Romana Extra Band 136

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EIN SOMMERSCHLOSS FÜR ZWEI von ALICIA LEONARDI
Sie hat ein Château in der Bretagne geerbt! Summer schwankt zwischen Glück und Entsetzen. Denn sie muss sich das Erbe mit Elian Duval teilen, ihrer Jugendliebe. Elian ist noch immer ein Traummann – aber ist er auch noch immer ein gewissenloser Betrüger?

HAPPY END IM OUTBACK? von SORAYA LANE
Ihr neuer Job im australischen Outback ist für die junge Lehrerin Poppy eine riesige Herausforderung! Nicht etwa wegen ihrer lebhaften Klasse – sondern wegen Single-Dad Harrison Black. Distanziert, fast streng ist er, doch manchmal überrascht sie sein glutvoller Blick …

STÜRMISCHE BEGEGNUNG IM INSELPARADIES von ANNIE CLAYDON
Ein mächtiger Sturm tobt über den Malediven. Ärztin Mel, eigentlich im Urlaub, hilft, wo sie kann – gemeinsam mit dem erfahrenen Inselarzt Rafe Davenport. Wird aus ihrer stürmischen Begegnung im Inselparadies mehr, als Mel sich jemals erträumt hat?


  • Erscheinungstag 01.08.2023
  • Bandnummer 136
  • ISBN / Artikelnummer 0801230136
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Alicia Leonardi, Soraya Lane, Annie Claydon

ROMANA EXTRA BAND 136

1. KAPITEL

Es gab Tage, da bräuchte man mindestens drei Hände. Besser noch vier. So ein Tag war heute. Summer Morell ging mit schnellen Schritten die Straße entlang, die von ihrem winzigen Londoner Apartment zur U-Bahn führte, und kämpfte sich dabei durch heftigen Regen und Windböen. Sie zog einen knallroten Koffer hinter sich her, in der anderen Hand hielt sie einen hellgrau karierten Schirm, eines dieser Modelle, die nicht gerade sturmfest waren und deshalb schon beim leichtesten Windstoß umklappten.

Nur mit einer Hand ließ sich so ein Schirm allerdings schlecht reparieren. Daher musste sie, wenn sie nicht pitschnass werden wollte, alle paar Schritte stehen bleiben und ihren Koffer loslassen, um den Schirm wieder in die richtige Position zu biegen. Keine Frage, das nervte, doch Summer hatte keine Lust, sich davon die Laune verderben zu lassen. Endlich Urlaub, dachte sie. Und den habe ich mir auch redlich verdient!

So sehr sie ihren Job als Streetworkerin auch liebte – in den letzten Wochen hatte sie kaum einen freien Tag gehabt und war abends nur noch wie ein nasser Sandsack ins Bett gefallen. In dem Viertel, das sie betreute, war die Zahl der Straßenkinder rasant gestiegen. Es war bedrückend, wie viele junge Menschen nicht mehr nach Hause zurückwollten. Sie brauchten dringend Zuwendung und Geborgenheit. Wie immer hatte Summer sich unermüdlich um sie gekümmert, doch irgendwann war auch ihr Akku einmal leer. Und nun lagen ganze vier Augustwochen vor ihr, in denen sie sich erholen und neue Kraft tanken konnte.

In gut zwei Stunden würde sie in Southampton sein! July, ihre engste Freundin, hatte sie für einige Tage zu sich eingeladen, in das malerische Häuschen, das früher ihrem Großvater gehört hatte. Es hatte einen riesigen, wild blühenden Garten mit einem kleinen Teich. Von dort war es nicht mehr weit zu dem berühmten Hafen, von dem aus einst die legendäre Titanic ihre unglückselige Reise angetreten hatte.

Summer liebte die Atmosphäre, die in Southampton herrschte. Dort roch es immer nach Meer und nach der großen weiten Welt. Ein herrliches Fleckchen Erde! Es war ein echter Glücksfall, dass July in der Gegend lebte und sie bei ihr unterkommen konnte, denn große Urlaubsreisen konnte Summer sich einfach nicht leisten – ihr Gehalt war alles andere als üppig.

Als sie auf der Rolltreppe der U-Bahn-Station angekommen war, klappte sie den Regenschirm zusammen und atmete tief durch. Sie glaubte, schon jetzt das Meer riechen zu können, was natürlich Einbildung war, denn tatsächlich war die Luft, wie sie im nächsten Moment feststellen musste, ziemlich abgestanden. Noch dazu hatte sich der hochgewachsene Typ im Anzug, der vor ihr stand, mit billigem Rasierwasser regelrecht übergossen. Summer rümpfte die Nase, es roch fürchterlich. Die U-Bahn fuhr gerade ein, als sie auf dem Bahnsteig angekommen war. Summer gratulierte sich innerlich zu ihrem guten Timing. Die Türen öffneten sich, doch die Waggons spuckten kaum Menschen aus. Sie quetschte sich mit ihrem Koffer in das dichte Gedränge des Abteils. Obwohl es ihr ganz und gar nicht gefiel, sich kaum rühren zu können, trübte das nicht ihre Stimmung. Sie ignorierte es, dass sie von hinten feucht angeatmet wurde und Heavy Metal aus irgendeinem Kopfhörer dröhnte. Es war ihr schon immer leichtgefallen, Störfaktoren auszublenden. Wozu sollte sie sich aufregen? Schließlich lebte man nur einmal, und da war es klüger, sich nicht allzu viel zu ärgern.

Fünfundzwanzig Minuten später stieg sie aus. Im Bahnhof Waterloo rannten die Leute kreuz und quer. So ziemlich jeder schien in Eile zu sein, nur Summer nicht. Sie hatte bis zur Abfahrt ihres Zuges noch ein bisschen Zeit. Kaffeegeruch stieg ihr in die Nase. Herrlich! Ob sie sich einen Becher gönnen sollte? Und dazu vielleicht einen Blaubeer-Muffin? Sie waren paarweise hinter der Thekenscheibe aufgereiht und sahen unglaublich köstlich aus. Summer hatte, reisefiebrig, wie sie war, frühmorgens keinen Bissen hinunterbekommen und bemerkte jetzt, dass ihr Magen knurrte.

Doch gerade, als sie beschlossen hatte, sich in die Kundenschlange einzureihen, fiel ihr Blick auf den Zeitungskiosk nebenan. Erschrocken hielt sie in der Bewegung inne und starrte auf die Schlagzeile, die ihr regelrecht entgegensprang: Tiefe Trauer um Hotel-Gigantin Christelle Duval. Summer schluckte schwer. Je länger sie auf die riesigen Lettern blickte, desto mehr hatte sie das Gefühl, sie würden verschwimmen. Kein Wunder, ihre Augen waren tatsächlich feucht geworden – Tränen, die sie mühevoll zu unterdrücken versuchte.

Christelle Duval! Tot! Sie wollte nicht glauben, was sie da las. Das musste ein Irrtum sein!

Doch es gab keinen Zweifel. Das große Foto unter der Schlagzeile zeigte einen Sarg aus Eichenholz, auf dem ein opulenter Kranz mit schneeweißen Lilien und lilafarbenen Schleifen lag. Daneben stand, mit dunkler Sonnenbrille und herabhängenden Schultern, Christelles einziger Sohn: Elian.

Summer schnappte nach Luft. Mit einem Schlag wurde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Es war unmöglich, sich gegen die vielen Erinnerungen zu wehren, die plötzlich durch ihren Kopf jagten. Sie hatte in ihren späten Jugendjahren, in denen sie in Paris lebte, eine sehr belastende Zeit durchgemacht. Ihre inzwischen verstorbene Mutter war damals an einer schweren Depression erkrankt und weder fähig gewesen, den Alltag zu bewältigen, noch für ihre Tochter da zu sein. An Summer war so viel Arbeit hängen geblieben, dass sie sich davon schon bald überfordert gefühlt hatte. Doch dann war Elian aufgetaucht. Und ihre düstere Welt war wieder strahlend hell geworden. Auch Christelle hatte sich rührend um sie gekümmert. Sie hatte alles getan, damit es ihr gut ging.

Immer noch um Fassung ringend, stand Summer regungslos da, während um sie herum hektisches Bahnhofstreiben herrschte. Die Leute hetzten und rannten, während sie sich kaum in der Lage fühlte, auch nur einen Schritt zu gehen. Doch die Zeiger der Uhr schritten unaufhaltsam voran, so langsam drängte die Zeit. Die Lautsprecherdurchsage kündigte bereits die Einfahrt ihres Zuges an. Summer warf einen letzten Blick zu den Blaubeer-Muffins – die Lust darauf war ihr nun doch vergangen –, dann zwang sie sich zur Eile.

