Skandalöse Versuchung für die Duchess

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Ihrem verstorbenen Gemahl trauert Valencia, die Dowager Duchess of Dedham, nicht wirklich hinterher. Doch ihr Glück währt nicht lange: Der Erbe ihres Mannes taucht auf. Rhain, der neue Duke of Dedham, ist ein breitschultriger Waliser und kennt weder gute Manieren noch Humor. Zähneknirschend muss sie sich mit ihm arrangieren, denn als Witwe hängt ihre Zukunft von ihm ab. Während sie versucht, seine wilden Schwestern unter die Haube zu bringen, verbringt sie mehr und mehr Zeit mit dem gefährlich verführerischen Rhain. Nie wieder wollte Valencia heiraten! Aber ihr wilder Waliser führt die Duchess auf skandalöseste Weise in Versuchung …


  • Erscheinungstag 27.09.2025
  • Bandnummer 178
  • ISBN / Artikelnummer 0840250178
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sophie Jordan

Skandalöse Versuchung für die Duchess

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzessinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrer Familie in Houston, und wenn sie sich nicht gerade die Finger wund tippt bei einem weiteren Schreibmarathon, sieht sie sich gerne Krimis und Realityshows an.

Die beiden glücklichsten Tage in meinem Leben waren mein Hochzeitstag … und die Beerdigung meines Mannes.

(Valencia, die Dowager Duchess of Dedham)

1. KAPITEL

11. April 1822

Die Themse

London, England

Der Ehemann der Duchess of Dedham war tot.

Der Unglückliche war vor fast einem Jahr verstorben, als man ihn mit gebrochenem Genick am Fuße einer Treppe fand. Das überraschte niemanden, denn sein Gesundheitszustand war überaus schlecht gewesen, und er war auf Alkohol und Laudanum angewiesen, um die Tage zu überstehen. Das war kein Geheimnis. Die einzige Überraschung war vielleicht, dass er überhaupt so lange überlebt hatte, bevor er während einer Landhausparty in den Tod stürzte.

Jetzt, als Dowager Duchess of Dedham, war Valencia frei und bereit, das Leben zu genießen. Wenn sie ehrlich sein wollte, war sie schon bereit gewesen, als sie erfuhr, dass sie eine Witwe war, aber es gab Regeln. So viele Regeln. Regeln, die sie ihr ganzes Leben lang befolgt hatte. Nicht, dass sie ihr jemals gute Dienste geleistet hätten. Regeln, so fand sie, waren für Frauen selten von Vorteil. Und doch hatten sich diese Regeln geändert, jetzt, da sie nicht mehr Dedhams Frau war. Endlich.

Sie war fertig mit der Trauer. Fertig mit schwarzer Kleidung. Fertig mit dem Verstecken in ihrem Haus in Mayfair.

Sie hatte es ein Jahr geschafft. Elf Monate, um genau zu sein, aber das war eine angemessene Zeitspanne, um niemandes Unmut zu erregen. Zeit genug, um sich in gestärktem Bombasin zu kleiden und sich der Gesellschaft zu verweigern, um Salons, Tees, Soireen, Bälle und Adlige mit ihrem falschen Lächeln zu meiden.

Am Anfang war ihr ihre Lage sogar ganz lieb gewesen. Nachdem ihr Mann auf so dramatische Weise verstorben war, war das Alleinsein eine Wohltat. Sie hatte sich in die Isolation geflüchtet, sich mit ihrer eigenen Gesellschaft getröstet und war mit jedem Tag stärker geworden, bis sie sich bereit fühlte, wieder unter die Lebenden zu gehen.

Jetzt war sie so weit.

Heute war ihr Geburtstag, und ihr Mann war für immer aus ihrem Leben verschwunden. Das war vielleicht das größte Geschenk von allen. So schrecklich der Gedanke auch war, es war die Wahrheit. Der Dedham, den sie einst geliebt hatte, war bereits vor Jahren gestorben, als er vom Pferd gefallen war und sich stark verletzt hatte. Ein anderer Mann hatte seinen Platz eingenommen. Nicht ihr wahrer Ehemann. Ein Geist. Ein Fremder. Dieser Fremde war vor fast einem Jahr gestorben, und sie konnte kein Bedauern über den Verlust empfinden.

Sie musste nicht mehr unter Dedhams grimmiger, kontrollierender Präsenz leiden. Sie musste sich nicht mehr in den Schatten verbergen, um seinem Zorn zu entgehen. Sie musste sich nicht mehr so klein wie möglich machen. Sie feierte das Leben – den Rest ihres Lebens –, und sie hatte lange Jahre des ehelichen Elends wiedergutzumachen.

Mehr als ein Dutzend Feiernde, allesamt ihre engsten Freunde (und Feinde), hatten sich auf der ein wenig wackligen Jacht eingefunden, die soeben die Docks verlassen hatte und nun in der Abenddämmerung langsam durch die dunklen Gewässer der Themse glitt. Ziel: Vauxhall. Sinn und Zweck des Ganzen: eine mitreißende gute Zeit.

Und wer konnte es schon wissen? Vielleicht würde sie einem gut aussehenden Gentleman begegnen, der sie auf einen der berüchtigten Spaziergänge durch die Schwärze der Nacht mitnahm. Das würde ihr in der Tat sehr gut gefallen. Es war schon viel zu lange her, dass sie berührt worden war. Seit ein attraktiver Mann ihr Herz zum Rasen gebracht hatte. Seit sie gehalten und geküsst worden war.

Oh, sie küsste gern. Sie hatte gar nicht genug davon bekommen können. Es gab viele Dinge aus ihrer Anfangszeit mit Dedham, die ihr jetzt wie ein verschwommener Traum vorkamen, aber dieser Teil war wahr. Ihr Vergnügen am Küssen war echt gewesen.

Die Gewichtsgrenze der Jacht war vielleicht überschritten worden, aber das kümmerte die Gäste nicht. Sie lachten. Sie tranken. Sie applaudierten dem Opernsänger, der für sie auf einem kleinen Podium sang. Sie johlten, klatschten, plauderten, stießen miteinander an und genossen den Abend in vollen Zügen.

Damen in farbenfrohen Kleidern rekelten sich auf den Kissen, lachten und nippten am Champagner, der von livrierten Dienern serviert wurde, die sich auf dem schwankenden Deck mit akrobatischer Geschicklichkeit bewegten. Fackeln loderten an der Reling, zischten und knisterten und brachten die kostbaren Seiden-, Satin- und Brokatstoffe zum Glänzen und Funkeln. Ganz zu schweigen von den Juwelen. In tiefen Dekolletés und aufwendig frisiertem Haar blitzten außergewöhnliche Edelsteine.

