Stärker noch als damals ...

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Es war ein ungeheurer Skandal, der die Stadt am Mississippi erschütterte: Nach 30 Jahren Ehe verließ der Abgeordnete Stuart McCloud seine Frau, um sich mit seiner jungen Geliebten ein neues Leben aufzubauen. Dass dieser Schritt auch dramatische Folgen für die Beziehung seiner Tochter haben würde, konnte Stuart nicht ahnen. Deborahs Liebe zu dem jungen Polizeibeamten Dylan Smith zerbrach. Neun Jahre sind seitdem vergangen! Als Deborah nach Honesty zurückkehrt, glaubt sie, die Vergangenheit lange überwunden zu haben. Doch schon die erste Begegnung mit Dylan belehrt sie eines Besseren: Wieder rast ihr Herz - wieder will sie nur ihn! Aber auch etwas anderes ist genau wie damals: Ihre Familien hassen sich ...


  • Erscheinungstag 22.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777234
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als Deborah McCloud sich dem Stadtrand näherte und das Ortsendeschild von Honesty im Scheinwerferlicht auftauchte, wäre sie am liebsten weitergefahren. Sie war zwar in der Kleinstadt Honesty in Mississippi aufgewachsen, doch hier war nicht mehr ihr Zuhause. Vor neun Jahren war sie ans College geflohen. Seither kam sie stets nur für einige Tage zurück und das auch nur wegen ihrer Mutter und ihrer beiden älteren Brüder. Dabei ging es ihr in erster Linie um ihre Mutter. Von ihren Brüdern hatte sie sich in den letzten Jahren ziemlich entfernt.

Unwillkürlich gab Deborah Gas, als wollte sie den unschönen Erinnerungen entfliehen. Vor allem die Hochzeit ihres Bruders Gideon am Nachmittag hatte vieles wieder an die Oberfläche gebracht.

Zu allem Überfluss sah sie im Rückspiegel Blaulichter aufleuchten. Na toll, dachte sie und fuhr an den Straßenrand. Jetzt fehlte nur noch, dass kein anderer als Officer Dylan Smith sie stoppte, doch so grausam konnte das Schicksal nicht zu ihr sein.

Oder doch?

Dylan stützte sich auf das Dach ihres Wagens und beugte sich zum offenen Seitenfenster herunter. Obwohl es schon fast dunkel war, kannte Deborah doch sein gut geschnittenes Gesicht und die ausdrucksvollen grauen Augen zur Genüge. Das dunkelbraune Haar hatte er früher lang getragen. Jetzt war es fast militärisch kurz geschnitten, wie man das von einem Polizisten erwartete.

Seine Stimme klang auch tiefer als damals, hatte jedoch den leicht spöttischen Unterton nicht verloren. „Guten Abend, Ms. McCloud. Haben Sie eine Bank überfallen oder eine Ladenkasse ausgeräumt, dass Sie es so eilig haben, die Stadt zu verlassen?“

„Ich verlasse die Stadt nicht“, erwiderte sie möglichst ruhig. „Ich wollte nur ein wenig spazieren fahren.“

„Um Mitternacht?“

„Ja. Ist das vielleicht verboten?“

Dylan ließ sich nicht anmerken, ob er sich über die herausfordernde Frage ärgerte. „Nein, aber neunzig Stundenkilometer sind verboten, wenn eine Geschwindigkeitsbegrenzung von siebzig Stundenkilometern gilt.“

„Dann stellen Sie mir einen Strafzettel aus.“ Deborah holte den Führerschein aus der Geldbörse und hielt ihn Dylan hin. „Geben Sie ruhig meine Daten durch. Dann werden Sie feststellen, dass ich nicht gesucht werde.“

Er griff nicht nach dem Führerschein. „Sie wissen genau, dass ich Ihnen keinen Strafzettel gebe.“

„Bei jedem anderen würden Sie es machen, und ich will keine Sonderbehandlung.“

„Wie war die Hochzeit Ihres Bruders?“ erkundigte Dylan sich.

