So leidenschaftlich ... und so geheimnisvoll

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Verwirrt erwacht Rafael – und blickt sich überrascht um. Er hat weder Ahnung, wer er ist, noch, wo er sich befindet. Da betritt eine Frau den Raum. Alana Aguilar hat ihn bewusstlos auf ihrem einsam gelegenen Grundstück in Andalusien gefunden und ihn in ihr Haus gebracht. Doch jede Erinnerung daran fehlt Rafael. Er weiß nur, dass auf keinen Fall die Polizei verständigt werden darf. Und dass er der verbotenen Sehnsucht nach dieser geheimnisvollen Schönheit niemals nachgeben kann! Was, wenn sein Herz längst einer anderen gehört?


  • Erscheinungstag 21.03.2023
  • Bandnummer 062023
  • ISBN / Artikelnummer 0800230006
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Die Stimme, die durch den Nebel drang, der ihn umgab, war das Erste, was er bewusst wahrnahm. Davor hatte es nur Dunkelheit gegeben. Ein schwereloses Driften. Ohne Gedanken. Ohne Sorgen. Ohne Schmerz.

Letzterer äußerte sich jetzt ebenfalls mit einem pulsierenden Hämmern zwischen den Schläfen, das an Intensität zunahm, als er versuchte, die Augen zu öffnen.

Das Licht war so grell, dass er gepeinigt aufkeuchte. Sofort kniff er die Lider wieder zusammen, vor denen es helle Funken regnete wie beim Feuerwerk zur Feier des Unabhängigkeitstags der Vereinigten Staaten am 4. Juli – nur nicht so laut.

Der Gedanke irritierte ihn.

Habe ich dieses Feuerwerk schon einmal gesehen? Bin ich Amerikaner?

Die Fragen zogen weitere nach sich.

Woher komme ich? Wo bin ich? Wer bin ich?

Es war, als hätte jemand einen Dominostein angestoßen, und nun geriet eine unendliche Reihe von anderen Spielsteinen ins Kippen, immer schneller und schneller. Auch seine Atmung wurde schneller und schneller, während immer weniger Sauerstoff in seine Lunge zu gelangen schien.

Panik stieg in ihm auf, füllte seine Glieder mit Blei, während sein Körper unkontrolliert zu zucken begann. Er hörte sich selbst laut stöhnen, fühlte, wie er den Kopf hin und her warf, was das leise Pochen darin zu einem wütenden Tosen werden ließ.

Ich weiß nicht, wer ich bin?

Ich weiß nicht, wer ich bin!

Himmel, ich weiß nicht, wer ich bin!

Wie aus weiter Ferne hörte er eilige Schritte, dann legte sich eine kühle Hand auf seine Stirn, und alles stoppte.

Mit einem leisen Seufzen wich die Anspannung aus seinem Körper. Und während sein Kopf wieder aufs Kissen sank, glitt sein Bewusstsein zurück in einen Zustand friedlicher Dunkelheit.

Wo es keinen Schmerz gab.

Keine Angst.

Keine Fragen.

Alana holte tief Luft und sank auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie lehnte sich zurück und betrachtete den Mann, der darin lag und wieder schlief.

Bis auf ein paar oberflächliche Kratzer und ein oder zwei Prellungen schien er unversehrt zu sein. Aber vielleicht hatte er innere Verletzungen, die dringend behandelt werden mussten. Sie war keine Ärztin, hatte keinerlei medizinische Ausbildung. Vielleicht machte sie es nur schlimmer, indem sie das Unvermeidliche hinauszögerte.

Dennoch brachte sie es nicht über sich, ihr Handy zu nehmen, das sie für etwaige Notfälle stets vollständig aufgeladen hielt, und einen Notruf abzusetzen. Allein bei dem Gedanken, dass fremde Menschen mit ihren Fragen und ihren Blicken auf ihr Anwesen kommen würden … Sie wäre gezwungen, zu erklären, wie er in ihr Haus – in ihr Schlafzimmer – gekommen war. Nein, das konnte sie einfach nicht. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein musste. Und er machte nicht den Eindruck, als wäre sein Zustand kritisch.

