällig begegnete? Und wenn sie schließlich da war, woran erkannte er sie? All diese Fragen hatte Orlando sich schon unzählige Male gestellt und war zu keinem Schluss gekommen. Also hatte er beschlossen, genauso weiterzuleben wie in den vergangenen fünf Jahren, was bedeutete, dass er stets nur kurzfristige und unverbindliche Beziehungen zu Frauen einging und sich währenddessen hauptsächlich seinem Beruf widmete.

„Arbeiten Sie auch in London?“, erkundigte Eleanor sich nun ihrerseits.

„Nein, nicht mehr. Ich habe mehrere Jahre in einer Klinik gearbeitet, auf der Kinderstation. Doch im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass ich meine kleinen Patienten lieber würde aufwachsen sehen, anstatt sie nach Beendigung der Therapie aus den Augen zu verlieren. So reifte allmählich der Wunsch, nach Italien zurückzukehren, um mich als Allgemeinarzt selbstständig zu machen. Und ehrlich gesagt, habe ich das Meer und die Sonne ziemlich vermisst.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Eleanor lächelte sanft, und wieder fiel Orlando auf, wie wunderschön sie war. Sie hatte ebenmäßige weiße Zähne, eine makellose Haut und wundervolle dunkelbraune Augen. Eleanor Forrest war wirklich die bezauberndste Frau, der er je begegnet war.

Ihm wurde plötzlich heiß, und er verspürte den schier unwiderstehlichen Drang, sie zu küssen. Verdammt, was hatte sie eben gesagt? Und wieso brachte ihre Gegenwart ihn derart aus der Fassung?

„Meine Freundin Tamsin“, fuhr Eleanor fort, „hat in derselben Klinik gearbeitet wie ich. Vor zwei Jahren hat sie eine eigene Praxis eröffnet und diese Entscheidung bis heute nicht bereut.“

„Und Sie?“, erwiderte Orlando, um sich von seinen erregenden Gedanken abzulenken. „Füllt die Arbeit als Notärztin Sie aus?“

„Ja, sehr. Es macht mich glücklich, wenn ich Menschen helfen kann.“

„Dottoressa Forrest?“ Ein Mitarbeiter des Servicepersonals trat mit einem großen zitronengelben Koffer auf sie zu. „Wir haben Ihr Gepäck gefunden. Es tut uns sehr leid, dass Sie so lange warten mussten.“

„Grazie“, antwortete Eleanor höflich und überprüfte das Namensschild. „Ja, das ist mein Koffer.“

Der Mann verabschiedete sich freundlich, und Eleanor nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen. „Ich muss mich jetzt auch auf den Weg machen, Orlando. Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Aber Sie haben Ihren Kaffee noch gar nicht ausgetrunken.“

„Ich weiß, aber ich muss jetzt wirklich los und im Hotel einchecken.“

Orlando überlegte fieberhaft, wie er Eleanor aufhalten sollte. Wenn er sie jetzt gehen ließ, würde er sie wahrscheinlich nie wiedersehen. „Darf ich Sie fahren?“, bot er hastig an. „Welches Hotel haben Sie denn gebucht?“

Doch Eleanor schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht infrage, ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten.“

Sein Herz begann zu rasen, und er fragte sich, was plötzlich in ihn gefahren war. Er wusste nur, dass er Eleanor keinesfalls aus den Augen verlieren durfte. Sie war das reizvollste Geschöpf, das ihm je begegnet war, und er musste sie unbedingt wiedersehen!

Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. War das vielleicht dieses große, unbeschreibliche Gefühl, nach dem er sich sein ganzes Leben lang gesehnt hatte? Gab es wirklich Liebe auf den ersten Blick, und könnte Eleanor tatsächlich die Richtige sein? Oder waren diese verwirrenden Gefühle nichts weiter als unwiderstehliche sexuelle Anziehungskraft?

„Ich möchte mich nur gern bei Ihnen revanchieren“, folgte sein zweiter verzweifelter Versuch, sie aufzuhalten. „Schließlich haben Sie einem meiner Landsleute das Leben gerettet.“

Eleanor lächelte erneut, und Orlando spürte tausend Schmetterlinge im Bauch. Himmel, ihr Lächeln brachte ihn noch um den Verstand!

„Erstens war es meine Pflicht als Ärztin, zu helfen, zweitens haben Sie auch Ihren Teil dazu beigetragen, und drittens haben Sie mir ja schon mit dem Koffer geholfen und noch dazu einen Kaffee spendiert.“

„Ich würde Sie wirklich gern fahren, Eleanor. Anstatt fürs Taxi sollten Sie Ihr Geld lieber für schönere Dinge ausgeben, zum Beispiel für …“, er machte eine Hilfe suchende Handbewegung, „… für einen guten Wein, einen Ausflug ans Meer oder irgendetwas, das Neapel unvergesslich für Sie macht.“

Eleanor focht einen inneren Kampf aus. Dieser Orlando war wirklich sehr nett und die Versuchung, sein Angebot anzunehmen, einfach zu verlockend. Aber war sie nicht schon einmal auf den Charme eines gut aussehenden Mannes hereingefallen, und hatte sie nicht teuer dafür bezahlen müssen? Andererseits reizte sie nicht nur sein blendendes Aussehen, sondern er zog sie auf eine seltsame Art und Weise an. Ein einziger Blick von ihm genügte, und ihr Herz begann zu rasen.

„Ich habe keinerlei unanständige Absichten, falls Sie das befürchten“, sagte er prompt, und Eleanor errötete.

„Also, an … an so etwas habe ich überhaupt nicht gedacht“, erwiderte sie schnell, obwohl genau das der Fall war.

Orlando de Luca war tatsächlich der erotischste Mann, den sie kannte. Sein schwarzes, leicht gewelltes Haar, die ausdrucksvollen Augen und der sinnliche Mund mussten einfach jede Frau zum Schmelzen bringen!

Lächelnd verschränkte er die Arme vor der Brust. „Worüber grübeln Sie denn jetzt schon wieder nach, Dottoressa Forrest? Soll ich Sie nun fahren, oder möchten Sie hier lieber Wurzeln schlagen?“

Eleanor gab sich einen Ruck und nickte. „Also gut, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, nehme ich ihr Angebot an.“

„Bene.“ Orlando lächelte zufrieden. Das war noch mal gut gegangen!

Die Warteschlange an der Zollabfertigung hatte sich inzwischen aufgelöst, und so dauerte es nur wenige Minuten, bis sie den Parkplatz erreichten. Orlando steuerte auf ein schwarzes Sportcabriolet zu, was Eleanor nicht im Geringsten überraschte. Standen denn nicht alle Italiener auf spritzige Sportwagen?

Als könne er Gedanken lesen, lachte Orlando amüsiert. „Keine Angst, ich will damit nicht angeben, sondern finde es nur angenehm, mit offenem Verdeck zu fahren. Es ist einfach schön, die Sonne und den Wind zu spüren und die frische Seeluft einzuatmen, wenn man an der Küste entlangfährt. Wenn Sie Zeit und Lust haben, lade ich sie gern einmal zu einer Spritztour ein. Die Gegend südlich von Neapel ist sehr idyllisch.“

O nein, nur das nicht! dachte Eleanor entsetzt. Eine Spritztour mit diesem aufregenden Mann in diesem tollen Wagen! Wie sollte sie da nur widerstehen?

„Wo möchten Sie nun hin?“

Eleanor nannte ihm den Namen des Hotels. Sie musste sich zusammenreißen, wenn er nicht merken sollte, welch verheerende Wirkung er auf sie hatte.

„Das trifft sich gut“, erwiderte er lächelnd. „Das Hotel liegt im alten Stadtviertel, nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt.“ Er öffnete die Beifahrertür und hielt sie ihr auf. „Darf ich bitten?“

Minuten später manövrierte er den Wagen sicher durch den dichten neapolitanischen Verkehr, doch Eleanor konnte sich trotzdem nicht entspannen. Wie sollte sie auch, wenn ein so aufregender Mann neben ihr saß? Schon nach einer Viertelstunde hatten sie das Hotel erreicht. Orlando trug ihren Koffer die Treppe hinauf zur Eingangstür, dann zog er eine Visitenkarte aus der Brieftasche, schrieb eine Nummer auf die Rückseite und gab Eleanor die Karte.

