Tanz & Maskerade – Verführt von einem Gentleman

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EIN BALLKLEID FÜR SCHWESTER LIV von SARAH MORGAN
Ein silbernes Kleid, Diamantenschmuck und ein Märchenprinz namens Dr. Stefano Lucarelli: Heute Abend geht Liv mit dem umschwärmten Arzt auf den Weihnachtsball! Doch was geschieht, wenn die Uhr Mitternacht schlagt: Flieht Liv dann ängstlich vor ihren Gefühlen?

MISS IN MASKERADE von ANNE ASHLEY
Die junge Georgiana spielt ein riskantes Spiel: Als Page verkleidet, schleicht sie sich beim berüchtigten Viscount Fincham ein, um den Tod ihres Onkels aufzuklären. Doch der Hausherr ist nicht so kalt und ruchlos, wie sie es vermutet hat. Im Gegenteil! Er ist ein richtiger Gentleman. Je näher sie dem Viscount kommt, desto schwerer fällt es ihr, die Rolle aufrechtzuerhalten. Denn er bringt ihr Herz in größte Gefahr...

VERFÜHRUNG AUF DEM MASKENBALL von ANNIE BURROWS
Lord Ledbury war der Held jedes Schlachtfeldes - doch das Chaos in den Ballsälen Londons entsetzt ihn. Eine kichernde Debütantin heiraten? Niemals! Er sucht eine Herausforderung ... und findet sie in Julie: Die "Eiskönigin" wies bisher jeden Mann zurück. Kann er ihr kaltes Herz mit heißen Küssen zum Schmelzen bringen?

MISS CHARITY UND DER MASKIERTE GENTLEMAN von SARAH MALLORY
Miss Charity ist verwirrt: Als ein maskierter Räuber ihre Kutsche stoppt und sie an sich zieht, wehrt sie sich nicht - sondern genießt seine leidenschaftlichen Liebkosungen! Sie ahnt nicht, wer der Fremde ist, bis sie ihn in einer kalten Winternacht wiedertrifft. Plötzlich wird ihr einiges klar - denn jetzt will der mysteriöse Verführer mehr als feurige Küsse...

TANZEN IST DIE BESTE MEDIZIN von KATE HARDY
Salsa hilft gegen Herzschmerz: Als Joni mit einem Fremden heiß tanzt, ist ihre gescheiterte Verlobung fast vergessen. Ein Abend voller Lachen, eine Nacht voller Liebe und dann good-bye... Bis sie einen neuen Kollege im Krankenhaus bekommt: Dr. Hughes - Salsatänzer und Liebhaber!

MASKEN DES VERLANGENS von LORI WILDE
Eine aufregende Affäre mit einem maskierten Stripper scheint genau das Richtige für Summer. So kann sie hoffentlich ihren supersüßen, aber leider unerreichbaren Nachbarn Joe vergessen! Doch nach einer rauschenden Liebesnacht erlebt sie eine umwerfende Überraschung...


  • Erscheinungstag 21.04.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514309
  • Seitenanzahl 960
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sarah Morgan, Anne Ashley, Annie Burrows, Sarah Mallory, Kate Hardy, Lori Wilde

Tanz & Maskerade - Verführt von einem Gentleman

IMPRESSUM

Ein Ballkleid für Schwester Liv erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2008 by Sarah Morgan
Originaltitel: „Italian Doctor, Sleigh-Bell Bride“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 27 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Ralf Kläsener

Umschlagsmotive: GettyImages_EdwardDerule

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733729417

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Ich werde nie wieder heiraten, niemals. Nicht in einer Million Jahren. Spar dir deine Worte. Das eine Mal hat mir wirklich gereicht.“ Liv schloss die Tür des Medizinschranks und starrte gereizt auf das glitzernde Bündel Lametta, das von außen an der Tür befestigt war. „Und das hier kommt auch weg, Anna.“

„Aber es ist doch bald Weihnachten“, protestierte die Kollegin. „Und du solltest endlich das Desaster mit deiner Ehe vergessen. Jeder kann mal im Leben einen Fehler machen.“

„Ja, aber Jack war mehr als ein Fehler. Er war eine charmante, gut aussehende Katastrophe. Zuerst kam er mir ganz normal vor.“ Liv sah ihre Freundin an und zuckte die Schultern. „Aber das war ein Irrtum. Hinweise, die mich hätten warnen müssen, habe ich ignoriert. Auch das ist ein Grund, warum ich mich mit keinem Mann mehr einlassen will. Offenbar sehe ich nur, was ich gern sehen möchte.“