Das Gedränge auf dem Bahnsteig war groß. Als würde halb London nach Southampton aufbrechen. Zusammen mit den anderen Fahrgästen schob sie sich in den Zug. Sie hatte einen Fensterplatz in einem Abteil reserviert. Dort saßen bereits mehrere junge Männer und debattierten laut über Fußball. Summer begrüßte die Anwesenden kurz, verstaute den Koffer in der Gepäckablage und ließ sich auf ihren Sitz fallen. Dann richtete sie ihren Blick durch das Fenster nach draußen. Sie fühlte sich immer noch wie benommen.

Als der Zug wenige Minuten später aus dem Bahnhof fuhr, rannen Regentropfen die Scheibe hinunter. Die Landschaft zog an Summer vorbei, doch sie nahm die Bäume, Wiesen und Häuser kaum wahr, denn vor ihrem inneren Auge tauchte immer wieder Elian auf. Egal, wie sehr sie sich dagegen wehrte. Denn eigentlich hatte sie mit sich selbst verabredet, ihn aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Mit seinem ungewöhnlich attraktiven Aussehen hatte er sie damals sofort in den Bann gezogen. Und dann ihr Herz mit seiner charmanten und liebevollen Art im Sturm erobert. Sie waren schnell ein unzertrennliches Paar geworden, und es hatte nicht lange gedauert, da hatte sie sogar ein eigenes Zimmer in dem luxuriösen Loft bezogen, das er mit seiner Mutter bewohnte, in einem der nobelsten Viertel von Paris. Christelle hatte ihr von Anfang an das Gefühl gegeben, zur Familie zu gehören. Drei Jahre lang war sie wie eine Ersatzmutter für Summer gewesen.

Sie seufzte innerlich. Diese Jahre waren für sie die bisher glücklichsten und unbeschwertesten überhaupt gewesen. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie mit Elian zusammengeblieben wäre. Aber es war nun mal anders gekommen.

Die Männer im Abteil prosteten sich mit Bierdosen zu, und einer bot auch Summer eine an, doch sie lehnte mit einem kurzen Lächeln ab. Nie käme ihr in den Sinn, um diese Uhrzeit Alkohol zu trinken, auch sonst behielt sie lieber einen klaren Kopf. Wobei sie sich eingestehen musste, dass sie sich momentan wie berauscht fühlte von den Erinnerungen an Elian, an sein Lachen, seine Berührungen – und an seine Küsse. Du musst aufhören, daran zu denken!

Um sich abzulenken, holte sie das Smartphone aus ihrer Handtasche, stöpselte die Kopfhörer ein und suchte nach argentinischer Tangomusik, die sie seit ihrer frühesten Kindheit liebte – ihre Mutter hatte sie immer gehört. Tatsächlich trugen die vertrauten Klänge sie davon, weit weg von dem Mann, den sie einst so sehr geliebt hatte.

2. KAPITEL

Mit fast zwanzig Minuten Verspätung kam der Zug schließlich in Southampton an. Kaum war Summer ausgestiegen, stürzte July ihr schon mit ausgebreiteten Armen entgegen. Sie trug wie üblich ein weißes Kleid. Es war besonders schick, sie sah darin fast aus wie eine Braut. Vor einiger Zeit hatte July beschlossen, nur noch weiße Kleider zu tragen, was eine der vielen Eigenheiten war, die Summer so sehr an ihrer Freundin mochte.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, entschuldigte sich Summer und schlang ihre Arme freudig um July.

„Das ist doch nicht deine Schuld“, stellte July fest und erwiderte die Umarmung ebenso herzlich.

„Trotzdem, ich mag es nicht, wenn andere auf mich warten müssen.“

„Mach dir da keinen Kopf, ich habe mir die Zeit gut vertrieben“, entgegnete ihre Freundin mit einem vielsagenden Lächeln.

„Und das bedeutet?“, hakte Summer neugierig nach.

July kramte einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Handtasche. „Na ja, ich stand auf dem Bahnsteig herum und kam ganz zufällig mit einem sehr attraktiven Mann ins Gespräch, der auf seine Mutter wartete, die ebenfalls mit dem Zug aus London angereist ist.“ Sie wedelte mit dem Zettel in der Luft herum. „Und hier ist seine Nummer.“

„Schon wieder einen neuen Kerl an der Angel? Dich kann man ja keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Summer lachte und hakte sich bei ihrer Freundin unter, während sie Richtung Ausgang schlenderten. Auch das war typisch July: Sie verliebte sich ständig. Und gab außerdem nie auf, einen passenden Mann für Summer finden zu wollen. Wenig überraschend also, dass sie das Gespräch schon im nächsten Satz darauf lenkte.

„Wird höchste Zeit, dass wir endlich einen gut aussehenden Typen für dich finden, der außerdem ein paar Millionen auf dem Konto hat.“

Summer verdrehte die Augen. „Wie oft soll ich es dir eigentlich noch sagen – ich habe keine Zeit für eine Beziehung. Außerdem ist mir überhaupt nicht wichtig, dass der Mann im Geld schwimmt.“

„Schaden kann es aber auch nicht“, antwortete July augenzwinkernd. „Ich darf dich doch sicher daran erinnern, dass du mit Elian Duval drei Jahre lang zusammen warst, und wie wir wissen, ist der alles andere als bettelarm.“

Verflixt! Wieso musste July ausgerechnet Elian erwähnen? Summers Stimmung fiel schlagartig zurück in den Keller. Das blieb ihrer Freundin natürlich keine Sekunde lang verborgen.

„Was ist denn, habe ich etwas Falsches gesagt?“, bohrte sie nach.

Summer blieb stehen und starrte zuerst auf den Boden, dann in Julys Gesicht. „Weißt du es denn noch nicht?“

„Äh, was?“ July sah sie verständnislos an.

Summer machte eine kurze Pause. Dann sagte sie: „Christelle ist tot.“

„Christelle ist tot?“, wiederholte July ungläubig.

„Ich habe es auch erst heute erfahren, über eine Schlagzeile am Zeitungskiosk.“

July streichelte mitfühlend über Summers Arm. „Das muss ein Schock für dich gewesen sein.“

„Ehrlich gesagt kann ich es immer noch nicht so richtig glauben.“

„Ich weiß, wie viel Christelle dir bedeutet hat.“

Summer nickte. „Ich werde nie vergessen, was sie für mich getan hat.“

Eine Weile standen die Freundinnen nebeneinander auf dem Bahnhofsvorplatz und schwiegen.

Schließlich räusperte sich July. „Wirst du dich bei Elian melden?“

Summer löste sich ruckartig von ihr und trat einen Schritt zur Seite. „Wieso sollte ich das tun?“, schoss es aus ihr heraus. Und zwar derart ungestüm, dass sie selbst davon überrascht war. Warum bist du nur so aufgebracht? Sie erschrak, dass eine einfache Frage sie dermaßen in Aufruhr bringen konnte.

July sah sie stirnrunzelnd an. „Ich wollte dich nicht verärgern.“

„Ich bin nicht verärgert“, log Summer.

„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte July in einem leicht ironischen Tonfall.

„Können wir bitte das Thema wechseln?“ Summer hoffte inständig, dass July sich darauf einließ. Doch im Grunde war das eine vergebliche Hoffnung. Ihre Freundin gehörte zu den Menschen, die nicht lockerließen. Und tatsächlich, sie blieb beharrlich.

„Elian hat seine Mutter verloren. Ich dachte, dass du ihm vielleicht dein Beileid aussprechen willst.“

„Du weißt, dass ich keinen Kontakt zu Elian haben möchte“, hielt Summer ihr trotzig entgegen.

„Das weiß ich“, gab July in beschwichtigendem Tonfall zurück. „Aber das ist eine besondere Situation.“

Summer sah zum Himmel, wo sich die dunklen Wolken bereits aufgelöst hatten, und versuchte es erneut mit einer Ablenkung. „Zum Glück regnet es nicht mehr. Wie ist denn die Wettervorhersage für die nächsten Tage?“

„Summer Morell“, sagte July mit gespielt mahnender Stimme.

„July, bitte, ich habe keine Lust, über Elian zu sprechen. Ist das denn so schwer zu …“ Sie brach mitten im Satz ab, da sie hörte, dass ihr Smartphone klingelte. Schnell fischte sie es aus ihrer Handtasche und blickte auf das Display. „Unbekannte Nummer“, murmelte sie, bevor sie den Anruf entgegennahm.

„Raphaël Moreau“, stellte sich der Mann am anderen Ende der Leitung vor. „Ich bin Notar und verwalte das Testament von Christelle Duval.“

Hatte sie richtig gehört? Summer hätte mit allem gerechnet, aber bestimmt nicht damit. Sie suchte fieberhaft nach einer angemessenen Antwort, doch bevor sie etwas erwidern konnte, setzte der Mann seine Ausführungen fort. Er sprach Englisch mit einem deutlich hörbaren französischen Akzent.

