Sinnliches Wiedersehen auf Sizilien

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Wenn sie sich nur erinnern könnte, wer der Vater ihres kleinen Sohnes ist! Aber seit einem Autounfall vor vier Jahren hat Orla ihr Gedächtnis verloren. Nur in ihren Träumen sieht sie immer den schönen Unbekannten … Bis sie zur Hochzeit ihrer Schwester nach Sizilien fliegt und in der Kathedrale unvermittelt dem italienischen Milliardär Tonino Valente gegenübersteht. Plötzlich kehrt ihre Erinnerung zurück! Tonino war ihr Geliebter! Vor ihm, dessen Blicke ihr Herz schneller schlagen lassen, ist sie damals Hals über Kopf geflohen - aber warum?


  • Erscheinungstag 16.06.2020
  • Bandnummer 2445
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714208
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Orla O’Reilly putzte sich die Nase und schluckte schwer. Um keinen Preis durften ihr weitere Tränen über die vom Weinen ohnehin schon geröteten Wangen rinnen. So sollte sie niemand sehen.

Zehn Tage zuvor war sie nach Sizilien geflogen, um jenen Mann zu treffen, den ihre Mutter stets abfällig „Orlas Samenspender“ genannt hatte. Erst jetzt begriff sie, dass ihre Mutter sich sogar noch diplomatisch ausgedrückt hatte.

Ihr Vater, der an jenem Morgen von einer Reise zurückgekehrt war, hatte sich geweigert, sie zu empfangen. Er wollte seine dreiundzwanzigjährige Tochter nicht kennenlernen.

Sie hatte zwar kein allzu emotionales erstes Treffen erwartet, doch seine unverblümte Abweisung …

Die tat weh. Richtig, richtig weh. Jetzt wollte sie nur noch, dass Tonino sie mit seinen starken Armen festhielt, wollte seinen Atem in ihren Haaren spüren und ihn „Alles wird gut“ flüstern hören.

Wenigstens etwas Positives war bei ihrer Reise nach Sizilien herausgekommen: Sie hatte ihren Traummann kennengelernt.

Vor zehn Tagen hatte ihr ein Blick in das billige Hotelzimmer genügt, um auf dem Absatz kehrtzumachen und zur Rezeption zurückzugehen. Orla war nicht pingelig, aber der Zustand dieses Zimmers hätte selbst die Geduld einer Heiligen überstrapaziert. Schmutzige zerknitterte Bettlaken, ein klebriger Teppich, und das Bad … Je weniger Worte man darüber verlor, desto besser.

Geschlagene sechs Minuten hatte sie an der Rezeption gewartet, bis eine große imposante Gestalt durch die Tür mit der Aufschrift Privato gekommen war und Orla dem attraktivsten Mann gegenübergestanden hatte, der ihr je unter die Augen gekommen war.

Bis zu dieser Sekunde hatte sie sich nie vorstellen können, beim Anblick eines Menschen zu glauben, sie wäre vom Blitz getroffen worden.

Der erste Anlauf, ihren Vater zu sprechen, war wegen dessen Auslandsreise gescheitert. Wieder im Hotel, hatte sie festgestellt, dass ihr Zimmer nicht nur geputzt, sondern auch desinfiziert worden war. Neue Möbel, Bettwäsche, Handtücher – sogar ein nagelneuer Teppich. Ihre Melancholie war verschwunden, als der hinreißende Hotelmanager an ihre Tür geklopft und gefragt hatte, ob sie am nächsten Morgen einen Kaffee mit ihm trinken wolle.

Gefolgt waren die wundervollsten anderthalb Wochen ihres Lebens – bis sie vor zwei Stunden zum zweiten Mal ihren Vater hatte aufsuchen wollen. Nach all den himmlischen Stunden mit Tonino war sie optimistisch gestimmt und fast davon überzeugt gewesen, die Begegnung werde einer Szene aus einem Hollywoodfilm gleichen, voller tränenreichen Umarmungen und rührseliger Worte.

Genau acht Minuten hatte ihr Vater gebraucht, um ihr das Herz zu brechen. So lange hatte seine Haushälterin sie vor der Tür warten lassen, um dann mit der „bedauerlichen“ Nachricht zurückzukehren, dass er seine Tochter nicht empfangen wollte.

Sie musste versuchen, sich davon nicht zu sehr herunterziehen zu lassen. Sich nur noch auf Tonino konzentrieren.