„Vielleicht haben Sie irgendwann ein bisschen Zeit, während Sie hier in Neapel sind. Ich würde Sie gern zum Essen einladen.“ Er wies auf die Karte in ihrer Hand. „Das ist meine Praxisnummer, und die Handynummer hab ich auf die Rückseite geschrieben. Melden Sie sich einfach, wenn Sie mögen, ja?“

„Das ist sehr nett, aber ich …“

Ehe sie weitersprechen konnte, hatte Orlando ihre Hand genommen und küsste sie zart. „Ich würde mich wirklich sehr freuen.“

Sein sanfter Kuss hatte ein derart erregendes Prickeln bei ihr ausgelöst, wie sie es noch nie empfunden hatte. Weshalb reagierte sie nur so stark auf diesen Mann? Er brauchte sie nur anzusehen, schon wurden ihre Knie weich. Mit ihm auszugehen käme einem Spiel mit dem Feuer gleich, und etwas Derartiges kam im Moment überhaupt nicht für sie infrage. Sie brauchte ihren Seelenfrieden und keinen Mann, der ihre Sinne betörte!

Sie atmete tief ein und sah Orlando an. „Mal sehen, vielleicht … habe ich tatsächlich einmal Zeit. Auf jeden Fall vielen Dank fürs Mitnehmen.“

„Nichts zu danken, Eleanor. Es war mir ein Vergnügen.“ Er schenkte ihr noch einmal sein aufregendes Lächeln, dann ging er zurück zu seinem Wagen.

3. KAPITEL

Nachdem sie eingecheckt hatte, ging Eleanor auf ihr Zimmer, packte ihre Sachen aus und nahm danach die lang ersehnte Dusche. Da es inzwischen zu spät für ein richtiges Abendessen geworden war, ließ sie sich nur eine Tasse heiße Schokolade aufs Zimmer bringen. Danach sandte sie eine SMS an ihre Freundin Tamsin, um ihr mitzuteilen, dass sie gut angekommen war, und ging schließlich ins Bett.

Obwohl todmüde, konnte sie lange nicht einschlafen. Orlando de Luca ging ihr einfach nicht aus dem Sinn. Sein unwiderstehliches Lächeln und das Feuer in seinen Augen hatten sie völlig durcheinandergebracht.

Eleanor wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Himmel, sie war doch nicht nach Neapel gekommen, um sich auf ein erotisches Abenteuer einzulassen! Natürlich musste sie es irgendwie schaffen, Jeremys schäbigen Treuebruch aus dem Kopf zu bekommen, aber ob eine Affäre mit einem heißblütigen Italiener das Richtige dafür war, wagte sie zu bezweifeln.

Zudem fragte sie sich, weshalb Orlando de Luca allein lebte. Er war ein hervorragender Arzt und überaus attraktiver Mann, dem es an weiblichem Interesse sicher nicht fehlte. Verzichtete er vielleicht der Karriere wegen auf eine feste Beziehung? War es ihm wichtiger, sich ganz seinem Beruf zu widmen, als einer Frau und eigenen Kindern? Eleanor fühlte sich hin und her gerissen. Wenn Orlando tatsächlich nur auf einen harmlosen Flirt aus war, weshalb sollte sie sich dann eigentlich nicht darauf einlassen?

Aber erst, wenn ich das morgige Treffen hinter mir habe, beschloss sie, und ihr Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen. Was mochte Bartolomeo Conti für ein Mensch sein? Am Telefon war er ihr jedenfalls sehr sympathisch gewesen, und auch das Foto, das er ihr per E-Mail geschickt hatte, hatte ihr gut gefallen. Allerdings wusste sie aus eigener, bitterer Erfahrung, dass viele Männer es bestens verstanden, ihren wahren Charakter hinter einer Maske aus Charme zu verbergen. Wäre ihre Mutter damals nicht bei Bartolomeo geblieben, wenn er sie wirklich geliebt hätte? Oder hatten andere Gründe sie dazu bewogen, ihn zu verlassen?

Sie wusste es nicht und erhoffte sich eine baldige Antwort auf all ihre Fragen.

Das Läuten des Weckers riss Eleanor am nächsten Morgen mitten aus dem Schlaf. Sie war noch so müde, dass sie am liebsten den ganzen Vormittag im Bett verbracht hätte, doch das Treffen mit Bartolomeo wollte sie keinesfalls verschieben. Wenn er nur wirklich so nett war, wie der erste Eindruck es vermittelt hatte!

Sie zwang sich aus dem Bett und duschte, um richtig wach zu werden. Beim Frühstück brachte sie jedoch vor lauter Aufregung kaum einen Bissen herunter und blickte ständig auf die Uhr, um ja nicht zu spät zu ihrer Verabredung zu kommen.

Endlich war es so weit. Eleanor ging in den Empfangsbereich, wo Bartolomeo bereits an der Rezeption auf sie wartete. Sie erkannte ihn sofort. Er war ein hochgewachsener Mann von etwa Mitte fünfzig mit einer sympathischen Ausstrahlung.

Sie holte noch einmal tief Luft, dann trat sie beherzt auf ihn zu. „Signor Conti?“, fragte sie, wobei ihr Herz heftig klopfte.

„Bartolomeo“, antwortete er lächelnd und umarmte sie herzlich. „Ich darf dich doch Eleanor nennen, nicht wahr? Und ich freue mich sehr, dass du gekommen bist.“ Er verzog leicht das Gesicht. „Allerdings stehe ich im Moment ein bisschen neben mir, weil ich heute Nacht kaum geschlafen habe.“

„Ich auch nicht“, gab Eleanor erleichtert zu.

Bartolomeo legte ihr die Hände auf die Schultern und betrachtete sie eingehend. „Ja, du bist die Tochter meiner Constanza, das sieht man auf den ersten Blick. Constanza Firth – das Mädchen, in das ich mich vor dreißig Jahren unsterblich verliebt habe.“ Er lächelte schalkhaft. „Aber den schönen südländischen Teint hast du von mir geerbt.“

Das könnte tatsächlich sein, dachte Eleanor. Schon als Kind hatte sie sich häufig gefragt, weshalb sie nicht eine so helle Haut wie ihre Mutter besaß. Sowohl sie als auch ihr verstorbener Ehemann Tim hatten blondes Haar, blaue Augen und eine sehr helle Haut gehabt. Sie selbst hingegen sah ihrer Mutter zwar ähnlich, unterschied sich jedoch durch einen deutlich dunkleren Teint, braune Augen und tiefschwarzes Haar.

Und nun stand Bartolomeo Conti vor ihr, der Mann, dessen Liebesbriefe sie zufällig unter den Sachen ihrer Mutter gefunden hatte. Er hatte die gleichen braunen Augen und einen ebenso dunklen Teint wie sie selbst, was sie in ihrer Hoffnung bestärkte, dass er tatsächlich ihr leiblicher Vater sei.

„Hast du schon gefrühstückt?“, erkundigte er sich.

„Ja, aber viel habe ich nicht runterbekommen“, gestand Eleanor. „Ich war einfach zu aufgeregt.“

„Ich auch.“ Bartolomeo nahm ihren Arm. „Komm, lass uns zusammen essen gehen.“

Er führte sie in ein kleines Café in der Nähe des Hotels und bestellte Kaffee und Sfogliatelle. „Das ist eine neapolitanische Spezialität“, erklärte er. „Feiner Blätterteig in Form einer Muschel, gefüllt mit süßem Ricotta-Käse.“ Ein wehmütiges Lächeln umspielte seinen Mund. „Das habe ich damals auch für deine Mamma bestellt, als wir zum ersten Mal zusammen gefrühstückt haben.“

Eleanor erwiderte sein Lächeln. „Ehe ich es vergesse, ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einen Umschlag heraus. „Einige Fotos von mir und Mom aus der Zeit, als ich noch klein war. Ich dachte, du … du würdest dich vielleicht darüber freuen.“

Bartolomeo sah sich die Fotos eines nach dem anderen eingehend an. „Ja, das war meine Constanza“, sagte er gerührt. „Dieses Bild hier, wo sie mit dir auf dem Arm im Garten steht, gefällt mir besonders gut. Du siehst so niedlich aus in deinem hübschen Sommerkleidchen.“ Er sah Eleanor hoffnungsvoll an. „Darf ich mir Abzüge davon machen?“

„Du kannst sie behalten, ich habe Sie extra für dich mitgebracht.“

Da schluckte Bartolomeo schwer und drückte Eleanors Hand. „Weißt du, ich habe mir immer Kinder gewünscht, aber mit meiner Frau nie welche bekommen. Und jetzt …“ Er schüttelte den Kopf, und Tränen schimmerten in seinen Augen. „Jetzt bist du auf einmal da, meine leibhaftige Tochter. Das ist … einfach wunderbar. Ich möchte dich näher kennenlernen, Eleanor, und viel Zeit mit dir verbringen. Das heißt natürlich, wenn dein … Papà nichts dagegen hat.“

