Süßer Trost in deinen Armen

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ein grausames Schicksal hat Marti den geliebten Mann genommen. Vergessen kann sie nur durch eine einzige Nacht mit dem attraktiven Noah, der ihre Tränen fortküsst. Aber die zärtlichen Stunden schenken ihr auch etwas anderes - das sie Noah dringend gestehen muss…


  • Erscheinungstag 11.04.2016
  • Bandnummer 11
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774004
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ist es das?“, fragte Ry Grayson seine Schwester Marti, als das letzte Haus in der South Street von Northbridge in Sicht kam, das auf einem steilen Hügel thronte.

„Ja, das ist es“, bestätigte Marti.

„Es ist viel größer, als ich dachte“, erwiderte Ry angesichts des herrschaftlichen Steinhauses mit seinen zwei hohen Stockwerken.

„Habe ich doch gesagt. Drinnen ist es auch sehr geräumig, aber alles war sehr heruntergekommen.“

Mitte April hatte die leicht demente Großmutter von Marti, Ry und dem dritten Drilling Wyatt ihrer Pflegerin in einem unbeobachteten Moment die Autoschlüssel entwendet und war ganz allein nach Northbridge gefahren, in die Kleinstadt, wo sie geboren und aufgewachsen war.

Vorher hatten ihre drei Enkel nichts davon gewusst, dass sie hier das große, halb verfallene Haus besaß, in dem man sie schließlich gefunden hatte. Doch Theresa Grayson hatte darauf bestanden, in ihrem Haus zu bleiben, und so waren Marti, Ry und Wyatt übereingekommen, ihre Wünsche zu respektieren und sich in der Betreuung der alten Dame monatlich abzuwechseln.

Dann allerdings hatte sich Wyatt, der den ersten Monat übernommen hatte, in die örtliche Sozialarbeiterin Neily Pratt verliebt und daraufhin beschlossen, ganz nach Northbridge zu ziehen. Marti und Ry waren nun aus Missoula hergekommen, um seine Hochzeit zu feiern.

„Wer ist das?“, fragte Ry, als sie den Hügel hinauffuhren und sich dem Haus näherten. „Das ist doch nicht Wyatt?“

Das Haus hatte eine breite umlaufende Veranda, und an einer Ecke stand ein Mann und hängte einen hölzernen Schaukelsitz an stabilen Eisenketten auf. Er hatte ihnen den Rücken zugekehrt, doch Marti fiel trotzdem seine kraftvolle Erscheinung auf. Er trug Jeans und ein enges weißes T-Shirt, das wie eine zweite Haut saß und so seine muskulösen breiten Schultern und den durchtrainierten Rücken besonders zur Geltung brachte.

„Das muss der Bauunternehmer sein, den Wyatt engagiert hat, um das Haus in Schuss zu bringen“, sagte Marti, die die langen Beine und den knackigen Po des Mannes bewunderte. „Noah Perry heißt er, glaube ich“, fügte sie hinzu. „Ich kenne ihn aber nicht persönlich. Wyatt hat nur erwähnt, dass sie sich mächtig ins Zeug legen, um wenigstens das Untergeschoss für die Hochzeit an kommendem Wochenende einigermaßen repräsentabel zu machen.“

„Von hier sieht doch alles ganz gut aus.“

Besser als gut, dachte Marti, bis ihr klar wurde, dass Ry das Haus meinte, während ihr Blick noch immer auf dem äußerst attraktiven Handwerker ruhte.

Nimm dich zusammen, ermahnte sie sich und zwang sich, woandershin zu sehen.

„Ich kann noch immer nicht ganz glauben, dass er wieder heiraten will“, fuhr Ry fort.

Offenbar reichte es nicht, den Mann nur aus ihrem Sichtfeld zu verbannen, denn eine Sekunde lang dachte Marti, Ry spräche von ihm. Aber natürlich meinte er ihren Bruder Wyatt.

„Meinst du, du kommst damit klar?“, fragte Ry besorgt.

„Natürlich“, versicherte Marti, doch sie freute sich über seine Anteilnahme. „Es ist doch schön, dass ich genau wie Wyatt die Chance auf einen Neuanfang bekomme.“

„Ach so? Und ich dachte, du bekommst ein Baby“, witzelte Ry, als er den Wagen parkte.