„Madame Duval hat Sie in ihrem Nachlass bedacht. Daher möchte ich Sie bitten, am Mittwoch zur Testamentseröffnung nach Paris zu kommen. Die Kanzlei wird für Ihre Reisekosten aufkommen, für eine Übernachtungsmöglichkeit ist gesorgt.“

„Und Sie sind sich sicher, dass kein Irrtum vorliegt?“ Summer ärgerte sich über ihre Unbeholfenheit, aber sie konnte nicht verbergen, wie überrascht sie war.

Der Notar gab sich unbeeindruckt. Wahrscheinlich war er an solche Reaktionen schon gewöhnt. „Alle weiteren Informationen lasse ich Ihnen per E-Mail zukommen“, sagte er nüchtern. „Können Sie mir die Adresse bitte durchgeben?“

„Die Adresse?“ Ihr fiel es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Ihre E-Mail-Adresse.“

„Ach so, ja … natürlich“, erwiderte sie.

Kaum hatte sie ihren Kontakt durchgegeben, verabschiedete sich der Notar förmlich und wünschte ihr eine gute Anreise.

„Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet“, meinte July, nachdem sie aufgelegt hatte.

„Du glaubst nicht, wer mich gerade angerufen hat.“

Julys Augen funkelten neugierig. „George Clooney?“

„Fast.“

„Mach’s nicht so spannend“, platzte es ungeduldig aus ihrer Freundin heraus.

Summer fühlte sich wie benebelt. „Christelle hat …“, setzte sie an, ohne den Satz zu vollenden.

„Christelle?“

„Christelle hat …“, begann sie erneut.

„Was ist passiert?“, drängte July weiter.

„Ein Notar aus Paris hat …“ Wieder brach sie mitten im Satz ab.

July legte aufmunternd den Arm um sie. „Nun sag schon.“

Summer schluckte schwer. „Ich glaube … ich habe geerbt.“ Noch während sie sprach, kam ihr alles so unwirklich vor.

Auch July schien platt. „Wow“, meinte sie leise.

„Ja …“

Eine Weile standen sie schweigend da.

„Wie viel, also, ich meine, bist du jetzt reich?“, erkundigte sich July dann.

Summer zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Freust du dich denn nicht?“

Sie streckte ihren Arm aus. „Kneif mich bitte mal. Vielleicht träume ich das alles ja nur.“

July lachte und hüpfte wie ein kleines Kind herum. „Summer hat geerbt!“, jubelte sie.

Es lag ihr fern, in den Jubel einzustimmen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, was Christelle verfügt hatte. Zudem war ihr unangenehm, dass einige Leute sich wegen Julys Ausbruch bereits nach ihnen umdrehten.

„Was auch immer das bedeutet“, sagte sie deshalb trocken.

Doch July war nicht aus ihrer Begeisterung zu reißen. „Erbe ist Erbe“, erklärte sie und fragte nach einer kurzen Pause: „Wann weißt du mehr?“

„Am Mittwoch muss ich in Paris sein, dort wird das Testament verlesen.“

„In drei Tagen“, rechnete Juli schnell.

„In drei Tagen“, wiederholte Summer langsam.

Ein heißer Schauer erfasste sie, als ihr klar wurde, was das hieß: Sie würde Elian begegnen. Es stand außer Frage, dass er auch vor Ort sein würde. Schließlich war er Christelles Sohn und damit wahrscheinlich der Haupterbe. Die Vorstellung, ihn wiederzusehen, erschreckte Summer. So sehr, dass sie unvermittelt überlegte, ob es nicht besser wäre, ihr Kommen abzusagen und nicht nach Paris zu fliegen.

„Vielleicht ist das sowieso eine blöde Idee“, wandte sie zaghaft ein.

July runzelte die Stirn. „Was willst du damit sagen?“

„Ich finde es seltsam, dass …“

„Sag bloß nicht, dass du das Erbe ausschlagen willst?“

„Nein, ich …“, setzte Summer an und sah sich verstohlen um. Wollte sie das wirklich auf dem Bahnhofsvorplatz besprechen? Ihr Gefühlschaos vor aller Welt ausbreiten? Hier liefen eindeutig zu viele Menschen vorbei, die den einen oder anderen Satz aufschnappen konnten – und wahrscheinlich ohnehin längst schon aufgeschnappt hatten. Außerdem stellte sie fest, dass ihr Hals völlig trocken war – sie hatte Durst.

Einfühlsam, wie Julie war, erfasste sie die Situation sofort. „Weißt du was, lass uns erst mal zu mir gehen. Dort wartet selbst gemachte Holunderlimonade auf dich, nach dem Geheimrezept meiner Großmutter. Und dann reden wir in Ruhe.“

Summer atmete dankbar auf. „Ja, das ist eine gute Idee.“

Es war kurz vor Mitternacht. Summer und July hatten sich bereits seit Stunden festgequatscht, doch wie immer fanden sie kein Ende. Französische Chansons schallten durch das Wohnzimmer, das vollgestellt war mit Möbeln, die alle nicht richtig zueinander passten. Auch das war typisch July, sie stöberte gern auf Flohmärkten und kaufte einfach, was ihr gefiel, ohne lange zu überlegen, ob sich das mit der vorhandenen Einrichtung vertrug.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich das durchstehen soll“, sagte Summer bereits zum wiederholten Mal. Sie lag ausgestreckt auf einer knallgrünen Chaiselongue und starrte an die Decke, an der ein kleiner Kronleuchter hing, dann blickte sie wieder zu July, die an ihrem Rotwein nippte und sie nachdenklich ansah.

„Du machst dir einfach zu viele Gedanken“, meinte sie schließlich.

„Ich habe mir geschworen, diesem Mistkerl nicht mehr zu begegnen.“

„Vielleicht ist er ja kein Mistkerl mehr.“

„Kann sein“, räumte Summer nach einer kurzen Pause widerwillig ein.

„Ihr wart damals noch jung.“

„Das entschuldigt nichts. Du weißt doch, was damals passiert ist. Seine Modelkarriere war ihm wichtiger als ich. Er war regelrecht besessen davon, von allen großen Designern engagiert zu werden. Dabei hatten wir einander geschworen, zusammen alt zu werden.“

„Klar, das war mies von ihm.“

„Ich habe damals gedacht, ich kann nicht mehr aufhören zu weinen.“

„Ja, ich weiß, es war hart für dich.“

Summer sah July dankbar an. „Und du warst meine beste Trösterin.“

July streckte eine Hand aus und streichelte ihr über den Kopf. „Ihr habt euch zehn Jahre nicht gesehen. Und in zehn Jahren kann viel passieren“, sagte sie.

„Hm.“ Summer grübelte vor sich hin. Auch wenn sie es nicht gern zugab, sie war verwirrt. Ob sie ihrer Freundin anvertrauen sollte, dass sie tief in ihrem Inneren Angst hatte, was die Begegnung mit Elian in ihr auslösen würde? Was, wenn sie erneut Gefühle für ihn entwickelte? Es hatte schon damals nicht viel gebraucht, und sie war ihm verfallen. Natürlich, ihre Trennung war unschön gewesen und hatte tiefe Spuren hinterlassen. Was aber, wenn er sie wieder mit diesem ganz bestimmten Blick ansehen würde, der ihr jedes Mal heiße Schauer durch den Körper gejagt hatte? Was, wenn das nicht zu bändigende Verlangen nach ihm sie wieder erfassen würde? Es war schwer, im Grunde unmöglich, in seiner Gegenwart nicht die Beherrschung über ihre Gefühle zu verlieren.

Schluss jetzt. Summer wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie gähnte und kämpfte damit, die Augen offen zu halten.

„So langsam sollten wir ins Bett gehen“, schlug sie vor und gähnte erneut.

July schmunzelte. „Aber nur, wenn du mir versprichst, und zwar hoch und heilig, dass du nach Paris fahren wirst.“

Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Ja, das habe ich dir doch schon gesagt, natürlich fahre ich zur Testamentseröffnung.“

Tatsächlich hatte sie sich dafür entschieden, egal, wie viel Kopfzerbrechen ihr die Begegnung mit Elian bereitete. Es war schließlich Christelles letzter Wille.

„Wieso fällt es mir nur so schwer, das zu glauben?“, neckte July sie.

„Versprochen.“

„Wehe, du machst einen Rückzieher.“

„Was dann?“, fragte Summer lachend, während sie sich in alle Richtungen räkelte.

Statt zu antworten, warf July ihr unvermittelt eines der zahlreichen Kissen ins Gesicht, die auf so ziemlich jeder Sitzgelegenheit lagen.

„Hey“, beschwerte sich Summer gespielt empört und schleuderte das Kissen in Windeseile zurück – der Auftakt für die bestimmt schon zweihundertste Kissenschlacht mit July. Die damit endete, dass die beiden Freundinnen völlig außer Atem am Boden lagen und ausgelassen lachten. So lange, bis sie Bauchweh davon hatten.