Die auffällige rote Perücke der Marchioness wirkte wie eine Flamme in der Nachtluft, als deren Trägerin fröhlich lachte. Valencia verengte ihren Blick auf ihre Stiefmutter. Eine Hexe. Wäre die Frau nicht mit Valencias Vater verheiratet gewesen, hätte sie sie sicher nicht eingeladen. Aber: gesellschaftliche Verpflichtungen und so ein Unsinn. Valencia verdrehte die Augen und seufzte, bevor sie einen Schluck von ihrem Champagner nahm.

„Lass dir von ihrem Anblick nicht den Abend verderben“, riet Tru ihr, die den Grund für Valencias Seufzen sehr richtig erraten hatte.

„Ich kann nicht glauben, dass ich sie tolerieren muss. Besonders heute Abend.“ Immerhin war es eine Feier zu ihren Ehren, und trotzdem musste sie die lächerliche Frau ihres Vaters ertragen.

Sie beäugte ihren Vater mit Abscheu. Mit seinen knorrigen Händen, die mit papierdünner Haut überzogen waren, umklammerte er den mit Edelsteinen besetzten Knauf seines Gehstocks. Er war nicht mehr besonders gut auf den Beinen, und doch hatte er es irgendwie geschafft, die Rampe hinauf an Bord der Jacht zu erklimmen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich auf eine Party nach Vauxhall wagen würde, und doch war er hier.

Einige Gentlemen auf einer Barkasse, die bereits am Südufer der Themse angelegt hatte, bemerkten ihre Jacht, was auch kein Wunder war bei all dem fröhlichen Trubel, der weithin hörbar darauf herrschte. Sie winkten und riefen ihnen über das Wasser zu. Ein junger Mann presste sich beide Hände aufs Herz, als er ihnen zurief: „Schöne Damen, bitte erlauben Sie mir, Sie durch die Gärten zu begleiten!“ Valencia hielt sich an der Reling fest und winkte lachend zurück. Sie blickte wieder zu Tru. „Sieh dir all diese lüsternen jungen Kerle an.“

Und dann mit gesenkter Stimme: „Hätte Hazel nicht einen von ihnen nehmen können? Warum musste sie ausgerechnet meinen Vater auswählen?“

Maeve, stets rational und vernünftig, zuckte neben Tru mit den Schultern. „Warum nicht deinen Vater? Er ist wohlhabend, hat einen beeindruckenden Titel und ist vernarrt in sie.“

Valencia schüttelte den Kopf. „Die Hochzeit ist jetzt schon so lange her, und ich kann immer noch nicht glauben, dass Papa sie geheiratet hat.“ Seine Geliebte. Er hatte seine Geliebte geheiratet. Es beschmutzte das Andenken ihrer Mutter.

„Natürlich kannst du das“, gab Maeve zurück. „Wie so viele Männer ist dein Vater ein eitler Mann, und es schmeichelt seinem Stolz, eine junge und schöne Frau zu haben. In dieser Hinsicht ist er genau wie alle anderen auch.“

„Hätte er sich nicht eine Frau aussuchen können, die nicht die Geliebte der Hälfte der Männer in unserer Runde war?“, brummte sie.

„Oh, du übertreibst“, schimpfte Tru.

„Sie übertreibt nicht“, warf Lady Ashbourne ein, die sich gerade zu ihnen gesellt hatte, nickte in Richtung der Marchioness und hob ihr Glas zum spöttischen Gruß. „Ich weiß nur, dass mein lieber Ashbourne seinen Federkiel in dieses Tintenfass getaucht hat.“ Sie hob absichtlich die Stimme, um Hazel mit diesen aufrührerischen Worten auf sich aufmerksam zu machen.

Hazel runzelte die Stirn und kam zu der kleinen Gruppe. „Sprechen Sie von mir, Lady Ashbourne?“

Lady Ashbourne blickte Hazel hochmütig an, eindeutig kampfbereit. „In Wahrheit sprach ich von Ihrem … Tintenfass.“

Hazel wich alle Farbe aus den Wangen, und Valencia tat sie fast – aber eben auch nur fast – leid. Valencia konnte es nicht leugnen. Sie genoss es, das Unbehagen ihrer Stiefmutter zu beobachten. Bis Hazel reagierte.

Die Marchioness hob die Hände und versetzte Lady Ashbourne einen kräftigen Stoß gegen die Brust. Sie prallte gegen Valencia, die dadurch direkt über die Reling der Jacht geschleudert wurde.

Valencia stürzte mit einem Schrei in die dunklen Fluten der Themse. Brackwasser strömte in ihre Lungen. Das Gewicht ihres schönen Kleides zog sie hinunter, hinunter, hinunter.

Sie kämpfte, ruderte mit den Armen, trat gegen das Gewirr der Röcke und versuchte, an die Oberfläche zu gelangen. Es war unmöglich. Sie wand sich und drehte sich. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, wo oben und unten war. Der Überlebenswille sickerte aus ihr heraus. Ihre Lungen brannten wie Feuer, und ihre Glieder wurden zu Blei – sie war unfähig, sich zu bewegen …

Sie würde ertrinken, sie würde sterben, gleich wäre sie tot.

Ausgerechnet an ihrem Geburtstag.

Herr im Himmel!

Ohne Vorwarnung schlang sich ein hartes Band um ihre Taille, und sie wurde hochgezogen, schwebte und durchbrach die Wasseroberfläche. Sie keuchte und hustete und saugte süße, belebende Luft ein.

Das Band um ihre Taille war ein Arm. Ein Arm, der zu einem Mann gehörte. Einem Mann, der sie rettete und sie in ein Boot zog. Dankbar für den festen Boden unter ihr, rollte sie sich auf die Seite, hustete und spuckte grässliches Flusswasser aus. Ein großer Schatten fiel auf sie, der das Fackellicht auslöschte. Sie richtete sich ein wenig auf, stützte sich auf einem Ellbogen auf und blickte sich wild um. Dies war nicht ihre Jacht.

Sie befand sich auf einer Barkasse.

Die Barkasse voller lüsterner junger Männer.

Ihr Blick schoss zu dem klatschnassen Mann, der über ihr hockte; seine unmöglich breite Brust hob und senkte sich vor Anstrengung. Davon, dass er ins Wasser gesprungen war, um sie zu retten.