Vermutlich zerbrach sie sich völlig umsonst den Kopf. Dass er vorhin kurz aufgewacht war, wertete sie jedenfalls als positives Zeichen. Die Panikattacke, die er gleich darauf gehabt hatte, war allerdings weniger gut. Sie hatte die Anzeichen sofort erkannt. Er war kreidebleich gewesen, als sie zur Tür hereingekommen war, und ihm hatte der kalte Schweiß auf der Stirn gestanden. Seine Atmung war flach und viel zu schnell gewesen. Kein Wunder, dass er kurz darauf wieder in einen tiefen Schlaf gefallen war.

Nur zu gut erinnerte Alana sich an ihre eigenen Attacken. Die erste bereits in ihrer ersten Nacht im Krankenhaus damals. Nachdem der Arzt ihr mitgeteilt hatte, dass …

Energisch schob sie die Bilder beiseite, die vor ihrem geistigen Auge aufzusteigen drohten. Jetzt war nicht der Moment, die Geister der Vergangenheit heraufzubeschwören. Sie waren auch so immer noch viel zu nah, daran hatte sich auch nach zweieinhalb Jahren nichts geändert.

Behutsam beugte sie sich vor, legte zwei Fingerspitzen an seinen Hals und fühlte seinen Puls. Ruhig und gleichmäßig. Auch seine Züge wirkten jetzt entspannt. Äußerst markante, attraktive Züge.

Der Fremde hatte das kantige Kinn eines Aristokraten, einen kühn geschwungenen Mund und eine Nase, die bei einem anderen Mann vielleicht zu markant gewirkt hätte, bei ihm aber das perfekte Gesamtbild vervollständigte.

Dunkle Brauen waren über seinen Augen zusammengezogen, so als würde er selbst im Schlaf immerzu angestrengt über etwas nachgrübeln. Unwillkürlich fragte sie sich, was ihn wohl so beschäftigte. Und warum er vorhin derart in Panik geraten war.

Nun, das war eine Frage, die nur er ihr würde beantworten können. Und dazu musste er zunächst einmal richtig aufwachen. Sie hoffte inständig, dass es nicht mehr lange dauerte. Wenn er nicht in den nächsten vierundzwanzig Stunden wenigstens einmal für eine Weile wach blieb, würde sie Hilfe rufen. Das schwor sie sich.

Ganz gleich, wie zuwider ihr der Gedanke auch sein mochte, fremde Menschen um sich herum zu haben.

Sie stand auf, befühlte seine Stirn – eindeutig kein Fieber – und breitete die Decke, die er vorhin weggestrampelt hatte, wieder über ihn. Dann hob sie seine zerrissenen, durchnässten und völlig verdreckten Kleidungsstücke, die sie vorhin achtlos in eine Ecke des Zimmers geworfen hatte, nachdem sie sie ihm ausgezogen hatte, und trug das Bündel in den angrenzenden Wohnraum.

Leise schloss sie die Tür hinter sich, ehe sie die Sachen einer genauen Musterung unterzog. Mit dem Hemd konnte er definitiv keinen Staat mehr machen – ein Ärmel war fast ganz abgerissen, von den Knöpfen waren nur noch zwei übrig, und es war übersät mit getrocknetem Schmutz und Harzflecken. Die Hose machte kaum einen besseren Eindruck, aber sie würde nach einer gründlichen Reinigung noch zu tragen sein. Alana faltete sie zusammen und wollte sie gerade beiseitelegen, als etwas aus der hinteren Tasche fiel und zu Boden flatterte.

Sie bückte sich, hob das zerknitterte Papier auf und strich es über ihrem Knie glatt. Es war offenbar nass geworden, inzwischen aber wieder halbwegs getrocknet. Doch die Tinte war verlaufen, sodass kaum noch zu erkennen war, was auf dem Zettel geschrieben stand.

Aber ein Wort stach deutlich lesbar hervor.