Irritiert zog Deborah die Hand zurück. „Gut. Alles glatt gelaufen.“

„Gideon und Adrienne sind ein schönes Paar.“

„Ja. Ich habe übrigens gehört“, fuhr Deborah fort, „dass Adrienne Sie auch eingeladen hatte. Wieso waren Sie nicht da?“

„Seit wann stellen Sie überflüssige Fragen?“

„Tut mir Leid“, entgegnete sie gereizt.

Dylan seufzte. „Ich wollte die Hochzeit nicht stören. Sie hätten mich nicht dabeihaben wollen. Mit Adrienne habe ich mich zwar angefreundet, aber Gideon spricht kaum mit mir. Also wollte ich keinen Ärger, auch um Ihrer Mutter willen nicht.“

„Mir wäre es völlig gleichgültig gewesen, wenn Sie aufgetaucht wären. Und meine Mutter hätte Sie so höflich wie jeden anderen Gast behandelt.“

Darauf ging Dylan nicht weiter ein. „Ich habe Ihre Mutter immer bewundert. Eine tolle Frau. Und wie nett sie zu dem verwaisten Kind ihres Exmannes ist! Das hat meine gute Meinung von ihr noch einmal bestärkt.“

Deborah hatte keine Lust, mit ihm über die Probleme in ihrer Familie zu sprechen. „Meine Mutter würde sich freuen, wenn sie wüsste, dass Sie so viel von ihr halten.“

„Ihrer Mutter ist es sicher völlig gleichgültig, wie ich über sie denke.“

Deborah klopfte ungeduldig mit der Hand aufs Lenkrad. „Schreiben Sie mir jetzt einen Strafzettel aus oder nicht?“

Dylan lachte leise, und dieses Lachen hatte früher ihr Herz erwärmt. „Bisher hat noch kein Autofahrer von mir einen Strafzettel verlangt.“

„Und?“ drängte sie. „Bekomme ich einen?“

„Nein. Ich verwarne Sie bloß.“

„Dann kann ich also weiterfahren?“

Er wich einen Schritt zurück. „Ich habe mich dir noch nie in den Weg gestellt, Deborah“, sagte er verhalten.

Wortlos gab sie Gas und sah im Rückspiegel, dass Dylan Smith sich nicht von der Stelle rührte.

Am nächsten Morgen wachte Deborah nach einer unruhigen Nacht zeitig auf und ging in die Küche, in der es nach Kaffee und frischen Brötchen duftete. Ihre Mutter stand schon an der Theke und schälte Obst. Lenore McCloud war wie immer elegant gekleidet. Heute trug sie eine cremefarbene Bluse zu einem Rock in dezentem Beige. Das dunkle Haar war von grauen Strähnen durchzogen, aber wie immer perfekt frisiert.

Deborahs dunkelblondes Haar dagegen war zerzaust. Sie trug ein weites T-Shirt und eine karierte Hose und hatte auf Schuhe verzichtet. „Irgendwie kommt es mir so vor, als wäre ich in eine dieser alten Familienserien im Fernsehen geraten“, stellte sie fest. „Du trägst ja sogar Perlen.“

Lenore tastete nach den Ohrringen und der Halskette. „Um zehn Uhr muss ich zur Sitzung eines Komitees. Die Perlen passen einfach zur Kleidung.“

„Natürlich. Darauf achtest du sehr genau.“

Lenore ließ den Blick über Deborah gleiten, verzichtete jedoch auf eine Bemerkung. „Du warst letzte Nacht noch weg, nicht wahr?“

Deborah hätte sich denken können, dass ihrer Mutter nichts entging. „Ich konnte nicht schlafen“, erwiderte sie und nahm sich eine Tasse Kaffee. „Darum bin ich eine Weile herumgefahren.“

„Bedrückt dich vielleicht etwas, worüber du mit mir sprechen möchtest?“

Deborah schüttelte den Kopf und ging zu der einladenden Essnische. „Es war nur die Anspannung von der Hochzeit.“

Lenore setzte sich zu ihr an den Tisch, der für zwei gedeckt war, und stellte einen Teller Nussbrötchen und eine Schale Obst in die Mitte. „Ich bin sehr froh, dass alles gut gelaufen ist. Es war eine schöne Hochzeit, nicht wahr?“

„Sehr schön.“ Deborah griff nach einem der süßen Brötchen.