Marti setzte sich aufrechter hin und hob die Arme über den Kopf. Es war eine lange Fahrt gewesen von Missoula hierher, und sie hatte fast bis zum Ortseingangsschild von Northbridge geschlafen und sich kaum bewegt. Als sie sich jetzt streckte, wurde ihr leicht schwindlig, und sie hielt inne und atmete tief durch. Bis jetzt hatte ihr die Schwangerschaft extreme Müdigkeit, Momente der Übelkeit und plötzliche Schwindelanfälle beschert.

Nach dem dritten Atemzug wurde es besser, und sie öffnete die Tür, während Ry ausstieg und den Sportwagen, sein neuestes Spielzeug, umrundete. Der Wagen lag so tief, dass Marti sich ducken musste, um auszusteigen. Als sie draußen fast aus der Hocke hochkam, winkte sie Wyatt zu, der sich jetzt näherte.

Dabei erfasste sie wieder ein Schwindelanfall, der viel stärker war als der im Auto. Alles drehte sich um sie, und sie schwankte hin und her. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie ging zu Boden.

Sie bekam noch mit, dass Ry und Wyatt auf sie zurannten und ihren Namen riefen, doch es klang wie durch Watte gedämpft. Gern hätte sie ihre Brüder beruhigt und ihnen gesagt, dass alles in Ordnung sei, doch sie schaffte es nur, den Kopf zu schütteln.

Tief durchatmen. Es geht gleich vorbei.

Ihre Brüder waren jetzt an ihrer Seite, halfen ihr, sich aufzusetzen, und stützten sie. Gleichzeitig hörte Marti noch eine dritte Stimme, die ihr bekannt vorkam, auch wenn sie nicht wusste, woher. Der Mann schlug vor, einen Notarzt zu rufen, aber sie weigerte sich entschieden.

„Mary Pat!“ Wyatt rief nach der Pflegerin ihrer Großmutter. Tatsächlich war die Frau kurz darauf bei ihr, kniete sich neben sie und maß ihren Puls.

„Es ist nur ein Schwindelanfall“, flüsterte Marti, als die Welt um sie herum endlich aufhörte, sich zu drehen. „Mir geht es gut. Wirklich.“

„Vielleicht war das mit der künstlichen Befruchtung doch keine so gute Idee“, bemerkte Ry. „Ich glaube, die Schwangerschaft bekommt dir nicht sehr gut.“

Hatte er das wirklich gesagt, hier vor zwei fremden Leuten? Wie peinlich!

„Ry, denk nach, bevor du redest“, fuhr ihm Wyatt über den Mund.

„Wieso, ich habe doch nur …“

„Das muss nicht ausgesprochen werden – und schon gar nicht hier draußen auf der Einfahrt.“

Marti schluckte mehrmals, schloss einen Moment die Augen und bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen. „Es ist wirklich alles in Ordnung“, wiederholte sie. „Mir wird nur einfach manchmal schwindlig.“

Dann öffnete sie die Augen und lächelte Wyatt an. Sie war dankbar, dass er ihren vorlauten Bruder zum Schweigen gebracht hatte. „Hi, Wyatt“, sagte sie, als wäre sie gerade eben aus dem Auto gestiegen.

„Hi, Marti“, erwiderte er ebenso gelassen, obwohl er erschrocken aussah.

Marti begrüße auch Theresas Pflegerin und bat sie: „Könnten Sie bitte den Jungs erklären, dass es nichts Schlimmes ist?“

„Ich denke, es ist alles in Ordnung“, bestätigte Mary Pat prompt. „Wollen Sie aufzustehen versuchen, oder noch ein paar Minuten sitzen bleiben?“

„Warum probieren wir nicht, ob ich es bis zum Haus schaffe?“, schlug Marti vor. Eigentlich hätte sie sich schon lieber noch etwas ausgeruht, aber die Männer starrten sie nach wie vor besorgt an.

Als ihre Brüder ihr aufhalfen, fiel Martis Blick zum ersten Mal auf den unbekannten Handwerker, der den Schaukelsitz aufgehängt hatte und ihr wie ihre Brüder offenbar ebenfalls zu Hilfe geeilt war.

„Das ist Noah Perry“, stellte Wyatt vor. „Noah, das sind meine Schwester Marti und unser Bruder Ry.“

Beinahe wäre Marti ein zweites Mal schwarz vor Augen geworden.