Jenen Mann, der sie zum Leben erweckt und dem sie ihr Herz geschenkt hatte.

Orla wünschte, sie hätte ihm von ihrem Vater erzählt. Wäre mutig genug gewesen, Tonino den wahren Grund für ihre Reise nach Sizilien zu gestehen. Doch sie schämte sich, zuzugeben, dass sie das uneheliche Kind eines des berüchtigtsten Playboys der Insel war. Ein Kind, das ein verheirateter Mann mit einer Geliebten gezeugt hatte.

Ihr ganzes Leben hatte sie echte Freundschaften und Beziehungen gemieden und ausschließlich ihrer Schwester, Aislin, und ihren Großeltern vertraut. Nach deren Tod blieb nur noch Aislin.

Und dann war sie Tonino begegnet.

Heute wollte sie ihm alles erzählen. Er würde sie verstehen. Trösten. Jener Fels in der Brandung sein, den sie sich immer gewünscht und stets für unerreichbar gehalten hatte.

Vorhin im Bett hatte Tonino sich mit einem zärtlichen Kuss von ihr verabschiedet, ihre Wange gestreichelt und gesagt, er müsse am Abend mit ihr reden. Sein Blick und der Klang seiner Stimme hatten signalisiert: Es stand ein ernstes Gespräch bevor. Orla gab sich alle Mühe, die wilden Gefühle zu zügeln, die in ihr tobten, doch nicht einmal die Ablehnung durch ihren Vater konnte ihre Euphorie dämpfen. Eine Zukunft lag zum Greifen nahe vor ihr. Zum ersten Mal spürte sie, dass das Leben mehr als einen Beruf bereithalten könnte. Liebe …

Der Taxifahrer stoppte hinter einer glänzenden Stretchlimousine, die vor dem billigen Hotel völlig fehl am Platze wirkte. Erschöpft stieg Orla aus. Sie wollte schnurstracks in ihr Zimmer und ein Bad nehmen, während sie darauf wartete, dass Tonino von seiner Geschäftsreise in der Toskana zurückkehrte. Heute waren sie zum ersten Mal länger als ein paar Stunden getrennt. Was für ein Glück, dass sie ihren Traummann gefunden hatte, als der gerade seinen Urlaub antrat und sie viel Zeit miteinander verbringen konnten!

„Permesso.“ Eine ebenso schöne wie dünne Blondine mit Katzenaugen stellte sich ihr in den Weg, als sie auf den Fahrstuhl zusteuerte.

Orla hob beide Hände und wollte der Frau ausweichen, doch die machte einen Schritt zur selben Seite, sodass sie wieder vor ihr stand.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Sicher gehört die Limousine dieser eleganten, makellos frisierten und geschminkten Dame, dachte Orla.

„Engländerin?“ Die Fremde zog eine perfekt gezupfte Braue hoch.

„Irin.“

„Darf ich Sie kurz sprechen?“

Orla blickte die Frau überrascht an. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr die Blonde erklärend fort: „Wegen Tonino Valente.“

Orlas Magen krampfte sich zusammen. „Was ist mit ihm?“

Die Frau hob die linke Hand und zeigte auf ihren Ringfinger, an dem ein riesiger Diamantring funkelte. „Ich bin Sophia. Toninos Verlobte.“

Zwanzig Minuten später saß Orla in ihrem Hotelzimmer auf dem Teppich und fühlte sich, als hätte ihr ein Schwergewichtler mit Blei in den Boxhandschuhen einen Haken versetzt. Um sie herum lagen Fotos von Tonino und Sophia, Zeitungsartikel und Hochglanzmagazine. Sie verstand kein Sizilianisch, doch für einige Worte in den Artikeln brauchte sie keine Übersetzung. Die Medien hatten ausführlich über Toninos und Sophias Verlobungsparty vor zwei Monaten berichtet.

„Tut mir leid, dass Sie es so erfahren müssen.“ Sophia, die auf einem kleinen Sessel Platz genommen hatte, schenkte ihr einen mitleidvollen Blick. Der Tonfall hingegen legte nahe, dass sie jede Minute genoss. „Tonino hat Sie zum Narren gehalten. Sie belogen. Für ihn sind Sie Spaß, sì?“

„Ich war nur ein bisschen Spaß?“, flüsterte Orla. „Ist es das, was Sie meinen?“

„Sì. Darum bin ich hier. Ich warne Sie. Tonino liebt mich. Wir werden heiraten.“

Orla bemerkte die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen. Sie war zu durcheinander, um sich darum zu scheren, dass eine Drohung nicht nur in den Worten, sondern auch in der Stimme der Sizilianerin lag. Bestimmt hatte Tonino heute Abend über dieses Thema reden wollen.