„So glücklich habe ich Gideon noch nie gesehen.“

„Er wirkte erstaunlich zufrieden, findest du nicht auch? Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet er schon nach so kurzer Zeit heiraten würde? Wie lange kennen er und Adrienne sich jetzt? Zwei Monate, oder?“

Lenore lächelte. „Es ist schön, dass meine Jungen mit ihren Frauen so glücklich sind.“

Deborah löste eine halbe Walnuss von ihrem Brötchen und schob sie in den Mund. „Nathan ist doch sowieso immer glücklich.“

„Na ja, nicht immer.“

„Mom, du weißt genau, dass er von deinen Kindern das sonnigste Gemüt hat. Mich hast du schon früher als aufbrausend und Gideon als finster eingestuft. Nathan war und ist der fröhliche und optimistische ältere Bruder, der dafür sorgt, dass es uns allen gut geht.“

„Du und Gideon, ihr wart eine größere Herausforderung als Nathan“, räumte Lenore vorsichtig ein. „Das heißt aber nicht, dass ich ihn vorziehe … oder eines meiner anderen Kinder. Ich liebe euch alle gleich.“

„Das weiß ich“, versicherte Deborah. „Und ich bin froh, dass es dir und Nathan gelungen ist, eure Differenzen beizulegen.“

„Niemand kann Nathan lange böse sein“, stellte Lenore lächelnd fest.

„Ich natürlich ausgenommen“, sagte Deborah leise und nahm einen Schluck Kaffee.

„Du natürlich ausgenommen“, bestätigte Lenore amüsiert.

„Aber ist dir diese Geschichte mit Isabelle nicht doch zu viel?“ hakte Deborah nach. „Gestern während der Hochzeit ist die Kleine ständig hinter dir hergelaufen und hat dich Nanna genannt, als wärst du ihre Großmutter. Das kann für dich nicht sonderlich angenehm sein.“

„Unsinn“, wehrte Lenore energisch ab. „Ich habe mich mit der Situation arrangiert. Du hast mit Isabelle nur wenig Zeit verbracht und weißt daher nicht, wie ungewöhnlich weit sie für ihre vier Jahre entwickelt ist. Isabelle ist ein kluges, fröhliches und sehr braves Kind. Und da sie jetzt bei Nathan und Caitlin und den zukünftigen Kindern der beiden aufwächst, wird sie mich ohnedies als ihre Großmutter ansehen. Warum sollte mich das stören?“

Dafür kannte Deborah etliche Gründe. Es fing damit an, dass die kleine Isabelle aus einem Seitensprung ihres Vaters stammte. Stuart McCloud, damals Kandidat für den Posten des Gouverneurs von Mississippi, hatte eine heimliche Affäre mit einer Wahlkampfhelferin begonnen, die nur wenig älter als Deborah war. Wenige Monate vor dem Wahltermin flog alles auf, und Stuarts Karriere war zu Ende – und ebenso seine seit dreißig Jahren bestehende Ehe mit Lenore. Der Skandal hatte sie schwer gedemütigt.

Lenore überstand alles mit der ihr eigenen Würde und Haltung. Deborah war damals schon an einem College in einem anderen Bundesstaat. Sie sprach nie wieder mit ihrem Vater, nachdem er seine junge Geliebte geheiratet hatte. Nathan, der Friedensstifter, suchte als Einziger Kontakt zu Stuart McCloud, der mit seiner jungen Frau Kimberly in Kalifornien ein neues Leben begonnen hatte. Nathan besuchte ihn hin und wieder und schloss dabei seine kleine Halbschwester Isabelle ins Herz.

Vor etwa einem Jahr waren Stuart und Kimberly tödlich verunglückt. Nathan holte daraufhin die kleine Isabelle zu sich, wurde zu ihrem Vormund und kümmerte sich nun mit der Hilfe seiner frisch angetrauten Ehefrau um sie.

Anfangs mochte Lenore sich nicht mit dieser Entwicklung abfinden. Zuerst fühlte sie sich von Nathan hintergangen und wollte nichts mit dem Kind zu tun haben. Später lenkte sie aber ein, um nicht mit Nathan zu brechen. Wegen ihrer Entscheidung, dem Kind eine Ersatz-Großmutter zu sein, hatte sie erneut bei allen Sympathie und Anerkennung gewonnen und wurde von ihren Mitbürgern geradezu verehrt.

