Secrets

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Das Gesicht einer Fremden
Wer bin ich? Diese Frage stellt sich Deborah jeden Tag, seit sie bei einem Unfall ihr Gedächtnis verlor. Ist sie wirklich die Frau des Mannes, der ihr tagsüber so fremd und nachts so vertraut ist? Oder hat der Horrorschriftsteller Nicholas Steele seine Ehefrau umgebracht - und Deborah liebt einen Mann, der Blut an den Händen hat?

Die Angst spielt mit
Drohbriefe, anonyme Anrufe, Kulissen, die in Flammen aufgehen: Seit Maggie zusammen mit ihrem Jugendfreund Kevin Peyne ein Theaterstück in Thornhill inszeniert, reißt die Serie gefährlicher Vorfälle nicht ab. Wer will verhindern, dass ihr Stück aufgeführt wird, das auf einem nie geklärten Entführungsfall basiert?


  • Erscheinungstag 01.06.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783955763749
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Secrets

Elise Title

Das Gesicht einer Fremden

Aus dem Amerikanischen von Andrea Schwinn

Elise Title

Die Angst spielt mit

Aus dem Amerikanischen von M. R. Heinze

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Who is Deborah

Copyright © 1993

Stage Whispers

Copyright © 1992

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: pecher & soiron, Köln

ISBN eBook 978-3-95576-374-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Elise Title

Das Gesicht einer Fremden

Aus dem Amerikanischen von Andrea Schwinn

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1. KAPITEL

Alles begann an dem Tag, als ich erfuhr, dass ich Deborah Steele war.

An jenem Morgen erwachte ich sehr zeitig, bei Tagesanbruch. Das war ungewöhnlich für mich, weil ich sonst immer bis mittags schlief. Zumindest war das in den letzten zwei Monaten so gewesen. Davor ... nun, das war eine andere Geschichte.

Ich weiß noch, dass ich verängstigt war und mich nicht richtig zurechtfand. Draußen donnerte es, und ich stieß einen erstickten Schreckenslaut aus. Ich hasste Gewitter.

Blitze zuckten, und das Gefühl von Panik und Hilflosigkeit drohte mich zu überwältigen. Ich zog mir das Kissen über den Kopf, um nichts mehr hören und sehen zu müssen, und krümmte mich zusammen, als wehrte ich mich ...

Ja, wogegen? Genau das war mein Problem. Wie Dr. Royce mir in den vergangenen beiden Monaten immer wieder erklärt hatte, weigerte ich mich, mich zu erinnern. Wahrscheinlich hatte er recht. Ich hatte Angst. Jeder hat ab und zu einmal Angst, doch diese Angst lebte in mir wie ein bösartiger Virus, gegen den es kein Heilmittel gab.

Tränen brannten mir in den Augen, und zu meiner Furcht gesellten sich Frustration und Verzweiflung. Inständig betete ich darum, dass dieses Gefühl vergehen und das Gewitter doch noch ausbleiben möge. Am meisten wünschte ich mir jedoch, dass mich endlich jemand finden würde, im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich kam mir grenzenlos verloren vor.

Bis zum Vormittag war es mir gelungen, mich einigermaßen zusammenzunehmen. Der Himmel war grau und bewölkt, doch es regnete nicht. Vielleicht kam das Gewitter wirklich nicht. Vielleicht gelang es mir, den Tag zu überstehen, ohne die Nerven zu verlieren. Ein bescheidener Wunsch, ich hätte mehr, viel mehr verlangen können. Aber ich arbeitete hart an mir, damit ich mir nicht Dinge ersehnte, die ich ohnehin nicht bekommen würde. Umso heftiger warf mich deshalb das aus der Bahn, was sich später an jenem Tag noch ereignen sollte ...

Ich hatte meine übliche Ecke im Saal für Beschäftigungstherapie bezogen und die Staffelei an dem großen nach Norden gehenden Fenster aufgestellt. Ich malte, wie immer am Nachmittag in der Zeit zwischen der Gruppentherapie und dem Abendessen. Es befanden sich noch andere Patienten im Raum; manche von ihnen plauderten miteinander, während sie töpferten oder Körbe flochten. Ich zog es vor, für mich zu bleiben. Ich hatte generell nicht viel Kontakt zu den anderen, doch diese beiden kostbaren Stunden sollten stets nur mir allein gehören. Zwei Stunden, in denen ich die Klinik, die zähen, immer wiederkehrenden Fragen, die nicht enden wollende Frustration, die Einsamkeit und das schreckliche Gefühl der Verlorenheit vergessen konnte.

Die Malerei war meine ganze Freude. Ich liebte den Geruch der Ölfarben, ja, sogar den des Terpentins. Wenn ich malte, und nur dann, konnte ich mich irgendwie mit mir selbst identifizieren. Während sich die anderen Stunden des Tages endlos hinzuziehen schienen, vergingen diese beiden jedes Mal wie im Flug. Ich wusste, dass sie wieder einmal zu Ende waren, als ich die vertraute Stimme hinter mir vernahm.

“Das ist sehr gut.”

Die wohlklingende, anerkennende Stimme gehörte John Harris, meinem Kunsttherapeuten. Der schlaksige junge Mann mit dem feuerroten Haarschopf stand jetzt rechts neben mir und betrachtete nachdenklich mein Bild. Ich kannte diesen Blick inzwischen nur zu gut. “Ja, aber darum geht es nicht, stimmt’s?”

Er lächelte gutmütig. “Nicht ausschließlich.”

Ich antwortete nicht, sondern legte den Pinsel hin und begutachtete nun ebenfalls mein Gemälde – ein klarer blauer Himmel mit weißen Wolken über einer Gebirgslandschaft. Wie auf jedem meiner Bilder war auch auf diesem eine einzige menschliche Gestalt zu sehen; eine junge Frau mit wehendem blonden Haar. Diese hier stand auf dem Gipfel des Berges und sah nach Westen, der Wind blies ihr in den Rücken. Nein, sie sah nicht einfach nur in diese Richtung, sie suchte etwas. Das wusste ich genauso gut wie John, obwohl die Frau wie auf allen meinen Bildern kein Gesicht hatte.

“Erzählen Sie mir von ihr”, bat John mich freundlich. Die Klinikatmosphäre, die Fragen hatten mich wieder eingeholt.

“Ständig verlangen Sie das von mir. Warum?”

Ihm war mein gereizter Unterton nicht entgangen. “Es ist das Wetter, nicht wahr?”

“Wahrscheinlich”, gab ich unverbindlich zurück.

Er zeigte wieder auf die Frauengestalt. “Mag sie die Berge?”

“Ich weiß es nicht genau. Das heißt, sie selbst ist sich da wohl nicht so sicher.”

“Was würde Ihrer Meinung nach wohl geschehen”, fuhr er mit dieser verhaltenen Stimme fort, bei der mir immer ziemlich unbehaglich zumute wurde, “wenn Sie ihr Ihr Gesicht geben würden?”

Instinktiv hob ich die Hand und berührte meine Wange. “Aber ... das ist doch gar nicht mein wahres Gesicht.”

Plötzlich sah ich wieder etwas vor mir, das aussah wie ein Strang roter Farbe aus einer der Farbtuben. Nur – es war keine Farbe. Es war Blut. Rubinrotes Blut. Mein Blut. Heiß, feucht, metallisch riechend. Mit dieser Vision kam der Schock zurück. Der erste Blick in den Krankenhausspiegel, ehe mich der Schönheitschirurg wieder zusammengeflickt hatte.

John warf mir einen mitfühlenden Blick zu. “Es ist sehr gut möglich, dass Sie gar nicht so viel anders aussehen als vorher.”

Hinter meinen Schläfen begann es heftig zu pochen. “Aber das kann ich nicht beurteilen, oder?”, fuhr ich ihn an. “Denn ich habe nicht die blasseste Ahnung, wie ich vorher ausgesehen habe.” Ein Damm schien in mir zu brechen. “Warum habe ich überhaupt ein Gesicht, wenn ich innerlich doch völlig gesichtslos bin? Und wenn das hier wirklich mein Gesicht ist, warum ist dann niemand erschienen, der mich identifizieren konnte? Über eine Woche lang habe ich mein Foto in der auflagenstärksten Zeitung New Yorks veröffentlichen lassen, doch niemand hat mich erkannt!”

“Katherine ...”

Verzweiflung überwältigte mich. “Nicht einmal dieser Name ist echt, genauso wenig wie alles andere an mir!”

John wirkte bestürzt wegen meines Ausbruchs, und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Schließlich war er nicht schuld an meiner Lage.

“Es tut mir leid. Es ist wohl wirklich das Wetter. Ich bin sehr früh aufgewacht und war schon den ganzen Tag etwas überdreht. Ich wünschte ...”

Was denn?”

“Die Polizei hätte mich in jener Regennacht einfach verletzt auf dem Bürgersteig liegen lassen.”

Ich konnte den Regen wieder hören, unnatürlich laut prasselnd. Das war meine einzige Erinnerung an die Nacht damals. Das und der Moment, als ich nach Stunden in der Notaufnahme des New York General Hospitals wieder zu mir gekommen war. Den jungen Polizisten, der mich besorgt beobachtet hatte, hätte ich zeichnen können, so deutlich sah ich ihn noch vor mir.

“Sie müssen sich kräftig gewehrt haben”, hatte er festgestellt.

Ich selbst hatte Schwierigkeiten gehabt zu sprechen, denn mein Kopf war fast völlig einbandagiert. Später teilte man mir mit, ich hätte eine Gehirnerschütterung, eine gebrochene Nase und einen gebrochenen Kiefer. In dem Moment jedoch machte ich mir weniger Gedanken wegen meines verwüsteten Gesichts. Panik ergriff mich. “Hat man mich ...?”