Und sie Närrin hatte geglaubt, es drehe sich um die gemeinsame Zukunft!

Mit zittrigen Fingern nahm sie eine Zeitschrift mit einem zwanzigseitigen Artikel über die Verlobungsparty vom Teppich.

Wie konnte ein ganz normaler Hotelmanager mit dieser offenkundig vermögenden und anspruchsvollen Frau liiert sein? Warum berichteten Reporter, die sich sonst nur für die Reichen und Schönen interessierten, über ihn?

Ihr wurde speiübel, als sie ihr Handy zückte und Tonino Valentes Namen in die Suchmaschine eintippte.

Zehn Minuten später las sie noch immer, aber es kam ihr vor, als hätte jemand Besitz von ihrem Körper ergriffen und würde ihr die erdrückenden Beweise vortragen.

Wie betäubt fühlte sie sich. Als hätte sie keinen einzigen Knochen im Körper mehr.

Tonino hatte nicht nur über seinen Familienstand gelogen.

Er war gar nicht der Manager, wie er sie hatte glauben lassen, sondern der Eigentümer dieses Hotels, das nur ein Mosaiksteinchen in seinem riesigen Imperium darstellte.

Tonino Valente besaß Valente Holdings, eine Kette erfolgreicher Luxushotels in ganz Europa, in denen stinkreiche Gäste logierten. Er war selbst stinkreich.

Jener Mann, dem sie ihr Herz geöffnet und in dessen Nähe sie sich gestattet hatte, auf eine gemeinsame Zukunft zu hoffen, entpuppte sich als Betrüger und Lügner. Ein Lügner der schlimmsten Sorte: reich und mächtig. Sein Großvater war einer von Siziliens höchsten Richtern, seine Mutter eine bekannte Strafverteidigerin und sein Vater ein führender Politiker.

Dem Internet nach hieß die schöne Frau, die in einem geradezu obszön teuren Outfit gerade in diesem Hotelzimmer saß, Sophia Messina. Die Messinas waren eine sizilianische Familie, ebenso vermögend und einflussreich wie die Valentes.

„Es tut mir leid“, flüsterte Orla, während Sophia sie kalt anblickte. „Ich wusste nichts von Ihnen.“

„Jetzt wissen Sie … Und Sie gehen?“ Wieder schwang eine Drohung mit.

Orla brauchte keine Drohung.

„Ja.“ Sie atmete tief durch, um die Übelkeit zurückzudrängen, rappelte sich hoch und stolperte auf unsicheren Beinen zum Schrank, um ihren Koffer zu holen. „Ja, ich gehe.“

1. KAPITEL

Vier Jahre später.

„Stehst du bitte eine Minute still?“, tadelte Orla kopfschüttelnd ihre Schwester. Wie sollte sie Aislins Brautkleid schließen, wenn diese immerzu auf der Stelle wippte?

„Ich versuche es ja.“

„Versuch es energischer. Diese Häkchen sind kniffelig. Einatmen.“

Theatralisch holte Aislin Luft.

Mühsam bugsierte Orla das zweite Häkchen in die Öse. Ausgezeichnet. Nur noch fünfzehn weitere verdammte Dinger. „Bist du sicher, dass du keinen BH anziehen willst?“

„Es ist ein trägerloses Kleid.“

„Dann nimm einen trägerlosen BH. Was machst du, wenn das Kleid herunterrutscht und die sizilianische High Society deine blanken Brüste bewundern kann?“ Wenn es etwas gab, um das sie Aislin beneidete, dann war es deren beeindruckende Oberweite.

„Dieses Kleid ist maßgeschneidert. Es wird nicht rutschen.“

Orla schob das dritte Häkchen in die Öse. „Warum lässt du dir nicht von der Designerin helfen?“

„Die bleibt in der Nähe, für den Fall, dass wir sie brauchen.“

„Aber sie ist an das hier gewöhnt. Sie hat geschickte Finger, ganz im Gegensatz zu mir.“ Endlich steckte das vierte Häkchen in der Öse. Angespannt atmete Orla aus.