Ein Name.

Rafael.

Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Selbst wenn es sich nicht um seinen Namen handelte – denn warum sollte er einen Zettel mit seinem eigenen Namen mit sich herumtragen –, irgendwie musste sie ihn schließlich nennen.

„Rafael“, sagte sie leise, und der Klang ihrer eigenen Stimme war ungewohnt in der Stille des Hauses.

Ein guter Name. Er passte zu ihm.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit er zum letzten Mal aus dem schwarzen Nichts aufgetaucht war, das ihn nur widerwillig aus seinen Klauen entlassen wollte.

Sein Kopf schmerzte noch immer, aber es war auszuhalten. Als er versuchsweise seine Arme und Beine bewegte, schien alles ordnungsgemäß zu funktionieren. Zwar zwackten und drückten ein paar Stellen, doch im Großen und Ganzen fühlte er sich um einiges besser.

Was leider nicht bedeutete, dass er sich erinnerte.

Er drängte die Panik zurück, die ihn erneut zu überwältigen drohte, und hob die Lider. Nach wie vor war es blendend hell, aber nicht mehr ganz so unerträglich wie beim letzten Mal, und langsam schälten sich erste Umrisse aus dem grellen Licht.

Er sah ein Sprossenfenster, gerahmt von geblümten Vorhängen, direkt darunter stand ein Schreibtisch, auf dem ein paar Bücher lagen.

Kein Krankenhaus. Auch kein Hotelzimmer.

Er drehte den Kopf nach rechts. Ganz langsam. Neben seinem Bett entdeckte er einen Nachttisch, auf dem ein Glas und eine Karaffe mit Wasser standen. Auf der linken Seite erblickte er in der Ecke des Zimmers einen Sessel, daneben einen wuchtigen Kleiderschrank aus dunklem Holz. An den Wänden hingen Bilder – die meisten davon künstlerische Schwarz-Weiß-Fotografien.

Nichts kam ihm auch nur ansatzweise bekannt vor. Und sosehr er sich auch bemühte, auch sein Name wollte ihm nicht einfallen. Genauso wenig wie alles andere.

Er war wie ein leeres Blatt Papier.

Ein beängstigendes Gefühl. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Einmal. Zweimal. Als er einigermaßen sicher war, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte, versuchte er, sich aufzusetzen – mit dem Ergebnis, dass das Zimmer sich um ihn herum zu drehen begann, kaum dass er den Kopf vom Kissen gehoben hatte.

Ein unterdrücktes Stöhnen entfuhr seiner Kehle, und er schloss die Augen, als er sich wieder zurücksinken ließ. Offenbar war er laut genug gewesen, um bis in den angrenzenden Raum gehört zu werden. Denn es dauerte keine zehn Sekunden, da vernahm er Schritte von der anderen Seite der Tür, ehe diese leise geöffnet wurde.

Jemand kam herein und trat zu ihm ans Bett.

Aus irgendeinem Grund fing sein Puls an zu rasen, und sein Instinkt schrie Gefahr, ohne dass er die geringste Ahnung hatte, wovor er ihn warnen wollte. Als er die Augen öffnete, stand da eine Frau, die ganz und gar nicht bedrohlich aussah. Eher im Gegenteil. Sie wirkte beinahe selbst ein bisschen furchtsam, so als sei sie ängstlich oder zumindest wachsam.

Was mich eigentlich nicht wundern sollte, schließlich liegt ein fremder Mann in ihrem Bett.

Der Gedanke irritierte ihn. Woher wusste er, dass sie sich nicht kannten, wo er sich doch sonst an nichts erinnerte?

„Sie sind wach“, stellte sie fest und musterte ihn durchdringend, die Hände vor dem Körper verschränkt, so als müsse sie sich schützen. „Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“

„Nichts, was nicht auszuhalten wäre“, erwiderte er, seine Stimme klang rau und heiser. „Was ist mit mir passiert?“, fragte er dann. Das war nur eine von zahllosen Fragen, die er stellen wollte. Am vordringlichsten davon waren: Wer bin ich? Und warum kann ich mich an nichts erinnern?

Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Ich habe Sie vor vier Tagen an der Grenze zu meinem Grundstück aufgefunden. Sie waren bewusstlos und hatten eine Kopfverletzung. Ich habe keine Ahnung, wie Sie hierhergekommen sind. Mein Anwesen liegt ziemlich weit abseits jeglicher Zivilisation. Der nächste Ort ist eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Niemand verläuft sich ohne Grund in dieser gottverlassenen Gegend.“

„Sie wissen also nicht, wer ich bin?“

„Warum? Sollte ich Sie kennen? Ich …“ Sie riss die Augen auf, als sie die wahre Bedeutung seiner Worte erkannte. „Dios, wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie es auch nicht wissen?“

Seine Kehle wurde eng, doch er zwang sich, tief und ruhig durchzuatmen. Niemandem war damit geholfen, wenn er die Kontrolle verlor – am allerwenigsten ihm selbst.

„Ja“, sagte er schließlich. „Ich erinnere mich an überhaupt nichts. Ich …“ Er brach ab und setzte erneut an. „Hatte ich denn keine Papiere bei mir?“

„Nein. Nichts dergleichen.“ Sie zögerte.

„Ja?“

„Da war etwas in Ihrer Hosentasche. Eine Art Einladungskarte. Sie muss feucht geworden sein, denn die Schrift ist bis zur Unleserlichkeit verschmiert. Nur ein Wort war noch zu erkennen. Ein Name.“

Mit angehaltenem Atem sah er sie an. Vielleicht würde sein Name ihm helfen, seine Erinnerung wieder in Gang zu setzen. Solche Sachen passierten. Amnesien waren nur in den seltensten Fällen dauerhaft. Oft brauchte es nur eine Kleinigkeit, und alle Puzzlestücke rückten an ihren Platz. Er wusste nicht, woher er das wusste – er wusste es ganz einfach.

„Rafael.“

Nichts. Keine Erinnerungsflut, keine Bilder, absolut gar nichts.

Fragend sah sie ihn an. „Nein?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

Seufzend trat sie zum Nachttisch, schenkte aus der Karaffe Wasser ins Glas und reichte es ihm. Er trank es in wenigen Schlucken aus. Ihm war nicht klar gewesen, wie durstig er war.

„Es wird das Beste sein, wenn ich Sie ins nächste Krankenhaus bringe“, meinte sie und verzog dabei das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Eine seltsame Reaktion, wie er fand – doch längst nicht so seltsam wie seine eigene.

„Nein“, stieß er hervor und machte Anstalten, sich aufzusetzen, wofür sein Kopf ihn mit einer weiteren Schwindelattacke bestrafte. „Nein“, wiederholte er leiser. „Kein Krankenhaus. Keine Polizei.“

Stirnrunzelnd sah sie ihn lange schweigend an.

„Schön, wie Sie wollen“, sagte sie schließlich. „Sie können vorerst noch hierbleiben. Aber wenn es irgendwelche Anzeichen für eine Verschlechterung Ihres Zustands gibt, muss ich das wissen. Haben wir uns verstanden?“

Eine Woge tiefer Dankbarkeit erfasste ihn. „Natürlich. Vielen Dank. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie täte …“

„Das kann ich mir gut vorstellen“, gab sie mit einem kleinen, neckenden Lächeln zurück, ehe sie wieder ernst wurde. „Sie sollten schlafen, Rafael.“

Sie nahm ihm das leere Glas ab, stellte es zurück auf den Nachttisch und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Sie kennen meinen Namen“, sagte er, ehe sie das Zimmer verlassen kann. „Aber ich weiß nicht, wie Sie heißen.“

„Alana“, antwortete sie. Im nächsten Moment war sie verschwunden, und die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken.

Alana …

Der Name passte zu ihr.