Ehe ich das Wort “vergewaltigt” noch sagen konnte, schüttelte er den Kopf. Ich war grenzenlos erleichtert, aber nicht lange. Denn dann hatte er angefangen, mir Fragen zu stellen, und zu meinem Entsetzen war ich nicht in der Lage gewesen, sie zu beantworten. Ich wusste nicht nur nichts über den Überfall zu sagen, ich hatte sogar meinen Namen vergessen. Ich erinnerte mich an nichts mehr. Und so tappte die Polizei im Dunkeln, denn ich hatte keine Papiere bei mir gehabt, als man mich in der finsteren Seitenstraße in New York gefunden hatte.

Die Ärzte versuchten mir einzureden, dass mein Erinnerungsvermögen allmählich zurückkehren würde, sobald der Schock abklang, aber das war nicht geschehen. Ich unterzog mich einer plastischen Operation, danach wurde ich in die psychiatrische Abteilung der Klinik verlegt.

“Katherine ...”

Johns Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. Ich sah, dass Dr. Royce jetzt neben ihm stand. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich meinen Psychiater nicht hatte kommen hören. Er betrachtete gerade mein Bild.

“Berge”, murmelte er. “Sehr aufschlussreich.”

Bei dieser Bemerkung bekam ich auf einmal eine Gänsehaut. Das war seltsam, denn sonst hatte der Psychiater eine ganz andere Wirkung auf mich. Ich hatte eine gewisse Schwärmerei für den gut aussehenden, freundlichen Arzt mit der sanften Stimme entwickelt, und manchmal, wenn ich besonders deprimiert war, malte ich mir aus, dass er auch mir ein besonderes Gefühl entgegenbrachte. Häufig fragte ich mich sogar, ob diese Idee wirklich nur meiner Fantasie entsprang. So auch jetzt wieder. Vielleicht lag es an der Zärtlichkeit und Anteilnahme, die ich im Blick seiner warmen braunen Augen zu entdecken glaubte. Doch diesmal freute ich mich nicht darüber, sondern geriet eher in Alarmbereitschaft. Irgendetwas stimmte nicht.

“Was ist?”, flüsterte ich kaum hörbar.

“Wir unterhalten uns in meinem Büro darüber”, erwiderte er beschwichtigend.

Kaum waren wir allein, sah ich ihn ungeduldig an. “Bitte, sagen Sie mir, was los ist!”

Er nickte und zeigte auf den bequemen Sessel, in dem ich in den letzten zwei Monaten jeden zweiten Tag eine Stunde lang zu Therapiegesprächen gesessen hatte.

Ich lächelte unsicher. “Ich habe plötzlich ganz weiche Knie!”

Dr. Royce nahm nicht wie sonst an seinem Schreibtisch Platz, sondern zog einen anderen Sessel heran und setzte sich zu mir. Nun war ich fest davon überzeugt, dass sich etwas Folgenschweres zusammenbraute. Ich war zugleich nervös und aufgeregt. “Jemand ist gekommen, um Sie zu sehen.”

Ungewollt stiegen mir Tränen in die Augen. Ich glaubte erst, mich verhört zu haben, doch die ernste Miene des Arztes bestätigte mir, dass ich ihn richtig verstanden hatte. “Wer?”, brachte ich mühsam hervor.

Er antwortete nicht gleich, sondern gab mir Zeit, mich etwas zu sammeln. Auf dem Tisch neben ihm stand eine Kaffeemaschine; er schenkte mir eine Tasse ein und reichte sie mir. “Sein Name ist Greg Eastman”, sagte er nach einer Weile.

Während er den Namen nannte, beobachtete er mich aufmerksam. Doch wenn er sich eine Reaktion von mir erhofft hatte, so enttäuschte ich ihn. Der Name sagte mir nicht das Geringste. “Wer ist das? Woher kennt er mich?”

“Er ist Privatdetektiv.” Der Psychiater lächelte leicht. “Er hat Sie auf dem Zeitungsfoto wiedererkannt.”

Ich musste ebenfalls lächeln. “Er hat mich ... wiedererkannt? Das heißt, ich habe mich also wirklich nicht so sehr verändert?”

“Jedenfalls nicht so stark, dass er Sie nicht erkannt hätte.”

Ich verstand nicht recht. “Wollen Sie damit sagen, dass er sich erst nicht sicher war? Dass er deshalb abgewartet hat, bis ...?”

“Nein. Er war wohl verreist, als das Foto erschien, doch seine Sekretärin hat es routinemäßig ausgeschnitten und in seinen Ordner mit Bildern vermisster Personen gelegt. Sobald er Sie sah, wusste er, wer Sie waren.”

Ich wartete wie gebannt, dass er mir endlich verriet, wer ich war. Ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Plötzlich fühlte ich mich innerlich zerrissen, ich wusste nicht, was schlimmer war – meine Identität zu erfahren oder sie weiterhin nicht zu kennen.

“Er sagt, Sie seien Deborah Steele.”

Ich sah ihn ratlos an und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Es war ein höchst merkwürdiges Gefühl, ich war mit einem Mal wie benommen. “Deborah ...”, wiederholte ich langsam, um auszuprobieren, wie mir dieser Name über die Lippen kam. Er klang genauso fremd wie Katherine. “Ist er sich sicher?”

“Natürlich möchte er Sie persönlich sehen, aber ich denke, er ist sich ziemlich sicher. Er kannte Sie, recht gut sogar, wie er meint. Er wusste, dass Sie ... malen.”

Ich sah ihn fassungslos an.

“Und er hat ein Foto mitgebracht.”

“Von ... ihr?” Ich schaffte es noch nicht, “von mir” zu sagen. Es war alles zu unwirklich. Vielleicht wachte ich jeden Moment auf und stellte fest, dass ich das Ganze nur geträumt hatte.

“Die Ähnlichkeit ist verblüffend.”

Ich spürte, dass er mir etwas verschwieg. “Und die Unterschiede? Sind die auch verblüffend?”

Zum ersten Mal sah ich, dass Dr. Royce rot wurde. “Natürlich gibt es da gewisse ... Unterschiede. Die Nase, die Kieferkontur ...” Er verstummte.

Ich ahnte, dass es da noch mehr Unterschiede gab, doch ich wusste nicht, ob ich schon so weit war, sie mir anhören zu können. “Sie sagten, dieser Greg Eastman kennt mich?”

Dr. Royce beugte sich nach vorn, und ich wappnete mich instinktiv für die nächste Enthüllung. “Er ist nicht nur Privatdetektiv, sondern auch ein enger Freund ... Ihres Ehemanns.” Er atmete tief durch. “Nicholas Steele.”

Mein Ehemann? Mein Herzschlag beschleunigte sich, mir brach kalter Schweiß aus. Offenbar musste ich sehr elend aussehen, denn Dr. Royces Blick wurde mitfühlend. “Das alles ist sehr viel auf einmal, lassen Sie sich Zeit, das Ganze zu verdauen”, riet er mir fürsorglich.

“Mein Mann?”, wiederholte ich laut, doch die Worte klangen dadurch nicht realistischer. Ich starrte auf meine unberingte Hand. Hatte ich vor dem Überfall einen Ehering getragen? War er mir wie alles andere auch gestohlen worden? Aber ... ich fühlte mich nicht verheiratet. Ich hielt dem Blick des Arztes ratlos stand. “Und er heißt Nicholas Steele?”

Er betrachtete mich prüfend. “Klingt das irgendwie vertraut?”

Ich wollte den Kopf schütteln, doch plötzlich hielt ich inne. “Ich ... ich weiß nicht. Kann sein. Ich glaube, ich habe den Namen schon mal gehört.”

Konnte das ein erster Schritt sein? Doch wenn dem so war, hätte Dr. Royce eigentlich ein zufriedeneres Gesicht machen müssen. Stattdessen wurde seine Miene eher noch ernster. “Nicholas Steele ist Schriftsteller. Vielleicht haben Sie eins seiner Bücher hier in der Klinik gesehen oder eine Anzeige darüber in der Zeitung gelesen.” Er zögerte. “Andererseits ist es natürlich möglich, dass Sie ...”

“Nein”, unterbrach ich ihn energisch. “Ich muss seinen Namen irgendwo gelesen haben. Er beschwört nicht die geringsten Erinnerungen in mir herauf.”

“Nun, eventuell ist das nur gut so.” Ich spürte sofort, dass ihm diese Worte ungewollt herausgerutscht waren. Er lächelte verlegen. “Ich meinte nur, er schreibt ... Horrorromane.”

In meinem Kopf drehte sich alles. Wie konnte ich, die das Opfer einer so grässlichen Horrortat geworden war, dass ich darüber mein Gedächtnis verloren hatte, ausgerechnet mit dem Autor blutrünstiger Geschichten verheiratet sein? Das war ja geradezu abartig! “Sie glauben das doch nicht? Sie glauben nicht, dass ich die Frau eines ... solchen Mannes bin, oder?”

Seine Miene wirkte beinahe väterlich. “Was heißt das? Nur weil er Horrorstorys schreibt, muss er nicht ...”

“Ich kann mir nicht vorstellen, so etwas überhaupt zu lesen. Bestimmt habe ich das auch früher nicht getan!”

“Ehefrauen müssen nicht zwangsläufig zu der Arbeit ihres Mannes stehen.”

“Meinen Sie, ich bin Deborah?”

