Spiel nicht mit meinem Herzen

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Christine traut ihren Augen nicht. Nie hätte sie gedacht, Rico Mancini noch einmal zu begegnen. Dem Mann, der vor Jahren tiefe Leidenschaft in ihr entfachte - und sie anschließend einfach sitzen ließ. Jetzt ist er plötzlich wieder in ihrem Leben aufgetaucht und verlangt von ihr, dass sie ihn heiratet. Christine ist hin- und hergerissen. Wie soll sie sich bloß entscheiden? Wenn sie Nein sagt, wird sie das Wertvollste verlieren, das sie im Leben hat. Wenn sie Ja sagt, riskiert sie ihr Herz: Womöglich verliert sie es an einen Mann, der unfähig scheint, ihre Liebe zu erwidern ...


  • Erscheinungstag 08.04.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716424
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Zumindest mussten Ihre Schwester und deren Mann nicht leiden“, sagte die junge Krankenschwester.

„Das stimmt. Sie ahnen nicht, wie Recht Sie haben“, antwortete Christine bitter. Ihre Schwester Janey und ihr Schwager Marco hatten das Leben immer auf die leichte Schulter genommen. Verantwortung und Leiden waren Fremdwörter für die beiden gewesen. Bei Schwierigkeiten hatten sie sich immer erst einmal einen Drink eingeschenkt. Waren die Probleme nicht von selbst verschwunden, hatten sich Marco und Janey an ihre Familie um Hilfe gewandt.

All dies konnte die Krankenschwester nicht wissen. Sie wollte lediglich ihr Mitgefühl und ihr Verständnis ausdrücken. Der Autounfall war so schnell passiert, dass Marco und Janey sicher nichts gemerkt hatten. Trotzdem halfen die tröstlichen Worte nicht, denn sie trafen einen wunden Punkt. Außerdem versuchte Christine, sich nicht immer wieder die letzten Sekunden im Leben ihrer Schwester vorzustellen.

Für Trost war Christine noch nicht empfänglich. Sie stand zu sehr unter Schock. Bislang saß sie tief verstört und erschöpft in dem kleinen Warteraum im Krankenhaus und konnte kaum fassen, was geschehen war.

„Es tut mir wirklich leid für Sie.“ Die Schwester reichte ihr einen dicken Briefumschlag.

„Danke.“ Christine nahm ihn entgegen. Sie wusste, was er enthielt.

„Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“

Christine schüttelte den Kopf, dann war sie wieder allein in dem kleinen Zimmer. Sie riss den Briefumschlag auf und ließ den Inhalt in ihre Hand gleiten. Seltsamerweise kamen ihr nicht die Tränen, als sie die drei Schmuckstücke betrachtete. Aber sie hatte das entsetzliche Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben. Auf den Tag genau vor acht Jahren und zwei Monaten hatte sie einen ähnlichen Umschlag geöffnet und ihm denselben Diamantring entnommen. Seither hatte Janey ihn getragen.

Damals hatte man Christine neben den Wertsachen ihrer Eltern weit mehr Verantwortung übergeben, als eine Neunzehnjährige normalerweise verkraften musste. Die endlosen Verhandlungen mit den Rechtsanwälten und das Ordnen des Nachlasses ihrer Eltern, der sich in einem chaotischen Zustand befunden hatte, waren noch die einfachere Aufgabe gewesen.

Es hatte sich als sehr viel mühsamer erwiesen, mit ihrer eigensinnigen Schwester Janey fertig zu werden, die damals gerade sechzehn geworden war.

Lange blickte Christine den Ring mit dem großen Solitärdiamanten an, der erst ihrer Mutter und dann Janey gehört hatte. Mit einem Mal fühlte sie sich in das Schlafzimmer ihrer Mutter zurückversetzt. Wie oft hatte sie neben dem Frisiertisch gestanden und gewünscht, ihr dunkles lockiges Haar wäre so glatt und blond wie Janeys und das ihrer Mutter und sie hätte statt ihrer braunen die blauen Augen ihrer Mutter geerbt.

Doch Christine kam eher nach ihrem Vater, sowohl was das Aussehen als auch den Charakter betraf. Sie war gewissenhaft und fleißig, dabei aber nicht so nachgiebig wie ihr Vater. Seine Frau Lily brauchte nur schmollend den Mund zu verziehen, und schon tat er, was immer sie von ihm wollte. Nur damit seine geliebte Lily wieder lächelte.