Er verzog den Mund zu einem schiefen, viel zu selbstbewussten Lächeln. Die Art von Lächeln, die sagte, dass er wusste, wie gut er aussah. „Du hättest nicht in den Fluss zu springen brauchen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, Süße.“

Sie öffnete den Mund, um mit dem Mann zu sprechen, schaffte es aber nur, zu husten und noch mehr Flusswasser auszuspucken. Das konnte kein reizvoller Anblick sein. Sie konnte kein reizvoller Anblick sein. Obwohl sie doch zu Beginn des Abends sorgfältig gepudert und geschminkt und hübsch angezogen gewesen war.

Ein anderer Mann sprach; er hatte einen tiefen, kehligen Akzent. „Hör auf zu flirten, Dewey. Siehst du nicht, dass sie versucht, nicht zu ersticken?“

Valencia drückte die Hände flach auf den Boden des Decks und blickte auf zu dem Mann, der sprach, während sie sich bemühte, ihren Atem zu beruhigen. Er war ebenfalls ein gut aussehender Teufel. Allerdings gab es nichts Hübsches im herkömmlichen Sinne an ihm.

Seine Gesichtszüge, gleichwohl attraktiv, waren schroff. Sein Haar war von mitternachtsdunkler Farbe. Er hatte tiefbraune Augen. Bartstoppeln auf seinem markanten Kiefer. Er war genau die Art von Mann, mit dem sie sich gern auf einen Spaziergang durch die Gärten Vauxhalls begeben würde. Ein gut aussehender Fremder. Nicht zu jung. Und nicht zu alt. Genau richtig für ihren Geschmack. Attraktiv auf seine ganz eigene Weise.

Er war kein bleichhäutiger Dandy, der die Strapazen der freien Natur nicht gewohnt war. Seine Haut war sonnengebräunt. Ein kurzer Blick auf seine Gestalt zeigte, dass auch sein Körper nicht der eines Dandys war. Seine Schultern waren breit. Starke Arme. Ein dicker Bizeps unter dem Stoff seines Jacketts. Und er war groß. Größer als ihr eigener Mann gewesen war, und der hatte sie um einige Zentimeter überragt. Ein ganz und gar männliches Wesen. Ihr wurde der Mund trocken, und sie schluckte. Ein paar feine Fältchen umgaben seine Augen, die auf Erfahrung und Humor hindeuteten. Allerdings runzelte er gerade die Stirn und blickte besorgt und ernst drein, während er sie ansah.

Sein Blick war fast finster. Ein wenig grob. Als hätte sie ihn verärgert.

Dieser finstere Blick konnte sie aber nicht vergessen lassen, dass dieser Mann genau das war, was sie sich für heute Abend zu finden erhofft hatte. Abgesehen von dem finsteren Blick, natürlich. Ein finsterer Blick war nie Bestandteil ihrer Fantasie gewesen.

Aber es war unmöglich, seine Attraktivität zu übersehen, ob mit oder ohne finsterem Blick.

Sie errötete und strich sich eine nasse Strähne aus der Stirn. Es war verrückt, dass sie an so etwas dachte, während sie doch vor wenigen Augenblicken fast ertrunken wäre. Beinahe gestorben. Vielleicht war das aber auch der Weg. Der Lauf der Welt. Nachdem man dem Tod nur knapp entronnen war, sah man die Dinge sehr klar – vielleicht sogar klarer und präziser als je zuvor.

Vielleicht war das der Grund, warum sie diesen Mann mit taxierendem Blick betrachtete, wie eine Jägerin ihre Beute. Gelassen und nachdenklich … abschätzend. Sie wurde daran erinnert, worum es heute Abend eigentlich ging.

Sie hatte ein Leben lang gewartet, wie es schien.

Viel Zeit hatte sie mit ihrer Ehe verloren, mit Dedham. Und dann, nach seinem Tod auf dieser höchst unglücklichen (oder glücklichen?) Hausparty, hatte sie fast ein Jahr geopfert, um den Mann zu betrauern. Jetzt war sie frei. Frei, zu tun, was sie wollte.

Die gestrenge Miene des Fremden tat seinem hervorragenden Aussehen keinen Abbruch. Vielleicht verstärkte er sogar seine Attraktivität, da sein markanter Kiefer, die patrizische Nase und die dichten Augenbrauen über seinen braunen Augen auf diese Weise betont wurden. Faszinierende Augen.

Ihr Retter, Dewey – der charmante Typ mit dem selbstverliebten Lächeln –, nahm sie sanft an den Armen und half ihr auf die Beine. „So, Madam.“

Sie blickte auf ihr durchnässtes Kleid hinunter und stöhnte jämmerlich. „Mein Kleid“, brachte sie heraus.

„Kleider kann man ersetzen. Sie haben Glück, dass Sie noch leben“, murmelte der strenge Teufel.

Sie brummte und schickte einen Blick über das Wasser zu der sich in einiger Entfernung befindlichen Jacht, auf der sich ihre Freunde tummelten. Sie hatte tatsächlich Glück, dass sie noch lebte. Das Gewicht ihres Kleides hatte sie hinuntergezogen; sie wäre für immer verloren gewesen in den Tiefen der Themse. Dank Hazel. Ihre Stiefmutter freute sich wahrscheinlich über Valencias Unglück. Zweifellos wünschte sie sich, Valencia wäre ertrunken.

Oh, sie hatte sie nicht direkt über Bord gestoßen, aber die junge Frau würde Valencias Missgeschick nicht bedauern. Es gab keine Zuneigung zwischen ihnen. Und auch keine Gemeinsamkeiten. Von Anfang an hatte es nur Spannungen gegeben, und die hatten sich im Laufe der Jahre nur noch verschlimmert.

„Vielleicht sollte die Lady sich nicht allzu sehr verausgaben, es scheint ihr nicht zu bekommen“, fügte der gut aussehende Teufel hinzu und warf ihr einen tadelnden Blick zu.

Sie verspannte sich angesichts seiner Unhöflichkeit. „Ich bitte um Verzeihung?“

Er winkte ihr mit seinen langen, eleganten Fingern zu. „Offensichtlich können Sie mit Alkohol nicht umgehen, Madam.“

„Cousin“, sagte der junge Charmeur missbilligend, während er ihren Ellbogen umfasste. „Sei freundlich. Sie hat eine Tortur hinter sich.“

In der Tat, das hatte sie. Nicht, dass Deweys Cousin auch nur den Anschein erweckte, Mitgefühl für sie zu empfinden. Er musterte sie mit leicht geschürzten Lippen und einem jetzt unübersehbaren unfreundlichen Gesichtsausdruck. Offenbar war er der Meinung, dass sie keine Freundlichkeit verdiente.