“Ich habe mich fast zwei Stunden mit Mr. Eastman unterhalten. Er nannte mir eine Menge Details, die absolut glaubwürdig klangen.” Er zögerte, und meine Anspannung wuchs erneut. “Er erzählte auch, dass Nicholas Steele in einer Kleinstadt drei Stunden nördlich von hier lebt, in Sinclair. Das liegt in den Catskill Mountains.”

Jetzt verstand ich auch seine Bemerkung von vorhin, als er sich mein Gemälde angesehen hatte. “Ich habe keine ganz konkrete Berglandschaft gemalt. Das ... kann gar nicht sein.”

“Bewusst vielleicht nicht”, fuhr er beinahe im Plauderton fort. Mir war klar, dass er mich beruhigen wollte, aber selbst er musste wissen, dass ihm das nicht gelingen würde. Dennoch versuchte ich, mich auf seinen Bericht zu konzentrieren. “Mr. Eastman hat ein Wochenendhaus in Sinclair”, erklärte er, obwohl ich eigentlich lieber mehr von meinem angeblichen Ehemann erfahren wollte. “Er verbringt fast jedes Wochenende und den Sommer dort. Er kennt Steele seit über fünf Jahren. Sie spielen Tennis zusammen, und Steele hat ihn wohl auch ein paarmal dankend in seinen Büchern erwähnt, wegen irgendwelcher technischen Ratschläge. Die beiden scheinen sehr gute Freunde zu sein.”

“Und was ist mit mir?” Da, nun hatte ich es gesagt. “Ich.” Nicht “sie”. Es war ein merkwürdiges, aber nicht unangenehmes Gefühl.

“Laut Eastman war Nicholas Steele ein überzeugter, eingefleischter Junggeselle, bis er eines Tages wegen Recherchen zu einem Buch nach St. Martin reiste und dort dem ‘Mädchen seiner Träume’ begegnete. So drückte Eastman es wörtlich aus.”

Ich musste unwillkürlich lächeln, doch ich wurde abrupt wieder ernst. Die ganze Geschichte war zu abwegig.

“Drei Wochen später kehrte er mit einer Ehefrau nach Sinclair zurück.”

“Liebe auf den ersten Blick, eine Blitzhochzeit auf einer tropischen Insel – das alles klingt wie aus einem Liebesroman.”

“Das ist jetzt zwei Jahre her”, berichtete Dr. Royce ruhig weiter. “Und dann, vor zweieinhalb Monaten, verschwand Deborah Steele plötzlich.”

“Sie verschwand?”, echote ich und erschauerte.

Er wandte den Blick nicht von mir. “Sie wollte mit dem Zug nach Manhattan zu einem Einkaufsbummel fahren. Das war das Letzte, was man von ihr gehört hat. Eastman sagt, er habe einen Monat lang sowohl zusammen mit der Polizei als auch auf eigene Faust nach ihr gesucht. Schließlich kehrte er nach Sinclair zurück, weil er dachte, ihr könnte schon dort etwas zugestoßen sein, ehe sie überhaupt den Zug genommen hatte. Als er da jedoch ebenfalls nichts in Erfahrung bringen konnte, fuhr er wieder nach Manhattan, und ...”

“Er sah mein Foto in seinem Ordner.”

Dr. Royce nickte.

Ich grübelte eine Weile verwirrt nach. “Und jetzt?”, fragte ich, weil ich überhaupt nicht wusste, was nun zu tun war.

“Mr. Eastman möchte Sie sehen und mit Ihnen sprechen. Ich sagte ihm, ich würde zuerst mit Ihnen reden, und schlug ihm vor, Ihnen ein oder zwei Tage Zeit zu lassen, um sich mit dem Gedanken anzufreunden. Sie brauchen nichts zu überstürzen. Ich weiß, das Ganze ist ein gewaltiger Schock für Sie und ...”

“Ist er noch hier?”

Er zögerte. “Ja, aber ...”

“Ich will ihn sehen.”

“Katherine ...”

“Aber ich heiße nicht Katherine, nicht wahr?”

Er machte ein finsteres Gesicht. “Doch, vorerst noch. Sie können nicht innerhalb weniger Minuten in eine ganz neue Identität mit einem neuen Namen schlüpfen. Das braucht Zeit. Und es besteht trotz allem die Möglichkeit, dass er sich irrt.”

“Ein Grund mehr, mich sofort mit ihm zu treffen”, beharrte ich. Ich sah Dr. Royce an, dass er nicht erfreut war über meinen Wunsch. “Ich muss Gewissheit haben, das verstehen Sie doch sicher!”

“Schon, aber in erster Linie liegt mir Ihr Wohlbefinden am Herzen. Das geht zu schnell, zu ...”

“Ich bin robuster, als ich aussehe.” Ich lachte und war selbst überrascht. “Das habe ich gerade eben erst herausgefunden!”

“Ich wusste es schon länger”, erwiderte er lächelnd. In diesem Lächeln entdeckte ich aufrichtiges Interesse an mir, und ich denke, daraus schöpfte ich einen Großteil meiner Kraft. Ich ahnte noch nicht, dass ich diese Kraft bald dringend nötig haben würde.

2. KAPITEL

Während ich in Dr. Royces Büro auf Greg Eastman wartete, versuchte ich, mich ein wenig zu sammeln. Ich hatte darauf bestanden, dass Dr. Royce mich allein ließ. Ich glaube, meine Bestimmtheit überraschte ihn. Ich selbst konnte diese plötzliche Anwandlung von Mut ja kaum verstehen.

Im Moment verweigerten meine Beine mir jedoch den Dienst, ich musste mich setzen. Ich atmete tief durch, aber es half nichts. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, meine Handflächen waren feucht – kurz, ich war entsetzlich nervös.

Eigentlich hätte ich doch froh sein müssen. Endlich jemand, der meinetwegen kam, der mich kannte und der mir das allerschönste Geschenk machen würde: mein wahres Ich. Natürlich konnte alles auch ein schrecklicher Irrtum sein. Vielleicht sah mich dieser Privatdetektiv nur einmal an und erkannte sofort, dass ich gar nicht Deborah Steele war. Plötzlich hoffte ich inständig, dass das nicht geschehen möge, denn sonst würde ich wieder ein Niemand sein.

Es gelang mir nicht, meine Nervosität in Schach zu halten. Diese Begegnung mit Greg Eastman konnte der Schlüssel zu meiner Vergangenheit sein. Und zu meiner Zukunft. Ganz gleich, was ich auch erfahren mochte, es würde besser sein als diese grässliche Leere und Einsamkeit der letzten Monate. Das redete ich mir immer wieder ein.

Trotzdem fuhr ich wie elektrisiert hoch, als Eastman nach etwa zehn Minuten das Zimmer betrat. Er lächelte und bat mich sanft, wieder Platz zu nehmen. Mein Mut war plötzlich restlos verflogen. Ich warf dem Privatdetektiv nur einen flüchtigen Blick zu, der jedoch ausreichte, um mir die Gewissheit zu geben, dass er mir absolut unbekannt vorkam. Ich war grenzenlos enttäuscht.

Wenn ich an jene erste Begegnung mit Greg zurückdenke, dann erinnere ich mich am deutlichsten an sein Lächeln. Es war abwechselnd freundlich, charmant und gewinnend. Ich atmete ein wenig auf. Ich nehme an, ich hatte eher mit einem abgebrühten Meisterdetektiv wie aus einem Krimi gerechnet. Greg war das genaue Gegenteil. Er sah blendend aus, hatte kurzes blondes Haar, regelmäßige Gesichtszüge – und eben dieses betörende Lächeln.

“Das Ganze muss ein ziemlicher Schock für dich sein, Deborah”, sagte er unvermittelt und benutzte meinen Namen mit solcher Selbstverständlichkeit, dass ich zusammenzuckte.

“Bin ich ... sie?” Mein Mund war wie ausgedörrt, meine Stimme klang wie ein heiseres Krächzen.

“Wenn nicht, dann haben die Ärzte jedenfalls ganze Arbeit geleistet.” Er schien seine Bemerkung sofort zu bereuen. “Verzeih mir, ich bin nur so unglaublich erleichtert, dich zu sehen. Dr. Royce hat mir alles erzählt, Deborah. Von dem Überfall, deinen Verletzungen, dem Gedächtnisverlust. Aber jetzt wird alles gut. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen.”

Nach Hause. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht die Fassung zu verlieren, doch es war zu überwältigend. Nach Hause! Mein Tränenausbruch schien Greg zu erschrecken. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Nach ein paar vergeblichen Versuchen, mich zu trösten, reichte er mir einfach nur ein Taschentuch und ließ mich weinen. “Es tut mir leid”, murmelte ich nach einer Weile verlegen.

“Nicht doch. Wahrscheinlich ist das das Beste für dich. Hat dich dein Psychiater überhaupt schon über Einzelheiten informiert?”, fragte Greg.

Ich wiederholte, was ich von Dr. Royce erfahren hatte, wobei auch ich Greg automatisch duzte. “Du kennst mich aus Sinclair. Du hast dort ein Wochenendhaus. Du bist mit Nicholas Steele befreundet. Du kennst ihn seit fünf Jahren, ihr seid Tennispartner. Nicholas war zwei Jahre verheiratet, dann verschwand seine Frau Deborah plötzlich vor zweieinhalb Monaten. Du hast mein Zeitungsfoto gesehen und mich als Deborah wiedererkannt.” Ich hätte genauso gut einen gedruckten Text ablesen können, nichts von dem, was ich sagte, hatte irgendeinen Bezug zur Wirklichkeit für mich. Mir war, als spräche ich von irgendwelchen Figuren aus einem Roman.