Janey hatte wie ihre Mutter die Erfahrung gemacht, dass ihre Schönheit ihr alles verschaffen konnte, was sie wollte. Beide hatten dieses gewisse Etwas ausgestrahlt, das die Männer faszinierte und dazu brachte, bereitwillig das Chaos zu beseitigen oder die Scherben aufzulesen, die sie hinterließen.

Den zweiten Ring aus dem Umschlag zierte ein großer Saphir: Janeys Verlobungsring. Das intensive Blau des Steins erinnerte Christine so sehr an die leuchtend blauen Augen ihrer Schwester, dass es ihr beinahe körperlich wehtat, dieses Schmuckstück in der Hand zu halten. Janey hatte den Ring so gern getragen. Seit ihrer Verlobung war sie überzeugt gewesen, sich auf der Überholspur des Lebens zu befinden. Sie hatte geglaubt, dass sich durch ihre Beziehung zu Marco all ihre Probleme von selbst lösen würden. Darunter ihre erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, die für Christines beschränkte Mittel eine Nummer zu groß geworden waren.

Christine glaubte fast, Janeys stets etwas atemlose Stimme hören zu können, so lebhaft war ihre Erinnerung an jenes Gespräch.

„Marcos Wohnung ist der Wahnsinn!“, hatte Janey begeistert erzählt. „Sie liegt direkt am Strand. Du gehst nur einen Schritt von der Terrasse, und schon stehst du im Sand. Allein seine Garage ist größer als deine Wohnung, Christine!“

Christine war Marcos Garage zwar egal, aber sie ließ Janey weiterplappern, in der Hoffnung, ihr Redefluss würde irgendwann versiegen, damit sie, Christine, ihr die Antworten auf wichtigere Fragen entlocken konnte.

„Was macht Marco denn?“, fragte sie Janey, als diese endlich verstummte.

Janey schwieg.

Christine ließ nicht locker. „Wovon lebt er? Hat er einen Beruf?“

„Er genießt das Leben.“ Janey blickte sie trotzig an. „Als seine Mutter starb, war er noch ein Teenager.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Genau wie unsere Eltern. Mit dem kleinen Unterschied, dass Bella Mancini ihren Kindern etwas vererbt hat.“

„Meinst du Geld?“, fragte Christine scharf. Denn sie hatte nach dem Tod ihrer Mutter eine abgrundtiefe Leere empfunden. So ein Vakuum ließ sich nicht füllen. Auch nicht mit Geld.

Jedenfalls nicht aus Christines Sicht.

„Verschone mich mit deinen Standpauken!“, schimpfte Janey. „Ich habe es satt, mir anzuhören, wie unwichtig dir Geld ist oder dass du neben dem Collegestudium in zwei Jobs gleichzeitig gearbeitet hast. Als wäre das nicht genug, musst du mir immer wieder vor Augen halten, dass dir die Plackerei nichts ausgemacht hat. Weil dir nur daran lag, dass wir beide zusammenbleiben konnten. Unsere Eltern hätten lieber regelmäßig die Prämien für die Lebensversicherung zahlen sollen. Dann wäre uns vieles erspart geblieben. Du hättest nicht so viel arbeiten müssen, und wir würden noch in unserem Elternhaus leben statt in dieser winzigen Wohnung.“

„Mich hat es nicht gestört“, beharrte Christine.

„Aber mich!“ Janey funkelte sie zornig an. „Ich hasse es, arm zu sein, und habe nicht vor, mein Leben lang jeden Cent zweimal umzudrehen. Ab jetzt kann Marco für mich sorgen. So wie seine Mutter für ihn gesorgt hat. Bella Mancini hat mit Immobilien ein Vermögen gemacht, und jetzt gehört die Firma den Kindern.“

Das Imperium der Mancinis! Natürlich! Den Mancinis gehörte halb Melbourne, und sie konnten praktisch die Immobilienpreise diktieren. An jedem dritten Anwesen entlang der Uferstraße an der Port-Philip-Bucht standen schicke blaue Tafeln, die jedem Interessenten mitteilten, dass er dieses Grundstück mit Seeblick über die Firma Mancini erwerben konnte.

Um es in der Welt der Grundstücksmakler zu etwas zu bringen, brauchte man Ausdauer, Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein. Genau die Eigenschaften also, über die ein Mann verfügen musste, der Janey auf dem rechten Weg halten wollte.