„Mach dich mal locker. Man könnte ja glatt glauben, du heiratest heute.“

„Bist du denn überhaupt nicht nervös?“

„Nö.“ Aislin strahlte, und dazu hatte sie auch allen Grund. Sie heiratete nicht nur die Liebe ihres Lebens, sondern wusste auch seit einem Monat, dass sie schwanger war.

Orla wünschte nur, die Hochzeit fände in Irland statt. Bestimmt lag es an ihrer unterschwelligen Angst, dass sie so ungeschickt an den Häkchen herumfummelte. Oder war das Gefühl in ihrem Magen nur Aufregung?

Fest stand jedenfalls, dass ihr Herz in den Wochen vor der Hochzeit immer schneller geklopft hatte. Und nun, da sie endlich in Sizilien war, erfüllte die Ahnung, dass etwas passieren könnte, sie mit Vorfreude – oder Furcht.

Fast vier Jahre lag ihre erste Reise nach Sizilien inzwischen zurück. Sechs Monate nach ihrer Rückkehr hatte sie bei einem schweren Autounfall große Erinnerungslücken davongetragen. Nach und nach hatte sie sich wieder an das meiste erinnern können, aber die Zeitspanne zwischen ihrem Aufenthalt in Sizilien und dem Unfall existierte in ihrem Gedächtnis noch immer nicht.

Dass der Wunsch, ihren Vater kennenzulernen, sich leider nicht erfüllt hatte, wusste sie von Aislin. Nach seinem Tod im letzten Jahr hatte sie viel geweint, doch da war immer auch ein Gefühl, dass sie um mehr weinte als nur um den Vater, den sie nie getroffen hatte.

Sie tröstete sich mit der Tatsache, dass sie einen Bruder bekommen hatte: Salvatores Sohn, Dante. Genau genommen war er ihr Halbbruder. So, wie Aislin ihre Halbschwester war, auch wenn Orla es nie so betrachtete. Man liebte einen Menschen ja nicht halb. Entweder liebte man ihn oder nicht. An das Leben ohne die drei Jahre jüngere Aislin konnte sie sich nicht erinnern. Sie waren Schwestern und beschützten einander bedingungslos.

Aislin hatte Dante aufgespürt, um Orla einen Gefallen zu tun, und sich in ihn verliebt. Obwohl er erst vor vier Monaten in ihr Leben getreten war, fühlte es sich an, als hätte er schon immer dazugehört.

„Holst du es eben?“, fragte Aislin, als ihr Handy summte.

„Okay, aber rühr dich nicht. Falls die Häkchen aufgehen, mache ich sie nicht noch einmal zu.“ Orla schnappte das Handy von der Frisierkommode, reichte es ihrer Schwester und machte sich wieder an die Arbeit.

„Eine Nachricht von unserer lieben Mutter“, verkündete Aislin.

Das Häkchen entglitt Orlas Fingern. „Was will sie denn?“

„Mir Glück wünschen.“

„Wie großzügig von ihr“, schnaubte Orla.

„Na komm, sei nicht so. Du weißt doch, dass es nicht leicht ist, in ein Flugzeug zu steigen, um die Hochzeit deiner jüngsten Tochter mitzuerleben.“

„Stimmt. Es ist schließlich nicht so, als wäre der Verlobte ihrer Tochter ein Milliardär, der angeboten hat, sie mit seinem Privatjet herzubringen.“

„Und es ist auch nicht so, als hätte sie ihre Töchter seit – warte mal – sieben Jahren nicht gesehen.“

„Oder als hätte sie ihr einziges Enkelkind nie kennengelernt.“ Finn, Orlas dreijähriger Sohn, ihr Wunder des Lebens, schlief unter den wachsamen Augen einer Krankenschwester im Nebenzimmer.

Die Schwestern hatten vor langer Zeit gelernt, dass sie Ärger und Schmerz wegen ihrer Mutter am besten mit Humor erstickten.

„Ich schätze, du solltest dankbar sein, weil sie daran gedacht hat“, meinte Orla trocken.

„Ich fließe fast über vor Dankbarkeit.“

„Und ich habe offen gestanden eine Heidenangst vor Dantes Mutter.“ Orlas Geburt war vor siebenundzwanzig Jahren der Auslöser für die Scheidung von Dantes Eltern gewesen.