Eleanor senkte traurig den Blick. „Dad lebt nicht mehr. Er starb an einem Schlaganfall, kurz nachdem ich mein Staatsexamen bestanden hatte.“

„Das tut mir leid.“ Bartolomeo machte eine kurze Pause, bevor er fragte: „Heißt das, dass du jetzt niemanden mehr hast? Auch keine Großeltern mehr?“

Eleanor schüttelte den Kopf. „Dads Eltern sind schon gestorben, als ich noch ganz klein war, und Moms Eltern kannte ich überhaupt nicht. Sie hat nie über sie gesprochen.“

Bartolomeo runzelte die Stirn. „Willst du damit sagen, dass sie … dass sie Constanza verstoßen haben, weil sie schwanger geworden war und vom Vater ihres Kindes nichts mehr wissen wollte?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe zwar irgendwie gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war, aber Mom nie direkt danach gefragt, weil ich ihre Gefühle nicht verletzen wollte.“

Als Kind hatte sie sich tatsächlich oft gefragt, weshalb ihre Mutter den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte. Da Constanza jedoch stets ausweichend auf Fragen reagiert hatte, hatte Eleanor nie auf eine Antwort gedrängt und es schließlich ganz auf sich beruhen lassen. Wenn Bartolomeo wirklich ihr leiblicher Vater war, konnte sie sich gut vorstellen, in welch schwieriger Lage sich ihre Mutter damals befunden hatte. Vor dreißig Jahren war es alles andere als leicht gewesen, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, und Mädchen, die dies gewagt hatten, waren häufig von ihrer Umwelt abgelehnt oder verurteilt worden. Wahrscheinlich war Bartolomeos Vermutung, Constanza sei von ihren Eltern verstoßen worden, sogar richtig, und sie hatte deshalb keinen Kontakt mehr zu ihnen gepflegt.

„Wusstest du denn damals nicht, dass meine Mutter schwanger geworden war?“, erkundigte Eleanor sich jetzt.

„Nein, ich hatte keine Ahnung. Wenn ich gewusst hätte, dass Constanza mein Kind unter ihrem Herzen trug, hätte ich alles darangesetzt, um sie zu heiraten.“

„Aber warum hat sie es dir nicht gesagt? Weshalb hat sie dich verlassen und ist allein nach England zurückgekehrt?“

Bartolomeo atmete tief ein, bevor er antwortete: „Ich will ehrlich zu dir sein, Eleanor. Du musst wissen, dass die Beziehung zwischen Constanza und mir nicht ganz einfach war. Als ich mich damals in deine Mutter verliebte, war ich mehr oder weniger schon an eine andere Frau gebunden. Sie hieß Mariella und war die Tochter meines damaligen Geschäftspartners. Ich war zwar nicht offiziell mit ihr verlobt, aber wir sind zusammen aufgewachsen, und für unsere Familien stand schon immer fest, dass wir beide später einmal heiraten würden.“

„Und dann lernte ich Constanza kennen“, sprach Bartolomeo weiter, und in seine Augen trat ein wehmütiger Glanz. „Es war Frühling, sie machte Urlaub in Neapel. Es regnete in Strömen, als ich zufällig mit meinem Wagen an ihr vorbeifuhr – genau durch die große Wasserpfütze, vor der Constanza gerade stand. Sie wurde nass von Kopf bis Fuß, was ich im Rückspiegel sah. Ich hielt an, um mich bei ihr zu entschuldigen, und als ich ihr in die Augen blickte, war es um mich geschehen.“ Er schüttelte den Kopf. „So etwas hatte ich noch nie erlebt, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich lud Constanza zum Kaffee ein, und so nahm das Schicksal seinen Lauf.“

Eleanors Gedanken schweiften ab zu einer schönen Illusion, von der auch sie schon lange träumte. Sie hatte sich noch nie auf den ersten Blick in einen Mann verliebt und bezweifelte, dass so etwas überhaupt möglich war. Musste man einen Menschen nicht erst näher kennen, bevor man sich in ihn verliebte? Dann dachte sie an Orlando de Luca, und ein prickelndes Gefühl breitete sich in ihr aus. Bei ihm verspürte sie eine seltsam starke Anziehungskraft, die sie nicht so recht zu deuten wusste. War das vielleicht die Liebe auf den ersten Blick, oder warum musste sie sonst ständig an ihn denken?

„Deine Mutter war so lustig und temperamentvoll und so warmherzig. Ich hatte unglaublich viel Spaß mit ihr, und wir waren vom ersten Tag an unzertrennlich. Schon bald wurde mir klar, dass ich mich von Mariella trennen musste, weil ich mich hoffnungslos in Constanza verliebt hatte. Ich sagte es meinen Eltern, aber die wollten davon nichts wissen. Sie machten mir Vorwürfe und gaben mir klar zu verstehen, dass sie meine englische Freundin niemals als Schwiegertochter akzeptieren würden. Also musste ich mich zwischen Constanza und meiner Familie entscheiden.“

„Und du hast dich für die Familie entschieden“, schloss Eleanor, die eine solche Entscheidung sogar verstehen konnte. Gab es denn Schlimmeres, als eine ganze Familie zu verlieren?

„Nein, im Gegenteil“, widersprach Bartolomeo jedoch zu ihrer Verwunderung. „Ich machte meinen Eltern klar, dass sie mich nicht zwingen konnten, Mariella zu heiraten. Und sagte, wenn ich wirklich zwischen meiner Familie und Constanza wählen müsse, dann würde ich mich für Constanza entscheiden. Aber dann kam alles ganz anders, denn deine Mutter hatte die Entscheidung schon für mich getroffen. Als ich sie im Hotel besuchen wollte, war sie bereits weg. Sie hatte mir einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem stand, dass sie mir niemals die Familie rauben wollte. Sie sei schon auf dem Weg zurück nach England und würde mich nie wiedersehen. Ich solle Mariella heiraten und glücklich mit ihr werden.“

Eleanor sah ihn betroffen an. „Aber wie konntest du so etwas tun? Ich meine, hast du nie versucht, Kontakt ihr aufzunehmen?“

„Natürlich habe ich das. Ich habe ihr unzählige Briefe geschrieben, aber alle kamen unbeantwortet zurück.“

„Und dann hast du einfach aufgegeben?“

„Weißt du, Eleanor, die Zeiten waren damals nicht so wie heute. Wir hatten nicht die Möglichkeit, einander schnell mal eine E-Mail oder SMS zu schicken. Außerdem war ich erst zweiundzwanzig und wusste selbst nicht so genau, was das Beste für mich war. Dennoch war ich zunächst fest entschlossen, Constanza zu mir zurückzuholen. Ich nahm das nächstbeste Flugzeug nach England, weil ich hoffte, sie würde ihre Meinung sicher ändern, wenn sie mich erst wiedersah. Als ich jedoch bei ihr zu Hause ankam, war sie bereits ausgezogen, und ihre neue Adresse wollten ihre Eltern mir nicht geben. Ich wusste nicht, wo sie wohnte, wo sie arbeitete, und Freunde von ihr oder weitere Verwandte kannte ich nicht. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich mit der Suche hätte beginnen sollen.“

Bartolomeo sah Eleanor traurig an. „Nach langem Überlegen kam ich schließlich zu dem Schluss, dass sie mich wirklich nicht mehr sehen wollte. Warum sonst hätte sie all ihre Spuren verwischt? Und heute weiß ich, dass es tatsächlich so gewesen ist. Constanza wollte damals einen klaren Schlussstrich ziehen, sonst hätte sie mir längst mitgeteilt, dass sie eine Tochter von mir hat.“

Bartolomeos Geschichte machte Eleanor sehr betroffen. Es war schwer, die Beweggründe ihrer Mutter zu verstehen, und dennoch musste sie deren Entscheidung von damals akzeptieren. „Sie hat mir nie von dir erzählt“, gestand sie traurig. „Dabei gab es oft Momente, die mich stutzig machten. Als ich mir zum Beispiel vor einigen Jahren ein Haus kaufte, sprach mich der Notar auf meinen Geburtsnamen Firth an. Mom meinte dazu nur, dass sie und Tim noch nicht verheiratet gewesen seien, als ich geboren wurde, und dass sie meinen Namen nach der Hochzeit auf Forrest geändert hätten.“

„Und ihr Mann hat all die Jahre dazu geschwiegen“, meinte Bartolomeo kopfschüttelnd. „War Constanza wenigstens glücklich mit ihm? War er gut zu ihr, gut zu euch beiden?“