„Marti und ich kennen uns schon“, sagte Noah mit der tiefen warmen Stimme, an die sie sich auf einmal nur allzu gut erinnerte. „Wir sind uns auf der Baumesse Ende März begegnet.“

Also hatte sie doch keine Wahnvorstellungen. Obwohl ihr das fast lieber gewesen wäre. „Stimmt“, bestätigte sie schwach.

Von hinten hatte sie ihn nicht erkannt, doch jetzt, wo er ihr gegenüberstand, war jeder Zweifel ausgeschlossen. Das dunkle gewellte Haar, die vollen Lippen, die tiefgründigen dunkelbraunen Augen … Sie hatte während der letzten sechs Wochen oft daran gedacht.

„Wir sollten besser reingehen, Sie werden schon wieder ganz blass“, sagte Mary Pat und hängte sich bei Marti ein. „Kommen Sie. Ich gebe Ihnen ein Glas Wasser und ein Stück Schokolade. Das bringt Sie wieder auf die Beine.“

Marti wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte, und so folgte sie der Pflegerin schweigend, in Gedanken bei dem Mann, von dem sie angenommen hatte, sie würde ihn nie wiedersehen.

Der Mann, der wirklich der Vater ihres ungeborenen Kindes war.

Eine Stunde nach der Ankunft der beiden Graysons fuhr Noah Pratt nach Hause, um dort weiterzuarbeiten: Er hatte vor, die Wandvertäfelung in seinem Wohnzimmer abzureißen und die Wände zu streichen. Doch vorher nahm er einige Karotten und eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ging auf die Terrasse hinter dem Haus. Es war ein warmer Maiabend, und er wollte der Eselstute in seinem Garten Gesellschaft leisten.

Dilly kam sofort auf ihn zu, als er nach draußen trat.

„Na, du weißt schon, dass ich dir was mitgebracht habe, was?“, begrüßte er das Tier und hielt ihm eine Karotte hin.

Dann lehnte er sich ans Geländer, trank langsam sein Bier und sagte sich zum wiederholten Male, was für ein unglaublicher Zufall es war, dass er heute Marti wiedergetroffen hatte. Und dass sie eine Grayson war …

Bei der Messe hatten sie sich nicht mit Nachnamen vorgestellt. Noah hatte zwar gewusst, dass sie bei der Baumarktkette Home-Max arbeitete, doch sie hatte nicht erwähnt, dass ihr der Laden gehörte. Und in den zwei Wochen, die er nun schon mit Wyatt Grayson das Haus renovierte – von dem er wusste, dass er einer der Besitzer von Home-Max war –, hatte dieser Marti nicht namentlich erwähnt, sondern nur von seiner Schwester gesprochen.

Dabei hatte Noah mehrmals daran gedacht, Wyatt nach der Home-Max – Angestellten Marti zu fragen. Schließlich dachte er seit ihrer Begegnung auf der Messe ständig an sie. Sie war eine Frau, die man nicht so schnell vergaß, mit langen blonden Haaren, großen blauen Augen und verführerischen Kurven. Sie hatte die weichsten Lippen, die er je geküsst, und die zarteste Pfirsichhaut, die er je berührt hatte. Und dafür, dass sie nur knapp eins sechzig groß war, hatte sie erstaunlich lange Beine.

Kein Wunder also, dass sie ihm die ganze Zeit nicht aus dem Kopf ging. Aber dann hatte er Wyatt doch nicht nach ihr gefragt, denn was sollte das bringen? Sie hatte ihm erzählt, dass sie in Missoula arbeitete, was am anderen Ende des Staates Montana lag. Und ein One-Night-Stand im Rahmen einer Baumesse war bestimmt nicht die richtige Basis für eine Beziehung.

Nach allem, was er wusste, war es ihr gerade recht gewesen, die Sache so anonym wie möglich zu halten. Sonst wäre sie ja wohl auch kaum am nächsten Morgen einfach verschwunden, ohne ihn zu wecken und sich zu verabschieden. Oder eine Nachricht zu hinterlassen.

Aber die Nacht war trotzdem unvergesslich gewesen …

Natürlich hatte Noah die Baumesse nicht besucht, um Frauen aufzureißen. Aber als selbstständiger Allroundhandwerker musste er sich regelmäßig über die neuesten Trends und Produkte informieren. Marti war er bei der Gelegenheit mehrmals über den Weg gelaufen. Als sie ihn auf dem Home-Max – Stand angesprochen hatte, war sie ihm nicht nur aufgefallen, weil sie alles über die besten Materialien für Arbeitsplatten und Küchenfronten wusste.