„Das brauchst du nicht. Ich habe dir doch erzählt, dass sie dir nicht feindselig gesonnen ist.“

„Aber sie hört sich furchterregend an.“

„Sie ist umwerfend komisch. Als Dante ihr angekündigt hat, dass sie Oma wird, meinte sie, sie wolle auf keinen Fall Nonna genannt werden.“

„Wie werdet ihr sie denn nennen?“ Es gelang Orla, zügig hintereinander zwei Häkchen zu schließen.

Aislin kicherte. „Nonna!“

„Ist sie schon hier?“ Mit „Hier“ war das traumhafte Luxushotel auf einer Klippe über dem Tyrrhenischen Meer gemeint. Dante hatte das Anwesen für dieses Wochenende gemietet.

„Sie fährt mit Giuseppe direkt zur Kathedrale.“ Giuseppe war Dantes aktueller Stiefvater, Immacolatas sechster Ehemann.

Es klopfte, und ein Hotelmitarbeiter trug ein riesiges Blumenbouquet in die Suite. „Mit den besten Empfehlungen des Besitzers“, sagte er auf Englisch.

„Wie reizend.“ Aislin klatschte vor Freude in die Hände. „Stellen Sie die Vase bitte auf das Fensterbrett und danken Sie Mr. Valente in meinem Namen.“

Valente?

Aus einem unerfindlichen Grund stellten sich die feinen Härchen in Orlas Nacken auf. Rasch blickte sie zur Tür, hinter der ihr Sohn schlief.

Als sie wieder allein waren, trafen sich die Blicke der Schwestern im Spiegel. „Hast du den Hotelbesitzer schon kennengelernt?“, fragte Aislin.

Jetzt richteten sich auch noch die Härchen auf ihren Armen auf. „Sollte ich denn?“, fragte sie leichthin und grub die nackten Zehen in den flauschigen Teppich. Ihr wurde eiskalt.

Aislin zuckte die Schultern, sah ihre Schwester allerdings so nachdenklich an, dass der noch mulmiger wurde. „Tonino ist einer von Dantes Platzanweisern bei der Trauung. Die beiden sind alte Freunde. Schon ihre Väter waren befreundet.“

Orlas Finger versteiften sich, als würden sie ein Eigenleben führen. Ihre Brust wurde eng, der Boden schien zu schwanken …

„Autsch!“, quiekte Aislin.

Erst jetzt spürte Orla den Rücken ihrer Schwester unter ihren Fingernägeln. Hastig zog sie die Hände weg – samt des Häkchens, das sie gerade hatte schließen wollen.

Neben den hohen Eingangstüren wartete Tonino Valente darauf, dass die letzten Gäste die Barock-Kathedrale betraten.

Dante stand am Altar und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn.

Tonino musste sich ein Lachen verkneifen. Wer hätte gedacht, dass sein Freund Dante Moncada vor Lampenfieber schwitzen würde, während er auf seine Braut wartete? Vor Jahrzehnten waren sie mit ihrer Clique auf Mofas durch Palermo geflitzt und hatten die Coolen gemimt, um Mädchen zu beeindrucken. Damals hatte Dante geschworen, sich nie zu binden. Nur Tonino war davon ausgegangen, eines Tages zu heiraten, und doch gab es heute außer ihm keinen anderen Junggesellen mehr in der Clique.

Einmal hatte er fast geheiratet, diese Kathedrale sogar schon gebucht, bevor das Schicksal in Form einer irischen Verführerin eingeschritten war. Ein einziger Blickkontakt, und in seinem Leben war nichts gewesen wie zuvor.

Seltsam, dass Dante eine Irin heiratete. Tonino hatte sie nur kurz getroffen, die attraktive rothaarige Frau, die seinen Freund in einen liebeskranken Narren verwandelt hatte.

Was hatten Irinnen an sich, dass sie einem Sizilianer derart den Kopf verdrehen konnten?

Seine Irin … Nun, die Romanze war extrem kurz gewesen. Wenn auch intensiv. Unglaublich intensiv. Dann war seine Geliebte abgereist, ohne sich zu verabschieden. Kein Wort. Sie hatte einfach gepackt, sich aus dem Staub gemacht und seine Nummer blockiert, sodass er sie nicht anrufen konnte.

Die Kälte, mit der sie die Affäre damals beendet hatte, war schon bemerkenswert.

Er konnte kaum fassen, dass er vier Jahre später noch immer an die Frau dachte.

Am Fuße der Stufen, die zur Kathedrale führten, mühte sich in der Nachmittagssonne ein junges Paar mit einem Rollstuhl ab, der zugleich ein Kinderwagen war. Tonino eilte hinunter, um den Gästen zu helfen.