Eleanor nickte, und ein Kloß formte sich in ihrer Kehle, wie immer, wenn sie an ihre Eltern dachte. „Sie war sehr glücklich. Meine Eltern haben sich sehr geliebt, und wir waren eine glückliche Familie.“

„Das freut mich“, erwiderte Bartolomeo erleichtert. „Ich bin froh zu wissen, dass es meiner Constanza all die Jahre gut gegangen ist und dass meine Tochter eine glückliche Kindheit hatte.“

„Ja, die hatte ich“, versicherte Eleanor. „Auch wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Tim nicht mein leiblicher Vater war, so weiß ich ganz genau, dass er mich geliebt hat. Er hat mir Gutenachtgeschichten vorgelesen, Schulaufgaben mit mir gemacht, geschimpft, wenn ich als Teenager zu spät nach Hause kam, und mit mir die Korken knallen lassen, als ich mein Staatsexamen bestanden hatte. Er war immer für mich da, genauso wie Mom.“

Eleanor traten Tränen in die Augen. Ja, Dad hätte bestimmt rechtzeitig erkannt, welch ein Schuft Jeremy war, und hätte sie vor all dem bewahrt, das er ihr angetan hatte. „Und wie ist es dir ergangen?“, wollte sie von Bartolomeo wissen. „Wurdest du mit Mariella glücklich?“

„Ich weiß nicht, ob man unsere Ehe glücklich nennen kann“, antwortete er ehrlich. „Sicher habe ich Mariella geliebt, aber niemals so wie deine Mutter. In meiner Ehe fehlte einfach diese Leidenschaft, dieses Feuer, das vom ersten Augenblick an zwischen Constanza und mir brannte. Ich habe immer versucht, ein guter Ehemann zu sein, habe hart gearbeitet, um für Mariella zu sorgen und das Familienunternehmen auszubauen. Aber offensichtlich habe ich es dabei übertrieben, denn Mariella fühlte sich ständig vernachlässigt. Irgendwann hat sie aufgehört, sich zu beschweren, und Trost in den Armen eines anderen Mannes gefunden.“

„Das tut mir leid.“

Bartolomeo trank seinen Kaffee aus. „Das braucht es nicht, Eleanor. Meine Arbeit hat mich immer ausgefüllt, und dann habe ich noch meine beiden Schwestern, die mir sehr nahestehen. Plus zwei reizende Nichten, die ich nur zu gern verwöhne“, fügte er lächelnd hinzu. „Und was ist mit dir? Bist du verheiratet, oder hast du einen Freund?“

Eleanor schüttelte den Kopf. „Weder noch.“

Bartolomeo sah sie verwundert an. „Wie kommt denn das? Wie kann ein so schönes Mädchen wie du ohne Partner sein?“

„Ich hatte bis vor Kurzem einen Freund“, gab Eleanor zu. „Aber das ist jetzt vorbei.“

„Warum? Was ist passiert?“

Sie zuckte die Schultern „Er war einfach nicht der Richtige.“

Eleanor wollte Bartolomeo nicht erzählen, wie nahe sie daran gewesen war, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. Wenn sie Penelope nicht begegnet wäre und durch sie die Wahrheit nicht erfahren hätte, dann … Sie verdrängte den Gedanken und versuchte sich wieder auf Bartolomeo zu konzentrieren.

„Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, dich an die Radiosendung Verlorene Liebe zu wenden?“, erkundigte sie sich, um das Thema zu wechseln.

„Weißt du, die meisten Menschen in meinem Alter blicken auf ihr Leben zurück und fragen sich, was sie hätten anders machen sollen. Und genau darüber habe ich in letzter Zeit auch viel nachgedacht. Ich wollte wissen, wo Constanza lebt und wie es ihr geht. Und ich hatte großes Glück, dass du an diesem Tag zufällig die richtige Sendung gehört hast.“

„Und dass ich zwei und zwei zusammenzählen konnte“, bestätigte Eleanor. „Mom hatte immer Tränen in den Augen, wenn sie euer Lieblingslied im Radio hörte, und auch das Datum passte genau. Vorher wusste ich nur, dass sie in jenem Frühling vor mehr als dreißig Jahren in Italien gewesen war, aber dass sie sich dort in einen Mann verliebte, hat sie mir nie erzählt.“

„Leider, denn so habe ich all die wertvollen Jahre mit dir versäumt“, meinte Bartolomeo bedauernd. „Wir können die Vergangenheit nicht nachholen, Eleanor, aber die Zukunft liegt in unseren Händen. Und ich wünsche mir sehr, dass du ein Teil meiner Zukunft wirst, ein Teil meiner Familie.“

Eleanors Herz begann höher zu schlagen, und ein sehnsuchtsvoller Schmerz erfasste sie. Meinte Bartolomeo es tatsächlich ernst? Konnte, durfte sie wirklich zu seiner Familie gehören?

Die Zeit mit Bartolomeo verging wie im Flug. Gegen Mittag lud er sie zu Panini, herzhaft belegten Sandwiches ein, die mit frischen Früchten und einem erlesenen Wein serviert wurden. Sie unterhielten sich dabei so angeregt, dass Eleanor völlig die Zeit vergaß, bis ihr Blick zufällig auf die Uhr an der Wand fiel.

„Ach, du meine Güte, es ist schon halb drei!“, rief sie erschrocken. „Hoffentlich habe ich dich nicht zu lange aufgehalten.“

Bartolomeo lächelte. „Keine Sorge, ich habe den heutigen Tag nur für dich reserviert.“

Eleanor war jedoch schon am Morgen aufgefallen, dass Bartolomeo sehr blass und müde aussah. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. „Ich meine, geht es dir gut?“

„Natürlich, ich werde nur allmählich alt“, wiegelte er ab und lächelte dabei etwas verunsichert. „Normalerweise halte ich jeden Tag ein Mittagsschläfchen, und das fehlt mir jetzt.“

Eleanor sah ihn prüfend an. So alt konnte Bartolomeo noch gar nicht sein, denn wenn er zweiundzwanzig gewesen war, als er Constanza kennengelernt hatte, dann musste er jetzt erst einundfünfzig sein.

„Ich würde dich gern für heute Abend zum Essen bei mir zu Hause einladen“, bot er unvermittelt an und zog ein Visitenkärtchen aus der Tasche. „Hier ist meine Adresse. Jeden Dienstagabend kommen meine Schwestern mit ihren Ehemännern zu Besuch. Sie würden sich sehr freuen, dich kennenzulernen.“

„Aber das ist doch euer Familientag“, wandte Eleanor ein. „Da möchte ich nicht stören.“

„Du störst überhaupt nicht, Eleanor, im Gegenteil. Du bist meine Tochter und gehörst somit zu unserer Familie.“ Er drückte ihre Hand. „Keine Angst, es ist nur ein ganz normales Abendessen, und meine Schwestern beißen nicht. Du würdest mir eine große Freude machen, wenn du kämest.“

Da lächelte Eleanor. „Also gut, ich nehme die Einladung an.“

Bartolomeo strahlte nun übers ganze Gesicht. „Dann sehen wir uns heute Abend gegen sieben, einverstanden?“

„Einverstanden.“

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Eleanor fuhr ins Stadtzentrum, um ein kleines Mitbringsel für Bartolomeos Familie zu kaufen. Nachdem sie eine Weile durch die Geschäfte geschlendert war, entschied sie sich für eine Auswahl feiner Pralinen und eine Flasche Rotwein und ging schließlich zum Hotel zurück. Zum Ausruhen blieb ihr nicht mehr viel Zeit, und kaum hatte sie geduscht und sich frisch angezogen, klingelte das Telefon.

„Dottoressa Forrest?“, meldete sich die Dame von der Rezeption. „Ich habe ein Gespräch für Sie.“

„Ja bitte?“ Eleanor fragte sich verwundert, wer das sein könnte. Tamsin hätte sie doch auf dem Handy angerufen …

„Hallo Eleanor?“

Sie erkannte die dunkle, aufregende Stimme sofort. „Orlando?“

„Ja, ich bin’s. Ich bin gerade auf dem Heimweg und stehe vor Ihrem Hotel. Hätten Sie Lust auf einen Drink an der Hotelbar?“

Sie warf einen Blick auf die Uhr. In zwanzig Minuten musste sie los. „Also, ich hätte nur fünfzehn Minuten Zeit, weil ich noch eine Verabredung habe. Wenn Ihnen das …“

„Das ist in Ordnung“, versicherte Orlando. „Was darf ich für Sie bestellen?“

Keinen Alkohol, dachte Eleanor, denn sie wollte auf keinen Fall einen schlechten Eindruck bei den Contis hinterlassen. „Nur Mineralwasser, bitte“, antwortete sie schnell. „Ich bin in zwei Minuten unten.“

Sie legte auf und warf noch rasch einen Blick in den Spiegel, bevor sie ihre Sachen nahm und nach unten ging. Orlando saß an einem der kleinen Tische in der Eingangshalle und stand höflich auf, als sie auf ihn zutrat.