3. KAPITEL

Bereits im Anflug auf Paris hatte Summer wieder das freudige Kribbeln gespürt, wie damals, als sie, kaum sechzehn Jahre alt, zum ersten Mal in dieser riesigen, weltberühmten Stadt angekommen war. Paris war einmalig! So schön! So prachtvoll! So romantisch! Kein anderer Ort der Welt brachte sie so ins Schwärmen. Und auch wenn der Flughafen Charles-de-Gaulle nicht viel anders war als alle anderen Flughäfen, die sie kannte, so redete Summer sich trotzdem ein, dass er einen ganz besonderen Charme besaß.

Nun war sie also wieder hier. Endlich! Sie genoss es, zu all den Passagieren zu gehören, die in Paris angekommen waren. Das Gedränge um sie herum störte sie kein bisschen. Gut gelaunt schob sie ihren Koffer Richtung Ausgang, begleitet von dem Geräusch rollender Koffer, von klappernden und schlurfenden Schritten und lautem Geplauder und Gelächter.

Am Ausgang trat sie ins grelle Licht der Augustsonne hinaus. Reflexartig hob sie die Hand und schirmte die Augen ab, um besser sehen zu können. Sie hielt Ausschau nach dem Chauffeur, der sie abholen sollte, wie ihr das Notariat mitgeteilt hatte. Einen Anhaltspunkt, um ihn zu erkennen, hatte sie nicht. Vermutlich hielt er ein Schild hoch, beschriftet mit ihrem Namen. So wie sie es aus amerikanischen Serien kannte. In der Regel wurden besonders reiche und einflussreiche Menschen so abgeholt. Ob sie wohl bald dazugehören würde?

Was träumst du dir denn da zusammen? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Nur weil sie von einem Chauffeur empfangen wurde, bedeutete das noch lange nicht, dass sie ein VIP war. Krieg bloß keine Höhenflüge. Ihr war es immer wichtig gewesen, bodenständig zu bleiben. Natürlich, damals, als sie mit Elian zusammen war, hatten sie öfter die Fahrdienste eines Chauffeurs beansprucht, aber ihr war immer bewusst gewesen, dass sie im Grunde nicht dazugehörte, es war Elians Welt.

Summer erschrak, als jemand sie von hinten ansprach.

„Madame Morell?“

Sie drehte sich um und sah in das Gesicht eines älteren Mannes mit angegrauten Locken, der ihr sofort sympathisch war. Mit der dunkelblauen Kopfbedeckung und der Uniform, die er trug, erinnerte er sie an den Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs.

Kaum hatte sie seine Frage mit einem Nicken beantwortet, nahm er ihr auch schon den Koffer aus der Hand. „Ich heiße Jean und bin Ihr Fahrer. Folgen Sie mir bitte, es sind nur wenige Schritte“, erklärte der Chauffeur lächelnd. Dann fügte er hinzu: „Herzlich willkommen in Paris.“

Während sie ihm folgte, überlegte sie, woran er sie eigentlich erkannt hatte. Ohnehin gab es noch andere ungeklärte Fragen. Zum Beispiel war ihr bis jetzt nicht klar, wie der Notar an ihre Handynummer gekommen war.

Doch sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzugrübeln, denn sie waren bereits beim Auto angekommen, und das war mächtig beeindruckend: ein silberfarbener Rolls-Royce. Was für eine imposante Limousine! Summer war es zwar noch nie besonders auf Geld angekommen, aber sie konnte nicht leugnen, dass es ihr gefiel, von Luxus umgeben zu sein. Damals, an der Seite von Elian, hatte sie das Leben der Reichen und Schönen ausgiebig genossen. Es hatte ihr gutgetan, nicht darüber nachdenken zu müssen, ob man sich etwas leisten konnte oder nicht. Von so einem Leben hatte sie bisher nur träumen können. Aber vielleicht würde sich das bald ändern?

Jean öffnete die Tür zur Rückbank und machte eine elegante Handbewegung. „Bitte nehmen Sie Platz.“

Summer lächelte. „Sehr gern, vielen Dank.“

Sie glitt ins Wageninnere und ließ sich in den champagnerfarbenen Ledersitz sinken. Nur wenige Minuten nachdem Jean losgefahren war, hatte die Klimaanlage die Temperatur angenehm heruntergekühlt. Da die mehrfach verglasten Fenster alle Außengeräusche schluckten, herrschte eine ungewöhnliche, fast schon gespenstische Stille. Es dauerte zwar eine Weile, bis sie sich dem Stadtzentrum näherten, doch sie schienen regelrecht über die Autobahn zu schweben, und schließlich sah Summer endlich das Paris, das ihr von früher so vertraut war. Die malerischen Brücken über der Seine, die Buchhändler entlang der Quais, die charmanten Cafés mit den parallelen Stuhlreihen, die prächtigen, stolz wirkenden Altbauten, die Geschichten aus Jahrzehnten und Jahrhunderten in sich trugen. Bei diesem Anblick kam Summer wie immer ins Träumen. Paris – die Stadt der Liebe. Es war schwer, ja im Grunde unmöglich, sich diesem Flair zu entziehen. Bis heute war sie sich sicher, dass Paris nicht ganz unschuldig daran gewesen war, dass sie sich so schnell in Elian verliebt hatte.

Jean sah sie über den Rückspiegel an. „Madame, in zehn Minuten haben wir unser Ziel erreicht. Monsieur Duval erwartet Sie bereits.“

Was hatte Jean da gesagt? Sie glaubte, sich verhört zu haben. Das war doch wohl nicht sein Ernst! Nein, sie wollte Elian auf gar keinen Fall treffen. Zumindest nicht jetzt.

„Monsieur Duval?“, vergewisserte sie sich.

„Sie wirken überrascht“, stellte Jean erstaunt fest.

„Mir wurde mitgeteilt, dass im Hotel Raphaël eine Suite für mich reserviert ist“, erwiderte Summer und versuchte gelassen zu klingen.

Dabei war sie alles andere als das. In ihr tobte ein Sturm der Gefühle bei dem Gedanken, bereits in wenigen Minuten Elian gegenüberzustehen. Nein, das geht einfach nicht! Sie war alles andere als bereit dazu. Überhaupt, sie hätte sich wenigstens gern noch frisch gemacht. Ihr Puls schlug unwillkürlich schneller als sonst. Lass dir bloß nichts anmerken …

„Monsieur Duval verfügt über mehrere Gästezimmer und würde sich freuen, wenn Sie seine Einladung annehmen würden.“ Er machte eine kurze Pause. „Sie sind doch einverstanden, oder?“

In ihr sträubte sich alles, aber auch alles dagegen. Was nahm Elian sich heraus, einfach so über sie zu verfügen? Unverschämt! Am liebsten hätte sie Jean angewiesen, unverzüglich zum Hotel zu fahren. Doch wie würde es aussehen, wenn sie nun einen Aufstand proben würde? Egal, wie sie zu Elian stand, sie war nach Paris gekommen, weil Christelle sie in ihrem Testament bedacht hatte. Ihr zuliebe wollte, ja musste sie sich zusammenreißen.

„Madame?“, hakte Jean mit hochgezogenen Augenbrauen nach, da Summer noch nicht geantwortet hatte.

„Ja, ich nehme das Angebot gerne an“, entgegnete sie und zwang sich zu einem Lächeln.

Jean nickte zufrieden und bog, sobald die Ampel auf Grün umschaltete, nach links ab, in ein Viertel, dem man deutlich ansah, dass hier ausschließlich gut betuchte Leute wohnten.

Für einen kurzen Moment schloss Summer die Augen und hoffte, es würde sich irgendwo ein Loch auftun, in das sie verschwinden könnte. Natürlich hatte sie genau gewusst, was auf sie zukam: Früher oder später – lieber später, wenn es nach ihr ging – würde sie auf Elian treffen. Es war unvermeidlich.

Das strahlend weiße Eingangsportal mit den zahlreichen Kastenfenstern war riesig, es wirkte fast schon einschüchternd. Ohnehin verströmte das imposante Haus, das aus der Gründerzeit stammen musste, eine kühle Eleganz – ganz so, als wollte es Menschen lieber auf Abstand halten. Trotzdem besaß es einen architektonischen Charme, dem man schnell erlag – Summer jedenfalls war von dem Gebäude sofort hingerissen.

Jean brachte sie mit dem Aufzug in das dritte Obergeschoss und informierte sie darüber, dass Monsieur Duval nicht nur das dritte, sondern auch das vierte Stockwerk bewohne und weitere Räume unter dem Dach habe, die über eine Wendeltreppe erreichbar seien.

„Wo genau Sie unterkommen, besprechen Sie gleich mit Monsieur Duval“, sagte er und nickte, kaum hatten sie die Wohnung betreten, einer gertenschlanken Frau zu, die ihnen auf abenteuerlich hohen Schuhen entgegenkam. Sie trug ihre dunklen Haare zu einem strengen Knoten hochgebunden und hatte einen auffallend schönen Mund. Ein paar Jahre jünger und man hätte sie glatt für ein Model halten können.