Greg beugte sich nach vorn. “Du musst gleich an deinem ersten Tag in der Stadt überfallen worden sein”, vermutete er. “Ich habe mir die Gegend angesehen, wo man dich gefunden hat. Bei Nacht ist es dort völlig verlassen, aber ein paar Modeschöpfer haben ihre Ateliers da. Du hattest schon immer Freude daran, dir neue, ausgefallene Designer auszusuchen. Du galtest stets als die bestgekleidete Frau von Sinclair!” Er zwinkerte mir zu, offenbar wollte er mich zum Schmunzeln bringen.

Doch ich war immer noch wie versteinert. Noch dazu wurde ich mir auf einmal schmerzlich meiner schäbigen Aufmachung bewusst. Das einfache Baumwollkleid war mir viel zu weit, meine gesamte Garderobe stammte eben aus dem kleinen Klinikladen und aus gut gemeinten Spenden einiger Krankenschwestern.

Greg beugte sich noch weiter zu mir, und sein prüfender Blick bereitete mir Unbehagen. Seine Gedanken waren jedoch gar nicht mehr bei meiner Kleidung. “Ich weiß, dass es schwer für dich ist, Deborah, aber für mich ist es auch nicht einfach. Erinnerst du dich denn wirklich an gar nichts mehr?”

Ich schüttelte langsam den Kopf. “Das alles kommt mir so unwirklich vor. Immer wieder denke ich, du musst dich irren.”

“Nein, das ist kein Irrtum”, behauptete er zuversichtlich. “Hier. Vielleicht hilft dir das.” Er zog ein Foto aus einem Umschlag und hielt es mir hin. Trotz aller Neugier brachte ich es nicht über mich, die Hand danach auszustrecken, und so legte er es mir schließlich auf den Schoß.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich es mir ansehen konnte. Es zeigte eine blonde Frau im Bikini, die auf dem Bug einer Segelyacht posierte und aufreizend in die Kamera lächelte. Am auffallendsten waren die lebendigen Farben – das gesund glänzende goldblonde Haar, die gebräunte Haut, der schimmernde rote Lippenstift und die vor Lebenslust funkelnden blauen Augen.

War ich das? In früheren, glücklichen Zeiten? Tatsächlich war die Ähnlichkeit unbestreitbar. Das lag nicht nur an der Augen- und Haarfarbe, sondern auch am Schnitt der Augen, des Mundes. Sogar unsere Nasen waren gar nicht so verschieden. Nur die Kieferform war anders. Ihr Kinn schien ausgeprägter, es verlieh ihr ein etwas trotziges Aussehen, was aber wiederum zu dem verführerischen Funkeln ihrer Augen passte. Sie wirkte so unglaublich selbstbewusst, vielleicht etwas zu sehr von sich überzeugt. Das war wohl der größte Unterschied zwischen uns.

“Du musst nur etwas zunehmen, dich ein wenig in die Sonne legen, und ...”

“Erzähl mir von ihr”, unterbrach ich ihn.

Er sah erstaunt aus, doch dann lächelte er. “Nun, sie ist sehr schön, lebhaft, immer zu Späßen aufgelegt ...”

All das konnte ich auch dem Foto entnehmen, ich wollte jedoch etwas über die Seiten an ihr – an mir? – erfahren, die nicht sichtbar waren.

Greg musste mir meine Enttäuschung angesehen haben. “Du machtest immer einen sehr selbstsicheren Eindruck, aber das war nur Schein”, fuhr er sanft fort. “Wir waren sehr gut befreundet, Deborah. Du vertrautest dich mir an. Du erzähltest mir, wie wichtig die Malerei für dich sei, und du sprachst auch davon, wie einsam du dich als Kind gefühlt hattest.”

“Meine Familie ...?”

Der Ausdruck seiner braunen Augen verriet mir, dass das ein trauriges Kapitel war. “Dein Vater ließ dich im Stich, als du noch sehr klein warst. Du warst stets traurig, weil du dich nicht mehr an sein Gesicht erinnern konntest. Das Einzige, was dir von ihm in Erinnerung geblieben war, war ein rotes Hemd, das er mit Vorliebe getragen hatte. Manchmal sagtest du ganz verbittert: ‘Kannst du dir vorstellen, dass du keine Erinnerung mehr an deinen Vater hast außer einem lächerlichen alten Hemd?’”

Ich sog seine Worte förmlich in mich auf und hörte in mich hinein, ob sie irgendein Echo in mir auslösten. Ich konnte die Gefühle dieses unglücklichen Kindes nachvollziehen, aber ich vermochte sie nicht als einen Teil von mir zu sehen. “Und meine Mutter?”

Er seufzte. “Sie starb, als du neun warst. Du zogst zu einer unverheirateten Tante nach Omaha. Ich zog dich immer damit auf, dass kein vernünftiger Mensch in Omaha leben könnte.”

“Und ich? Was habe ich darauf geantwortet?”

“Du sagtest: ‘Ich habe dort auch nicht gelebt, Greg, sondern allenfalls – existiert.’”

Ich saß ganz still da, während mir die Tränen wieder über die Wangen liefen. Genau dasselbe empfand ich auch hier in der Klinik. Zum ersten Mal verspürte ich eine echte Gemeinsamkeit mit Deborah.

“Ich bin sicher, sobald du wieder bei Nick in Raven’s Cove bist, kommt auch die Erinnerung zurück”, murmelte Greg leise.

“In Raven’s Cove? Rabenhorst – was für eine seltsame Bezeichnung!”

Greg schmunzelte. “Nach einer Erzählung von Edgar Allen Poe. Der richtige Name für die Behausung eines berühmten Verfassers von Spukgeschichten! Obwohl Nick diesen ganzen Unsinn gar nicht so ernst nimmt. Ich glaube, seine Cousine hat den Besitz so getauft.”

“Seine Cousine?”

“Zweiten Grades wohl. Lillian. Sie kümmert sich um den Haushalt, sehr ruhig und unscheinbar. Wegen der alten Lillian brauchst du dir keine Gedanken zu machen.”

“Ich mache mir über alles Gedanken!”, bekannte ich ehrlich. “Ich weiß nicht, ob ich so viel verkraften kann.”

Er wollte meine Hand nehmen, doch ich wich instinktiv zurück. Obwohl ich mich nicht an den Überfall erinnern konnte, war mir doch ein tief gehendes Unbehagen vor Berührungen geblieben. Ich entschuldigte mich bei Greg, aber er winkte ab. “Deborah, du gehörst nicht hierher. Hier wirst du nicht gesund werden. Und das möchtest du doch, nicht wahr?”

Natürlich, das konnte er sich doch denken. “Hast du schon mit ... ihm gesprochen?”, fragte ich unsicher. Ich schaffte es noch nicht, seinen Namen auszusprechen. Nicholas? Nick? Liebling? Ich errötete.

“Ja.”

“Und ... er erwartet mich?”

“Ja.”

“Warst du denn so sicher, dass ich mitkommen würde?”

Genauso wie ich mir sicher war, dass du Deborah bist. Und inzwischen bin ich mir sicherer denn je. Ich wiederhole, Deborah Steele ist ziemlich einzigartig. Da du das nicht beurteilen kannst, glaub es einem, der dazu in der Lage ist.” Es war ein warmherziges Kompliment ohne jeden verführerischen Unterton. Ich fing an Vertrauen zu Greg zu fassen. “Es wird alles gut werden, Deborah, das verspreche ich dir.”

Ich musste plötzlich lächeln. “Ich gestehe, dein Optimismus ist ansteckend!”

Er lachte herzlich auf. “Na, wenn das kein Fortschritt ist! Dr. Royce wird begeistert sein.” Er rieb sich die Hände. “So, und nun rufe ich Nicholas an und sage ihm, dass wir unterwegs sind.” Ihm schien einzufallen, dass er womöglich etwas zu überstürzt vorgegangen war. “Das heißt natürlich, wenn du so weit bist.”

Nun, da mein Schicksal endgültig besiegelt war, sah ich keinen Grund mehr, noch länger in der Klinik zu bleiben, auch wenn ich seelisch vielleicht noch längst nicht bereit war. “Ich muss nur packen und Dr. Royce Bescheid sagen.”

“Gut”, freute Greg sich. “Dann können wir zum Abendessen in Raven’s Cove sein.”

Der Regen setzte ein, als wir die Stadtgrenze von New York hinter uns ließen. “Alles in Ordnung?”, fragte Greg.

“Es ist nur das Wetter”, wich ich zögernd aus. Mein Unbehagen nahm zu, und ich fragte mich, ob ich nicht doch eventuell etwas zu spontan gehandelt hatte. Dr. Royce hatte noch versucht, mich zur Vernunft zu bringen. Er hatte sogar vorgeschlagen, Nicholas anzurufen und ihn zu bitten, er möge in die Klinik kommen, damit ich ihn dort erst ein paarmal sehen könnte, ehe ... “Warum ist er nicht gekommen?”

Greg warf mir einen verständnislosen Blick zu.

“Nicholas.” Es fiel mir nach wie vor schwer, den Namen auszusprechen.

“Ich habe ihm erst vor wenigen Stunden mitgeteilt, dass ich dich gefunden habe. Da war gerade sein Lektor bei ihm. Er wäre natürlich gekommen ... Wäre dir das lieber gewesen?”

“Nein. Ich weiß nicht.” Wieder erschreckte es mich, wie wenig ich von Nicholas Steele wusste. Es war mir unmöglich, an ihn als meinen Ehemann zu denken, er war mir doch völlig fremd.