„Schön, dass Sie gekommen sind“, begrüßte er sie lächelnd. „Ich habe Ihnen Mineralwasser mit Kohlensäure und einer Limonenscheibe bestellt, ist das in Ordnung?“

„Grazie.“ Eleanor konnte kaum den Blick von Orlando wenden. Er trug einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und weinroter Krawatte und sah einfach umwerfend darin aus.

„Prego.“ Sie setzten sich, und er füllte ihr Glas mit dem sprudelnden Getränk. „Ich habe heute Morgen in Mailand angerufen, um mich nach unserer Patientin aus dem Flugzeug zu erkundigen. Signora Russo geht es den Umständen entsprechend gut, und sie wird sich aller Voraussicht nach vollkommen von ihrem Herzinfarkt erholen.“

„Ach, das ist aber eine gute Nachricht!“, freute Eleanor sich. „Vielen Dank, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.“

Orlando trank einen Schluck aus seinem Glas, ebenfalls Mineralwasser, wie Eleanor feststellte. „Ich muss allerdings zugeben, dass das nicht der einzige Grund war, weshalb ich hier vorbeigefahren bin. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, am Donnerstag mit mir einen Ausflug nach Pompeji zu machen.“

„Nach Pompeji?“

Eleanor hätte am liebsten sofort Ja gesagt, da sie sich nichts Aufregenderes vorstellen konnte, als mit Orlando einen Tag in dieser berühmten Stadt zu verbringen. Andererseits war sie nicht nach Italien gekommen, um sich auf einen heißen Urlaubsflirt einzulassen, und genau das würde passieren, wenn sie sich nicht in Acht nahm.

„Also ich weiß nicht …“, antwortete sie deshalb zögernd. „Ich hatte eigentlich nicht vor, mich mit … Männern zu treffen …“

„Warum denn nicht? Sie sind nicht verheiratet, und ein Freund wartet auch nicht zu Hause auf Sie, stimmt’s?“

„Stimmt. Aber trotzdem …“

„Kein Aber, bella mia. Sie sind doch im Urlaub und sollten Ihre Zeit mit den schönen Dingen des Lebens genießen.“

Eleanor biss sich auf die Lippe. Sollte sie es ihm nun sagen oder nicht? „Also ich … Eigentlich ist es kein richtiger Urlaub, den ich hier mache.“

„Dann sind Sie dienstlich hier?“

Eleanor schüttelte den Kopf. „Auch nicht. Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit, über die ich im Moment nicht sprechen möchte. Ich muss zuerst … meine Gedanken ordnen.“

Orlando sah sie nachdenklich an. Schon von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, dass Eleanor ein Problem mit sich herumtrug, über das sie nicht sprechen wollte. „Das klingt mir ganz danach, als könnten Sie einen guten Freund gebrauchen. Ich meine, einen Menschen, der in der Lage ist, die Dinge sachlich zu beurteilen.“

Genauso ist es, dachte Eleanor bei sich. Ein guter Freund, dem sie sich anvertrauen könnte, würde ihr sehr guttun. Aber ob Orlando de Luca der Richtige dafür war?

„Als medico de famiglia – als Hausarzt – kann ich gut zuhören und schweigen wie ein Grab“, sagte er prompt und lächelte nun so charmant, dass Eleanor schwach wurde. „Kommen Sie mit mir nach Pompeji, Eleanor. Wir sehen uns die Ruinen an, und danach gehen wir gemütlich Eis essen, und Sie erzählen mir, was Sie auf dem Herzen haben, einverstanden?“

Wieder kämpfte Eleanor mit sich. Was sollte sie nur tun, wenn Orlando ihr ständig solch verlockende Angebote machte? Wenn es so weiterging, würde sie noch in seinen Armen landen, und dann würde es ihr unendlich schwerfallen, sich am Ende ihres Urlaubs von ihm zu trennen.

„Pompeji muss man einfach gesehen haben“, beschwor er sie. „Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.“

Eleanor seufzte auf. „Also gut, Sie haben gewonnen. Fahren wir nach Pompeji!“

Orlandos Augen strahlten. „Bene. Dann hole ich Sie übermorgen um halb elf ab. Haben Sie feste Schuhe in Ihrem Reisegepäck?“

„Natürlich.“

„Dann sollten Sie sie anziehen, sonst muss ich am Ende noch Ihre Blasen verarzten.“

Eleanor lachte, obwohl ihr allein bei dem Gedanken, sich von Orlando behandeln zu lassen, ganz heiß wurde. „Jawohl, Dr. de Luca, ich werde alles tun, was Sie mir vorschreiben“, erwiderte sie vergnügt. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. „Jetzt muss ich leider gehen, die fünfzehn Minuten sind vorbei.“

Wieder nahm Orlando ihre Hand und küsste sie so wie am Tag zuvor. Die zarte Berührung löste erneut ein derart erregendes Gefühl bei Eleanor aus, dass sie sich noch ganz andere Dinge mit Orlando vorstellte: Wie es wohl sein würde, seine Lippen auch auf ihrem Mund und ihrem ganzen Körper zu spüren …

„V…vielen Dank … für den Drink“, stammelte sie vor lauter Verwirrung und hoffte inbrünstig, dass Orlando ihr nicht anmerkte, woran sie eben gedacht hatte. „Jetzt muss ich aber wirklich gehen.“

Non importa, kein Problem. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Und wir sehen uns am Donnerstag.“

„Ja, bis Donnerstag!“, rief Eleanor ihm beim Hinausgehen zu.

4. KAPITEL

Der Abend mit Bartolomeos Familie war sehr viel entspannter verlaufen, als Eleanor es erwartet hatte. Sie war sehr nervös gewesen, weil sie befürchtet hatte, Bartolomeos Schwestern könnten sich ihr gegenüber reserviert oder gar misstrauisch verhalten. Schließlich war es schon sehr ungewöhnlich, dass plötzlich eine junge Frau aus England auftauchte, die behauptete, Bartolomeos Tochter zu sein.

Doch ihre Ängste hatten sich rasch in Luft aufgelöst, denn sowohl die beiden Schwestern als auch deren Ehemänner hatten sie sehr herzlich aufgenommen und ihr von Anfang an das Gefühl gegeben, zur Familie zu gehören. Sie hatten einen sehr lustigen Abend miteinander verbracht, und Eleanor war schließlich glücklich und zufrieden zum Hotel zurückgefahren. Am Mittwochvormittag hatte sie sich dann allein auf Erkundungstour durch die Stadt gemacht, war durch pittoreske Gassen geschlendert, hatte in Boutiquen gestöbert und den Nachmittag wieder mit Bartolomeo verbracht.

Und nun war Donnerstag, und Eleanor ganz aufgeregt, während sie sich für ihren Ausflug mit Orlando fertig machte. Als sie wenig später ins Foyer kam und ihn dort stehen sah, hatte sie sofort das Gefühl, als würde die Luft im Raum vibrieren. Wie kam es nur, dass allein sein Anblick genügte, um ihre Hormone verrücktspielen zu lassen?

Buon giorno, Eleanor“, begrüßte er sie höflich. „Sind Sie bereit?“

„Jawohl. Ich bin bestens ausgerüstet.“

„Na, dann kann es ja losgehen.“ Orlando grinste jungenhaft. „In diesem Urlaub, der eigentlich kein Urlaub ist, haben Sie heute also Urlaub, ja?“

Der verworrene Satz brachte Eleanor zum Lachen und machte ihr gleichzeitig bewusst, wie unnötig ihre ganze Aufregung war. Weshalb sollte sie eigentlich nicht einfach einen angenehmen Tag mit Orlando de Luca verbringen? Außerdem war er Arzt, und sie wollte ihn nach seiner Meinung in Bezug auf Bartolomeos auffallende Blässe und Müdigkeit befragen.

„So ist es!“, bestätigt sie fröhlich, und sie verließen zusammen das Hotel.

Orlando führte sie zu seinem Wagen, der direkt vor dem Eingang stand, und öffnete die Beifahrertür. Dabei fielen Eleanor die bewundernden Blicke einiger Passanten auf. Vermutlich wurde sie von den Frauen um ihre umwerfend gut aussehende männliche Begleitung beneidet und Orlando von den Männern um seinen tollen Sportwagen.