„Dann gehört Marco zum Mancini-Clan?“ Christine ließ sich die Erleichterung nicht anmerken. Aus langjähriger Erfahrung wusste sie, dass es das Aus für eine neu aufkeimende Beziehung von Janey bedeutete, wenn sie, Christine, sich allzu begeistert darüber äußerte. Leider zerschlug sich ihre Hoffnung, Janey hätte einen verantwortungsbewussten Freund gefunden, als Janey weitersprach.

„Marco hat seinen Anteil am Geschäft an seinen Bruder Rico verkauft.“ Das schien Janey zu irritieren, doch Christine sprach sie nicht darauf an.

Wichtiger schien es ihr, mehr über den Mann zu erfahren, mit dem sich Janey eingelassen hatte.

„Als Marco achtzehn wurde, wollte er in die Firma einsteigen, aber sein Bruder Rico hatte gerade beschlossen, die Firma zu erweitern. Das hieß viel Arbeit, Sechzigstundenwoche und …“

„So ist das im Geschäftsleben, Janey.“

Mit einer abfälligen Geste warf Janey das blonde Haar über die Schulter und trank einen Schluck Wein. „Wozu sich anstrengen, wenn man reich ist? Marco besitzt genug Geld. Er braucht nicht zu arbeiten, also tut er es nicht.“

„Dann lebt er von seinem Erbe?“ Christine schüttelte den Kopf. „Hat er überhaupt schon einmal gearbeitet?“

„Du redest wie sein Bruder“, antwortete Janey verächtlich. „Und ich gebe dir jetzt dieselbe Antwort, die Marco für Rico parat hat: Es geht dich nichts an. Marco liegt schließlich nicht der Familie auf der Tasche, sondern verbraucht sein eigenes Geld.“

„Aber welcher Mann würde …“

„Was weißt du schon von Männern? Und wie kommst du dazu, mir Ratschläge geben zu wollen?“

„Immerhin bin ich deine Schwester.“ Christine versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. Janey reagierte immer sehr gehässig, wenn sie ihr die Leviten las. „Mir liegt viel an dir, Janey, deshalb mache ich mir Sorgen um dich. Seit Mom und Dad gestorben sind, versuche ich, für dich da zu sein. Deshalb bitte ich dich, mir jetzt zuzuhören. Du kennst diesen Marco erst seit zwei Monaten. Warum hast du es so eilig? Warte doch erst einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln.“

„Ich bin schwanger.“

Diese Mitteilung ließ die Situation in einem anderen Licht erscheinen, doch Christine zeigte nicht, wie schockiert sie war. Sie erhob nicht einmal Einspruch, als Janey wieder einen großen Schluck Wein trank. Dies war nicht der Moment für Vorhaltungen über das richtige Verhalten während der Schwangerschaft.

„Natürlich bin ich auch in diesem Fall für dich da, Janey“, versicherte Christine. „Wir finden bestimmt eine Lösung. Du musst Marco trotzdem nicht unbedingt heiraten. Überleg es dir gut und handle erst, wenn du weißt, was du wirklich willst.“

„Bist du tatsächlich so dumm, oder tust du nur so?“ Janey sah sie spöttisch an. „Für eine Lehrerin bist du unglaublich schwer von Begriff. Das war doch kein Zufall.“

„Wie bitte?“

„Stell dich nicht so an, Christine! Ich weiß, was ich tue, und ich will dieses Baby.“

„Oh, dann entschuldige, Janey.“ Christine stand auf. „So war es nicht gemeint.“ Verwirrt suchte sie nach den richtigen Worten. „Babys haben dich noch nie interessiert.“

„Stimmt. Das wird auch so bleiben.“ Ärgerlich runzelte sie die Stirn. „Muss ich dir denn alles bis ins Einzelne erklären? Mir ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Ich kann in jedes Geschäft gehen und kaufen, was mir gefällt, ohne erst nach dem Preis zu sehen. Wir suchen uns die besten Restaurants aus, und ich wähle von der Speisekarte, worauf ich Appetit habe. Egal, was es kostet. Wenn du glaubst, ich würde mir so eine Chance entgehen lassen, kennst du mich schlecht. Kann sein, dass Marco mich liebt. Vielleicht hätten wir ewig so weiterleben können wie bisher. Aber ich wollte kein Risiko eingehen, also habe ich Tatsachen geschaffen.“ Sie klopfte sich vielsagend auf den Bauch.