Manchmal fragte Deborah sich allerdings, ob ihre Mutter nicht etwas zu weit ging. Sie selbst hätte sich jedenfalls nicht so großzügig zeigen können. Sogar jetzt nahm sie es ihrem Bruder Nathan noch übel, dass er die kleine Isabelle gegen den Widerstand seiner Mutter und seiner Geschwister zu sich genommen hatte.

Deborah runzelte die Stirn, als sie sich daran erinnerte, wie Dylan ihre Mutter gelobt hatte. Dabei hätte sie gern das Zusammentreffen mit ihm völlig vergessen.

„Bestimmt weißt du, was für dich das Beste ist“, bemerkte Deborah.

„Was für mich und für die Familie das Beste ist“, entgegnete Lenore. „Und davon lasse ich mich von niemandem abbringen. Übrigens freue ich mich sehr, dass du diesmal länger bleibst“, fuhr sie lächelnd fort. „Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann du zuletzt länger als ein Wochenende hier warst.“

„Es ist schön, daheim zu sein“, entgegnete Deborah und hoffte, dass es auch ehrlich klang.

„Hast du schon entschieden, was du beruflich machen wirst?“

„Ich schwanke noch zwischen den Angeboten aus Atlanta und Dallas“, entgegnete Deborah. „Ich wohne zwar gern in Tampa, aber jetzt brauche ich eine Veränderung.“

Lenore schüttelte den Kopf. „Seit dem Abschluss deines Studiums vor fünf Jahren hast du schon in drei verschiedenen Bundesstaaten gelebt. Wann wirst du dich endlich an einem Ort niederlassen?“

„Das weiß ich noch nicht, ich bin doch auch völlig ungebunden. Warum sollte ich da keine neuen Erfahrungen sammeln, solange das möglich ist?“

„Ja, warum nicht“, meinte Lenore wenig überzeugt. „Aber du solltest bald eine eigene Familie gründen. In zehn Tagen wirst du schließlich siebenundzwanzig.“

„Ja, Mom, das habe ich nicht vergessen.“

„Tut mir Leid“, meine Lenore, „aber im Moment denke ich eben ständig an Hochzeiten und Enkelkinder.“

„Kein Wunder. Schließlich haben Nathan und Gideon kurz hintereinander geheiratet. Du musst allerdings erst mal mit diesen beiden Hochzeiten zufrieden sein. Ich habe es jedenfalls nicht eilig, mein Leben schwieriger als nötig zu machen.“

„Hoffentlich hält dich nicht meine Scheidung von deinem Vater vom Heiraten ab. Nicht jede Ehe endet dermaßen schmerzhaft. Und nicht einmal ich bereue irgendetwas. Ich habe mit deinem Vater viele glückliche Jahre erlebt, und ich habe drei wunderbare Kinder. Das wiegt alles Negative auf.“

„Ich hätte gern noch einen Kaffee“, antwortete Deborah, um nicht weiter über diese unangenehmen Erinnerungen nachdenken zu müssen. „Soll ich dir auch einen bringen?“

„Nur eine halbe Tasse.“

Bevor Deborah die Kaffeemaschine erreichte, klingelte das Telefon, obwohl es für einen Anruf an einem Samstagmorgen noch sehr früh war.

Lenore meldete sich, während Deborah den Kaffee zum Tisch trug und dann zur Zeitung griff. Während sie die einzelnen Artikel überflog, achtete sie nicht darauf, was ihre Mutter am Telefon sagte. Lenore kam wieder zurück, als Deborah gerade die Seite mit den Comics aufschlug. Ein Blick in Lenores Gesicht, und Deborah wusste, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist passiert?“ fragte sie besorgt.

Lenore setzte sich. „Caitlins Mutter ist letzte Nacht gestorben.“

„Das tut mir aber Leid“, erwiderte Deborah, obwohl sie erleichtert war, dass ihren Brüdern nichts zugestoßen war.