Das war alles zu viel.

Es war ihr zweiunddreißigster Geburtstag, die Feier zum Abschluss ihres Trauerjahres, und hier stand sie wie eine ertrunkene Ratte und wurde von diesem Mann aus wo auch immer beleidigt. Nun, sie konnte seinen Akzent nicht einordnen. Vielleicht war es ein schottischer? Aber sie war sich nicht sicher. Zweifellos stammte er von einem Ort weit weg von hier. Aus irgendeinem entlegenen Winkel jenes Landes, in dem die männlichen Bewohner keine Erziehung genossen und daher auch keine Manieren hatten.

Er war wie ein Gentleman gekleidet, aber das hatte nichts zu bedeuten. Kleidung machte einen Mann noch lange nicht zu einem guten Mann. Ihr Herz krampfte sich ein wenig zusammen; Erinnerungen drängten sich ihr auf und nagten scharf an der Gelassenheit, die sie sich so bemühte, an den Tag zu legen.

Aber das wusste sie besser als jeder andere.

Dedham war immer tadellos gekleidet gewesen, der bestaussehende, bestgekleidete Mann in jedem Raum, und ihr junges Herz hatte sich so blindlings in ihn verliebt, mit Haut und Haaren.

Sie hatte sich in ihn verliebt, und es hatte sie so viel gekostet. Jahre ihres Lebens. Nie wieder wollte sie sich verlieben … nie wieder glauben, dass ein Mann sich nie ändern würde. Dass er, wenn er sich verliebt erklärte, es für immer meinte.

Die Ewigkeit war nicht so beständig, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Empörung machte sich in ihr breit. „Ich habe ein Glas Champagner getrunken“, murmelte sie, obwohl sie diesem Mann keine Erklärung schuldete. Trotzdem kamen ihr die Worte über die Lippen.

„Ein Glas zu viel, wie es scheint.“

Oh, diese Arroganz!

„Nicht, dass es Sie etwas angeht, aber ich bin nicht betrunken, Sir.“ Sie schleuderte ihm das Sir entgegen, als wäre es das übelste Schimpfwort, eine mit Widerhaken versehene Streitaxt. Wie konnte er es wagen! Es war ein Jahr her, dass sie es sich hatte bieten lassen müssen, von einem Mann kritisiert zu werden. Sie würde es nicht dulden, dass dieser Fremde über sie urteilte. So einen Unsinn musste sie nie wieder von einem Mann ertragen.

Sie erinnerte sich daran, dass sie eine Duchess war – eine Dowager Duchess. Und mehr als das. Sie war eine Frau, die gelitten hatte. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und durchgehalten. Sie hatte es durchgestanden und es auf die andere Seite geschafft. Sie war eine Überlebende. Lebendig. Stark. Gesegnet mit einer neuen Chance. Sie würde sie nicht verspielen.

Sie reckte das Kinn und ließ den Blick über all die Männer um sie herum schweifen. Es gelang ihr, einen hochmütige Miene aufzusetzen. Sie gab vor, dass sie nicht wie eine ertrunkene Ratte aussah, dass sie immer noch die elegante Lady von eben war und nicht die unglückliche Seele, die man in die Themse gestoßen hatte.

Die Männer sahen sie … bewundernd an, und das verlieh ihr Hoffnung und Kraft. Die Jahre und Dedham, so schien es, hatten ihr nicht alles genommen. Sie hatte nicht alles verloren. Wenn diese Männer sie so bewundern konnten, wie sie jetzt aussah … nun ja. Dann durfte sie hoffen. Es war noch Leben in ihr, und war es nicht das, worum es an diesem Tag, bei dieser Feier, ging?

Aber sie fühlte sich auch ein wenig unbehaglich unter der eifrigen Aufmerksamkeit dieser Männer. Sie war eine Frau allein auf einer Barkasse voller Männer. Das letztere Gefühl unterdrückte sie. Sie wollte sich ihr Unwohlsein nicht anmerken lassen und sich nicht als Zielscheibe, als potenzielles Opfer entlarven. Sie schluckte. Das würde sie nie wieder sein. Nie wieder ängstlich. Nie wieder klein. Nie wieder gefangen.

Sie nickte kaum merklich. In ihrem Leben würde es in Zukunft nur noch darum gehen, stark zu sein. Sie war frei, und das gab ihr Kraft. Macht. Kontrolle.

Der charmante Dewey, der sie aus der Themse gefischt hatte, gestikulierte in Richtung Vauxhall. „Wir sind fast da, Madam.“

Sie warf einen Blick auf das nicht allzu weit entfernte Dock, auf das sie zusteuerten, und wünschte, sie kämen schneller voran. Sie wollte runter von dieser Barkasse voller fremder Männer.

Das Wasser plätscherte an den Seiten der Barkasse. Sie sah zu Dewey, aber nur kurz. Eigentlich schenkte sie ihm kaum einen Blick. Ihr Blick wanderte wieder zu ihm. Der schöne Teufel war derjenige, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, und sie begann wirklich, an ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln.

Die Barkasse stieß gegen den Steg. Ein Jubelschrei ging durch die Reihen der Männer. Sie hörte, wie das Seil auf die Holzplanken geworfen und das Schiff festgemacht wurde. Sie hörte es, aber sie sah nicht hin. Sie starrte ihn immer noch an. Den hartherzigen Schurken, der im Gegensatz zu seinen Kameraden nicht fröhlich und feierfreudig wirkte.

Der unfreundliche Kerl erwiderte ihren Blick und sah aus, als würde er sie am liebsten von der Barkasse zurück in den Fluss stoßen. Doch trotz seiner Strenge war er derjenige, der ihr Interesse weckte. Das erschreckte sie. Was sagte das über sie aus? Der gut aussehende und charmante Dewey hätte derjenige sein sollen, der sie anzog. Nicht sein übellauniger Begleiter. Es war, als ob sie nichts gelernt hätte. Überhaupt nichts.

Die Rampe, die den Kahn mit dem Dock verband, fiel mit einem dumpfen Schlag. Endlich wandte sie den Blick ab. Der zuvorkommende Dewey half ihr ans Festland. Sie schritt hocherhobenen Hauptes vorwärts und schaute sich nicht noch einmal um. Auch wenn es ihr noch so schwerfiel.