Kein Krankenhaus, keine Polizei – diese Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Alana stand in ihrer Dunkelkammer, die sie sich im Keller des Hauses eingerichtet hatte. Sie war nicht besonders groß, doch für ihre Zwecke genügte der Platz vollkommen. Das Fotografieren war schließlich nur ein Hobby. Etwas, um sich die Zeit zu vertreiben. Um sich abzulenken von …

Sie schüttelte den Kopf, fischte mit der Bildzange das Fotopapier aus der Entwicklerflüssigkeit und legte es ins Stoppbad, wo sie es mit der Zange hin und her bewegte.

Rafael hatte regelrecht entsetzt gewirkt bei der Vorstellung, dass sie ins Krankenhaus fuhr. Nur warum? Und wieso hatte er die Polizei erwähnt?

Nicht zum ersten Mal fragte Alana sich, ob sie nicht einen riesigen Fehler begangen hatte, indem sie den verletzten fremden Mann einfach in ihrem Haus aufgenommen hatte. Woher wollte sie wissen, dass er nicht gefährlich war? Womöglich spielte er ihr das mit der Amnesie nur vor?

Sie runzelte die Stirn. Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Er hatte ernsthaft verstört gewirkt. So etwas konnte man nicht so einfach vortäuschen.

Und dennoch …

Das Fotopapier wanderte ins Fixierbad. Durch die Wellen, die sie mit der Bewegung der Bildzange in der Flüssigkeit auslöste, sah sie im Schein der Rotlichtlampe die Schwarz-Weiß-Aufnahme der knorrigen alten Steineiche, die an der Grenze ihres Grundstücks stand. Ganz in der Nähe von der Stelle, wo sie Rafael gefunden hatte.

Es war ein reiner Glücksfall gewesen, dass sie an jenem Tag zum Fotografieren dort draußen gewesen war. Normalerweise hielt sie sich in der Nähe des Hauses auf. Früher war es ein Bauernhof gewesen. Doch der Boden war karg und trocken. Ihn zu bestellen, bedeutete harte Arbeit, sodass der Hof schon vor vielen Jahren aufgegeben worden war. Einen Käufer für ein solches Objekt zu finden, stellte eine echte Herausforderung dar. Der Makler hatte sich mit Sicherheit die Hände gerieben, als sie mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, nachdem sie das Dossier auf seiner Internetseite entdeckt hatte.

Ruhe, Frieden und völlige Abgeschiedenheit. Das war genau das gewesen, was Alana gebraucht hatte, nachdem sie damals aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

Sie hatte keine Menschen um sich herum ertragen. Hatte die mitleidigen Blicke gehasst. Genau wie die wohlmeinenden Versicherungen, dass schon wieder alles in Ordnung kommen würde.

Ein bitteres Lachen stieg ihre Kehle empor. Nichts war in Ordnung gekommen. Überhaupt nichts.

Seit zwei Jahren lebte sie nun schon hier draußen wie eine Einsiedlerin. Zweimal im Monat fuhr sie mit ihrem Wagen in den nächsten Ort, ein kleines Dorf namens Almara, etwa dreißig Minuten von ihrem Anwesen entfernt. Dort deckte sie sich mit dem Nötigsten ein. Den Rest der Zeit verbracht sie allein. Der einzige Kontakt, den sie regelmäßig zur Außenwelt aufrechterhielt, waren die Telefonate mit ihrer Freundin Kimberley in London, die zugleich auch ihre Agentin war.

Irgendwie hatten sie es in der harten Welt des Modebusiness geschafft, Freundinnen zu bleiben. Selbst nachdem der Unfall ihrer Karriere ein jähes Ende gesetzt hatte.

Ihrer Karriere – und ihrer Beziehung.

Alana holte das Foto aus der Fixierflüssigkeit und tauchte es ins Wasserbad. Sie machte jeden Handgriff, ohne darüber nachdenken zu müssen, was sie tat. Und das war gut so, denn ihre Gedanken wanderten wie von selbst in die Vergangenheit.

Vor zweieinhalb Jahren war sie auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Karriere gewesen. Ein gefragtes Foto- und Laufstegmodel, mit dem jeder Designer, der etwas auf sich hielt, zusammenarbeiten wollte.