Lenore seufzte. „Vermutlich ist es eine Erlösung“, meinte sie. „Die Ärmste hat ihre Tochter im letzten Jahr gar nicht mehr erkannt.“

„Fahren Caitlin und Nathan jetzt nach Jackson?“

„Ja, noch heute Vormittag. Sie bleiben zwei oder drei Tage weg, um das Begräbnis vorzubereiten und alles zu regeln. Heute ist Samstag. Vor Montag können sie nicht viel erreichen, aber Caitlin möchte in der Nähe ihrer Mutter sein. Isabelle bleibt übrigens hier bei uns. Das ist Caitlin lieber, als wenn wir am Begräbnis teilnehmen würden.“

Deborah stellte die Kaffeetasse auf den Tisch. „Sie bringen Isabelle hierher?“

„Natürlich. Du erwartest doch nicht, dass sie eine Vierjährige in ein Bestattungsunternehmen und auf den Friedhof mitnehmen.“

Deborah hatte nicht damit gerechnet, schon wieder mit ihrer kleinen Halbschwester zusammenzutreffen. Es fiel ihr auch so schon schwer, sich in diesem Haus aufzuhalten, und Isabelle würde sie zusätzlich ständig an den Verrat ihres Vaters erinnern. Daran änderte nichts, dass das Kind keine Schuld am Verhalten seiner Eltern trug.

„Natürlich können sie Isabelle nicht mitnehmen“, bestätigte Deborah. „Aber was ist mit der Haushälterin der beiden, mit dieser Mrs. Tuckerman?“

„Mrs. Tuckerman wohnt nicht bei ihnen, sondern kommt nur tagsüber ins Haus. Außerdem habe ich angeboten, mich um Isabelle zu kümmern. Es ist ja nur für ein paar Tage“, fügte Lenore hinzu. „Am Montagabend sind die beiden wahrscheinlich schon wieder zurück, und Isabelle macht gar keine Mühe.“

„Ja, das geht schon klar“, meinte Deborah und nahm sich vor, sich von dem Kind fern zu halten.

Als es klingelte, eilte Lenore an die Tür. Deborah folgte ihr langsam.

Draußen standen ihr Bruder Nathan, seine Frau Caitlin und Isabelle. Caitlin wirkte traurig, war jedoch gefasst. Schließlich hatte ihre Mutter schon vor zwei Jahren einen schweren Schlaganfall erlitten. Nathan war bedrückt, blickte jedoch lächelnd auf das blonde Mädchen mit den blauen Augen hinunter, das ihn an der Hand hielt. Von verschiedenen Seiten hatte Deborah bereits gehört, dass Isabelle genauso aussah wie sie selbst in diesem Alter.

„Es tut mir sehr Leid wegen deiner Mutter“, sagte Deborah zu Caitlin.

„Danke“, erwiderte ihre Schwägerin. „Weißt du, ich habe schon vor ziemlich langer Zeit Abschied von ihr genommen, aber ich werde trotzdem die wöchentlichen Besuche im Pflegeheim vermissen. Dabei hat sie mich wahrscheinlich gar nicht mehr wahrgenommen.“

„Vielleicht doch, aber sie konnte es dir nicht zeigen.“

„Das ist möglich“, bestätigte Caitlin. „Und deshalb bin ich auch immer wieder zu ihr gegangen.“

Nathan legte seiner Frau den Arm um die Schultern. „Wir sind in einigen Tagen wieder hier“, versicherte er Deborah. „Dann haben wir hoffentlich noch etwas Zeit füreinander, bevor du wieder wegfährst.“

Die Familie bedeutete Nathan sehr viel. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn alle seine Angehörigen in unmittelbarer Nähe wohnten, damit er sich persönlich um sie kümmern konnte. Er hatte auch nie verstanden, weshalb Deborah ihre Heimatstadt verlassen hatte.

Eine Viertelstunde später brachen Nathan und Caitlin bereits wieder auf.

Lenore sah auf die Uhr. „Ich muss in spätestens zehn Minuten los, sonst komme ich zu spät zu diesem Termin“, sagte sie. „Isabelle, ich bin jetzt erst mal zwei Stunden lang weg, aber du bist ja bei Deborah.“

„Ach, Mom …“ setzte Deborah an.