Greg musste meine Gedanken gelesen haben, denn er fing an, mir von ihm zu erzählen. “Ich hätte ein Foto von ihm mitbringen sollen. Nun, ich beschreibe ihn dir einfach. Er sieht ausgesprochen gut aus, groß, dunkel, wie ein Filmstar. Obwohl ich ihn immer aufziehe, er solle sich die Haare schneiden lassen. Er hat ziemlich langes Haar und trägt es in einem Pferdeschwanz, dadurch wirkt er ein wenig wie ein Pirat. Frauen finden ihn schlagfertig, charmant und unglaublich sexy, während die meisten Männer rasend neidisch auf ihn sind.”

“Du auch?” Ich wurde rot. “Entschuldige, das war eine dumme Frage.”

Greg lachte nur. “Ganz und gar nicht. Die Antwort lautet – und wie! Wie alle anderen auch.” Er warf mir einen raschen Blick zu. “Vielleicht sogar noch mehr”, fügte er vielsagend hinzu. “Dabei ist Nick weiß Gott nicht vollkommen. Er kann ziemlich einschüchternd wirken, bis man ihn besser kennenlernt. Er ist sehr distanziert, außerordentlich diszipliniert und ein extremer Perfektionist.” Er fing meinen beunruhigten Blick auf. “Natürlich nur, was seine Arbeit betrifft. Er setzt sich selbst sehr hohe Maßstäbe, aber er erwartet von seinen Mitmenschen nicht, dass sie dasselbe tun”, versicherte er. “Sonst hätten wir wohl nie Freunde werden können. Denn verglichen mit dem großen Nicholas Steele bin ich nur ein ganz unscheinbarer Niemand!”

Letzteres fand ich zwar nicht, aber ich sagte nichts.

In etwa einer Stunde müssten wir da sein”, verkündete Greg wenige Minuten später.

Schon? Meine innere Anspannung wuchs, und obendrein regnete es jetzt heftiger. Worauf hatte ich mich bloß eingelassen?

Wieder schien Greg meine Stimmung zu spüren. Ohne nachzudenken, legte er mir die Hand auf das Knie. Es sollte eine beruhigende Geste sein, nichtsdestotrotz zuckte ich so heftig zusammen, dass Greg das Lenkrad herumriss. Der Wagen geriet ins Schleudern, und als Greg endlich wieder die Kontrolle darüber gewonnen hatte, waren wir beide schweißgebadet.

“Es tut mir leid!”, sagten wir gleichzeitig. Greg lachte, und ich brachte ein schwaches Lächeln zustande.

“Wollen wir irgendwo Kaffee trinken, bis das Unwetter vorbei ist?”, schlug er vor.

Ich schüttelte den Kopf und ärgerte mich, weil ich so übertrieben reagiert hatte. Ich musste wirklich langsam lernen, dass nicht jede Berührung automatisch eine Bedrohung war. “Nein, das ist nicht nötig, danke.” Ich kam mir entsetzlich albern vor und war froh, dass Greg kommentarlos weiterfuhr.

Als wir knapp eine Stunde später Sinclair erreichten, war der Himmel zu meiner Erleichterung tatsächlich aufgeklart. Die Straßen der malerischen kleinen Gebirgsstadt waren trocken, die Sonne hüllte die Postkartenlandschaft in ein warmes Licht.

Die Umgebung rief zwar keinerlei Erinnerungen in mir wach, trotzdem besserte sich meine Laune schlagartig. Die Ortschaft hatte eine warme, freundliche Ausstrahlung, wie ich zu meiner Freude feststellte.

Wir näherten uns jetzt einem kleinen Gemischtwarenladen. “Könnten wir hier bitte einen Moment halten?”, bat ich. “Ich würde gern einige Kleinigkeiten einkaufen. In der Klinik musste ich mit sehr wenigen Dingen auskommen.” Ein paar Kosmetikartikel schwebten mir vor, vielleicht auch ein Parfum. Aber – welche Duftnote? Was trug “Deborah”? Hatte “mein Mann” eine bestimmte Vorliebe? Ich überlegte kurz, ob ich Greg fragen sollte, doch dann war mir das zu peinlich.

“Brauchst du Geld?”, erkundigte er sich, als ich ausstieg.

“Nein, danke, ich habe genug dabei”, wehrte ich hastig ab. Tatsache war, dass ich im Krankenhaus keinen Cent besessen hatte, aber schließlich hatte ich Dr. Royces Angebot angenommen, mir einen gewissen Betrag zu leihen. Er hatte mich nicht mit leeren Händen gehen lassen wollen, und ich war darüber sehr gerührt gewesen. Einen Moment lang hatte ich mich bei dem Wunsch ertappt, mit Dr. Royce verheiratet zu sein anstatt mit Nicholas Steele. Jedenfalls hatte ich ihm versprochen, das Geld so bald wie möglich zurückzuzahlen. Ich hatte dabei gar nicht daran gedacht, dass ich Nicholas ja um dieses Geld würde bitten müssen. Oder verfügte ich vielleicht über eigenes Vermögen?

Ein Glöckchen bimmelte über der Tür, als ich das Geschäft betrat. Es war tatsächlich ein richtiger altmodischer Tante-Emma-Laden. Erleichtert stellte ich fest, dass außer dem Mädchen an der Kasse nur zwei Kundinnen im Geschäft waren, zwei ältere Damen, die an einem Buch- und Zeitschriftenständer plauderten. Größere Menschenmengen verursachten mir Unbehagen, und das hatte ich während der Fahrt auch schon zu Greg gesagt. Ich hatte befürchtet, dass sich ein so bekannter Autor wie Nicholas ständig mit irgendwelchen Leuten aus der “Szene” umgeben würde. Greg hatte mir jedoch versichert, dass Nicholas ein sehr zurückgezogenes Leben führte. Er liebte die Einsamkeit, hatte nur wenige enge Freunde und gab so gut wie nie Partys. Angeblich scheute auch er zu viel Trubel.

Das Kosmetikregal befand sich in dem engen Gang hinter dem Zeitschriftenständer. Staunend stand ich vor der großen Auswahl an Lippenstiften, Rouge und Lidschatten und achtete nicht weiter auf die Unterhaltung der beiden Frauen, bis ich plötzlich den Namen “Nicholas Steele” auffing.

“Schrei in der Nacht ist sein neuestes Buch”, sagte die eine gerade. “Natürlich dauert es noch, bis es als Taschenbuch herauskommt, aber ich konnte es nicht abwarten und habe mir in der Bücherei die gebundene Ausgabe geliehen. Dummerweise las ich den Roman abends im Bett – ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan!”

“Also, ich bin der Meinung, Nicholas Steele muss selbst ein wenig verrückt sein. Welcher halbwegs normale Mensch könnte sich sonst wohl so grausige Geschichten ausdenken?”

Ich erschauerte und hörte die andere Frau leise lachen. “Wir sind auch nicht besser, Joan! Wir sind schockiert, und trotzdem verschlingen wir seine Bücher geradezu.”

“Das ist doch nicht zu vergleichen, Alice! Abgesehen davon, er sieht schon so ... unheimlich aus! Dieses schwarze Haar und die Augen ... Ich habe noch nie jemanden mit wirklich schwarzen Augen gesehen! Man kann ja nicht mal den Übergang von der Pupille zur Iris erkennen. Also, mir macht er eine Gänsehaut.”

“Ich weiß nicht”, grübelte Alice laut. “Ich finde, er sieht irgendwie aus, als sei er geradewegs aus einem Geschichtsbuch entstiegen. Die wenigen Male, die ich ihn in der Stadt gesehen habe, habe ich mir gedacht, er müsste eigentlich einen dunklen Umhang und einen Degen tragen und auf einem schwarzen Pferd reiten!”

“Oder in einer dunklen Einfahrt lauern”, spottete die andere. “Oder in einem von Ratten wimmelnden Kerker hausen, wie dieser Verrückte aus seinem Buch Nur die Toten, das passt besser zu ihm!”

“Oh, hör auf, ich bekomme zu viel, wenn ich nur an dieses Buch denke!”

“Ich sage dir, Alice, Nicholas Steele ist ein sonderbarer Kauz. Kein Wunder, dass seine Frau ihm weggelaufen ist. Könntest du es etwa bei so einem Mann aushalten?”

Joan lachte erneut. “Ich weiß nicht, es könnte ganz aufregend sein.”

Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Das konnte doch nicht derselbe Mann sein, von dem Greg mir erzählt hatte? Er hatte Nicholas so anziehend und faszinierend geschildert und gesagt, die Frauen beteten ihn an!

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht hörte, wie das junge Mädchen von der Kasse zu mir kam. “Kann ich Ihnen behilflich sein?”

Ich zuckte heftig zusammen.

“Geht es Ihnen nicht gut?”, forschte das Mädchen besorgt. Es schien zu befürchten, ich könnte jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Ich nahm meine ganze Kraft zusammen. “Doch, doch”, murmelte ich und strebte hastig dem Ausgang zu. Ich war gerade an der Tür angekommen, da hörte ich, wie die eine Frau zu ihrer Freundin sagte: “Also, nein! Das gibt es nicht!”

“Was denn?”

“Sieh nur, ist das nicht Deborah Steele?”

Die Glocke, die bei meinem Betreten des Ladens so freundlich gebimmelt hatte, klang jetzt seltsam laut und bedrohlich, als ich die Flucht ergriff.