2. KAPITEL

Eine Dame lässt sich nicht auf körperliche Kämpfe ein. Ihre Kämpfe werden auf der höheren Ebene des sozialen Einflusses und der Anspielungen ausgetragen.

(Valencia, die Dowager Duchess of Dedham)

Valencia erwachte am nächsten Morgen durch schrecklichen Lärm. Sie verharrte in ihrem Bett, eine Hand schlaff über dem Kopf, die Finger locker in ihrer prächtigen Haarmähne verschränkt, und nahm die schrillen, unharmonischen Geräusche in sich auf – sie wusste, dass sie aufstehen und nachsehen musste, was los war, aber sie konnte sich noch nicht dazu aufraffen.

Ihr Geburtstag war nicht nach Plan verlaufen.

Als sie gestern Abend in Vauxhall angekommen war, hatte sie sich wieder zu ihren Freunden gesellt. Sie hatten sie schon sehnsüchtig erwartet, als sie von der Barkasse stieg. Gemeinsam begaben sie sich in eine der Versammlungshallen von Vauxhall, wo sie von einer der dort beschäftigten Frauen ein Kleid für sie erwarben – aber der Schaden war bereits angerichtet. Das Ersatzkleid passte ihr nicht recht, denn es war für eine Frau gemacht, die ein wenig kleiner war und weit weniger Kurven hatte als Valencia. Das Kleid endete ein paar Zentimeter über ihren Knöcheln, und sie fühlte sich darin eingezwängt wie eine Wurst in der Pelle.

Valencias Haar war so gut wie möglich gerichtet worden, aber ein Bad in der Themse hatte ihm keinen Gefallen getan. Der säuerliche Geruch des Flusswassers haftete noch immer an ihr, und sie fühlte sich elend und sehnte sich nur noch nach einem Bad und ihren eigenen Kleidern, ihrem Zimmer und ihrem Bett.

Trotz des lauthalsen Protestes ihrer Freunde hatte sie die Feier verlassen und ihre Gäste ohne sie feiern lassen, um nach Hause in ein heißes Bad und in ihr verlockendes Bett zurückzukehren.

Trotz der Enttäuschung über ihre Party – oder vielmehr der Enttäuschung darüber, dass für sie keine Party stattgefunden hatte – war sie voller Hoffnung eingeschlafen. Ihre Zukunft sah rosig aus. Zum ersten Mal seit zu vielen Jahren gehörte ihr das Leben, um es zu genießen. Die Nacht war vielleicht nicht so verlaufen, wie sie es sich ausgemalt hatte – es hatte keine heißen Küsse mit einem gut aussehenden Fremden auf einem Spaziergang auf dunklen Wegen gegeben, aber es würde andere Nächte und weitere Gelegenheiten dafür geben.

Aus irgendeinem Grund musste sie jetzt an den ungehobelten Kerl auf der Barkasse denken. Schade, dass er keine besseren Manieren bewiesen hatte. Manieren, die besser zu seinem Gesicht gepasst hätten. Die Erinnerung daran ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern. Braune Augen. Geschwungene Augenbrauen. Wangen mit Bartstoppeln, die nach einer Rasierklinge schrien. Zu langes Haar. Vom Wind zerzaust. Das Bild von ihm war ihr so gegenwärtig, als hätte sie ihm gerade erst den Rücken zugekehrt, und es hielt sie in ihrem Bett gefangen – delikat und gemütlich und warm.

Ein lautes Krachen erinnerte sie daran, dass sie dringende Angelegenheiten zu klären hatte. Etwas war nicht in Ordnung. Ihr Personal war gut ausgebildet. Ruhig wie Kirchenmäuse gingen sie ihren Aufgaben nach. Sie hatten jahrelang gelernt, auf Zehenspitzen um Dedham herumzuschleichen. Der Aufruhr war daher äußerst ungewöhnlich.

Mit einem Stöhnen schob sie ihre träumerischen Gedanken beiseite und gab sich einen Ruck.

Als sie sich aufsetzte, rieb sie sich die Augen und fuhr sich mit einer Hand durch das offene Haar, während laute Stimmen und nicht enden wollendes Lärmen die Ruhe ihres Hauses erschütterten.

„Was um Himmels willen“, murmelte sie, kroch unter der Bettdecke hervor und griff nach ihrem Morgenmantel, den sie am Fußende des Bettes abgelegt hatte. Sie schlüpfte gerade mit einem Arm hinein, als sich ihre Tür öffnete und ihre Zofe mit einem Gesichtsausdruck, den man nur als panisch bezeichnen konnte, hereingeeilt kam, wobei sie leichenblass war.

Valencia erstarrte vor Schreck. „Tildie, was ist los?“

„Euer Gnaden“, sagte das Mädchen und streckte eine Hand aus. „Beruhigen Sie sich …“

„Mich beruhigen?“, wiederholte Valencia ein wenig überfordert. Hatte das jemals funktioniert? Konnte man jemanden tatsächlich beruhigen, indem man ihm sagte, er solle ruhig bleiben? Besorgnis brodelte in ihr auf, und sie fragte noch eindringlicher: „Was ist los, Tildie?“

„Der neue Duke …“

„Der neue Duke?“, unterbrach sie Tildie, da sie Schwierigkeiten hatte, diese Worte zu verstehen.

„Ja, Euer Gnaden.“ Tildie hob beide Hände und bewegte sie in der Luft auf und ab, als wäre ihre Dienstherrin ein wilder Hengst, der besänftigt werden müsste. „Der Duke of Dedham ist angekommen …“

„Man hat ihn gefunden?“

Die Anwälte des Dedham-Anwesens suchten ihn bereits seit einem Jahr, seit dem Tod Dedhams. So viel wusste sie. Über Weiteres hatte man sich nicht die Mühe gemacht, sie zu informieren. Seien Sie unbesorgt, Euer Gnaden. Wir werden ihn mit aller Eile ausfindig machen. Als ob sie sich darüber Sorgen gemacht hätte, man könnte ihn nicht finden. Wenn sie sich Sorgen gemacht hätte, dann wohl eher über den unvermeidlichen Erfolg der Unternehmung.

Gerüchte hatten die ganze Zeit kursiert. Fantasievoll und reichlich. Der Duke of Dedham hält sich am Kap der Guten Hoffnung in Afrika auf. Er ist mit Piraten auf den Seychellen. In einem Haus aus Bambus in Japan. Er malt die Pyramiden in Gizeh.