„Élise, ich übergebe Madame Morell nun an Sie“, verkündete Jean, ehe er sich an Summer wandte: „Bei Élise sind Sie in den allerbesten Händen.“ Dann stellte er ihren knallroten Koffer ab, tippte an den Rand seiner Mütze und verabschiedete sich.

„Schön, dass Sie unser Gast sind“, sagte Élise lächelnd. Summer war erstaunt über ihre kräftige Stimme, die so gar nicht zu der zierlichen Person zu passen schien, die sie war.

„Ja, ich freue mich auch“, erwiderte sie und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie nicht mehr ganz so aufgewühlt war wie noch vor wenigen Minuten. So langsam schien die Neugierde die Oberhand zu gewinnen. Wie würde es sich wohl anfühlen, Elian nach zehn Jahren wieder in die Augen zu schauen? Würde sie weiche Knie bekommen? Würde sie überhaupt etwas empfinden?

Élise zog ihre ohnehin nach hinten gedrückten Schultern noch weiter zurück und sagte: „Bitte kommen Sie, ich begleite Sie in unser Kaminzimmer.“

Über einen scheinbar endlosen Gang, der mit dunklem Fischgrätparkett ausgelegt war, erreichten sie schließlich eine verzierte Flügeltür, die Élise langsam und bedächtig öffnete. Sie deutete auf eine cognacfarbene Ledercouch, die vor einem Marmorkamin stand.

„Nehmen Sie bitte Platz. Nur wenige Minuten noch, dann wird Monsieur Duval bei Ihnen sein.“

„Danke“, sagte Summer und trat einen halben Schritt in den Raum hinein. Sogleich schlug ihr der betörende Duft der weißen Lilien entgegen, die in einer opulenten Glasvase steckten.

„Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken anbieten? Oder haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

Summer schüttelte den Kopf. „Momentan nicht, ich komme zurecht“, erwiderte sie lächelnd und ging weiter in das Zimmer hinein.

Élise musterte sie kurz, als wollte sie sichergehen, dass das auch wirklich stimmte. Dann drehte sie sich abrupt um und verließ den Raum.

Summer lenkte den Blick auf die Sonnenflecken, die sich honiggelb auf dem Parkett abzeichneten, gab sich einen Ruck und ging in Richtung Couch, merkte aber, dass sie jetzt nicht sitzen konnte – sie fühlte sich einfach viel zu unruhig. Sie schlenderte zur Fensterfront, hatte aber kein wirkliches Interesse, das Geschehen auf der Straße zu beobachten. Auch die gegenüberliegenden Bücherregale begutachtete sie nur flüchtig. Und als sie die Porzellanfiguren und Statuen auf dem Kaminsims betrachtete, tat sie es so oberflächlich, dass sie schon eine Minute später nicht hätte sagen können, was sie gesehen hatte. Sie konnte sich einfach auf nichts richtig konzentrieren. Kein Wunder: Elian beherrschte ihre Gedanken.

Würden alte Gefühle wieder hochkommen? Oder Wunden aufreißen? Summer überlegte sich ein paar möglichst lässige Sätze, die sie zur Begrüßung sagen könnte, verwarf aber alle wieder. Einerseits ärgerte sie sich, dass sie keine Möglichkeit gehabt hatte, sich umzuziehen, sondern immer noch in dem gestreiften T-Shirt-Kleid herumlief, das sie morgens aus dem Kleiderschrank gezerrt hatte. Andererseits war es gut so, denn Elian sollte bloß nicht denken, sie hätte sich extra für ihn aufgestylt. Aber sie wollte auch nicht daherkommen, als wäre sie direkt aus dem Flugzeug gefallen. Wie sahen eigentlich ihre Haare aus? Roch sie nach Schweiß? Sah sie müde aus? Hatte sie Augenringe?

Sie zuckte zusammen, als die Tür aufgerissen wurde, die der Flügeltür gegenüberlag. Noch bevor sie ihm in die Augen blickte, spürte sie seine Anwesenheit: Elian! Nun konnte sie nicht mehr entkommen. Sie drehte sich betont gelassen zu ihm um.

Wow! Ihr stockte der Atem. Dieser Mann sah immer noch unverschämt gut aus. Eigentlich noch besser als früher. Reflexartig hielt sie sich an der Lehne der Couch fest, weil sie glaubte, ihr würde gleich schwindelig. Ja, er war älter geworden, das Jungenhafte an ihm war verschwunden und seine Frisur nicht mehr ganz so wild und verwegen, aber er hatte dadurch nur gewonnen. Man hätte ihn ohne Weiteres für einen französischen Filmstar halten können: gepflegte, dunkle Haare, muskulöse Statur, markantes Gesicht. Dass er großen Eindruck auf sie machte, wollte sie ihn allerdings auf keinen Fall spüren lassen. Elian war sich seiner Wirkung auf Frauen schon immer bewusst gewesen, und daran hatte sich bestimmt nichts geändert.

Als er vor ihr stand, wirkte er allerdings weniger selbstsicher, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er sah sie unbeholfen an. Ein leichter Schatten lag auf seinem Gesicht. Kein Wunder, er machte schließlich gerade eine sehr schwere Zeit durch.

„Summer“, sagte er fast flüsternd.

„Hier bin ich also“, entgegnete sie und kam sich dabei ziemlich dämlich vor. Als hättest du den Intelligenzquotienten einer Nacktschnecke.

„Du bist in Paris“, meinte Elian, was nicht unbedingt origineller war, und blieb wie erstarrt stehen.

„Heute angekommen“, bestätigte Summer.

„Guten Flug gehabt?“

„Ja, war in Ordnung.“

„Fensterplatz?“

„Fensterplatz.“

„Und Jean hat dich gut hierhergebracht.“

„Ja, das hat er.“

Na prima! Da sahen sie sich also nach zehn Jahren wieder und tauschten solche Belanglosigkeiten aus. Aber was sonst sollten sie tun? Sich voller Leidenschaft in die Arme des anderen stürzen?

Es wurde leider nicht besser. Im Gegenteil, ihnen gingen die Worte aus, und es herrschte eine verlegene Stille im Raum. Sie wagten es kaum, einander anzusehen. Summer kämpfte zwar dagegen an, doch sie spürte mehr als deutlich, dass seine Nähe sie nicht kaltließ – wie sie befürchtet hatte. Und das war noch milde ausgedrückt, denn ihr Herz klopfte so wild, als wollte es zerspringen, und ihre Knie waren so butterweich geworden, dass sie glaubte, gleich einzuknicken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Elian diese heftige Reaktion in ihr auslösen würde, und überlegte fieberhaft, wie sie es anstellen sollte, sich wieder zu beruhigen.

Sie musste das Gespräch unbedingt auf Christelle lenken. Schließlich war sie der Grund, warum sie überhaupt hier war. Wie unsensibel von mir, dachte sie, dass ich ihm noch nicht mein Beileid ausgesprochen habe.

„Elian, es tut mir leid, dass deine Mutter …“, setzte sie an.

„Schon gut“, wehrte er ab und lächelte, doch es wirkte gezwungen.

„Ihr hattet ein besonders enges Verhältnis. Sie fehlt dir sicherlich sehr.“

Elian schluckte schwer, antwortete aber nicht.

Summer wagte nun endlich einen längeren Blick in seine Augen, was, wie sie sofort feststellen musste, nicht unbedingt eine gute Idee war, denn sie drohte, sich in dem tiefen Meeresblau zu verlieren. Genau wie damals. Und auch Elian schien regelrecht in ihren Augen zu versinken. Es fühlte sich vertraut an. Wie Nachhausekommen. Raum und Zeit verloren sich.

Und dann lag sie plötzlich in Elians Armen. Sie hätte nicht sagen können, ob sie den ersten Schritt gemacht oder ob er sich ihr angenähert hatte – es war einfach passiert. Als wären sie Magnete, die sich unweigerlich anzogen. Kein Wunder, so war es immer schon zwischen ihnen gewesen.

Sie seufzte genüsslich. Wie gut es tat, seine Hände zu spüren, die erst zaghaft ihren Rücken berührten und dann immer selbstverständlicher. Für einen kurzen Moment begehrte ihre innere Stimme dagegen auf, doch schnell ergab sich Summer dem Prickeln, das ihren Körper durchströmte. Elian legte sanft die Wange an ihre, sein Atem strich warm über ihr Ohr.