„Was ist?“, fragte Orlando sofort, nachdem sie eingestiegen und losgefahren waren.

„Oh, nichts Besonderes. Ich habe nur gerade festgestellt, dass Ihr Wagen allgemeine Aufmerksamkeit erregt.“

„Finden Sie? Aber solche Autos gibt es in Italien doch wie Sand am Meer.“

Eleanor lachte. „Tun Sie nicht so scheinheilig, Orlando. Sie wissen ganz genau, wie sehr die meisten Männer Sie um diesen Wagen beneiden. Weshalb fahren wir überhaupt mit dem Auto nach Pompeji? In meinem Reiseführer steht, dass es am praktischsten und schnellsten ist, den Zug zu nehmen.“

„Stimmt, aber ich möchte auf dem Rückweg die Küstenstraße entlangfahren, das ist eine sehr schöne, malerische Strecke. Sie sind zum ersten Mal in Neapel, nicht wahr?“

„Ich bin überhaupt zum ersten Mal in Italien.“

„Dann haben Sie eine gute Wahl getroffen. Rom und Venedig sind zwar sehr schön, aber um diese Jahreszeit hoffnungslos überlaufen. Neapel ist nicht so überfüllt und hat dennoch tolle Attraktionen zu bieten. Zum Beispiel den Vesuv, herrliche Buchten und die schönsten Kirchen Italiens. Oh, und die beste Eiscreme der Welt.“

„Aha“, meinte Eleanor amüsiert. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Ihre Heimatstadt über alles lieben?“

„Natürlich. Deshalb bin ich auch zurückgekommen. London hat mir zwar sehr gut gefallen, aber Neapel wird immer mein Zuhause bleiben.“

„Neapel …“, wiederholte Eleanor nachdenklich. „In gewisser Weise ist es auch mein Zuhause.“

Orlando zog erstaunt die Brauen hoch. „Inwiefern?“

„Das ist eine lange und komplizierte Geschichte.“

„Nur zu, ich habe Zeit.“

Eleanor war zunächst nicht sicher, ob sie sich Orlando anvertrauen sollte, doch dann fasste sie sich ein Herz und begann zu erzählen. „Also, es ist so: Meine Mutter machte vor vielen Jahren Urlaub in Neapel. Genau gesagt, ein knappes Jahr bevor ich geboren wurde. Sie verliebte sich in einen Neapolitaner, aber die Beziehung hielt nicht lange an, und die beiden trennten sich. Vor Kurzem hörte ich zufällig eine Sendung im Radio, in der Menschen sich meldeten, die auf der Suche nach einer verlorenen Liebe waren. Dabei stellte sich heraus, dass der Mann, in den meine Mutter sich damals verliebte, über diesen Sender Kontakt zu ihr suchte. Und nun … suche ich Kontakt zu ihm.“

„Soll das heißen, dass Sie glauben …?“

„Genau das heißt es“, bestätigte Eleanor. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Mann mein Vater ist.“

„Und Sie hatten davon keine Ahnung?“

„Nein. Ich habe es erst nach dem Tod meiner Mutter erfahren.“ Eleanor schüttelte den Kopf. „Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man erst mit dreißig Jahren erfährt, dass der Mann, den man sein Leben lang für seinen Vater hielt, gar nicht der leibliche Vater war? Ich konnte es anfangs kaum glauben.“

„Das muss ein Schock für Sie gewesen sein“, erwiderte Orlando mitfühlend. „Haben Sie Ihren Vater gestern zum ersten Mal gesehen?“

„Zum zweiten Mal. Gestern Abend habe ich seine Familie kennengelernt.“

„Das war bestimmt nicht leicht für Sie.“

„Im Gegenteil, es war überhaupt nicht schwer“, gestand Eleanor. „Bartolomeo hat zwei Schwestern, die sehr nett sind und mich sofort ganz herzlich in ihre Familie aufgenommen haben. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet, denn sie müssen sicherlich auch schockiert gewesen sein, als sie von meiner Existenz erfuhren.“

Orlando lächelte warm. „Darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen, Eleanor. Italienische Familien sind groß und haben ein ebenso großes Herz. Trotzdem finde ich es ausgesprochen mutig, dass Sie ganz allein nach Neapel gekommen sind, um sich dieser Situation zu stellen. Wie steht es mit Ihrer eigenen Familie? Was ist mit Ihrem Vater, ich meine, dem Mann Ihrer Mutter? Haben Sie auch Geschwister?“

„Geschwister habe ich keine, und Dad starb kurz nachdem ich mein Studium beendet hatte.“

„Das tut mir leid.“ Orlando musste an einer Ampel halten und sah Eleanor an. „Ist Bartolomeo demnach der einzige nahe Verwandte, den Sie noch haben?“

„Ja.“

„Und diese Freundin, von der Sie mir erzählt haben. Hätte die Sie nicht nach Neapel begleiten können?“

„Tamsin wäre schon gern mitgekommen, aber sie ist im siebten Monat schwanger, und ich wollte ihr eine solche Anstrengung nicht zumuten.“ Eleanor zögerte zuerst, dann fasste sie sich ein Herz und stellte ihm die Frage, die ihr die ganze Zeit schon auf dem Herzen brannte. „Hören Sie, Orlando, darf ich Sie etwas fragen? Etwas Fachliches, meine ich.“

„Natürlich. Worum geht es denn?“

„Um Bartolomeos Gesundheitszustand. Er meinte, er habe nun ein Alter erreicht, in dem man auf sein Leben zurückblickt und sich fragt, was man anders hätte machen sollen. Und dies sei auch der Grund, weshalb er versucht habe, meine Mutter zu finden. Er wollte wissen, was aus ihr geworden war und ob es ihr gut ging. Ich habe aber das Gefühl, dass noch viel mehr dahintersteckt. Bartolomeo ist erst Anfang fünfzig, aber er klagt ständig über Müdigkeit, ist ausgesprochen blass und gerät schon bei der geringsten Anstrengung außer Atem. Ich habe mir Gedanken gemacht und befürchte, dass die Ursache für seine Beschwerden entweder eine Herzerkrankung oder sogar … Leukämie sein könnte.“ Ohne eingehende Untersuchung konnte sie natürlich keine Diagnose stellen, doch Bartolomeos Symptome beunruhigten sie sehr. „Ich habe das Gefühl, er wollte Mom deshalb finden, um seinen Frieden mit ihr zu schließen, bevor er …“ Eleanor verstummte, denn sie schreckte davor zurück, den Gedanken zu Ende zu führen.

Orlando drückte ihre Hand, bevor er weiterfuhr. „Sie sollten nicht gleich an das Schlimmste denken, Eleanor. Es könnte sich auch um eine Viruserkrankung handeln oder um beginnendes Asthma, das in jedem Lebensalter auftreten kann. Am besten ist es, wenn Sie Bartolomeo bei Gelegenheit direkt darauf ansprechen. Und wenn Sie recherchieren möchten, steht Ihnen meine Bibliothek zur Verfügung. Die Literatur ist zwar meist auf Italienisch, aber ich könnte für Sie übersetzen.“

„Vielen Dank, das ist sehr großzügig von Ihnen.“ Eleanor war froh, dass sie eine dunkle Sonnenbrille trug, sodass Orlando die Tränen nicht sah, die in ihren Augen brannten.

„Gern geschehen. Und nun sollten wir nicht mehr an schlimme Dinge denken, sondern diesen wunderbaren Tag genießen.“ Orlando schaltete den CD-Player ein, und es erklang sanfte klassische Musik.

„Was ist das?“, fragte Eleanor, der das Stück sehr gut gefiel.

„Vivaldi.“

„Das ist wunderschön.“

Orlando lächelte. „Es stammt ja auch von einem Italiener.“

Da musste Eleanor lachen. „Ihr Italiener seid ganz schön von euch eingenommen, hab ich recht?“

Orlando stimmte in ihr Lachen ein. „Wir haben nur viel Lebensfreude und eine gesunde Portion Selbstbewusstsein, das ist alles. Welche Art von Musik mögen Sie denn gern?“

„Oh, das kommt ganz auf meine Stimmung an. Am liebsten höre ich Lieder, bei denen ich leicht mitsingen kann.“

„Also, wenn Sie lieber etwas anderes hören möchten, schalte ich gern das Radio ein.“

„Nein, nein, lassen Sie nur“, lehnte Eleanor hastig ab. Jeremy hatte sie immer aufgezogen, wenn sie zu einem Lied im Radio gesungen hatte, und so traute sie sich nicht, dies in Orlandos Gegenwart zu tun, zumal er ja trotz allem immer noch ein Fremder für sie war. Ob sich das bald ändern würde?