Sie hatte sich fast ein Jahr lang die unzähligen Falschmeldungen anhören müssen, aber nichts weiter erfahren über den Fortgang der Ermittlungen. Was ja auch kein Wunder war, schließlich waren die Anwälte auch nicht übermäßig darauf bedacht gewesen, sie über solche Dinge auf dem Laufenden zu halten. Was war sie für sie anderes als nur eine Frau?

Adlige oder nicht, sie hatte Brüste, und das schien sie ihrer Intelligenz und ihrer Bedeutung zu berauben. So hatten sie es jedenfalls gehalten, solange ihr Mann lebte, und sie hatten diesen Habitus auch nach seinem Tod nicht geändert. Sie war nicht wichtig genug, um sie in irgendeine Angelegenheit miteinzubeziehen, vollkommen gleichgültig, ob ihr Leben davon betroffen war oder nicht.

Zwar hatte sie vor einer Woche erfahren, dass man den Erben ausfindig gemacht hatte und dass seine Ankunft unmittelbar bevorstand. Diese Information hatte sie von Maeve erhalten. Ihr Mann bekleidete im Innenministerium eine gute Position, ganz abgesehen davon, dass er der dritte Sohn eines prominenten Viscount war. Er bewegte sich in hohen Kreisen und hatte immer ein Ohr am Puls der Gesellschaft, aber es war das erste Mal, dass Maeve Informationen weitergegeben hatte, die wenig aussagekräftig waren. Valencia hatte es lediglich als ein weiteres Gerücht abgetan.

Sie nahm an, dass sie es nicht hatte wahrhaben wollen. Valencia hatte zu träumen begonnen, dass der Erbe vielleicht nie auftauchen würde. Obwohl sie wusste, dass dies eine ganze Reihe von Problemen mit sich bringen würde. Würde die Krone den Titel an jemand anderen vergeben? Oder würde sie den Titel eingehen lassen und alle damit verbundenen Privilegien widerrufen? Was würde dann aus ihr werden?

Der Wandel stand bevor. Es war unvermeidlich. Das wusste sie. Und doch hatte sie wie ein Vogel Strauß gelebt, der den Kopf in den Sand steckt. Heute, so schien es, würde sie den Kopf herausziehen müssen. Ihr blieb keine andere Wahl mehr.

„Ja. Man hat ihn gefunden. Und er ist soeben angekommen … mit seiner Familie im Schlepptau.“

„Mit seiner Familie?“ Valencias Stimme hob sich um eine Oktave. Daran hatte sie gar nicht gedacht, aber natürlich. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass er allein war? Er würde wahrscheinlich eine Frau haben. Kinder, vielleicht. Eltern. Geschwister. Ein ganzes Gefolge. Sie schluckte gegen den Kloß an, der sich ihr in der Kehle gebildet hatte. Der lautstarke Aufruhr ergab jetzt einen Sinn. Einen furchtbaren Sinn.

In ihrem Haus ging es normalerweise ruhig zu. Friedlich nach der Ära von Dedham, als alle furchtsam auf Zehenspitzen durch die Flure schlichen. Damals liefen alle wie auf Eierschalen, aus Angst, Dedhams Zorn auf sich zu ziehen.

Ihr verstorbener Mann war wegen seiner plötzlichen Wutausbrüche gefürchtet gewesen, besonders an solchen Tagen, wenn das Laudanum, das Opium und der Alkoholrausch nicht die gewünschte Wirkung zeigten und sein Bedürfnis danach, seiner schlechten Stimmung freien Lauf zu lassen, besonders groß war. Jeder spürte seinen Unmut. Jeder litt, wenn er litt. Das ganze Haus war darauf eingestellt gewesen.

In diesem Moment hörte es sich an, als würde eine Elefantenherde die Treppe hinauftrampeln. Mehrere plötzliche Schläge und ein fürchterliches Krachen überlagerten das Getrampel, und dann schrie eine Frau. Valencia zuckte zusammen. Tildie wich zurück.

Dies war ihr Haus. Sie hatte hier das Sagen. Sie war hier immer noch die Herrin. Das hatte sich nicht geändert. Aufgebracht presste sie die Lippen aufeinander. Noch nicht. Alle Sittsamkeit über Bord werfend (sie trug ja nur Nachtkleid und Morgenmantel und die Haare offen), eilte Valencia aus ihrem Schlafgemach und stürzte auf den Flur hinaus.

Und ins Chaos.

Überall wimmelte es vor Menschen. Es waren lauter Bedienstete – aber nicht ihre eigenen. Sie kannte keines der Gesichter, aber an der Kleidung, die sie trugen, ließ sich ausmachen, dass sie im Dienst waren. Nur nicht in ihren Diensten.

Hektisch schaute sie sich um, um herauszufinden, was los war und an wen sie sich wenden konnte, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Eine bebrillte, modisch gekleidete junge Frau stand am oberen Ende der Treppe, fuchtelte mit den Armen und rief, während sie die Treppe hinunterblickte: „Mein Liebling! Mein Püppchen!“

Beunruhigt darüber, dass ein Kind die Treppe hinuntergefallen sein könnte – sofort war die Erinnerung zurück an jenen Tag, an dem ihr Mann die Treppe hinuntergestürzt war, eine Erinnerung, die sie noch immer mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen ließ –, eilte Valencia mit rasendem Herz vorwärts, denn sie war sicher, dass ein Unglück geschehen war. Schon wieder.

Sie streckte eine Hand nach dem Arm der jungen Frau aus, um sie zu trösten. Eine Fremde in ihrem Haus. Später würde sie ihre Identität erfahren, ihre und die von allen anderen, die gerade in ihr Leben eindrangen.

„Sind Sie …“ Valencias sanfte Frage erstarb schnell in ihrer Kehle, als sie „Püppchen“ am Fuß der Treppe entdeckte. Kein Kind. Kein Baby. Nichts mit einem Puls.

Es war ein ausgestopfter Hund.

Ein rostbrauner Schnauzer, um genau zu sein. Das ergraute Fell, das seine Schnauze zierte, zeugte von einem langen Leben.

„Das ist … Püppchen?“

Die bebrillte junge Frau nickte. „Ja.“ Sie klatschte in die Hände und rief streng zu einem der vielen livrierten Diener hinunter. „Sie da! Holen Sie sie und bringen Sie sie zu mir. Seien Sie bitte vorsichtig!“ Sie blickte zu Valencia zurück, als sähe sie sie zum ersten Mal. „Oh.“ Sie musterte sie von oben bis unten, betrachtete ihr wallendes Haar und ihren unbekleideten Zustand mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Normalerweise wäre Valencia entsetzt darüber gewesen, in einer solchen Aufmachung erwischt zu werden. Aber dies war eine höchst ungewöhnliche Situation.