Wie lange sie so dastanden, wusste sie nicht, doch irgendwann glaubte sie, ein leises Schluchzen zu hören – weinte Elian? Sollte sie ihn darauf ansprechen oder es besser ignorieren? Sie konnte sich nicht erinnern, je Tränen bei ihm gesehen zu haben. Schon immer hatte er sich gut unter Kontrolle gehabt. Auch in der Öffentlichkeit kannte man ihn so: Elian Duval, der bekannte Motivationstrainer, der sich nie unterkriegen ließ. Es hatte sie daher nicht überrascht, in den Zeitungen zu lesen, dass er bei Christelles Beerdigung außerordentlich gefasst gewesen war. Aber irgendwann mussten die Dämme brechen, musste die Trauer ihren Weg nach draußen finden – war es nun so weit?

Elian blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen geschossen waren. Natürlich, die letzten Tage waren für ihn unglaublich hart gewesen, und er hatte jedes Recht, um seine Mutter zu weinen, aber nicht jetzt, nicht hier. Er wollte Summers Nähe genießen. Dass sie sich so vertraut an ihn schmiegen würde, damit hätte er noch vor wenigen Minuten überhaupt nicht gerechnet. Schließlich hätte sie allen Grund, ihm Vorwürfe zu machen. Damals hatte sie das Loft einfach heimlich verlassen, ohne ein Wort. Sie hatten sich niemals ausgesprochen. Vielleicht war sie immer noch wütend auf ihn. Jedenfalls stand fest: Es war einzig und allein dem Testament seiner Mutter zu verdanken, dass sie sich nun wiederbegegneten. Was das wohl zu bedeuten hatte? War es ein Wink des Schicksals?

Er zog sie noch näher zu sich heran. Wonach duftete ihr Haar eigentlich? Limette? Wie sehr er sie vermisst hatte! Schon damals hatte er immer das Gefühl gehabt, dass sie die Sonne mitbringen würde – kein Wunder bei ihrem Namen! In ihrer Gegenwart wurde ihm sofort leichter zumute. Du tust mir so gut!

Doch gerade als er sich noch weiter fallenlassen wollte, löste sie sich ruckartig aus seinen Armen. Sie drehte sich um und bewegte sich schnurstracks auf die Fensterfront zu, den am weitesten von ihm entfernten Punkt im Raum.

Elian stutzte. Verdammt. Hatte er etwas falsch gemacht? War er zu aufdringlich gewesen?

„In London haben wir seit Tagen Sturzregen“, sagte sie langsam, während sie nach draußen blickte und ihr Gesicht in die strahlende Sonne hielt.

Elian war fassungslos. Was sollte dieser Themenwechsel? „Ist das dein Ernst?“

Sie drehte sich abrupt zu ihm um.

„Warum sollte ich lügen?“, entgegnete sie. „Bei uns regnet es, wie wir sagen, Katzen und Hunde.“

Täuschte er sich oder lag in ihrer Antwort ein spöttischer Unterton?

„Ich will mit dir ganz bestimmt nicht über das Wetter reden.“

„Über was dann?“

Er rieb sich seufzend die Stirn, dann schloss er kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, überlegte er, ob er ihr wirklich sagen sollte, was in ihm in den Tagen vor ihrer Ankunft vorgegangen war. Aber warum sollte er es vor ihr verbergen? Sie hatten einander immer alles anvertraut.

„Ich hatte Angst, dich wiederzusehen“, gestand er ihr daher, während er gedankenlos über das kühle Couchleder strich.

Summers Blick streifte ihn nur flüchtig und blieb an den Porzellanfiguren auf dem Kaminsims hängen.

„Du hattest Angst? Weswegen?“, fragte sie nach einer Pause, die ihm ewig vorkam.

„Dass du immer noch auf mich wütend bist. Du hättest jedes Recht dazu.“

Sie stand reglos da. „Es ist kein guter Zeitpunkt, um unsere Vergangenheit hochzuholen, in wenigen Stunden ist unser Notartermin“, wich sie ihm aus.

Doch er ließ sich davon nicht beirren. Keine Ausflüchte, es musste jetzt raus.

„Und außerdem habe ich die Erinnerungen gefürchtet“, fuhr er fort. „Dass ich plötzlich wieder Sehnsucht haben würde nach unseren schönen Zeiten. Summer, wir waren völlig verrückt nacheinander …“

„Ich brauche jetzt dringend eine Dusche“, unterbrach sie ihn hastig und ohne die Augen auch nur eine Sekunde lang von den Porzellanfiguren abzuwenden.

Diese Frau war wirklich schwer zu knacken! Er seufzte innerlich auf. Auch wenn er es nicht gern tat, aber er musste wohl einsehen, dass sie für diese Art von Gespräch noch nicht bereit war – und vielleicht auch nie bereit sein würde. Konnte er das überhaupt von ihr erwarten?

Um die unbehagliche Situation nicht noch weiter in die Länge zu ziehen, beeilte er sich, ihr die gewünschte Dusche in Aussicht zu stellen.

„Zu jedem der vier Gästezimmer gehört ein Bad. Ich führe dich gerne herum, und du suchst dir einfach eines aus.“

Zu seiner Erleichterung wechselte ihr ernster Gesichtsausdruck sofort zu einem freundlichen.

„Na, dann mal los“, sagte sie und wirkte ebenfalls erleichtert.

Ihre Blicke trafen sich. Endlich! Er liebte das helle, leuchtende Grün ihrer Augen. Völlig unerwartet blitzte darin allerdings auch die ihm altvertraute Verletzlichkeit auf. Sie hatte jedes Mal seinen Beschützerinstinkt geweckt. Er musste sich sehr zusammenreißen, um sie nicht wieder in die Arme zu ziehen.

Um sich selbst auf andere Gedanken zu bringen, ging er so rasch wie möglich zur großen Flügeltür und riss sie auf. Er machte eine Handbewegung, um Summer den Vortritt zu gewähren.

Sie lächelte ihn an und trat in den Flur.

Während er ihr folgte, musste er feststellen, dass ihre schlanken, wohlgeformten Beine und ihr reizender Po immer noch Wirkung auf ihn hatten. Und wie! Eine Welle des Verlangens strömte durch seinen Körper. Summer war einfach eine Wucht. Keine Frage, sie wiederzusehen, wühlte ihn auf. Sogar mehr, als er befürchtet hatte.

4. KAPITEL

Noch ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Summer war mit ihrem Aussehen höchst zufrieden. Sie hatte ihre langen kastanienbraunen Haare gebändigt und zurückgebunden und trug ein schlichtes dunkelblaues Kostüm, darunter eine weiße Bluse. Ziemlich damenhaft und sonst gar nicht ihr Stil, aber dem Anlass angemessen. Auf ihren Lippen lag schimmerndes Rosa, auch das Make-up hatte sie dezent gehalten und ihre Wimpern weniger kräftig getuscht als sonst.

„Summer Morell, du kannst dich sehen lassen“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und musste kurz schmunzeln.

Nur eine Sache störte sie: dass es ihr in erster Linie nicht darum ging, auf den Notar einen guten Eindruck zu machen, sondern auf … Elian.

Was ist nur mit dir los? Wieso war ihr das plötzlich so wichtig?

Kein Mann hatte sie je so enttäuscht. Es war ein Schlag ins Gesicht gewesen, als sich herausstellte, dass ihm seine Modelkarriere wichtiger gewesen war als ihre Liebe. Sie hatte ja überhaupt nichts dagegen gehabt, natürlich wünschte sie ihm jeden Erfolg, aber er hatte alles andere vernachlässigt und war regelrecht besessen davon gewesen, es bis ganz nach oben zu schaffen. Sie hatte es irgendwann nicht mehr ausgehalten, nur noch die zweite Geige zu spielen, und war klammheimlich gegangen. Ihre Trennung hatte ihr schrecklich wehgetan. Sie wollte das nie wieder erleben. Nie, nie wieder! Sie waren sich ohnehin schon viel zu nahe gekommen. Was war im Kaminzimmer nur in sie gefahren? Warum hatte sie sich in seine Arme gekuschelt?

Es klopfte an der Tür. Das musste Elian sein. Er hatte angekündigt, sie abzuholen.

Schnell schob sie die winzige Strähne zurück, die ihr in die Stirn fiel, strich ihren Rock glatt und stöckelte in ihren dunkelblauen Pumps, die zu eng und daher ziemlich unbequem waren, zur Tür.

Eines musste man Elian lassen, er war ein echter Hingucker. Er hatte sich die Haare glatt zurückgegelt und trug einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd. Bei anderen Männern hätte das sicher streng gewirkt, vielleicht sogar spießig, aber er verstand es, lässig auszusehen. Kein Wunder, er hatte einfach ein Händchen für Mode. Während seiner Modelzeit hatte er schließlich von den besten Designern gelernt.

Lächelnd bot er ihr seinen Arm an. Nachdem sie noch schnell nach ihrer Handtasche gegriffen hatte, hakte sie sich bei ihm unter. Vor dem Eingangsportal wurden sie bereits von Jean erwartet, der ihnen mit einem freundlichen „Guten Abend“ die Tür der Limousine aufhielt. Sie redeten nicht viel während der Fahrt, die eine gute Viertelstunde dauerte. Jeder hing seinen Gedanken nach, während sie von einer noblen Straße in die nächste bogen.