Die Summen, die sie für einen einzelnen Fotojob kassiert hatten, waren geradezu obszön gewesen. Sie hatte im Rampenlicht gestanden und es lange Zeit in vollen Zügen genossen, auch wenn ihr stets klar gewesen war, dass die Branche, in der sie arbeitete, auch ihre Schattenseiten besaß. Doch ihr Leben war scheinbar perfekt gewesen, und sie hatte den perfekten Mann an ihrer Seite gehabt.

Zumindest hatte sie das gedacht …

Miguel Vasquez war der Sohn eines Mannes, der Milliarden mit seinem Telekommunikationsunternehmen gemacht hatte. Alana hatte ihn auf einer Party von gemeinsamen Bekannten kennengelernt. Er hatte versucht, mit ihr zu flirten, doch sie hatte ihn abblitzen lassen. Damals schwor er ihr, dass er nicht aufgeben würde, bis er sie davon überzeugt hatte, ihm eine Chance zu geben.

Er hatte sie mit Geschenken und Aufmerksamkeit überhäuft, ihr jeden noch so kleinen Wunsch von den Augen abgelesen, ihr Komplimente gemacht und ihr das Gefühl gegeben, die einzige Frau auf der Welt für ihn zu sein.

Sie hatte geglaubt, auf Wolken zu schweben. Sie lebte ein Märchen und war überzeugt gewesen, dass sie ein „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage“ erwartete.

Doch das echte Leben war kein Märchen. Es war hart und grausam, und es riss einem den Boden unter den Füßen weg, wenn man es am wenigsten erwartete.

Kurz schloss sie die Augen und atmete tief durch, ehe sie die fertige Fotografie aus dem Wasserbad nahm und zum Trocknen mit einer Wäscheklammer an einer Leine aufhängte. Dann schaltete sie das Rotlicht aus und das normale Licht wieder an. Interessiert betrachtete sie das Ergebnis ihrer Mühen.

Jede einzelne Furche in der Borke war deutlich zu sehen. Die Wurzeln, die sich ins trockene Erdreich bohrten, sahen beinahe lebendig aus. Es war ihr gelungen, das Spiel von Licht und Schatten einzufangen, das die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach der Krone fielen, auf den Boden zauberten.

Es war eine gelungene Fotografie. Sie würde sie rahmen und einen Platz im Wohnzimmer für sie finden. Vielleicht über dem Kamin, wo schon einige andere ihrer Landschaftsaufnahmen standen. Oder neben dem Fenster, wo sie schon seit einer Weile eine kahle Stelle an der Wand störte.

Mit einem zufriedenen Lächeln verließ Alana ihre Dunkelkammer, doch als sie ins Wohnzimmer trat und ihr Smartphone, das auf dem Couchtisch lag, blinken sah, verblasste das Lächeln gleich wieder. Ein Anruf außer der Reihe bedeutete nie etwas Gutes. Und als sie auf dem Display den Namen ihrer Freundin las, wusste sie genau, dass etwas im Argen lag. Vermutlich hatte es mit der E-Mail zu tun, die Kimberley ihr vergangene Woche geschickt hatte.

Jene E-Mail, die sie, nachdem sie sie geöffnet hatte, sofort wieder geschlossen und danach nicht mehr angerührt hatte. Nicht dass sie sie deswegen aus dem Kopf bekommen hätte! Wobei es geholfen hatte, dass der Fremde so unerwartet in ihr Leben geplatzt war …

Sie holte tief Luft und drückte auf Zurückrufen. Es dauerte keine zwanzig Sekunden, bis Kimberley sich meldete.

Autor

Penny Roberts
<p>Hinter Penny Roberts steht eigentlich ein Ehepaar, das eines ganz gewiss gemeinsam hat: die Liebe zum Schreiben. Schon früh hatten beide immer nur Bücher im Kopf, und daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Und auch wenn der Pfad nicht immer ohne Stolpersteine und Hindernisse war – bereut haben...
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