Wer sind all diese Leute? Wer hat sie in mein Haus gelassen?

„Oh“, echote Valencia, und dann, nachdem sie sich die Lippen befeuchtet hatte: „Wer sind Sie?“

Immerhin befand sich die junge Frau in ihrem Haus. Es gab keine andere Möglichkeit, als diese Frage unverblümt zu stellen. „Ich bin Isolde“, antwortete sie und dachte offenbar, dass dies als Erklärung genügte.

„Isolde“, wiederholte Valencia. Der Name löste nichts in ihr aus. Sie kannte dieses Mädchen nicht. Weder vom Sehen noch vom Namen her. Ihres Wissens nach gab es im ton keine Isolde. Wer auch immer das Herzogtum geerbt hatte – und dieses Mädchen war offensichtlich in irgendeiner Weise mit dem neuen Duke verbandelt –, es konnte sich um keine namhafte Figur der Gesellschaft handeln.

Unzählige Diener eilten mit hektischer Energie an ihnen vorbei und trugen allerlei Gepäck und Gegenstände. Isolde, die keinen Tag älter als zwanzig sein konnte, lächelte strahlend und nickte in einem fort, ihr schönes rotes Haar war bewundernswert. Sie beäugte Valencias Aufmachung neugierig und schob sich die Brille auf den Nasenrücken. „Und wer mögen Sie sein?“

Sie sprach mit einem sanften Akzent, den Valencia nicht ganz zuordnen konnte. Ihre Ausdrucksweise war ein wenig versponnen. Valencia legte sich eine Hand auf die Brust und erklärte: „Ich bin die Herrin des Hauses, in dem Sie sich gerade befinden.“ Sie sagte diese Worte sowohl zu sich selbst als auch zu diesem Eindringling. Wenn der Duke tatsächlich angekommen war, dann war sie eigentlich schon jetzt überflüssig. Sie verspürte das überwältigende Bedürfnis, ihre Rolle klarzumachen, dem Ort ihren Stempel aufzudrücken, als ob das einen Unterschied machen würde. Sie verkniff es sich, eine Grimasse zu schneiden.

Isolde blinzelte. „Sie … wohnen hier?“

„Das tue ich.“

„Sind Sie eine Dienerin?“

Valencia blinzelte und blickte an sich hinunter. Ihr Morgenmantel war eindeutig aus teuerstem Stoff gefertigt. Mit einer Hand nahm sie ihr Haar zusammen und warf es sich mit so viel Würde wie möglich über die Schulter.

Bevor Valencia antworten konnte, fuhr Isolde fort: „Nein, ich glaube nicht, dass Sie eine Dienerin sind. Dann wären Sie bereits angezogen und würden sich um Ihre täglichen Aufgaben kümmern, nicht wahr? Anstatt wie eine Schnecke herumzulungern. Also dann. Wer sind Sie?“

Eine … Schnecke?

Nahmen die Beleidigungen und Demütigungen denn nie ein Ende?

Valencia reckte das Kinn, um ihre Würde zu wahren. An manchen Tagen war das alles, was sie noch zu haben glaubte. Sie war die Tochter einer spanischen Adeligen, ihr Großvater ein Grandes de España. Valencia war eine Nachfahrin des ersten Prinzen von Asturien. In ihren Adern floss königliches Blut. Als sie noch ein Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter sie oft daran erinnert. Mama hatte dafür sorgen wollen, dass sie dies verinnerlichte, dass sie ihre Herkunft nie vergaß. Wie wenig das auch immer in ihrem Leben zählte.

Dennoch würde sie nicht hier stehen und um Anerkennung oder Beachtung bitten. Ihre Abstammung ließ sich bis zu den Königen des 14. Jahrhunderts zurückverfolgen. Sie würde nicht bei anderen um etwas betteln.

„Ich bin die Herrin dieses Hauses. Die Duchess of Dedham.“ Die Dowager Duchess, um genau zu sein, aber sie hielt es nicht für nötig, dies hinzuzufügen. Witwen waren alte Frauen. Sie betrachtete sich selbst noch nicht als eine solche.

„Oh.“ Die Information schien das Mädchen zu überraschen. Sie blinzelte ein paarmal. „Mir war nicht klar …“

„Meinen Sie nicht die Dowager Duchess of Dedham?“ Offenbar wollte jemand es ganz genau nehmen.

Bei dieser neuen Stimme drehte sich Valencia um und sah sich einer weiteren jungen Frau gegenüber, die die Treppe hinaufstieg. Diese war genauso hübsch wie die junge Isolde. Ihr Haar hatte einen tiefen Rotbraunton. Die beiden waren offensichtlich verwandt, wobei dieser Neuankömmling die Ältere sein musste. Mindestens ein paar Jahre älter, obwohl sie keine Brille trug. Sie wirkte reif – sowohl in ihrem Auftreten als auch in ihrer Erscheinung.

Sie ließ eine Augenbraue in die Höhe schnellen und fügte hinzu: „Es sei denn, Sie haben meinen Bruder geheiratet, ohne dass ich davon weiß.“ Ihr Lächeln bedeutete Valencia, dass sie wusste, dass dies nicht der Fall war.

Valencia musterte sie und nahm ihre Worte sorgfältig auf. „Ihr Bruder ist der Duke of Dedham?“ Natürlich ist er das. Valencia schluckte heftig, und so etwas wie Panik stieg in ihr auf. Verzweiflung und Panik.

Ja, natürlich. Ich bin die Letzte, die es erfährt.

Ihre Tage hier neigten sich dem Ende entgegen. Wenn der richtige Duke beschlossen hatte, in Amt und Würden zu treten, hieß das, dass sie nicht mehr willkommen war. Sie war schon so gut wie weg. Ihre Abreise in das Witwenhaus in der abgelegenen Wildnis von Yorkshire stand unmittelbar bevor. So war es vorgesehen.

Nun ja. Das würde nicht geschehen. Sie würde sich nicht einfach verbannen lassen.

Sie hatte noch viel zu tun in London, daher musste sie noch bleiben, damit nichts unerledigt blieb.

Isolde nickte bestätigend auf ihre Frage. Es war ein recht fröhliches Nicken. Nervtötend fröhlich. „Ja. Ja. Das ist er. Ist das nicht wundervoll? Unser lieber Bruder ist ein Duke!“

Wundervoll?