„Sie gehören zur Braut?“, fragte er auf Sizilianisch und dann auf Englisch, als sie es in die Kirche geschafft hatten. Alle Platzanweiser waren über die Gehbehinderung des Neffen der Braut informiert worden. Vorne in der Kathedrale war ein Platz für ihn reserviert, damit er gute Sicht hatte. Bis seine Mutter, die Brautjungfer, mit Aislin eintraf und übernehmen konnte, sollte ein Platzanweiser bei dem Jungen bleiben. Das ist jetzt wohl mein Job, folgerte Tonino.

„Ja“, antwortete die junge Frau mit irischem Akzent stolz. „Ich bin Carmel, Aislins Cousine. Das ist mein Mann, Danny, und dieser junge Mann heißt Finn.“

„Aislins Neffe?“

„Richtig. Aislin und die anderen haben das Hotel kurz nach uns verlassen. Sie müssten gleich hier sein.“

Ich stelle mich besser vor, um Finn nicht zu verschrecken, überlegte Tonino und hockte sich vor dem Jungen hin. Der trug eine Miniaturversion jenes Anzugs, für den Dante sich entschieden hatte. Seine Haare waren schwarz und dicht, die Augen ganz dunkel …

Beim Blick in diese Augen blieben Tonino die Worte im Halse stecken.

Ein Moment verstrich. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Hallo Finn, mein Name ist Tonino. Ich bringe dich nach vorne, und dort warten wir auf deine Mummy.“

Der Junge belohnte ihn mit einem breiten Lächeln. Er hatte winzige weiße Zähnchen.

Tonino richtete sich auf, nahm die Griffe des Rollstuhls, offenbar eine Spezialanfertigung, und schob ihn durch den Mittelgang. Als Finn den Bräutigam am Altar erspähte, streckte er beide Arme nach ihm aus.

Lächelnd kam Dante herbei und hockte sich hin, damit Finn ihm die dünnen Ärmchen um den Hals schlingen konnte. „Tragen“, forderte Finn, auch er mit irischem Akzent.

„Gleich. Zuerst muss ich Tante Aislin heiraten.“

„Dann tragen?“

„Darauf kannst du wetten. Sei brav und warte auf deine Mummy. Bis sie hier ist, kümmert sich Tonino um dich.“ Dante küsste Finn auf die Wange, wuschelte ihm durch die Haare und kehrte zum Altar zurück.

Tonino war an Kleinkinder gewöhnt. Sein Bruder hatte zwei, und seine Schwester war gerade zum dritten Mal Mutter geworden. Abgesehen von der Gehbehinderung gab es keinen Grund, weshalb dieser Junge seine Aufmerksamkeit fesseln sollte, und doch … Er hatte so etwas an sich … Etwas Vertrautes. Etwas, das Toninos Haut kribbeln und sein Herz schneller schlagen ließ.

„Wie alt bist du, Finn?“ Seine Kehle war wie ausgedörrt.

Das Kind runzelte die Stirn und hielt drei Finger in die Höhe.

„Drei Jahre?“, wiederholte Tonino skeptisch, weil Finn ihm dafür zu klein erschien.

Der Junge nickte.

„Dann bist du ja schon fast ein Mann.“

Wieder blitzten die weißen Zähnchen auf.

Das Gemurmel wurde lauter. Finn blickte über die Schulter und reckte den Hals. „Mummy!“

Die Braut und ihr Gefolge waren eingetroffen.

Eingehakt bei ihrem stolzen Vater und ebenso strahlend wie er schritt die zauberhafte Braut zum Altar. Ihre Schleppe trugen zwei Mädchen, zwischen sich eine schlanke brünette Frau in einem langen altrosafarbenen Kleid, das an das antike Griechenland erinnerte. Gerade blickte sie das Mädchen zu ihrer Linken an, deshalb konnte Tonino ihr Gesicht nicht sehen.

„Mummy!“, rief Finn erneut, lauter diesmal.

Das Pochen in Toninos Brust wurde noch dumpfer und schneller.

In der nächsten Sekunde blickte die Brünette in seine Richtung, und jäh stellte sein Herz die Tätigkeit ein.

Orla klammerte sich an die Schleppe wie an einen Rettungsanker. Trotzdem hörten ihre Beine nicht auf zu zittern.