Christine blickte sie entgeistert an.

„Falls dich mein fehlender Mutterinstinkt beunruhigt, vergiss es! Marco kann sich die besten Kindermädchen leisten. Ich muss mich um nichts kümmern. Deine Vorwürfe und Ratschläge kannst du dir ab sofort sparen, denn ich brauche dich nicht mehr, Christine!“

Selbst ein Jahr danach taten diese Worte noch weh.

Janeys goldener Ehering rief Erinnerungen an ihren Hochzeitstag wach. Im Geist sah Christine wieder Marcos Bruder Rico vor sich. Er hatte in der Kirche die Ringe über die Bibel gehalten und sie beinahe trotzig fallen lassen. In diesem Moment hatte Christine gewusst, dass nicht nur sie Vorbehalte gegen diese Ehe hegte.

„Wie geht es Ihnen, Miss Masters?“, machte die Krankenschwester Christines schmerzlichen Erinnerungen ein Ende.

Christine lächelte müde, stand auf und nahm ihre Jacke. „Gut, danke. Ich glaube, jetzt möchte ich auf die Kinderstation gehen und Lily Gesellschaft leisten.“

Lily.

Bei dem Gedanken an ihre Nichte, die so früh die Eltern verloren hatte, hasste Christine ihre Schwester Janey geradezu.

„Die Ärzte geben Ihnen Bescheid, sobald alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Es dauert bestimmt nicht mehr lange. Sie müssen ja zu Tode erschöpft sein, Miss Masters. Zumindest ist es uns gelungen, mit den Eltern von Marco Mancini Kontakt aufzunehmen. Offenbar machen sie gerade Urlaub in den Vereinigten Staaten. Deshalb konnten wir sie nicht eher erreichen.“

„Marcos Vater und seine Stiefmutter“, korrigierte Christine. „Die leibliche Mutter ist schon vor Jahren gestorben.“

„Ja? Jedenfalls sind sie nun informiert.“

Christine nickte. Sie hatte nicht erwartet, dass die Mancinis alles stehen und liegen lassen würden, um ins Krankenhaus zu eilen. Sicher würden viele Entscheidungen zu fällen sein, und sie war froh, dass sie sich nicht sofort darum kümmern musste. Der Tag war so schon schwer genug gewesen.

„Mr. Rico Mancini hat angerufen und Sie gebeten, hier zu bleiben und auf ihn zu warten, Miss Masters. Oh, geht es Ihnen nicht gut?“

Christine wurde plötzlich schwindelig. „Doch. Ich bin nur …“ Sie befeuchtete sich die trockenen Lippen. Ihr Herz pochte so laut, dass sie glaubte, die Schwester müsste es hören können.

Die Schwester schob ihr einen Stuhl hin, und Christine setzte sich dankbar wieder.

„Atmen Sie einige Male tief durch, Miss Masters, und lassen Sie den Kopf hängen! Ja, so ist es gut. Kein Wunder, dass Ihnen schwindelig wird, nach allem, was Sie durchgemacht haben. Es muss ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein.“

Christine nickte und ließ den Kopf entspannt hängen. Nicht der Tod von Janey und Marco hatte sie so sehr schockiert, sondern eher deren Lebensstil, aber das konnte die Krankenschwester nicht wissen.

Auch als diese sie wieder allein ließ, hing Christine weiter ihren Erinnerungen nach. Marco und Janey hatten alle vor den Kopf gestoßen, indem sie die Regeln der Gesellschaft missachteten, wenn sie ihnen nicht passten. Sie lebten nach dem Motto: Für Reiche gelten eigene Regeln. Oder keine. Insofern kam ihr plötzliches und gewaltsames Ende nicht überraschend.

Doch dass Christine schwindelig wurde, lag weder an dem Unfall noch an der Wartezeit im Krankenhaus. Dass sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, hatte auch nichts damit zu tun. Nein, der Grund war ein ganz anderer: Rico wollte kommen! Nach all der Zeit würde sie ihn wiedersehen.

„Rico“, flüsterte sie, schloss die Augen und vergaß für einen Moment, wo sie sich befand und was geschehen war. Die Schrecken des Tages verblassten, während sie sich an Ricos Gesicht erinnerte. Eigentlich hatte sie dieses Gesicht vergessen wollen. Vergeblich, denn wie oft hatte sie von ihm geträumt …

Rico hatte sie damals zum Lachen gebracht.