Anna runzelte die Stirn. „Du gehst zu hart mit dir ins Gericht.“

„Nein, nein, ich hätte es wissen müssen. Ich habe alle Anzeichen missachtet; ich wollte sie einfach ignorieren. Selbst als Jack mich ins Krankenhaus begleitete, als unser Sohn geboren wurde, und er immer wieder ‚Das kann ich nicht ertragen‘ in sich hineingemurmelt hat, dachte ich noch, er meinte den Anblick seiner stöhnenden, geliebten Frau, die in den Wehen lag. Aber in Wirklichkeit konnte er es nicht ertragen, Vater zu werden. Er wollte keine Verantwortung übernehmen. Er wollte auch nicht länger mit mir verheiratet sein.“

Liv ordnete die Medikamente, die sie aus dem Schrank genommen hatte. „Schade, dass ihm das nicht vor meiner Schwangerschaft klar geworden ist. Versteh mich bitte nicht falsch“, fügte sie schnell hinzu, „ich bin froh, dass ich Max habe. Er ist das Beste, was mir bisher im Leben passiert ist.“

„Du bist eine wundervolle Mutter. Und Max ist ein sehr glücklicher kleiner Junge.“

War er das wirklich?

Liv versuchte, das plötzlich aufkommende Schuldgefühl zu unterdrücken. „Ich habe inzwischen gelernt, wie man einen Fußball richtig kickt, und kann einen Ferrari von einem Lamborghini unterscheiden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass in Max’ Leben ein Mann fehlt, eine Vaterfigur.“

Anna nickte. „Deshalb solltest du unbedingt die Eintrittskarten für den Ball nutzen, die du gewonnen hast.“

„Auf keinen Fall werde ich dorthin gehen.“

„Liv, es ist Weihnachtszeit, die Zeit zum Feiern und Fröhlichsein. Eine bessere Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, gibt es gar nicht. Du weißt, wie begehrt die Eintrittskarten sind. Einer Kollegin aus einer anderen Abteilung hat man tausend Pfund für ihre Karte geboten – und sie hat abgelehnt.“

„Du machst wohl Witze? Wer würde denn so verrückt sein und so viel Geld dafür bieten?“ Liv riss staunend die Augen auf. „Kennst du vielleicht jemanden, der so einen Irrsinnspreis bezahlen würde? Ich könnte meine beiden Karten verkaufen und mir endlich ein neues Auto anschaffen.“

„Warum denkst du bloß immer so praktisch?“

„Weil ich eine alleinstehende Mutter mit einem siebenjährigen Sohn bin und Verantwortung trage. Wenn ich das nicht tun würde, hätten wir oft nichts zu essen.“

„Ist dein Wagen wieder kaputt?“

„Nicht ganz, aber ich fürchte, dass er nicht mehr lange durchhält.“

Anna winkte ab. „Vergiss den Wagen. Das hier ist London – du hast Busse, U-Bahn und Züge. Also behalte die Karten, und geh zu dem Ball, Aschenputtel.“

„Wenn ich an den mageren Inhalt meines Kleiderschrankes denke, ist der Vergleich mit Aschenputtel wirklich sehr passend.“

Anna trat einen Schritt zurück und musterte Liv. „Ich würde dir ja gern ein Kleid leihen, aber ich weiß nicht so recht … deine Oberweite …“

„… ist zu groß“, sagte Liv trocken. „Das weiß ich selbst am besten. Schließlich schleppe ich sie seit achtundzwanzig Jahren mit mir herum.“

„Hattest du deine Oberweite also von Geburt an?“, lachte Anna.

Liv verdrehte die Augen. „Was reden wir hier für einen Blödsinn? Haben wir nichts anderes zu tun? Und du, meine Liebe, solltest dich nicht immer in mein Leben einzumischen versuchen.“

„Nur, wenn du mir versprichst, dass du dich im neuen Jahr endlich mal wieder mit einem Mann verabredest. Du musst ja nicht gleich heiraten …“

„Wie tröstlich für mich.“

„Aber du könntest doch mal mit jemandem ausgehen. Ich mache mir Sorgen um dich. Bist du nicht sehr einsam? Und wann hattest du zum letzen Mal Sex?“

„Musst du das so laut in die Gegend posaunen?“ Liv war rot geworden und sah sich hektisch um, ob auch tatsächlich niemand sonst in dem Raum war.