3. KAPITEL

Ich vermied es, Greg anzusehen, als ich wieder in den Wagen stieg. Fetzen des Gesprächs zwischen den beiden Frauen klangen in mir nach. Er muss selbst ein wenig verrückt sein ... Kein Wunder, dass ihm seine Frau weggelaufen ist ...

Weggelaufen? Aber Greg hatte doch gesagt, ich sei zum Einkaufen gefahren! Hatte er etwa gelogen? Nein, redete ich mir ein. Was wussten diese beiden Klatschtanten schon. Greg war Nicks Freund. Und meiner. Warum sollte er mich also belügen?

“Sag bloß, du hast bei Gus nichts gefunden!”, meinte Greg beim Anfahren.

“Bei wem?”

“So hieß der frühere Besitzer des Geschäfts. Er hat es vor fünfzehn Jahren verkauft, aber für die Einheimischen ist das noch immer Gus’ Laden.”

“Auch für ... Nick?”

“Nick ist wahrscheinlich der Einzige in Sinclair, der nicht weiß, wie der Laden heißt. Solche Kleinigkeiten bekommt er gar nicht mit. Wenn man so bekannt ist wie Nick, erregt man immer ein gewisses Aufsehen, sobald man irgendwo auftaucht. Nick kann so ein Getue um ihn nicht ausstehen. Außerdem hasst er den ganzen Klatsch ...”

“Klatsch?” Ich wurde hellhörig.

Greg schmunzelte. “Natürlich, so etwas bleibt nun mal nicht aus. Nick weiß das auch. Er versucht immer so zu tun, als berühre ihn das nicht, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihn doch stört.”

“Worüber wird denn geklatscht?” Ich hoffte, Greg möge nicht mitbekommen, wie unsicher meine Stimme klang.

“Ach, für die Leute hier ist Nick so ziemlich alles zwischen einem Hexenmeister und einem Vampir.” Er lachte. “Als Autor von Horrorgeschichten beflügelt man wahrscheinlich die Fantasie der Menschen ungemein, und sein Aussehen tut noch ein Übriges dazu. Seine Verleger sind natürlich begeistert, weil so etwas die Verkaufszahlen steigert. Stell dir bloß vor, der berühmte Verfasser von Horrorromanen, Nicholas Steele, sähe aus wie ein biederer Buchhalter!”

“Und was ist mit ... mir? Gab es über mich auch Gerüchte?”

Ich weiß nicht, ob es an der Frage an sich lag oder an dem Tonfall, in dem ich sie stellte, jedenfalls bremste Greg plötzlich und sah mich besorgt an. “Deborah, was ist? Du bist ja ganz blass! Hast du etwa Angst?”

Ich lachte gezwungen. “Das ist noch stark untertrieben!”

Er schenkte mir ein breites, beruhigendes Lächeln. “Das ist ganz normal. Schließlich musst du das Gefühl haben, mit einem wildfremden Menschen verheiratet zu sein.”

“So ungefähr.”

“Hilft es dir, wenn ich dir verrate, dass Tausende von Frauen liebend gern mit dir tauschen würden?”

Ich sah vielsagend auf meine unelegante Kleidung. “Nun, damit ganz sicher nicht!”

Greg fing meinen Blick auf und grinste. “Zugegeben, das ist nicht ganz dein sonstiger Stil. Schade, dass wir nicht früher daran gedacht haben. Es gibt ein paar Boutiquen in Sinclair, doch die schließen alle um fünf.”

“Macht nichts.” Neue Kleider hätten wohl auch nicht viel an meinem Unbehagen geändert.

“Wie findest du das Haus dort drüben?” Er zeigte auf ein hübsches weißes Gebäude. Ich nickte abwesend. “Mein Wochenendhaus. Ich werde den ganzen Sommer dort verbringen, wenn du dich also einsam fühlst ...”

“War ich früher oft einsam?”

“Wenn Nick an einem Buch arbeitet, zieht er sich meist völlig zurück. Brächte Lillian ihm dann nicht das Essen, würde er wahrscheinlich verhungern, ohne es zu merken.”

“Warum gerade Lillian? Warum habe ich ihm nie das Essen gebracht?”

Greg zuckte mit den Schultern. “Bestimmt hast du das mehrmals getan. Aber Lillian ist nun mal für das Kochen zuständig, und sie neigt dazu, Nick wie eine Glucke zu bemuttern.”

“Ist sie viel älter als er?” In dem Moment fiel mir ein, dass ich ja nicht einmal wusste, wie alt mein Mann war. Auch was mein Alter betraf, war ich mir nicht sicher. Ich fragte Greg.

“Nick ist siebenunddreißig. Er erwähnte einmal, Lillian sei ein paar Jahre jünger als er, doch das sieht man ihr nicht an. Als ich ihr das erste Mal begegnete, hielt ich sie für mindestens Mitte vierzig, wenn nicht fünfzig.”

“Und ich?”

“Arme Deborah. Erst jetzt begreife ich, wie schrecklich es für dich sein muss, dass du dich an gar nichts erinnerst, nicht einmal an dein Alter. Nun, du bist am siebzehnten April sechsundzwanzig geworden. Aber du siehst keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig!”

“Wenn du mein Vertrauen gewinnen willst, Greg, solltest du nicht so schamlos schwindeln!”

Zu meiner Überraschung huschte ein verletzter Ausdruck über seine Züge. “Ich dachte, ich hätte schon vor langer Zeit dein Vertrauen gewonnen, Deborah. Aber ich verstehe, dass ich noch einmal ganz von vorn anfangen muss. Und das werde ich auch, glaub mir.”

Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen meiner Zweifel an ihm. Das hatte er nicht verdient. Ich wusste zwar nichts von unserer früheren Beziehung, doch seine Anteilnahme an mir war aufrichtig.

Ungefähr eine Meile nach Gregs Haus bogen wir in eine steile, gewundene Bergstraße ein. Sie führte nach Raven’s Cove. Jetzt musste ich bald “zu Hause” sein. Meine Nervosität steigerte sich ins Unerträgliche.

Greg plauderte unterdessen über die Landschaft. Er wollte mich damit wohl ablenken, doch ohne Erfolg. Ich unterbrach ihn mitten in seiner begeisterten Beschreibung über die Freuden des Landlebens. “Hat er immer schon Horrorgeschichten geschrieben?”

Greg schmunzelte. “Du hast mir überhaupt nicht zugehört, stimmt’s?”

“Nein”, gab ich kleinlaut zu.

“Nun ja, ich kann dich verstehen. Also ... ob er immer schon solche Romane geschrieben hat? Ich bin mir nicht sicher, auf jeden Fall ist er dadurch berühmt geworden. Er gestand mir einmal, dass er gern etwas ganz anderes schreiben würde, aber das ist schwierig. Seine Fans wären entsetzlich enttäuscht.”

Ich musste wieder an die beiden Frauen im Laden denken. “War ich auch ein Fan von ihm?”

Selbstverständlich! Ich weiß nicht, ob du nun alle seine Bücher gelesen hast, aber auf jeden Fall hast du ihn in seinen Bemühungen unterstützt.”

“Er mich auch? Ich meine, bei meiner Malerei?”

Greg antwortete nicht und richtete seine ganze Konzentration auf die schmale, kurvenreiche Straße. In dem Moment fiel mir auf, dass er mir schon einmal eine Frage nicht beantwortet hatte, nämlich die, ob über mich auch geklatscht worden war. Kein Wunder, dass sie ihm weggelaufen ist. War das wirklich nur ein Gerücht gewesen?

“Du wirst hin und weg sein, wenn du Raven’s Cove siehst, es ist wirklich außergewöhnlich”, verkündete Greg freundlich. “Für dich wird es wahrscheinlich so sein, als sähest du es zum allerersten Mal.”

“War ich damals, bei jenem ersten Mal, auch hin und weg?”

Er lachte. “Da musst du nicht mich, sondern Nick fragen. Als dich der verliebte Bräutigam nach Hause brachte, wollte er mit dir ganz allein sein.”

Verliebt ... Ich verspürte ein eigenartiges Prickeln auf der Haut. “Und seine Cousine?”, fragte ich unschuldsvoll.

“Lillian? Oh, die zählt nicht. Sie gehört sozusagen zum Inventar in Raven’s Cove.”

Ich bezweifelte, dass Lillian sich über diese höchst unschmeichelhafte Bezeichnung freuen würde, und ich nahm sie Greg beinahe ein wenig übel. Andererseits, niemand war vollkommen, und ich reagierte wohl nur überempfindlich. War das schließlich ein Wunder? Wir näherten uns allmählich der Kuppe des Berges. Trotz Gregs enthusiastischer Andeutung stellte ich mir ein düsteres, bedrohlich wirkendes Herrenhaus vor, das plötzlich wie eine Erscheinung aus den Wolken ragen würde. Ich betrachtete die urwüchsige, wilde Landschaft, und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich während der ganzen Fahrt bergauf kein einziges anderes Haus gesehen hatte. “Lebt hier sonst niemand?”, fragte ich.

“Nein. Nick hat sämtlichen Grund aufgekauft, um ungestört zu bleiben.” Er warf mir einen beschwichtigenden Blick zu. “Keine Sorge, du wirst nicht völlig allein hier sein. Ich komme sehr oft nach Raven’s Cove. So oft, dass ich dir sicher bald lästig werde”, fügte er lächelnd hinzu.