Das Gebäude, in dem der Notar seine Kanzlei hatte, wirkte fast wie ein Palast. An seiner Fassade fanden sich opulente Verzierungen, die oberen Fenster waren aus Mosaikglas gefertigt. Statt eines gewöhnlichen Daches hatte das Haus eine Kuppel, die golden schimmerte. Summer fühlte sich ein wenig eingeschüchtert, als sie davor stand.

Als sie mit Elian die Eingangshalle durchquerte, hallten ihre Schritte derart laut, dass sie versucht war, auf Zehenspitzen zu gehen, um weniger Lärm zu erzeugen. Am Ende einer ausladenden Marmortreppe standen bereits mehrere Personen, die ihnen neugierig entgegenblickten, während sie die Stufen nach oben nahmen. Der kleinste von ihnen stellte sich als Raphaël Moreau vor, der Notar, der Summer angerufen und alles organisiert hatte. Bei ihrem Telefonat hatte er eher kühl gewirkt, doch als sie einander die Hand schüttelten, tat er das mit so viel großväterlichem Charme, dass sie ihn sofort sympathisch fand.

Die leicht ergraute Frau neben ihm hatte ein hübsches, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Sie war, wie sich herausstellte, Elians ehemaliges Kindermädchen. Ihr gegenüber stand eine weitere Frau, die wirkte, als hätte sie es ziemlich eilig, von hier wegzukommen. Elian machte sie miteinander bekannt. Es handelte sich um Christelles einzige Schwester. Summer hatte sie noch nie vorher gesehen und konnte sich auch nicht erinnern, je von ihr gehört zu haben. Sie wirkte ausgesprochen burschikos und hatte erstaunlich wenig Ähnlichkeit mit der mondänen Christelle, die ihre Weiblichkeit stets betont hatte.

„Wir sind vollzählig“, sagte Raphaël Moreau und bedeutete allen, in den Raum hineinzugehen, dessen Tür bereits offen stand.

Ein „Danke“ murmelnd, setzten sich alle in Bewegung und nahmen auf den samtbezogenen Polsterstühlen Platz, die vor einem ungewöhnlich langen und ungewöhnlich breiten Schreibtisch standen.

Noch nie zuvor war Summer bei einer Testamentseröffnung gewesen. Alle wirkten angespannt. Ob es immer so war, dass kaum geredet wurde? Gerade als die Stille begann, unangenehm zu werden, ergriff der Notar das Wort. Er begrüßte alle Anwesenden, dann legten sie eine gemeinsame Schweigeminute ein.

Summer erinnerte sich an Christelles helles Lachen, an ihre liebevollen Umarmungen und an die vielen aufmunternden Worte, die sie immer parat gehabt hatte. Sie schluckte die Tränen hinunter, die in ihr aufstiegen.

Der Notar setzte an und verlas das Testament. Das riesige Vermögen, das Christelle hinterlassen hatte, inklusive aller Hotels, ging wie erwartet zu großen Teilen an ihren einzigen Sohn. Auch die anderen Erben wurden großzügig bedacht, zumindest soweit Summer das mitbekam. Sie wurde derart von ihren Erinnerungen an Christelle fortgetragen, dass sie der Testamentsverkündung nur schwer folgen konnte. Sogar als sie direkt angesprochen wurde, bemerkte sie es zunächst nicht.

„Madame Morell, hören Sie mir überhaupt zu?“, fragte der Notar und sah sie eindringlich an.

„Entschuldigung, ich war mit meinen Gedanken woanders“, gestand sie.

„Es geht jetzt um Ihren Erbanteil.“

Sie nickte und merkte, wie alle anderen neugierig in ihre Richtung blickten. Ihre Handinnenflächen wurden feucht. Ihre Füße brannten in den viel zu engen Schuhen. Was würde nun auf sie zukommen?

Der Notar räusperte sich und musterte sie erneut über den Rand seiner Brille hinweg. Dann blickte er auf das Dokument in seiner Hand und verlas: „Ich, Christelle Duval, verfüge, dass fünfhunderttausend Euro aus meinem Gesamtvermögen und die Hälfte meines Schlösschens bei Saint-Malo an Summer Morell gehen.“

Summer hörte die Worte, verstand sie auch, aber sie konnte kaum fassen, dass tatsächlich sie gemeint war. Sie erwartete, Freude zu empfinden, doch stattdessen war sie einfach nur sprachlos.

Raphaël Moreau fuhr fort: „Die andere Hälfte des Schlösschens geht an meinen Sohn, Elian Duval. Das Anwesen wird erst dann in den Besitz der beiden Parteien übergehen, wenn sie ein gemeinsames Konzept zu dessen Nutzung ausgearbeitet haben. Es ist unabdingbar, dass sie sich darüber einig werden. Ist das nicht der Fall, geht das Schlösschen automatisch in eine gemeinnützige Stiftung über.“

Der Notar klappte die Unterlagen zu und schaute auf.

„Meine Damen, Monsieur Duval, danke, dass Sie gekommen sind.“

Summer fühlte sich überrumpelt. Kann bitte jemand auf die Stopp-Taste drücken? Sie war jetzt nicht nur baff, sondern auch verwirrt. Ein gemeinsames Konzept? Was denn für ein Konzept?

Sie sah zu Elian hinüber, der sich gerade erhob. Automatisch stand auch sie auf. Es wurde gesprochen, aber sie hörte nicht richtig zu. Sie verabschiedete sich, weil alle sich verabschiedeten. Und schüttelte Hände, weil alle einander die Hände schüttelten.

Wenige Minuten später stand sie mit Elian in der Abenddämmerung. Die Luft war immer noch von der Hitze des Tages aufgeladen.

„Wir könnten einen Spaziergang machen, was hältst du davon?“, schlug er vor.

Sie fühlte sich wie in Trance, unfähig zu antworten.

„Oder soll ich lieber Jean anrufen und wir fahren zurück? Bist du müde?“

Sie schüttelte den Kopf. Dann stöhnte sie auf. Ihre Füße brannten inzwischen wie die Hölle. „Ich muss dringend raus aus diesen Dingern“, meinte sie und stützte sich auf Elians Schulter ab, um ihre Schuhe auszuziehen. „Ah, das tut gut.“ Erleichtert bewegte sie die Zehen. Die Abdrücke der Schuhe waren deutlich an ihren Füßen zu sehen.

„Sieht gemeingefährlich aus“, kommentierte er mit einem Augenzwinkern.

„Äußerst qualvoll“, pflichtete sie ihm lächelnd bei. Sie war erleichtert, dass sie jetzt über so ein belangloses Thema sprachen. Die Testamentsverlesung hatte sie ziemlich aus der Bahn geworfen.

„Die reinste Folter“, überbot er sie.

„Keine Ahnung, wie ich das durchgestanden habe.“

„Und wo kriegen wir jetzt neue Schuhe her?“

„Ich schaffe es auch barfuß.“

„Was, wenn du dich verletzt?“

„Dann trägst du mich.“

„Durch ganz Paris?“

„Durch ganz Paris!“

„Abgemacht.“

Sie grinsten einander an.

Die unvermittelte Leichtigkeit zwischen ihnen tat Summer gut. Es schien ihr, als wären sie für einen kurzen Moment in einer anderen Zeit gelandet. In einer Zeit, in der sie völlig unbeschwert miteinander umgehen konnten. Ein kurzer Schmerz durchzog ihre Brust, als sie daran dachte, was sie damals verloren hatte.

Während sie, beleuchtet von sanft schimmernden Straßenlaternen, den Quai entlangschlenderten, wurde Summer nach und nach bewusst, dass sie nicht träumte – sie hatte tatsächlich fünfhunderttausend Euro geerbt. Eine für sie schier unvorstellbare Summe! Solange sie denken konnte, hatte sie sich finanziell einschränken müssen, obwohl sie hart arbeitete. Und nun war sie von dieser Sorge befreit.

Es rührte sie sehr, dass Christelle sie so großzügig bedacht hatte. Aber sollte sie das Erbe überhaupt für sich behalten? Schon lange träumte sie davon, ein Haus für benachteiligte Kinder zu errichten – und eine halbe Million Euro wären ein guter Anfang. Was wohl Elian von dieser Idee hielt? Sie mussten sich, sofern sie das Testament richtig verstanden hatte, schließlich auf ein gemeinsames Konzept einigen. Und das wäre unbestritten ein gutes Konzept für das Sommerschlösschen! Sie überlegte, ob sie gleich damit rausplatzen sollte, aber es erschien ihr nicht der richtige Moment.