Doch auf dem Stand war es voll gewesen, und er hatte noch viele weitere Stände auf seiner Liste gehabt, und so war aus ihrem angeregten Gespräch nicht mehr geworden.

Dann aber hatten sie sich am letzten Abend der Messe im fast leeren Bistro des Hotels wiedergesehen, das an das Messezentrum angeschlossen war. Sie hatten sich zugenickt und Hallo gesagt. Als Noah sah, dass Marti genau wie er allein war, hatte er sie gefragt, ob sie sich nicht zu ihm setzen wollte – und sie wollte.

Obwohl sie weiterhin hauptsächlich über Bauthemen sprachen, lag die ganze Zeit über eine erotische Spannung in der Luft. Sie flirteten heftig miteinander. Noah wollte nicht, dass sie nach dem Essen ging, deshalb lud er sie zu einem Absacker in die Hotelbar ein. Da sie lange zögerte, rechnete er schon mit einer Abfuhr und war überrascht, als sie schließlich lächelte und nickte.

In der Bar gab es Livemusik, die etwas zu laut war, deshalb tanzten sie, statt sich zu unterhalten. Zwischendurch tranken sie Cocktails – eindeutig zu viele. Als die Bar schloss, spielte es keine Rolle mehr, dass sie sich kaum kannten. Sie fühlten sich wohl miteinander.

Für Noah war es einer der schönsten Abende, die er je erlebt hatte. Nach einem heißen Kuss im Aufzug waren sie vor seiner Zimmertür stehen geblieben. Aus dem Gutenachtkuss waren mehrere geworden, und irgendwann waren sie schließlich in seinem Zimmer und dann in seinem Bett gelandet, wo sie sich nicht mehr mit Küssen zufriedengaben …

„Ich würde mich gern an mehr erinnern“, sagte er zu der Eselstute, als er ihr eine weitere Karotte gab. „Aber ich hatte wirklich zu viel getrunken …“

Genau wie Marti.

Deshalb waren die Dinge auch etwas aus dem Ruder gelaufen. Als sie nämlich feststellten, dass sie beide keine Kondome bei sich hatten, beschlossen sie, es einfach zu riskieren.

Dieses Detail hatte Noah komplett vergessen. Als es ihm jetzt wieder einfiel, brach ihm der kalte Schweiß aus. Sie hatten nicht verhütet. Und jetzt, sechs Wochen später, war Marti schwanger. „Oh mein Gott!“, stieß er hervor.

Ihr Bruder hatte zwar gesagt, sie hätte sich einer künstlichen Befruchtung unterzogen, und vielleicht stimmte das ja auch. Möglicherweise hatte sie absichtlich ungeschützt mit ihm geschlafen, festgestellt, dass sie nicht schwanger geworden war, und hatte sich dann für die künstliche Methode entschieden. Aber das kam ihm eher unwahrscheinlich vor.

War sie schon vorher schwanger gewesen? Dann hätte sie aber wohl kaum so viel Alkohol getrunken.

„Oh mein Gott“, wiederholte er etwas leiser.

Marti Grayson war nicht nur eine wunderschöne Erinnerung an eine denkwürdige Nacht, sondern eine Frau mit einer Großmutter und zwei Brüdern und möglicherweise noch anderen Angehörigen, vor denen sie das Gesicht wahren musste und deshalb die Geschichte mit der künstlichen Befruchtung erfunden hatte.

Aber wenn Noah wirklich der Vater ihres Kindes war, warum hatte sie ihn dann nicht gesucht?

„Habe ich ihr erzählt, dass ich aus Northbridge komme?“, fragte er die Eselstute, die ihm natürlich nicht antworten konnte.

Er wusste es nicht mehr. Aber er war sich sicher, dass sie nur ihre Vornamen genannt hatten.

Vielleicht hatte das Schicksal seine Hand dabei im Spiel gehabt, sie wieder zusammenzubringen, nachdem sie schon Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatte, um ihn zu finden.

Oder Marti wollte ihr Kind allein großziehen und hatte überhaupt nicht nach ihm gesucht. Hoffentlich gehörte sie nicht auch zu diesen Frauen, die sich über die Rechte eines Vaters einfach hinwegsetzten. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht sein Kind …

Noahs Gedanken drehten sich im Kreis. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Wahrheit herauszufinden.