“Bestimmt nicht”, versicherte ich hastig. “Ich finde dich sehr nett.” Unvermittelt fing ich einen Ausdruck in Gregs Augen auf, der mich stutzig machte. War er mir früher wirklich mal lästig gewesen? Oder, im Gegenteil, hatte ich ihn gar zu nett gefunden? Diese verwirrenden Gedanken brachten mich wieder auf die Beziehung zu meinem Mann. “Greg, waren Nick und ich glücklich verheiratet?” Als er schwieg, bekam ich auf einmal Herzklopfen. “Du musst es mir sagen, bitte”, beharrte ich inständig.

“Deborah, hör mir zu. Ich halte mich für einen guten Menschenkenner. Das bringt mein Beruf als Privatdetektiv schon mit sich.” Er hielt den Wagen an und wandte mir das Gesicht zu. “Ich bezweifle nicht, dass du immer in Nick verliebt gewesen bist. Vom ersten Tag an, an dem ich euch zusammen sah, bis zum letzten vor deinem Verschwinden. Das musst du mir glauben.”

Ich starrte ihn an. “Es war nicht nur eine Fahrt zum Einkaufsbummel, nicht wahr?”

Greg schloss kurz die Augen. “Du warst etwas ärgerlich auf ihn. Sogar die glücklichsten Ehepaare streiten hin und wieder. Nick und du, ihr wart da keine Ausnahme.”

“Worüber haben wir gestritten?”

“Ich dachte, wenn ich dir gestand, dass du damals im Streit fortgegangen bist, wärst du nicht mit mir gekommen. Dabei schuldete ich es Nick, euch beide wieder zusammenzubringen. Sobald dein Erinnerungsvermögen zurückkehrt, Deborah, werdet ihr beide ganz sicher die Wogen glätten können.”

“Worum ging es?”, beharrte ich steif.

Er rieb sich die Augen. “Du machtest Nick manchmal Vorwürfe, weil er dir nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Wie gesagt, wenn er schreibt, kapselt er sich meist sehr stark ab. Das nahmst du ihm bisweilen übel. Du warst jung, wolltest ausgehen und dich amüsieren. Stattdessen warst du häufig allein und gelangweilt, also sehntest du dich nach etwas mehr Zuwendung. Schließlich hattest du diese Segeltour geplant. Nur für dich und Nick, ich nehme an, als zweite Flitterwochen. Doch dann teilte Nick dir im letzten Moment mit, er könne nicht mitkommen, weil er sein Buch überarbeiten müsse. Da wurdest du böse ...”

“Warst du dabei?”

Greg wich meinem Blick aus. “Nur zu Beginn des Streits. Ich war nicht mehr da, als du fortgingst.” Als er mich wieder ansah, wirkte seine Miene schmerzerfüllt. “Wenn ich geblieben wäre, hätte ich dich vielleicht besänftigen können. Ich kannte Nick. Je wütender du wurdest, desto mehr zog er sich in sich zurück. Wahrscheinlich warst du irgendwann so frustriert, dass ...”

“Soll das heißen, ich habe Nick verlassen?”

“Nein, ganz sicher nicht. Wir wussten beide, dass du bald zurückkehren würdest. Wenn ... ja, wenn dir eben nichts zugestoßen wäre.”

“Und wie dachte Nick über das alles?”

Greg presste die Lippen aufeinander. “Nick zeigt seine Gefühle nicht leicht. Wenn du mich fragst, ist er sehr verletzbar und verschanzt sich oft hinter einer Mauer, um sich zu schützen.”

“Wie reagierte er, als du ihm sagtest, du hättest mich gefunden? Dass du mich ... nach Hause bringen würdest?”

Er seufzte. “Er sagte, er würde mit dem Abendessen auf dich warten.” Wir sahen uns eine Weile schweigend an. “Gib ihm eine Chance, Deborah. Und dir selbst auch”, meinte Greg schließlich. “Eins musst du wissen – ich werde immer für dich da sein. Das war früher so, und es hat sich auch heute nichts daran geändert.”

Das Haus war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Kein düsteres viktorianisches Herrenhaus, sondern ein Wunderwerk moderner Architektur aus Glas und Zedernholz schmiegte sich da an den Berg. Raven’s Cove war auf verschiedenen Ebenen in den Hang gebaut, jede Ebene verfügte über eine große begrünte Terrasse. Zwar rief das Haus keine Erinnerungen in mir wach, aber seine schlichte Schönheit zog mich dennoch sofort in ihren Bann. Meine Stimmung besserte sich ein wenig. Vielleicht begrüßte Nick mich ja sogar mit offenen Armen, weil die Frau seiner Träume endlich zurück war? Vielleicht war die Liebe der Schlüssel zu meinem Erinnerungsvermögen? Ach, wie naiv und unschuldig war ich damals. Oder auch nur – verzweifelt. Denn ich hatte den verzweifelten Wunsch, endlich irgendwo hinzugehören, ein Zuhause zu haben und geliebt zu werden.

Ein Kiesweg wand sich zum Haupteingang des Hauses. Kaum hatte Greg den Wagen angehalten, ging die Haustür auf. “Aha, das Empfangskomitee”, murmelte Greg spöttisch.

Mein Blick fiel auf eine große, ernste Frau mittleren Alters, die jetzt mit ausdrucksloser Miene über die Schwelle trat. Nur ihre pechschwarzen Augen spiegelten etwas wider, und ich konnte sogar von Weitem sehen, was das war – unverhohlene Vorwürfe und Misstrauen. Das musste Lillian sein, Nicks Cousine.

Greg kam um den Wagen herum und half mir beim Aussteigen. Er wollte wohl meine Hand nehmen, doch dann fiel ihm anscheinend meine Abneigung gegen Berührungen ein, und er verzichtete darauf. Schade, zum ersten Mal hätte mir das gutgetan. Ich brauchte jemanden, an dem ich mich festhalten konnte, jemanden, der mir wenigstens nicht mehr gänzlich fremd war und der mich nicht so missbilligend betrachtete wie die Frau an der Tür.

Greg holte meinen kleinen Koffer aus dem Wagen, meine gesamten Habseligkeiten. Ich kam mir erbärmlich vor, wie ich unter den kritischen, ungehaltenen Blicken von Lillian auf das Haus zuging. Sie schenkte mir nicht einmal den Ansatz eines Lächelns zur Begrüßung, ja, sie wich sogar ins Haus zurück, ehe ich überhaupt noch an der Tür angekommen war!

Während wir ihr folgten, warf ich Greg einen ängstlichen Blick zu, doch er zwinkerte nur aufmunternd. “Nun, da wären wir – endlich zu Hause!”, sagte er fröhlich zu Lillian, wobei er ihre finstere Miene völlig ignorierte.

“Er ist im Arbeitszimmer. Er schreibt”, antwortete Lillian steif und mit kalter, abweisender Stimme.

“Dann gehe ich und hole ihn”, verkündete Greg unbeirrt.

Panik ergriff mich, als ich meinen Verbündeten davongehen sah, beinahe wäre ich hinter ihm hergelaufen. Doch das hätte zur Folge gehabt, dass ich plötzlich Nick gegenübergestanden hätte. Es war wohl besser, wenn ich mich erst etwas beruhigte und auf ihn wartete.

Nicht dass das in Gegenwart der strengen, schweigsamen Lillian einfach gewesen wäre. Ich überlegte, ob ich irgendetwas sagen sollte, um die angespannte Atmosphäre zu lockern, doch mir fiel absolut nichts ein. Und Lillian kam mir auch nicht entgegen; sie stand nur da und durchbohrte mich mit Blicken. Es war, als wollte sie mich ganz bewusst einschüchtern, und das gelang ihr tatsächlich recht gut.

Die Frage war nur, weshalb? Sah ich so anders aus, dass sie Zweifel daran hatte, dass ich wirklich Deborah war? Oder war sie einfach ungehalten über meine Rückkehr? Hatten wir uns womöglich früher nicht vertragen? Und dann kam mir noch ein anderer Gedanke. War Lillian etwa eifersüchtig auf mich? War Nick mehr für sie als nur ein Cousin? Hatte sie es genossen, ihn während der letzten Zeit ganz für sich allein gehabt zu haben?

Ich wurde allmählich gereizt. Die Frau hätte wenigstens so viel Anstand zeigen können, mir ihre Meinung zu sagen. Ich fing an, meinen ganzen Mut zusammenzunehmen, um sie darauf anzusprechen. Doch als hätte Lillian meine Absicht geahnt, verzog sie plötzlich die Lippen, drehte sich abrupt um und verschwand wortlos.

Nun war ich ganz allein. Ich versuchte, mich innerlich für die nächste und zweifellos schwierigere Begegnung zu wappnen – die mit “meinem Mann”. Während ich auf ihn wartete, betrachtete ich das große, tiefer gelegene Wohnzimmer, das rechts von der geräumigen Diele abging. Die genau gegenüberliegende Wand bestand nur aus Fenstern und einer Glastür, der Blick auf die Berge war atemberaubend. Im Schein der untergehenden Sonne färbte sich der Himmel bereits rot. Ich wandte den Blick von der herrlichen Aussicht und konzentrierte mich auf den Raum selbst. Er war nur spärlich, aber außerordentlich geschmackvoll eingerichtet, es gab keine schweren, düsteren Möbelstücke. Modernes und Antikes ergänzten sich auf äußerst harmonische Weise, an den schneeweißen Wänden hingen ein paar moderne Gemälde. Ich kannte die Künstler, sie waren alle sehr berühmt. Kein einziges Bild stammte von einem Amateur, sprich, von Deborah. Beziehungsweise von mir.

Trotz der unzweifelhaften Schönheit des Raums wirkte er genau wie das Äußere des Hauses sehr schlicht und kühl. Alles kam mir irgendwie zu perfekt vor. Außerdem lag eine eigenartige, unheilvolle Schwere in der Luft, eine Stimmung, die mir eine Gänsehaut verursachte.