Elian genoss den Spaziergang mit Summer. Sie hatte eine Leichtigkeit, nach der er sich oft sehnte. Auch wenn er europaweit als Experte fürs Glücklichsein galt, wusste niemand, dass er momentan ziemlich unzufrieden war. Selbst ihm war das nicht sofort klar gewesen. Zwar war er so erfolgreich wie nie, seine Motivationsseminare waren immer ausgebucht, alle seine Bücher wurden Bestseller, er war regelmäßig in TV-Shows eingeladen, aber irgendwie erfüllte ihn das seit einiger Zeit nicht mehr. Warum das so war, wusste er nicht. Neulich hatte er sich bei der Vorstellung ertappt, wie es wäre, eine Familie zu gründen. Aber wo sollte er die Frau finden, mit der er glücklich sein konnte? Auch wenn er viele Chancen gehabt hatte, bisher hatte es nie „die Eine“ gegeben, mit der er sich ernsthaft eine Zukunft hätte vorstellen können.

Er sah kurz hinüber zu Summer und korrigierte sich in Gedanken. Natürlich gab es diese Eine. Summer war die Einzige, mit der er Heiratspläne gehabt hatte. Er hatte sich ausgemalt, wie es wäre, an ihrer Seite alt zu werden. Wünschte er sich das insgeheim denn immer noch?

Zugegeben, er musste sich sehr zusammenreißen, um sie nicht dauernd anzustarren. Wie schön sie doch war! Von ihr ging ein ganz besonderer Zauber aus. Hätte er sich nicht wie besessen auf seine Modelkarriere gestürzt, wäre er vielleicht jetzt mit ihr verheiratet und sie hätten schon längst gemeinsame Kinder.

Sie waren damals so ineinander verliebt gewesen. Und auch jetzt schlug sein Herz bei ihrem Anblick höher. In ihm rief alles danach, in ihrer Nähe zu sein. Vielleicht sollten sie zusammen zum Schlösschen fahren … Dann würden sie weiter Zeit zusammen verbringen, und er könnte ihr vor Ort zeigen, was genau er mit dem Anwesen vorhatte.

Der Plan stand ihm schon ganz genau vor Augen: Dort sollte eine Glücksakademie entstehen. Ein Institut, das weltweit Rang und Namen haben würde. Bereits vor gut einem Jahr hatte er diese Idee entwickelt. Nur bisher noch nicht den richtigen Ort dafür gefunden. Menschen aus aller Welt würden dorthin kommen, um zu lernen, wie sie in Zukunft glücklicher durch ihr Leben gehen konnten. Er war sich sicher, dass auch Summer von dieser Idee begeistert sein würde.

Melodische Akkordeonklänge wehten zu ihnen herüber und verstärkten die romantische Stimmung des Abends. Paare schlenderten eng umschlungen an ihnen vorbei. Elian stellte sich vor, dazuzugehören. Mit Summer an seiner Seite. Er schielte zu ihr hinüber. Wie sie wohl regieren würde, wenn er sie nah an sich heranziehen würde?

„Komm, wir setzen uns.“ Sie deutete auf eine Parkbank, die soeben frei geworden war.

Kaum hatten sie Platz genommen, trottete ein Hund auf Summer zu und schnüffelte an ihren Zehen. Sie streichelte lächelnd durch sein zotteliges hellbraunes Fell. Hunde hatte sie immer schon geliebt.

„Ist der nicht süß?“, freute sie sich und sah ihn strahlend an.

„Ein gutmütiger Kerl“, befand Elian und strich ebenfalls durch das Fell. Dabei trafen sich seine und Summers Finger. Eine winzige Berührung, doch sie durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. Ob es ihr genauso ging?

„Freddie!“, rief eine ältere Dame, die gemütlich auf sie zukam. „Freddie, komm her.“

Der Hund spitzte die Ohren und setzte sich langsam in Gang, in Richtung seines Frauchens.

Eine Weile sahen Summer und Elian schweigend den vorbeiflanierenden Passanten zu. Die Menschen wirkten, als hätten sie keine Sorgen. Auch viele Touristen waren darunter, die immer wieder stehen blieben, um Fotos zu machen, vor allem von den Booten, die lichtschimmernd die Seine kreuzten.

„Übrigens“, setzte Summer unvermittelt an, „ich hätte da schon eine Idee.“

„Eine Idee?“

„Für unser Schloss.“ Sie blickte ihn mit leuchtenden Augen an.

Er war überrascht. Das hatte er nicht erwartet.

„Du weißt ja, wie sehr Kinder mir am Herzen liegen. Und es gibt viele, die vom Leben benachteiligt sind, viel zu viele. Schon lange spukt deshalb in meinem Kopf der Gedanke herum, für sie einen Ort zu errichten, an dem sie sich geborgen und zu Hause fühlen können.“

„Und du glaubst, das Schloss wäre ein solcher Ort?“, vergewisserte er sich.

„Besser kann man es gar nicht nutzen“, sagte sie. Ihr war deutlich anzumerken, wie begeistert sie war.

Elian überlegte, was er antworten sollte. Keine Frage, ein schönes Konzept, aber ihm schwebte nun mal etwas anderes vor. Außerdem: Mit Kindern hatte er überhaupt keine Erfahrung. Nein, er wollte an seinen Plänen festhalten. Doch wie sollte er ihr das nur sagen? Ihm lag es fern, sie zu enttäuschen. Zudem war die Stimmung viel zu schön, um sie zu zerstören.

„Ja, klingt gut“, meinte er deshalb nur.

Unerwartet fiel sie ihm um den Hals. Dabei streifte ihre Wange sein Gesicht. Wie gut sich das anfühlte! Just in dem Moment ertönte die Melodie von Strangers in the Night auf dem Akkordeon. Ausgerechnet! Es war das Lied, zu dem sie früher so gern getanzt hatten. Elian durchzuckte es. Am liebsten hätte er Summer zum Tanz aufgefordert. Aber dazu fehlte ihm der Mut, wie er sich eingestehen musste.

Überhaupt, es war ihm unangenehm, dass sie nun glaubte, er wäre damit einverstanden, aus dem Sommerschlösschen ein Kinderheim zu machen. Du musst ihr die Wahrheit sagen! Aber wie? Er entschloss sich, den Zeitpunkt auf später zu verschieben.

„Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam nach Saint-Malo fahren und uns das Schloss vor Ort anschauen?“, fragte er stattdessen.

Erneut schlang sie ihre schlanken Arme um ihn. „Großartig! Ja, lass uns fahren“, erwiderte sie.

Wieder ging ihm die Berührung durch und durch, doch er ließ sich nichts anmerken.

„Und, wann starten wir?“, fragte sie, nachdem sie wieder ein Stück von ihm abgerückt war.

„Also, ich hätte morgen Zeit“, sagte er augenzwinkernd.

„Das trifft sich gut, ich nämlich auch“, gab sie grinsend zurück.

5. KAPITEL

Was für eine Aussicht! Summer stand auf dem sonnenbeschienenen Balkon ihres Zimmers und ließ den Blick begeistert über die Dächer von Paris schweifen. Sogar der Eiffelturm war von hier aus zu sehen. Die Wolken wirkten wie Wattebäusche, die man auf das strahlende Blau des Himmels getupft hatte.

Summer atmete tief durch. Plötzlich fühlte sich ihr Leben so neu an. Ihr Traum, ein Kinderheim zu eröffnen, war zum Greifen nah. Noch dazu in einem so schönen Schloss … Unglaublich! Es fiel ihr immer noch schwer, zu fassen, was gestern geschehen war. Ich habe geerbt! Unversehens riss sie die Hände in die Luft. „Juhu!“, jubelte sie über die ganze Dachlandschaft.

Am liebsten hätte sie jedem davon erzählen, so glücklich war sie. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass das nicht nur an der Erbschaft lag, sondern auch an Elian. Der Spaziergang am Abend hatte sich sehr vertraut angefühlt. Fast schon romantisch. Seine sanften Augen, sein liebevolles Lächeln … Keine Frage, seine Nähe tat ihr gut. Sogar mehr, als ihr lieb war. Aber wohin sollte das führen? Wollte sie etwa wieder enttäuscht werden?

Sie schüttelte sich, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Bloß keine alten Gefühle wecken. Elian hatte sie damals sehr verletzt, und das wollte sie auf gar keinen Fall wieder riskieren. Nicht noch einmal diesen Schmerz! Ihre Beziehung würde auf rein professioneller Ebene bleiben. Und das bedeutete, sie mussten, wie es Christelle verfügt hatte, ein gemeinsames Konzept für das Schlösschen erstellen. Nicht mehr und nicht weniger. Summer war sich sicher, ihre Gefühle unter Kontrolle halten zu können. Sie musste! Natürlich würden sie viel Zeit miteinander verbringen, bis das Kinderheim eröffnet war, aber sie rechnete fest damit, dass anschließend sie die Einrichtung leiten würde, da sie die entsprechen...

Autor

Alicia Leonardi
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Soraya Lane
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Annie Claydon

Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...

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