Tonino Valente. Drei Jahre hatte sie verzweifelt versucht, sich diesen Namen ins Gedächtnis zu rufen. Als Aislin ihn vorhin erwähnt hatte, war es Orla vorgekommen, als würde in ihrem Hirn ein Licht angeknipst. Dass sie sich an den Namen erinnerte, versetzte ihr einen Schock. Gleichzeitig packte sie Panik: War das hunderttausend Euro teure Brautkleid etwa ruiniert, weil sie das Häkchen abgerissen hatte?

Dann ging alles rasend schnell. Die fieberhafte Suche nach der Designerin, die sie schließlich in der Hotelbar aufspürten. Das erneute Annähen des Häkchens, wobei die Designerin Orla mehr böse Blicke zuwarf, als die in ihrem ganzen bisherigen Leben geerntet hatte. Die Ankunft der beiden Mädchen, die als Brautjungfern fungierten. Aislins Vater … Plötzlich war die Suite voller Menschen gewesen, und Orla hatte sich zusammenreißen müssen.

Dies war der bedeutendste Tag in Aislins Leben. Sie hatte ihre eigenen Bedürfnisse drei Jahre lang für ihre Schwester und deren Sohn zurückgestellt. Ohne sie hätte Orla die Narben auf ihrer Haut und in ihrem Inneren nicht ertragen können. Die ersten achtzehn Monate nach Finns Geburt hatte Aislin sich um ihren Neffen gekümmert und Orla täglich in der Rehaklinik besucht.

Nun war Orla an der Reihe, ihre Schwester zu unterstützen, ihre Beschützerin und beste Freundin, ihren Schutzengel. Dies war Aislins Tag.

Ihr war übel vor Angst, als sie sich dem Altar näherten. Sie musste all ihre Konzentration aufbieten, um die Schleppe richtig zu halten, und wagte es kaum, den Blick von den beiden Mädchen zu nehmen. Womöglich schaute sie sonst in die dunkelbraunen Augen, die sie bis in ihre Träume verfolgt hatten.

Konnte es wirklich er sein?

Fast vier Jahre lag es nun zurück. Nur eine Nacht hatten sie zusammen verbracht. Oder zwei Nächte? Drei? Mehr? Ihr Gedächtnis war löcherig wie Schweizer Käse. Manche Erinnerungen waren mit der Zeit zurückgekehrt, doch was mit Tonino und Sizilien zu tun hatte, glich unscharfen Schnappschüssen. Orla wusste nur noch, dass sie ihm in dem Hotel begegnet war, in das sie eingecheckt hatte, um ihren Vater zu finden … Und an sein wunderschönes Gesicht erinnerte sie sich. Ganz deutlich. Immer, wenn es vor ihr aufstieg, musste sie tief einatmen, um den schneidenden Schmerz abzuwehren, der sie durchzuckte. Tränen zurückblinzeln, die ihr kamen, ohne dass sie den Grund dafür kannte.

„Mummy!“

Die Stimme ihres Sohnes durchdrang den Nebel der Angst in ihrem Kopf. Sie brachte ein Lächeln zustande und blickte an ihrer Schwester vorbei, zu jener Stelle links vom Altar, wo sie und Finn laut Plan sitzen sollten.

Ihr erzwungenes Lächeln gefror.

Neben Finn saß ein großer, dunkelhaariger, hinreißender Mann. Und er richtete den Blick aus seinen schwarzen Augen direkt auf Orla.

Ihr Magen schien einen Sturzflug zu vollführen. Das Blut dröhnte ihr zäh und heiß in den Ohren, bis ihr schwindelig wurde.

Sie nahm nicht wahr, wie Aislins Vater die Braut ihrem Verlobten übergab oder die beiden kleinen Brautjungfern sich entfernten. Auch nicht, wie sie selbst zu ihrem Sohn ging. Nur eine flammende Hitze spürte sie, die ihren gesamten Körper durchdrang, während sie glaubte, auf der Stelle ohnmächtig zu werden.

Autor

Michelle Smart
Michelle Smart ist ihrer eigenen Aussage zufolge ein kaffeesüchtiger Bücherwurm! Sie hat einen ganz abwechslungsreichen Büchergeschmack, sie liest zum Beispiel Stephen King und Karin Slaughters Werke ebenso gerne wie die von Marian Keyes und Jilly Cooper. Im ländlichen Northamptonshire, mitten in England, leben ihr Mann, ihre beiden Kinder und sie...
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