Du und dein Verfolgungswahn, schalt ich mich verärgert. Ich ließ es zu, dass irgendwelche dummen Gerüchte meine Wahrnehmung verzerrten, meine Empfindungen färbten. Rot färbten. Da war sie wieder, diese Vision ... rot. Rot wie Blut ...

Ich zitterte ohnehin schon am ganzen Leib, als ich hörte, wie hinter mir eine Tür aufging. Dann vernahm ich Schritte auf dem harten, kalten Marmorboden. Ich fuhr herum und stand Nick endlich gegenüber.

Mir wurde schlagartig klar, dass die beiden Frauen im Laden recht gehabt hatten. Er war genau so, wie sie ihn beschrieben hatten. In seinen schwarzen Augen brannte ein rätselhaftes Feuer; dazu die auffallend markanten Gesichtszüge, seine stolze, fast arrogante Körperhaltung, das glänzende, straff zurückgebundene schwarze Haar ... Ja, dachte ich. Es war, als stamme dieser Mann direkt aus einer finstereren, gefährlicheren Epoche der Geschichte.

Verzweifelt blickte ich an ihm vorbei, in der Hoffnung, Greg zu sehen. Doch der war wohl im Arbeitszimmer geblieben. Diese Begegnung zwischen Nick und mir sollte anscheinend unter vier Augen stattfinden. Wie sie verlaufen würde, war mir schleierhaft. Die dunklen, hypnotisierenden Augen gaben nichts preis. Nick stand jetzt ziemlich nah vor mir. Nein, auch sein Anblick rief keinerlei Erinnerungen in mir wach. Er wiederum sah ebenfalls nicht so aus, als erkenne er in mir seine Frau wieder.

Er fuhr fort, mich stumm zu mustern, ähnlich wie seine Cousine vorhin. Bei ihr jedoch hatte ich Unbehagen und Gereiztheit empfunden, während meine Gefühle jetzt ganz anderer Art waren. Mir war, als triebe ich hilflos in Stromschnellen, immer rascher auf einen Wasserfall zu. Ich glaubte fast das Dröhnen des Wassers zu hören, die Gefahr körperlich zu spüren, die mich einhüllte. Es gelang mir nicht, mich gegen den Sog zu stemmen. Warum hatte ich bloß nicht auf Dr. Royce gehört? Wenn ich Nicholas Steele so in der Klinik gesehen hätte, wäre ich dann überhaupt hierhergekommen? Ich wusste es nicht, und selbst heute kann ich diese Frage noch nicht mit Sicherheit beantworten.

Nur eins wusste ich damals – ich wollte vor diesem Mann, diesem schrecklichen Haus fliehen, doch ich war wie gelähmt. Ich fing an zu schwanken. Wie durch einen Nebel sah ich, wie Nick den Arm nach mir ausstreckte, und kurz darauf spürte ich seine große Hand auf meiner Schulter. Seine Berührung war wie Feuer und Eis zugleich. Ich wollte etwas sagen, doch plötzlich verschwammen seine Züge vor meinen Augen, alles begann sich um mich zu drehen. Und dann umfing mich endlich erlösende Dunkelheit.

4. KAPITEL

Ich bemühte mich, wach zu werden, und zog mir die Bettdecke über die Augen. Es war viel zu hell. Weshalb? Ich schlief doch immer bei zugezogenen Gardinen, jedenfalls in der Klinik. Davor ... nun, ein Davor gab es nicht. Schlaf war wie eine Art Flucht für mich, Flucht vor der Angst, der Ungewissheit. Ich ging früh ins Bett und stand spät auf. Natürlich wusste ich genauso gut wie die Ärzte, dass das im Grunde keine Lösung für mein Problem war, aber gab es denn überhaupt irgendeine Lösung?

Bei dem Gedanken war ich plötzlich hellwach. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass ich in der großen Diele von Raven’s Cove gestanden und in die hypnotisierenden schwarzen Augen von Nicholas Steele gestarrt hatte. Dann war mir auf einmal schwindelig geworden ...

Ich stellte fest, dass ich in einem breiten Bett lag, und statt meines Kleides trug ich ein hauchzartes Nachthemd. Wer hatte mich zu Bett gebracht? Und ausgezogen?

Ganz langsam schlug ich die Bettdecke zurück. Ich war in einem geräumigen, sonnendurchfluteten Zimmer mit Blumentapeten, einem großen Aussichtsfenster, einem antiken, handbemalten Kleiderschrank und einer hübschen Chaiselongue mit Chintzbezug ...

Ich hielt den Atem an, als mein Blick auf die Chaiselongue fiel. Dort saß, schweigend und mich abschätzend beobachtend, niemand anderes als Nicholas Steele. Seltsamerweise war ich nicht überrascht von seiner Anwesenheit.

“Was ist geschehen?”, brachte ich nach einer Weile hervor.

“Du bist ohnmächtig geworden.” Die tiefe, selbstsichere Stimme passte zu ihm, ebenso wie der leicht ironische Unterton.

Unwillkürlich antwortete ich gereizt im selben Tonfall: “Das weiß ich auch. Ich meinte, danach.”

Sein Gesichtsausdruck änderte sich kaum merklich, doch ich vermochte ihn nicht zu deuten. Nicholas erhob sich, und im Stehen wirkte er noch bezwingender. Das lag nicht nur an seiner Größe und seiner Haltung, sondern vor allem an der Ausstrahlung von Willensstärke und Kraft. Ich rechnete schon fast nicht mehr mit einer Antwort, da erklärte er sachlich: “Ich habe dich nach oben getragen. Dann hat man dich ins Bett gelegt, und du hast die ganze Nacht durch wie betäubt geschlafen.”

Ich war fassungslos, dass es bereits Morgen war. Wie lange hatte er wohl so dagesessen und mich beobachtet? Ich erschauerte. “Ich nehme keine Medikamente, falls dich das beunruhigt ...”

“Das tut es nicht.” Wieder herrschte eine Zeit lang Schweigen. “Ich nehme an, du hast Hunger.”

Ich schüttelte den Kopf. Mir stand der Sinn ganz und gar nicht nach Essen. “Hast du ...?” Ich blickte vielsagend auf mein Nachthemd.

“Was habe ich?”

Ich ärgerte mich, weil ich spürte, dass ich rot wurde. Und ihm nahm ich übel, dass er mich zwang, den ganzen Satz auszusprechen. Wollte er mich absichtlich in Verlegenheit bringen? Weil er mir unseren Streit noch immer nachtrug? Weil ich einfach davongelaufen war? Wollte er mir jetzt so wehtun, wie ich ihm damals wehgetan hatte? Ich atmete tief durch. “Ich habe Hunger.”

Täuschte ich mich, oder entdeckte ich tatsächlich den Anflug eines Lächelns auf seinen sonst so abweisenden Zügen? “Ich werde Lillian bitten, dir etwas heraufzubringen.” Ohne zu fragen, was ich essen wollte, ging er zur Tür. Doch sicher wusste er genau, was seine Frau für gewöhnlich frühstückte.

Ich dachte momentan allerdings nicht ans Essen, sondern musste wieder an meine erste, einschüchternde Begegnung mit Lillian denken. Ich hatte keine Lust, meinen ersten und bestimmt auch letzten Morgen in Raven’s Cove in Gesellschaft dieser mürrischen Frau zu verbringen. “Nick?”, rief ich ihm nach.

Er drehte sich um, seine Miene war plötzlich so finster, dass ich erschrak. Er hatte jedoch offenbar nicht vor, mir den Grund für seine Verstimmung zu nennen.

“Was ist denn los?”, ergriff ich daher die Initiative.

“Sollte etwas los sein?”, lautete seine zynische Gegenfrage.

Zorn flammte in mir auf. Nick provozierte mich ganz bewusst. “Du scheinst es nicht zu mögen, wenn ich dich beim Vornamen anrede”, vermutete ich steif, ohne zu wissen, ob er wirklich deswegen verärgert war.

“Mein Vorname ist Nicholas.”

“Greg nennt dich aber Nick.”

“Nur, um mich zu ärgern.”

“Ich verstehe”, antwortete ich ruhig.

“Auch du hast mich gelegentlich Nick genannt”, fuhr er spöttisch fort. “Allerdings nur im Rausch der Leidenschaft!” Ich wich errötend seinem Blick aus. “Nun, was wolltest du sagen?”, meinte er nach einiger Zeit.

Ich war überrascht wegen des auf einmal sanfteren Untertons in seiner tiefen Stimme. Nicholas Steele war offensichtlich einer jener Menschen, die einen mit ihren ständig wechselnden Stimmungen ganz aus der Fassung bringen konnten und immer das taten, was man gerade nicht von ihnen erwartete. “Ich wollte sagen, dass ich lieber unten frühstücken möchte.” Aber nicht unter Lillians kritischen Blicken, fügte ich im Stillen hinzu.

Er nickte gleichgültig und wollte gehen, doch dann drehte er sich plötzlich abrupt noch einmal um. “Du hast dich ziemlich stark verändert.”

Er sagte das so bedeutungsvoll, dass ich ein flaues Gefühl bekam. “Du bist dir nicht sicher, nicht wahr? Anfangs dachte ich, du seist nur deshalb so unfreundlich zu mir, weil du noch immer auf mich böse wärst. Greg erzählte mir, dass wir gestritten hätten. Doch jetzt glaube ich, du hast Zweifel, ob ich ... sie bin.”

“Sagst du den Leuten immer, was sie denken?”

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