„Du brauchst dich nicht ums Mittagessen zu kümmern“, kam ihre Mutter ihr zuvor. „Ich bringe etwas mit.“

„Mom, ich …“

„Jetzt muss ich aber los.“ Lenore hatte schon verstanden, warum Deborah zögerte, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. „Ich bin im Vorstand dieses Komitees, und das Treffen ist sehr wichtig. Du bist ja sowieso hier und kannst ruhig eine Weile auf deine kleine Schwester aufpassen.“

Deborah rang sich ein Lächeln ab, da Isabelle sie genau beobachtete. „Ja, klar. Wir kommen schon klar, nicht wahr, Isabelle?“

Das Kind nickte. „Ich bin auch ganz brav, Nanna.“

Lenore strich Isabelle übers Haar. „Ich weiß, mein Schatz, das bist du immer. Sei du aber auch brav“, sagte sie zu Deborah und hob mahnend den Zeigefinger.

Isabelle lachte.

„Ich werde mich bemühen“, versprach Deborah und rang sich erneut ein Lächeln ab.

Nachdem Lenore das Haus verlassen hatte, betrachtete Deborah das kleine Mädchen und überlegte, was sie nun machen sollte. Sie war doch nur hergekommen, um an der Hochzeit ihres Bruders Gideon teilzunehmen und dann eine Weile bei ihrer Mutter zu bleiben. Mit einer solchen Situation hatte sie nicht gerechnet.

„Also, was macht ihr denn normalerweise so an einem Samstag?“ erkundigte sie sich.

Isabelle zuckte mit den Schultern. „Ach, wir gehen einkaufen oder ins Kino auf den Spielplatz oder in den Hundeladen.“

„In den Hundeladen?“

Isabelle nickte eifrig. „Da kaufen wir dann etwas für unseren Hund Fluffy-Spike. Mrs. T. füttert ihn, bis Nate und Caitlin zurückkommen.“

Deborah wusste, wer Mrs. T. war, nämlich die unersetzliche Fayrene Tuckerman, Haushälterin, Köchin und tagsüber Kindermädchen in Nathans Haus. „Hast du eben Fluffy-Spike gesagt?“

Isabelle lachte. „Ich wollte, dass er Fluffy heißt, aber Nate hat ihn Spike getauft, weil er fand, dass das ein lustiger Namen für einen kleinen weißen Hund ist. So heißen doch sonst nur die ganz großen Wachhunde. Jetzt nennen wir ihn Fluffy-Spike. Klingt doch gut, oder?“

Deborah schüttelte den Kopf. Das sah ihrem ältesten Bruder wirklich ähnlich. Zweifellos würde es in seinem Haus stets fröhlich zugehen, und er und seine Frau Caitlin waren auch perfekt dafür geeignet, ein Kind großzuziehen.

Deborah dagegen wusste nicht einmal, was sie mit Isabelle an diesem Vormittag anfangen sollte.

In Honesty sprach sich alles schnell herum, und Dylan bekam sämtliche Gerüchte von seiner Tante Myra zu hören. Sie war die Frau von Owen Smith, dem Polizeichef von Honesty. Myra rief Dylan an und informierte ihn, dass Nathan und Caitlin McCloud die Stadt verlassen und die kleine Isabelle bei Lenore und Deborah untergebracht hatten. Es hieß auch, dass Deborah heute allein auf das Kind aufpasste, weil Lenore viel zu tun hatte.

„Es wundert mich, dass Deborah das macht“, meinte Myra. „Weißt du, sie hat sich nie mit ihrem Vater versöhnt, und man erzählt sich, sie hätte es ihrem Bruder verübelt, dass er das Kind hergeholt hat.“

Dylan hatte nicht die Absicht, mit seiner Tante über Deborah und deren Familie zu sprechen. „Gibt es sonst noch etwas? Ich habe in einer Stunde Dienst.“

„Nein, das war alles.“ Myra klang enttäuscht, weil er sich nicht interessiert zeigte. „Ich dachte nur, du willst wissen, was mit Deborah los ist.“

„Das geht mich alles nichts an, Tante Myra. Mit den McClouds will ich schon lange nichts mehr zu tun haben.“

Das stimmte jedoch nicht. Dylan hatte sich zwar bemüht, Deborah zu vergessen, aber es war ihm nicht gelungen. Allerdings war er fest entschlossen, sich von ihr fern zu halten. Das gebrannte Kind scheut bekanntlich das Feuer.