Janeys Hochzeitstag, dem Christine mit Bangen entgegengesehen hatte, war dank Rico der bis dahin aufregendste und spannendste Tag ihres Lebens geworden. Anfangs hatte sie äußerlich gelassen, innerlich jedoch angespannt und unsicher herumgestanden und verwirrt mit angesehen, wie sich Marco und Janey über die traditionellen Hochzeitsbräuche hinwegsetzten. Sie machten sich über alles lustig, was ihr selbst lieb und teuer war.

Und dann hatte Rico sie angesprochen und ihre Welt auf den Kopf gestellt. „Sie müssen mit mir reden!“ Sein drängender Ton hatte sie völlig überrumpelt.

„Ich?“ Weshalb sollte der begehrteste Junggeselle von Melbourne ihr, Christine Masters, seine Aufmerksamkeit schenken? „Warum?“, fragte sie schroff.

„Das verrate ich Ihnen gleich, es ist mir wirklich wichtig“, beharrte er. „Vermutlich ist es das Letzte, wonach Ihnen gerade der Sinn steht, aber ich bitte Sie: Tun Sie so, als wären Sie ganz ins Gespräch mit mir vertieft!“

Das fiel Christine nicht schwer, denn sie fand ihn faszinierend. Es war kein Kunststück, ihm in die dunklen Augen zu blicken und sich den Anschein zu geben, sie würde sich gut unterhalten. Rico besorgte zwei Stühle und setzte sich ihr gegenüber hin. Dann rückte er näher, sodass sich seine Beine rechts und links von ihren Knien befanden, und bat sie ernst, so sitzen zu bleiben.

Christine musste lachen. „Was ist denn los?“ Sie fühlte sich verlegen, aufgeregt und geschmeichelt.

„Die Frau des Pastors hat es auf mich abgesehen.“

„Esther?“ Erstaunt blickte Christine zur anderen Seite des Saals, wo sich die Pastorengattin, ein Ausbund der Tugend, mit einigen Gästen unterhielt. Zu einer Kombination aus Rock, Pulli und Jacke aus Strickstoff trug sie eine lange Perlenkette, und sie war offensichtlich beim Friseur gewesen. Die Frisur war mit Haarspray so stark fixiert, dass sich kein Härchen rührte. Christine wäre nie auf die Idee gekommen, dass eine solche Frau überhaupt erotische Gefühle hatte. Doch Esther sah tatsächlich immer wieder beunruhigt zu ihnen herüber. Und daran gemessen, welchen Effekt die wenigen Minuten in Ricos Nähe auf sie, Christine, ausübten, war vermutlich alles möglich! Gegen jemanden wie Rico waren offenbar nicht einmal Pastorengattinnen gefeit.

„Sehen Sie nicht hin!“ Rico berührte leicht ihre Wange und zwang Christine so, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

„Oh, tut mir leid.“ Sie saß wie auf Kohlen. Seine Berührung hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Obwohl sie spürte, dass sie über und über errötet war, gab sie sich gelassen. „Sicher irren Sie sich!“

„Zuerst habe ich mir das auch gesagt“, stimmte Rico zu. „Sogar dann noch, als sie begann, mir die Jacke aufzuknöpfen.“

„Das ist nicht wahr!“

„Doch. Es kam sogar noch schlimmer.“ Er schüttelte sich unwillkürlich, und Christine musste lachen. „Wenn Ihre Schwester sich mit einer altmodischen katholischen Hochzeit zufriedengegeben hätte, wäre so etwas nicht passiert.“

„Ja, das war typisch Janey“, antwortete Christine trocken. Sie und Rico lächelten sich verständnisinnig zu.

„Natürlich habe ich mich sofort entschuldigt und behauptet, meine Freundin würde warten. Deshalb möchte ich Sie bitten, heute Abend meine Freundin zu spielen, wenn Sie nichts dagegen haben!“

„Einverstanden.“ Christine lächelte ihm zu und nahm das Glas Champagner, das er ihr reichte. Erstaunlicherweise zitterten ihr nicht einmal die Hände, obwohl ihr Herz wie verrückt pochte.

Es wurde der schönste Abend ihres Lebens. Christine störte es weder, dass Rico sie aus den falschen Gründen angesprochen hatte, noch machte es ihr etwas aus, nur wegen Esther so behandelt zu werden, als wäre sie jemand ganz Besonderes und die einzige interessante Frau im Saal.