Nachdem Marti sich eine Weile hingelegt hatte, ging es ihr besser, und sie begrüßte Theresa und ließ sich von Wyatt die Fortschritte im Haus zeigen. Am frühen Abend zog sich Theresa nach dem Essen in ihr Zimmer zurück, und die Drillinge saßen im Wohnzimmer zusammen.

„Wie geht es Gram?“, fragte Marti.

Wyatt zuckte die Schultern. „Nicht besser und nicht schlechter, würde ich sagen. Letzte Nacht hatte sie wieder schlimme Albträume. Sie sagt danach immer, es ruft nach ihr, es weint so sehr, und sie muss es zurückbekommen. Deshalb glaube ich, dass sie nicht das Grundstück meint.“

Wyatt hatte sich in der Zwischenzeit mit Theresas Vergangenheit befasst und herausgefunden, dass sie mit siebzehn Jahren ihre Eltern verloren hatte. Sie hatte das Haus und viele Hektar wertvolles Land im Herzen von Northbridge geerbt. Weil ihre einzige lebende Verwandte, eine ältere Tante, krank gewesen war und sie nicht aufnehmen konnte, hatte sie elf Monate als Gast beim Besitzer des örtlichen Sägewerks, Hector Tyson, und seiner Frau Gloria verbracht.

In dieser Zeit hatte sie keinen Kontakt zu ihren Freundinnen oder anderen Bekannten in der Stadt gehabt. Drei Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie schließlich Northbridge verlassen, um zu ihrer Tante in Missoula zu ziehen.

Doch vorher hatte sie Hector Tyson ihr Land für ein Viertel des tatsächlichen Wertes verkauft. Dieser hatte später ein Vermögen damit gemacht, indem er es in Einzelgrundstücke aufteilte und den neuen Besitzern auch noch die Materialien verkaufte, die sie für den Bau ihrer Häuser brauchten.

Seit Theresa wieder in Northbridge war, verlangte sie, zurückzubekommen, was man ihr genommen hatte. Bisher hatte Wyatt immer gedacht, sie spräche von ihrem Grund und Boden, doch dem widersprach sie heftig. Durch die Albträume war ihm eingefallen, dass sie möglicherweise von einem Kind sprach, dessen Vater Hector sein könnte.

„Du hast sie aber noch nicht direkt danach gefragt, oder?“, wollte Marti wissen.

Wyatt schüttelte den Kopf. „Bis jetzt habe ich mich nicht getraut. Die ganze Zeit hat sie viel geweint und war oft verwirrt. Heute ist der erste gute Tag, seit diese Albträume sie quälen.“

„Und mit Hector Tyson hast du auch noch nicht gesprochen?“, fragte Ry.

„Er war gar nicht in der Stadt. Offenbar kommt er erst Montag wieder. Das wirst du wohl machen müssen, Marti, da Ry ja gleich am Sonntag wieder nach Missoula fährt und ich in die Flitterwochen fliege. Meinst du, du schaffst das?“

Der Schwindelanfall hatte ihren Brüdern wohl gehörige Angst eingejagt.

„Natürlich“, sagte sie.

Als ihre Brüder besorgte Blicke wechselten, schüttelte sie den Kopf. „Hört auf damit. Ich bin nicht aus Zucker. Ich war beim Arzt, und er sagt, ich bin kerngesund. Dem Baby geht es prima, und das alles ist ein Anzeichen dafür, dass ich die Vergangenheit hinter mir gelassen habe und neu anfange.“

„Aber es ist erst neun Monate her, dass du den Mann verloren hast, der die Liebe deines Lebens war“, warf Ry ein.

„Ich weiß, wie das alles auf euch wirken muss“, sagte sie. „Ihr glaubt, ich bin ein bisschen verrückt geworden. Aber so ist es nicht. Obwohl mir manchmal schwindlig und schlecht ist, freue ich mich über die Schwangerschaft. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Jacks Tod wieder gut, und das ist doch ein großer Fortschritt, oder? Wenn ihr euch also Gedanken macht …“

„… behaltet sie für euch“, vollendete Wyatt ihren Satz.