2. KAPITEL

„… und meine Lehrerin heißt Ms. Montgomery, und ich mag sie, weil sie nett ist. Meine besten Freunde sind in dieser Woche Tiffany und Benjamin. Benjamin hat sich im Cooper’s Park verirrt, aber Officer Smith hat ihn gefunden. Danny hat sich über Benjamin lustig gemacht, weil er sich verirrt hat, und Benjamin hat geweint. Ich mag Danny und Bryson nicht. Die sind gemein zu mir. Sie haben gesagt, dass mein Daddy ein schlechter Mensch war, aber Nate und Gideon haben mir gesagt, dass ich gar nicht darauf hören soll.“

Deborah hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen fest und betrachtete das Kind, das ihr am Küchentisch gegenübersaß. Isabelle aß seit einer Viertelstunde eine Orange und redete dabei pausenlos über ihr Leben in Honesty. Es fiel Deborah schwer, ihr zu folgen, doch offenbar reichte es, gelegentlich zu nicken.

„Wer hat etwas über deinen Vater gesagt?“ hakte Deborah nun nach.

„Danny und Bryson, besonders aber Danny“, erwiderte Isabelle. „Jetzt macht er es nicht mehr, weil Miss Thelma ihn nicht mehr mitspielen lässt, wenn er über meinen Daddy redet. Gideon hat nämlich zu Miss Thelma gesagt, sie soll nicht erlauben, dass Danny schlecht über meinen Daddy redet.“

„Ach, das hat Gideon getan?“ Deborah hatte gar nicht gewusst, dass Gideon etwas mit der Vorschule zu tun hatte, die Isabelle besuchte.

Die Kleine nickte. „Da waren Nate und Caitlin in den Flitterwochen, und Nanna musste zu ihrer Schwester, die hatte sich verletzt. Darum war ich bei Gideon. Ich habe ihm erzählt, dass Danny schlecht über meinen Daddy geredet hat und dass ich deshalb geweint habe. Da ist Gideon ganz wütend geworden und ist in die Vorschule gefahren. Er hat mit Miss Thelma gesprochen, und jetzt lässt Danny mich in Ruhe. Meistens jedenfalls.“

Deborah versuchte, sich die Begegnung zwischen ihrem taktlosen und ungehobelten Bruder Gideon und der unerschrockenen Leiterin der Vorschule vorzustellen. Es war bestimmt ein denkwürdiger Augenblick gewesen, und es überraschte Deborah nicht, dass Gideon sich durchgesetzt hatte.

„Was ist?“ fragte sie, weil Isabelle sie eingehend betrachtete.

„Gideon hat gesagt, dass mein Daddy kein schlechter Mensch war, aber viele Leute waren böse auf ihn, weil er meine Mommy geheiratet hat und mit ihr nach Kalifornien gegangen ist.“

Was sollte Deborah darauf sagen? Ihr Bruder hatte offenbar versucht, das Kind zu beruhigen. „Du kannst Gideon immer alles glauben“, versicherte sie. „Er spricht immer aus, was er denkt.“

„Das weiß ich.“ Isabelle putzte sich die Hände an einer Serviette ab. „Ich habe Fotos von dir und meinem Daddy gesehen, als du noch klein warst. Nanna hat sie mir gezeigt. Sie sagt, dass du damals genauso ausgesehen hast wie ich. Ich mag das Bild, auf dem du auf Daddys Schultern sitzt. Du lachst, und du hast einen roten Luftballon. Weißt du, welches ich meine?“

Deborah nickte steif. „Ja“, erwiderte sie knapp.

Sie hatte das Foto deutlich vor Augen. Damals war sie fünf oder sechs gewesen, das blonde Haar war zu Zöpfchen geflochten, und sie hatte fröhlich strahlend auf den breiten Schultern ihres attraktiven Vaters gesessen. Er war ihr Ein und Alles, und er nannte sie seine „kleine Prinzessin“. Früher hatte sie das Beisammensein mit ihm immer genossen, obwohl Beruf und Politik ihm nur wenig Zeit für die Familie ließen.