Sie sah ihn verstohlen von der Seite an. Er trug eine helle Sommerhose und ein weißes Polohemd, was seine sportliche Figur aufregend betonte. Eleanor fühlte sich so stark zu ihm hingezogen, dass sie am liebsten den Kopf an seine Schulter gelehnt und vor sich hin geträumt hätte. Rasch rückte sie ihren Sonnenhut zurecht, um den Impuls zu unterdrücken.

„Ich finde Ihren kurzen Haarschnitt schön“, sagte Orlando unvermittelt, und Eleanor wusste im ersten Moment nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Nach der Trennung von Jeremy hatte sie ihr langes Haar radikal schneiden lassen, was fast all ihre Freunde und Bekannte sehr bedauert hatten.

„Wirklich?“, fragte sie verunsichert.

„Klar. Der Schnitt steht Ihnen sehr gut und ist praktisch, wenn man mit dem Cabrio fährt.“ Er drückte auf einen Knopf, woraufhin sich das Verdeck öffnete. „Ich finde es herrlich, im offenem Wagen zu fahren, Sie nicht auch? Wir sind nicht mehr weit von Pompeji entfernt, Sie können also ruhig den Hut absetzen, denn einen Sonnenstich bekommen Sie in dieser kurzen Zeit bestimmt nicht.“

Prego – wie Sie wünschen.“ Sie folgte seiner Aufforderung, und beide lachten vergnügt.

Orlando hatte recht, es war wirklich herrlich, sich den warmen Wind um die Nase wehen zu lassen! Eleanor hätte noch ewig so weiterfahren können, doch zehn Minuten später hatten sie Pompeji erreicht. Auf dem Parkplatz ließ Orlando das Verdeck wieder herunter und nahm zwei Flaschen Mineralwasser aus dem Handschuhfach, von denen er Eleanor eine reichte.

„Oh, vielen Dank, ich habe gar nicht daran gedacht, etwas zum Trinken mitzunehmen.“

„Na, wenigstens haben Sie Hut und Sonnenbrille dabei. Viele Urlauber glauben, sie bräuchten keinen Sonnenschutz, und danach kommt das böse Erwachen.“

„Ich bin aber keine Urlauberin, schon vergessen?“, neckte Eleanor ihn, nachdem sie ausgestiegen waren. Sie gingen zur Kasse und stellten sich ans Ende der Warteschlange. „Und da Sie gefahren sind, kaufe ich jetzt die Eintrittskarten.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage. Erstens habe ich Sie zu diesem Ausflug eingeladen, und zweitens muss eine Dame bei mir niemals zahlen.“

„Ich bin aber Engländerin, und bei uns herrschen anderen Sitten“, beharrte Eleanor. „Deshalb bezahle ich, und damit basta.“

Da musste Orlando lachen. „Sie sind ganz schön stur, wissen Sie das? Wenn ich also das Vergnügen haben will, Ihnen das schöne alte Pompeji zu zeigen, muss ich mich fügen, stimmt’s?“ Er streckte die Hand aus. „Aber dafür kaufe ich uns nachher zwei gelati, abgemacht?“

„Abgemacht!“ Sie schlug fröhlich ein, zog dann aber rasch ihre Hand zurück, weil selbst diese harmlose Geste ein erregendes Prickeln bei ihr auslöste.

Nachdem sie die Kasse passiert hatten, schlenderten sie zusammen durch die eindrucksvollen Ruinen von Pompeji. Eleanor bewunderte die herrlichen Fresken und Mosaikböden, und Orlando erzählte ihr dabei Wissenswertes über die Geschichte der römischen Stadt.

„Pompeji ist schon fast dreitausend Jahre alt“, begann er mit seinen Ausführungen. „Sie wurde von Oskern, Samniten, Griechen, Etruskern und Römern bewohnt und geprägt. Bei einem gewaltigen Ausbruch des Vesuv wurde sie im Jahre 79 verschüttet, dabei nahezu perfekt unter dem Aschenregen konserviert und im Laufe der Zeit vergessen. Nach seiner Wiederentdeckung im achtzehnten Jahrhundert wurde Pompeji systematisch ausgegraben, und die wohl am besten erhaltene antike Stadtruine kam zum Vorschein. Sie wurde zu einem Meilenstein der Archäologie und zu einem Schlüssel der Erforschung der antiken Welt. Einzigartige Funde lieferten den Historikern Aufschlüsse über den Alltag im Römischen Reich, über Versorgungssysteme und kulturelle Bräuche.“

Eleanor blieb unvermittelt stehen. „Und was haben diese seltsamen Gebilde auf dem Boden zu bedeuten? Die sind mir schon öfter aufgefallen.“

„Das sind Gipsabdrücke. Die Asche des Vulkans begrub Menschen und Tiere unter sich. Deren Körper hinterließen ihre hohle Form in der Asche. Im neunzehnten Jahrhundert kam der Archäologe Guiseppe Fiorelli auf die Idee, Gips in diese Aushöhlungen zu gießen, um den Körpern wieder Gestalt zu geben.“

Eleanor verzog das Gesicht. „Wie makaber. Es handelte sich hier doch um Menschen, die den Tod fanden, und nicht um irgendwelche bedeutungslosen Gegenstände. Das Leid anderer Menschen sollte man nicht zur Schau stellen, auch wenn es schon Jahrtausende zurückliegt.“

Orlando sah sie nachdenklich an. „Sind Sie deshalb Ärztin geworden sind? Weil Sie das Leid der Menschen lindern möchten?“

Eleanor nickte. „Ja. Es macht mich glücklich, wenn ich helfen kann. Meine Eltern waren allerdings keine Ärzte. Dad war Geschichtslehrer, und Mom unterrichtete Musik.“

„Dann wäre Pompeji sicher interessant für Ihren Vater gewesen.“

„Ja, bestimmt. Er liebte es, historische Stätten zu erkunden.“

„Ihre Eltern standen Ihnen sehr nahe, nicht wahr?“

„Ja, sie fehlen mir sehr.“

Sie schlenderten einen Weile in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander her. Dann sah Eleanor ihn an und fragte: „Und was ist mit Ihrer Familie, Orlando? Haben Sie Ärzte in der Familie?“

„Nein. Meine Mutter ist Immobilienmaklerin.“

Eleanor wartete darauf, dass Orlando nun auch etwas über seinen Vater sagte, doch er äußerte sich dazu nicht. Daraus schloss sie, dass sie wohl einen wunden Punkt getroffen haben musste. Spontan nahm sie seine Hand und drückte sie sanft. „Mi dispiace, Orlando. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Es tut mir leid, wenn ich etwas gesagt habe, was schlechte Erinnerungen in Ihnen weckt.“

Non importa, kein Problem.“

Wie selbstverständlich verschränkte er seine Finger mit ihren, und sie setzten ihren Weg fort. Eleanor fühlte sich dabei so wohl wie schon lange nicht mehr. Hätte ihr vor einer Woche jemand gesagt, dass sie bald Hand in Hand mit einem umwerfend gut aussehenden Italiener durch Pompeji schlendern würde, hätte sie denjenigen für verrückt erklärt.

Je mehr Zeit sie mit Orlando verbrachte, desto besser gefiel er ihr. Er wusste unglaublich viel über Pompeji zu erzählen und wies sie immer wieder auf interessante Sehenswürdigkeiten hin, die sie allein gar nicht bemerkt hätte und von denen sie auch im Reiseführer nichts gelesen hatte. Was ihr jedoch auffiel, war die Tatsache, dass es auf den Straßen immer wieder seltsame Erhebungen gab, deren Sinn und Zweck sie sich nicht erklären konnte.

„Vorsicht“, warnte Orlando, als sie über eine stolperte, und hielt ihre Hand noch ein bisschen fester.

„Was haben diese Hügel zu bedeuten?“

„Da die Straßen damals sehr oft überflutet waren, ist man auf die Idee gekommen, diese kleinen Plattformen zu errichten, mit deren Hilfe man die Straße leichter überqueren konnte. Sehen Sie, da ist schon wieder eine.“

„Das ist ja interessant. Woher wissen Sie eigentlich so viel über Pompeji?“

„Ich habe eine Zeitlang hier gewohnt.“

„Tatsächlich? Was hatten Sie denn hier zu tun?“

„Ich wollte einige Artikel über Medizin im alten Pompeji schreiben, und dazu musste ich sehr viel recherchieren. Diese Stadt hat mich schon fasziniert, als ich ein kleiner Junge war und mit meiner Nanny hier gewesen bin.“

Mit seiner Nanny, wiederholte Eleanor in Gedanken und überlegte, ob Orlandos Verhältnis zu seiner Mutter womöglich nicht gut gewesen war. Sie wollte jedoch nicht neugierig wirken und fragte deshalb: „Wurden Ihre Artikel denn auch übers…“

Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn plötzlich ertönte ein kurzer Schrei, und sie entdeckten einen Mann, der wenige Meter vor Ihnen schwankend Halt an einer Mauer suchte.