Anfangs hatte Rico Christine immer wieder misstrauisch angesehen, doch als sie später in seinem Hotelzimmer gestanden hatten, war sein Blick sanfter geworden. Und dann hatte er sie geküsst.

Wenn sie die Augen schloss, konnte sie noch immer seine weichen Lippen spüren und den Duft seines After Shave wahrnehmen. Damals hatte sie die Arme um Ricos kräftigen Nacken gelegt, die Finger in sein pechschwarzes Haar geschoben und den Kuss erwidert.

Nie zuvor hatte sie sich dem drängenden Verlangen eines Mannes so rückhaltlos hingegeben wie an jenem Abend. Der Kuss löste Empfindungen in ihr aus, die ihr neu und doch sehr willkommen waren. Unwillkürlich presste sie sich an ihn, drängte ihm entgegen und wartete beinahe ebenso ungeduldig wie er darauf, dass er die vielen kleinen Knöpfe ihres Kleides löste. Doch die winzigen rosa Knöpfchen erwiesen sich als zu hinderlich. Irgendwann zerriss Rico den feinen rosa Tüll und streifte Christine das Kleid von den Schultern. Ihr war es egal, dass er ihr Kleid ruiniert hatte. Sie hatte es sowieso gehasst und es nur Janey zuliebe getragen.

Ricos Blicken schutzlos ausgesetzt und seltsam erregt, stand Christine dann vor diesem Mann, den sie kaum kannte, und beobachtete und spürte atemlos, wie er mit den Händen eine sinnliche Reise über ihren Körper unternahm. Als er ihre weißen Brüste in seinen sonnengebräunten Händen hielt, blieb ihr fast das Herz stehen, und als er begann, ihre Brüste mit den Lippen zu liebkosen, entrang sich ihr ein leises Stöhnen.

Ihre Knospen richteten sich auf und wurden beinahe schmerzhaft hart, sobald seine Lippen sie umschlossen, doch noch stärker empfand sie die Erregung am Sitz ihrer Lust. Dann begann Rico, ihre Beine zu streicheln. Er tat es langsam und zärtlich, und schließlich schob er die Hände unter ihren Slip und streichelte sie dort, wo sie weich und warm und feucht war. Unwillkürlich erbebte sie, drängte ihm entgegen und keuchte lustvoll auf.

Damals wie heute wunderte sich Christine, wie hemmungslos sie sich verhalten und wie leicht sie sich diesem Mann hingegeben hatte.

Rico schien zu verstehen, wie sehr sie die Erfahrung überwältigt hatte, denn danach hielt er sie einfach nur in den Armen. Für kurze Zeit fühlte sie sich sicher und geborgen.

„Wir müssen wieder nach unten, Christine“, flüsterte ihr er sanft zu, als sie allmählich aus dem Rausch der Lust auftauchte. Offenbar hatte er gemerkt, wie ungewohnt die Situation und wie selten ein so lustvolles Erlebnis für sie war.

Obwohl Rico versuchte, einen sanften Übergang zu schaffen, empfand sie die Rückkehr in die raue Wirklichkeit wie einen Schlag ins Gesicht. Sie kannte diesen Mann kaum, und doch stand sie halb nackt und unglaublich erregt vor ihm. Dabei fühlte sie sich lebendig wie nie zuvor, ihre Augen funkelten, und ihre Wangen glühten.

Rico schien zu spüren, was in ihr vorging. „Es gibt keinen Grund zur Reue“, erklärte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. „Du bist wunderschön – und diese Erfahrung war etwas Herrliches.“

„Aber ich hätte nicht …“

„Sch!“ Er drückte sie so eng an sich, dass sie seine Erregung spürte.

Jetzt betraf ihr schlechtes Gewissen nicht mehr die Situation an sich, sondern die Tatsache, dass Rico sein Verlangen nicht hatte ausleben können. Sie war sicher, dass nur sie ihre Lust befriedigt hatte und er zu kurz gekommen war. Weil sie annahm, dass er so etwas von ihr erwartete, berührte Christine ihn dort, wo sein Begehren am offensichtlichsten war.

„Nein, Christine, hör auf!“, keuchte er atemlos und hielt ihre Hand mit eisernem Griff fest.

Verlegen errötete sie tief. Hatte sie ihn verletzt? Sicher merkte er ihr an, wie unerfahren sie war.