Aber dann fand er trotz allem offenbar die Zeit, eine Affäre mit einer jungen Wahlkampfhelferin zu beginnen. Außerdem hörte Deborah später, dass er sich in seiner zweiten Familie als aufmerksamer Ehemann und Vater zeigte, der viel Zeit mit Frau und Kind verbrachte. Der tödliche Unfall hatte sich in Mexiko ereignet, als er mit seiner zweiten Frau das erste Mal die damals dreijährige Tochter allein ließ.

War es da ein Wunder, dass Deborah die kleine Isabelle nicht mit offenen Armen aufgenommen hatte? Sie hielt dem Mädchen zwar nicht die Fehler des Vaters vor, doch die Kleine erinnerte sie ständig daran, dass sie selbst als Kind zu kurz gekommen war.

Wie lange blieb Lenore wohl noch weg? Auf Dauer hielt Deborah diese Unterhaltung mit Isabelle nicht durch, die nur Salz in offene Wunden streute. „Laufen eigentlich im Fernsehen keine Zeichentrickfilme, die du magst?“ fragte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.

„Meistens sehen wir am Samstag nicht fern, weil wir zu viel anderes machen.“

„Na gut, aber wir beide machen heute ja nichts. Du könntest also ruhig den Fernseher einschalten. Meine Mutter kommt bestimmt bald heim, und sie hat vielleicht für den Nachmittag eine Idee.“

„Ist gut.“ Isabelle stand gehorsam auf. „Willst du mit mir fernsehen?“

„Nein, danke, ich muss noch etwas erledigen. Sieh dir nur nichts … nichts Ungeeignetes an. Nur Kindersendungen“, fügte sie hinzu, als Isabelle sie ratlos betrachtete. „Zeichentrickfilme oder die Sesamstraße oder so etwas.“

Deborah stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine und warf die Orangenschale in den Mülleimer. Und sie hoffte, dass ihre Mutter bald wieder da war.

Das Schicksal meinte es in letzter Zeit gar nicht gut mit Deborah. Lenore wurde stundenlang aufgehalten, so dass Deborah sich den ganzen Nachmittag um Isabelle kümmern musste.

„Wie wäre es“, schlug sie vor, „wenn wir zu Mittag schnell ein Sandwich essen und dann ins Kino gehen?“

Im Kino brauchten sie sich nicht zu unterhalten, und selbst der albernste Film war immer noch besser zu ertragen als Isabelles forschende Blicke.

Deborah stellte allerdings schnell fest, dass sie schon lange nicht mehr in einer Kindervorstellung gewesen war. Noch ehe der Film begann, bekam sie eine Hand voll Popcorn an den Kopf. Dann rasten kreischende Kinder durch die Gänge zwischen den Sitzreihen und verschütteten Limonade. Ein Handy spielte als Signalton die Wilhelm-Tell-Ouvertüre, und einige Babys schrien. Deborah konnte nur noch mit dem Kopf schütteln.

Isabelle störte sich nicht an dem Chaos, saß seelenruhig neben Deborah, trank Orangenlimonade und aß Popcorn. Wenigstens war die Kleine tatsächlich so gut erzogen, wie Lenore behauptet hatte. Das bedeutete jedoch nicht, dass Deborah sich auch weiterhin als Babysitter betätigen wollte.

Die Zuschauer beruhigten sich einigermaßen, als das Licht im Saal erlosch. Gerade als der Film begann, kamen noch einige Nachzügler. Vor Deborah setzte sich eine Frau normaler Größe, doch die vor Isabelle war sehr groß und hatte das Haar auch noch hoch gesteckt.

„Ich sehe nichts mehr“, klagte die Kleine.

Alle anderen Sitze waren belegt. „Du kannst mit mir tauschen“, schlug Deborah vor. „Vielleicht geht es dann besser.“

Der Tausch war einfach, doch Isabelle konnte noch immer nichts sehen. „Kann ich vielleicht auf deinem Schoß sitzen? Nate macht das, wenn ich nichts sehen kann.“

Die Frau mit der Hochsteckfrisur blickte sie scharf an. Deborah blieb nichts anderes übrig, als Isabelle auf den Schoß zu nehmen. Vorbei war es mit zwei ungestörten Stunden.

Autor

Gina Wilkins

Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden!

Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt...

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