„Seht die Sache positiv, wollte ich sagen. Und glaubt mir, eine Weile hier in Northbridge zu sein, Theresa Gesellschaft zu leisten und mich um die Immobilie für unseren Home-Max – Markt zu kümmern ist jetzt genau das Richtige für mich. Ende der Diskussion.“

Ihre Brüder wirkten nicht überzeugt, sagten aber nichts mehr. Marti verkündete, sie sei müde und wolle ins Bett. Als sie am Fuß der Treppe war, hörte sie Ry noch Wyatt zuraunen: „Ich sage ja, seit dieser Baumesse ist sie völlig verändert.“

Marti überhörte es und stieg die knarrende Treppe hinauf, bemüht, die Fassung zu bewahren, bis sie die Tür hinter sich zumachen konnte. Nach der Hochzeit wollte sie ins Erdgeschoss umziehen, wo Noah schon ganze Arbeit geleistet hatte, aber bis dahin wohnte sie in Theresas früherem Mädchenzimmer, in dem sich seitdem nicht viel geändert hatte.

Der Raum war zwar sauber, doch dem Himmelbett fehlte der Himmel, der Spiegel des Ankleidetisches hatte einen Sprung, und der Schreibtisch war verblichen und verkratzt.

Marti ging zum Bett und setzte sich seufzend auf die Bettkante. Endlich konnte sie die Fassade fallen lassen, die sie mühsam aufrechterhielt, seit sie ihren Brüdern vor ein paar Tagen von der künstlichen Befruchtung erzählt hatte. Aber diese Fassade hatte einen tiefen Sprung bekommen, als das Schicksal ihr heute Nachmittag erneut einen Streich spielte, indem es ihr Noah Perry über den Weg laufen ließ.

„Hast du niemand anderen, den du ärgern kannst?“, fragte sie halblaut die unsichtbaren Kräfte, die ihr Leben in den letzten neuneinhalb Monaten durcheinandergebracht hatten. Auch wenn sie vor ihren Brüdern die starke Frau spielte – innerlich war sie ein Nervenbündel und am Ende ihrer Kräfte.

Nicht nur, dass sie schon vor der Hochzeit Witwe geworden war – nun war sie auch noch schwanger. Einmal im Leben hatte sie eine Dummheit gemacht. Hätte das Schicksal sie nicht davonkommen lassen können? Aber nein. Und jetzt bekam sie ein Kind.

Schließlich war sie nicht auf die Messe nach Denver gefahren, um mit einem Fremden zu schlafen. Eigentlich hatte sie nur für ein paar Tage alles hinter sich lassen wollen – die Trauer, die mitleidigen Blicke, die vielen Erinnerungen an Jack. Auf der Messe kannte sie niemand, und sie musste nicht ständig irgendjemandem versichern, dass es ihr gut ging.

Tatsächlich behandelten die Leute in Denver sie alle ganz normal, und sie merkte sofort, dass es ihr auf einmal viel besser ging. Es war sogar einfacher, mit den Momenten der Trauer fertigzuwerden, wenn nicht jeder auf Zehenspitzen um sie herumschlich.

In Denver merkte Marti auch, dass es tatsächlich nur noch Momente – oder Stunden – der Trauer waren, nicht mehr dieser ständige schneidende Schmerz, mit dem sie die letzten Monate gelebt hatte.

Und dann hatte sie Noah Perry kennengelernt. Sie war ihm während der drei Messetage häufiger über den Weg gelaufen, doch bis zu dem Abend im Hotelbistro war er nur eins der vielen Gesichter gewesen, mit denen sie bei der Arbeit auf dem Home-Max – Stand nun mal zu tun hatte.

Und jetzt war sie von ihm schwanger.

Überwältigt legte sie sich auf die Matratze. Wenigstens erinnere ich mich an sein Gesicht, dachte sie etwas beschämt. Sie hatte an dem Abend wirklich zu viel getrunken.

Aber einen Mann wie Noah vergaß man auch nicht so schnell. Er hatte ausgeprägte Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen, eine gerade Nase, ein kantiges Kinn und kühn geschwungene Brauen. Doch am auffälligsten waren sein Haar und seine Augen. Das dunkle, dichte, leicht gewellte Haar trug er schulterlang und lässig zerzaust, was ihm ausgezeichnet stand und eine etwas verwegene Note gab. Die Augen waren von einem warmen Dunkelbraun, das sie an Schokolade erinnerte, und sein Blick war offen, freundlich und geduldig.

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Nächte In Northbridge