„Wir müssen nach unten gehen und das Brautpaar verabschieden. Schließlich sind wir Brautjungfer und Brautführer.“

„Aber ich …“ Christine schluckte. „Du hast doch noch keinen …“

„Das holen wir später nach.“

Sein Versprechen tröstete sie. Die Aussicht auf ein Morgen, auf eine weitere Gelegenheit, beruhigte sie, und ihr Verlangen und ihre Ungeduld ließen nach.

„Sobald das Brautpaar abgereist ist, muss ich zum Flughafen. Ich fliege in die Staaten. Aber wir können uns vorher noch kurz treffen und verabreden.“ Rico küsste sie ein letztes Mal fordernd, voller Verlangen und unsagbar zärtlich.

Als Christine später Janey half, das Hochzeitskleid auszuziehen und sich reisefertig zu machen, zitterten ihr die Hände so sehr, dass sie kaum den feinen Reißverschluss aufbekam. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Rico, denn in einer knappen Stunde würde sie ihn wiedersehen.

„Du hast dich ja mächtig verändert“, bemerkte Janey. „Mit offenem Haar siehst du aus, als würdest du dich ausnahmsweise einmal amüsieren.“ Dann verstummte sie und musterte ihre Schwester aufmerksam. Das zerzauste Haar, die glänzenden Augen, die roten Wangen. „Wieso hast du dich denn umgezogen?“ Kritisch betrachtete sie Christines schlichte rostfarbene Seidentunika.

„Rosa Tüll steht mir nicht“, antwortete Christine gelassen, doch sie spürte, dass ihr das Blut in die Wangen stieg.

„Rico gefällt es offensichtlich. Er hatte ja nur noch Augen für dich.“ Janey runzelte die Stirn. „Wohin seid ihr eigentlich nach den Reden verschwunden?“

„Das ist doch jetzt nicht wichtig“, wehrte Christine ab und dachte: Hoffentlich merkt Janey nichts! „Beeil dich, Janey, sonst verpasst ihr noch den Flug.“

„Nein, das Flugzeug wartet“, widersprach Janey locker. „Das ist der Vorteil eines Privatjets: Er fliegt nicht ohne dich ab.“ Dann senkte sie die Stimme, wurde ernst und sah ihre Schwester so eindringlich an, dass Christine nervös wurde. „Du brauchst nur deine Karten richtig auszuspielen, und alles gehört dir, Christine!“

„Unsinn!“

„Doch! Ich meine es ernst. Ich habe dir den Weg geebnet, Christine. Weißt du eigentlich, was es mich gekostet hat, Marco davon zu überzeugen, dass ich ihn liebe und ihn nicht bloß wegen seines Geldes will? Das war ein hartes Stück Arbeit, sage ich dir.“

„Ich möchte nicht darüber sprechen, Janey.“

„Dabei hat er recht, ich will sein Geld.“ Sie lächelte boshaft. „Jetzt habe ich es geschafft: Ich bin mit einem sehr reichen Mann verheiratet. Warum machst du es mir nicht nach, Christine?“ Sie lachte kalt.

Christine hielt sich die Ohren zu. Sie fand es abscheulich, wenn ihre Schwester so berechnend redete.

Doch Janey amüsierte sich über ihre Verlegenheit. Je länger sie sprach, desto begeisterter und lauter wurde sie. Schließlich zog sie Christines Hände weg, damit sie ihr zuhören musste. „Gib’s ruhig zu, Christine, du hasst deine Arbeit, du hasst es, diese schrecklichen Kinder zu unterrichten, und du hasst deine schäbige kleine Wohnung!“

„Janey!“ Doch Christine sah ein, dass es keinen Zweck hatte, ihre Schwester überzeugen zu wollen. Janey würde sie nie verstehen und niemals glauben, dass sie ihre Arbeit liebte. Natürlich stöhnte sie manchmal über die Schule, den Lehrermangel oder ihre Schüler. Aber das wollte nichts heißen. Im Allgemeinen unterrichtete sie gern und liebte ihre Wohnung. Sie war zwar klein, aber ihr Zuhause.

Bei diesen Erinnerungen kamen Christine nun doch die Tränen. Damals war Janey so glücklich, begeistert und aufgeregt gewesen, und nun lag sie steif und kalt im Krankenhaus aufgebahrt. Aber Christine ließ ihren Tränen nicht freien Lauf. Wozu auch? Niemand würde sie trösten. Sie musste allein mit der schrecklichen Wirklichkeit fertig werden.

Janey war tot. Und Rico?

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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