Nein. Nein, das war es ganz bestimmt nicht, aber Valencia verbiss sich diese unhöfliche Entgegnung, als sie den Schwestern des Dukes gegenüberstand. Unhöflichkeit würde sie nirgendwohin bringen. Sie musste sich von ihrer charmantesten Seite zeigen.

Die ältere der beiden Schwestern beobachtete Valencia mit einem freudlosen Gesichtsausdruck und zusammengekniffenen Augen. Sie legte den Kopf nachdenklich schräg. „Sollten Sie hier sein? Immer noch? Ich dachte, der letzte Duke hätte bereits vor einem Jahr das Zeitliche gesegnet.“

Isolde stieß angesichts der Unhöflichkeit ihrer Schwester einen kleinen Schrei aus. „Del!“

„Ich wohne hier schon seit weit über einem Jahrzehnt.“ Valencia straffte stolz die Schultern. „Wollten Sie mit Ihren Worten gerade andeuten, dass ich kein Recht darauf hätte, mich in meinem eigenen Haus aufzuhalten?“

„Nun. Es ist doch nicht mehr Ihr Zuhause, oder?“ Die als Del gerufene Schwester zuckte mit einer Schulter. „Ist das nicht die Art und Weise, wie das Gesetz bei euch Engländern funktioniert? Hätten Sie nicht das Haus räumen und Platz für den neuen Duke machen müssen?“

Valencia und Del starrten sich schweigend an. Valencia wusste nichts zu erwidern, denn Del hatte natürlich vollkommen recht. So funktionierten die Gesetze der Primogenitur. Nur ein Mann konnte erben. Und der Erbe erbte alles. Immer. Valencia würde eine bescheidene Witwenrente und ein Haus auf dem Lande erhalten. Sie hatte keinen Anspruch auf mehr als das. Wenn sie Dedham einen Sohn geschenkt hätte, hätte sie hierbleiben können, aber darin hatte sie versagt.

Das Herz tat ihr bei diesem schmerzlichen Gedanken weh, aber resolut rief sie sich zur Ordnung. Sie hatte genug Tränen geweint und diesem Verlust genug Kummer gewidmet – zwei Verluste, um genau zu sein. Zwei Babys, die sie hätte haben können, aber sie hatte sie verloren. Sie hatten nie einen Atemzug getan. Es hatte keinen Sinn, sich noch einmal deshalb zu quälen.

Isolde blickte zwischen den beiden hin und her. „Del“, murmelte sie, immer noch sichtlich verärgert über den Mangel an Höflichkeit ihrer Schwester. Isolde warf Valencia einen entschuldigenden Blick zu. Sie war ein nettes Mädchen, trotz ihrer … Seltsamkeit. Immerhin war das Mädchen im Besitz eines präparierten Hundes.

In diesem Moment kam eine weitere gut gekleidete junge Frau die Treppe hinauf. Im Gegensatz zu den beiden anderen Frauen hatte sie kastanienbraunes Haar, aber ihre Augen ähnelten sich – große braune Augen unter dunklen Augenbrauen. In ihren Armen trug sie das ausgestopfte Püppchen.

„Isolde“, schimpfte sie. „Das Personal hat schon genug zu tun, auch ohne deine“ – sie warf dem ausgestopften Wesen einen verächtlichen Blick zu und legte es in Isoldes sehnsüchtig ausgestreckte Arme – „Habseligkeiten.“

Isolde seufzte und nahm ihren wertvollsten Besitz entgegen, wobei sie den längst verstorbenen Hund liebevoll in die Arme schloss. „Ihr seid alle herzlos“, rief sie anklagend. „Ihr wisst, was Püppchen mir bedeutet …“

„Püppchen gibt es nicht mehr, Isolde. Sie ist vor Jahren gestorben. Das ist ein lebloser Hund in deinen Armen.“ Diese Schwester war jünger als Del, aber genauso sachlich in ihrer Art. Hoffentlich war sie freundlicher.

„Herzlos. Einfach herzlos“, klagte Isolde weiter.

Del fuhr in derselben Weise fort: „Wenn ich sterben würde, würdest du darauf bestehen, mich auszustopfen? Und mich überall mit dir herumschleppen?“

Die junge Isolde schnaubte und warf ihr feuerrotes Haar zurück, während sie sich wieder die Brille auf den Nasenrücken schob. „Natürlich nicht. Ich liebe Püppchen. Ich kann dich nicht einmal leiden. Warum sollte ich dich in meiner Nähe behalten wollen?“

Del hatte ganz rote Wangen bekommen.

Valencia widerstand dem Drang, in Gelächter auszubrechen. Dennoch musste sie einen Laut von sich gegeben haben. Die Schwester, die sich zuletzt zu ihnen gesellt hatte, schaute Valencia von oben bis unten an, als hätte sie sie bis jetzt gar nicht bemerkt.

„Oh“, sagte sie leise.

Isolde nahm es auf sich, sie einander vorzustellen. „Elin, das ist die Duchess of Dedham.“ 

Dowager Duchess of Dedham“, korrigierte Del sie sanft. Ja, natürlich. Del hatte bereits bewiesen, wie viel ihr daran lag, ja nur korrekt zu sein. Zumindest was Valencias Titel anbetraf.

Elin machte einen anmutslosen und übertriebenen Knicks.

„Oh, um Himmels willen, Elin. Das ist doch nicht nötig“, schnauzte Del.

„Sie ist eine Duchess“, stellte Elin gelassen fest.

„Dowager“, fügte Isolde fröhlich hinzu.

„Ganz genau“, stimmte Del zu. „Sie ist die Witwe, und unser Bruder ist jetzt der Duke.“ Del warf Valencia einen tadelnden Blick zu. „Damit sind wir ziemlich gleichberechtigt, glaube ich. Wir müssen uns ihr gegenüber nicht so verhalten, als wäre sie die Königin.“

„Müssen wir nicht?“, überlegte Elin laut, als würde Valencia nicht zuhören. „Sie ist eine Dowager Duchess, während wir nur die Schwestern eines Dukes sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie einen höheren Rang hat als wir. Vor einem Monat trug ich noch Hosen und angelte mit den Nachbarjungs im Dorfteich. Und jetzt stehe ich neben Gemälden, die in ein Museum gehören, und werde bald Zeit mit echten Prinzen verbringen.“ Sie winkte einem Gemälde aus dem 16. Jahrhundert zu, das einen der Dedham-Dukes mit Perücke und einer weißen Halskrause zeigte.

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