„C’è un problema?“, fragte Orlando, der rasch auf ihn zugetreten war.

„Spreche … kein Italienisch“, antwortete der Mann mühsam atmend. „Bin … Amerikaner …“

„Kann ich Ihnen helfen?“, wechselte Orlando sofort ins Englische. „Geht es Ihnen nicht gut?“

„Mir ist … auf einmal so schwindlig geworden. Und … übel … und mir flimmert es vor den Augen.“

„Haben Sie Schmerzen?“, erkundigte Eleanor sich.

„Ja … mein Kopf …“

„Wir sind beide Ärzte und werden Ihnen helfen“, sagte Eleanor ruhig und fühlte seinen Puls. Er ging viel zu schnell, und der Mann schwitzte stark.

Orlando suchte Eleanors Blick. „Hitzschlag?“, flüsterte er ihr zu.

Eleanor nickte und nahm den Mann behutsam am Arm. „Wir bringen Sie jetzt aus der Sonne, damit Sie sich etwas abkühlen können.“ Sie führte ihn zu einer Bank im Schatten und half ihm, sich zu setzen.

„Sind Sie allein unterwegs oder mit einer Reisegruppe?“, fragte Orlando.

„Mit MedAm-Tours. Hab mich zu lange … an einem Bauwerk aufgehalten, und plötzlich waren … die anderen weg.“

„Du bleibst bei ihm, und ich gehe zum Eingang zurück und besorge einen Erste-Hilfe-Koffer, ja?“, schlug Orlando vor und gab Eleanor ein großes weißes Taschentuch und seine Wasserflasche. Dann wandte er sich wieder dem Mann zu. „Dr. Forrest ist Notärztin, bei ihr sind Sie gut aufgehoben. Machen Sie sich also keine Sorgen.“

„Wie heißen Sie?“, fragte Eleanor sanft, nachdem Orlando gegangen war.

„Jed Baynes.“ Jed stöhnte. „Mein Kopf tut verdammt weh, aber Sie müssen mir glauben, dass ich … nichts getrunken habe.“

Eleanor lächelte. „Das weiß ich, Jed. Sind Sie schon lange unterwegs?“

„Seit neun Uhr früh.“

Eleanor blickte auf die Uhr, es war halb drei. Wahrscheinlich war der Mann stundenlang in der prallen Sonne herumgelaufen, ohne Kopfbedeckung und ohne ausreichend zu trinken. Sie öffnete die Wasserflasche und reichte sie ihm. „Hier, trinken Sie langsam und in kleinen Schlucken.“ Dann öffnete sie die zweite Flasche, befeuchtete das Taschentuch und betupfte damit Jeds Stirn. „Sie haben sich vermutlich zu lange in der Sonne aufgehalten. Ich denke, dass Sie einen Hitzschlag bekommen haben, und das heißt, dass es das Beste wäre, wenn wir Sie in ein Krankenhaus bringen würden.“

„O nein, nicht ins Krankenhaus!“, rief Jed erschrocken. „Ich spreche doch kein Italienisch!“

„Das macht nichts, wir sind ja bei Ihnen“, beruhigte Eleanor ihn sofort und betupfte weiter seine Stirn. „Hier können wir nicht viel für Sie tun, und in der Klinik wird man Ihnen schnell helfen.“

Da kam Orlando mit dem Erste-Hilfe-Koffer zurück. „Es ist alles in Ordnung, Jed. Ihr Reiseleiter weiß Bescheid und wird in wenigen Minuten hier sein.“ Er nahm ein Fieberthermometer heraus und legte es Jed unter die Zunge. Nach einer Minute ertönte das Signal, und Orlando überprüfte die Temperatur. „Sie haben über vierzig Fieber. Das bedeutet, dass wir Sie ins Krankenhaus einweisen müssen.“

Jed stöhnte erneut. „Bitte nicht! Ich spreche kein Italienisch und will … Ihnen keine Umstände machen …“

Orlando zog sein Handy aus der Tasche, und zwei Minuten später war alles Notwendige geregelt. „Keine Angst. Dr. Forrest und ich werden Sie in die Klinik begleiten.“

„Aber ich möchte Ihnen doch … nicht die Flitterwochen verderben“, jammerte Jed.

Eleanor spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Sah man ihr so deutlich an, wie vernarrt sie in Orlando war?

„Wir sind nicht in den Flitterwochen“, antwortete er lächelnd. „Dr. Forrest und ich machen nur zusammen einen Ausflug.“

„Oh, dann … entschuldigen Sie bitte“, bat Jed nun sichtlich verlegen. „Ich dachte nur … so, wie Sie sich die ganze Zeit angesehen haben …“

Eleanor leuchtete ein, was Jed gedacht hatte – dass sie und Orlando ein Paar seien. Aber war das denn ein Wunder, wenn sie wie ein verliebter Teenager Händchen haltend mit ihm durch die Gegend lief?

„Der Krankenwagen wird gleich hier sein“, erklärte Orlando sachlich, ohne auf Jeds letzte Bemerkung einzugehen. „Dr. Forrest steigt mit Ihnen ein, und ich fahre mit dem Auto hinterher.“

„Sprechen Sie denn Italienisch?“, fragte Jed besorgt.

„Ein bisschen“, sagte sie wahrheitsgemäß und sah dann Orlando an. „Wäre es nicht besser, du würdest Jed begleiten?“

Unwillkürlich war ihr das Du herausgerutscht.

„Nein. Du kennst den Weg zur Klinik nicht und könntest dich leicht verfahren.“

Eleanor musste lachen. „Nun hören Sie sich das an, Jed. Typisch Italiener – er lässt niemanden an seinen Wagen!“

„Da täuschst du dich aber gewaltig“, widersprach Orlando prompt. „Wenn wir aus der Klinik kommen, darfst du zurückfahren.“

Eleanor bekam nun doch etwas kalte Füße, da der neapolitanische Straßenverkehr der reinste Horror für sie war. „Also, so habe ich das nun auch wieder nicht gemeint. Ich habe doch nur Spaß gemacht!“

„Das war kein Spaß, sondern eine klare Herausforderung, oder was meinen Sie, Jed?“, fragte Orlando in dem Versuch, den Mann etwas aufzumuntern.

Der lächelte jedoch nur schief, da ihm gar nicht gut war, und Eleanor ermutigte ihn, noch etwas Wasser zu trinken.

Gleich darauf erschien der Reiseleiter, und auch der Krankenwagen fuhr heran. Orlando erklärte Reiseleiter und Notarzt in kurzen Worten die Sachlage, dann wurde Jed in den Krankenwagen gebracht, und Eleanor stieg hinten zu ihm ein.

Als sie kurze Zeit später das Krankenhaus erreichten, war Orlando bereits da.

„Sehen Sie, er ist gefahren wie ein Wilder“, scherzte Eleanor, um ihm die Angst vor dem Klinikaufenthalt zu nehmen. „Und mir wollte er sein Auto nicht geben.“

Orlando schüttelte den Kopf. „Hören Sie nicht auf sie, Jed. Wie fühlen Sie sich?“

„Schrecklich.“

Orlando klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Keine Angst, man wird Ihnen gleich helfen.“ Er sprach ausführlich mit dem zuständigen Arzt, dann wandte er sich wieder an Jed, um sich von ihm zu verabschieden.

„Vielen Dank für alles … was Sie für mich getan haben, Dr. de Luca“, sagte dieser sichtlich gerührt. „Ich weiß nicht, wie ich mich je dafür revanchieren soll.“

„Behalten Sie mein Land und seine Leute in guter Erinnerung, dann haben Sie schon viel für uns getan“, antwortete Orlando lächelnd. Er nickte Jed noch einmal zu, bevor dieser in die Notaufnahme gebracht wurde.

„So, so, du bist also der Meinung, dass ich fahre wie ein Wilder, hm?“, meinte Orlando amüsiert, als er wenig später mit Eleanor auf dem Parkplatz stand. Er drückte ihr den Autoschlüssel in die Hand. „Dann zeig mir mal, ob du es besser kannst.“

Eleanor riss entsetzt die Augen auf. „Ich soll deinen Wagen fahren? Aber das geht doch nicht, ich bin nicht versichert.“

Autor

Nancy Robards Thompson
<p>Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
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