„Wenn das Wort Sex dich so erschreckt, muss es ja wirklich eine Ewigkeit her sein. Du bist jetzt seit vier Jahren geschieden. Es wird Zeit, dass du wieder anfängst, als Frau zu leben. Wenn du keine neue Beziehung willst, versuch es doch mal mit einem One-Night-Stand.“

„Kommt nicht infrage.“ Liv schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich hasse den Gedanken, neben einem Mann aufzuwachen, den ich nicht kenne und der mir eigentlich nichts bedeutet.“

„Dann wirf ihn wieder aus dem Bett, bevor du einschläfst. Oder du suchst dir einen Mann, den du kennst und der dich interessiert.“

„Das ist nichts für mich. Schon die Vorstellung, mich vor einem Mann auszuziehen, macht mir Angst.“ Liv verzog das Gesicht. „Außerdem muss ich an Max denken. Er soll nicht damit aufwachsen, dass seine Mutter wechselnde Männerbekanntschaften hat.“

„Das würde ihm zeigen, dass Beziehungen ein Bestandteil des Lebens sind, die manchmal schiefgehen und manchmal funktionieren. Was bringst du ihm jetzt bei? Dass Beziehungen unwichtig und es nicht wert sind, sich darum zu bemühen.“

Verblüfft und mit wachsenden Schuldgefühlen schaute Liv ihre Freundin an. „Du meinst also, ich erziehe Max lebensfremd?“

„Nein, ich meine, dass du es einfach nicht schaffst, deine Angst vor einer neuen Beziehung zu überwinden. Das ist doch lächerlich. Sieh dich an – du bist so hübsch und hast eine große Oberw…“

„Anna!“

„Entschuldige, aber ich glaube, du hast einfach keine Vorstellung davon, wie attraktiv du bist. Weißt du, wie die Männer dich hinter deinem Rücken nennen? Die knackige Liv …“

„Das sagen sie, weil sie mich nur angezogen sehen. Sähen sie mich nackt, würden sie feststellen, dass es mit knackig nicht weit her ist.“

„Rede keinen Unsinn. Du hast eine tadellose Figur.“ Anna beugte sich vor und nahm Liv kurz in den Arm. „Ich will dir nicht auf die Nerven gehen, aber du bist meine beste Freundin – und ich möchte, dass du einen netten Mann kennenlernst. Ich wünschte, ich könnte dir zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht schenken …“

„Ich habe dir schon gesagt, dass ich an schnellem Sex kein Interesse habe. Lieber nehme ich ein schönes Schaumbad.“ Aber Liv erwiderte Annas Umarmung, denn sie wusste, dass die Freundin es nur gut mit ihr meinte.

„Ich störe hoffentlich nicht?“, ertönte eine tiefe männliche Stimme hinter ihnen. Anna fuhr herum, ihr Gesicht war schlagartig rot geworden.

„Oh, Mr. Lucarelli … ich meine, Stefano …“ Sie räusperte sich, um ihre Kehle frei zu bekommen. „Wie haben nur …“ Sie reagierte wie eine kleine Schwesternschülerin, nicht wie eine erfahrene Krankenschwester. Hilfesuchend sah sie Liv an.

„Sie stören keineswegs“, sagte diese kühl. Hoffentlich hatte der Ankömmling nicht zu viel von ihrer Unterhaltung mit Anna mitbekommen. „Brauchen Sie etwas?“

Dunkle, forschende Augen musterten sie – und Liv wünschte, sie hätte seine Aufmerksamkeit nicht auf sich gezogen.

Sie gab sich Mühe, ganz ruhig zu erscheinen, tat so, als ob sie sein glänzendes schwarzes Haar, sein gut geschnittenes Gesicht und seinen sinnlichen Mund nicht bemerkte. Er war unglaublich attraktiv – und Liv fragte sich unwillkürlich, wie viele Frauenherzen er schon gebrochen haben mochte. Mit seinen breiten Schultern und schmalen Hüften war er die personifizierte Männlichkeit.

Er war mindestens einsneunzig groß, und der tadellos geschnittene dunkelblaue Anzug betonte seine schlanke, aber durchtrainierte Figur. „Ich kam her, weil ich Ihnen sagen wollte, dass der Patient auf die Intensivstation verlegt wurde“, sagte er ruhig zu Anna. „Und ich wollte mit Ihnen über Rachel sprechen.“

Anna schlüpfte augenblicklich in ihre Rolle als Krankenschwester. „Gibt es Probleme?“

Si, da gibt es ein Problem“, sagte er, ohne seine Augen von Liv abzuwenden. „Ich möchte mit ihr in der Notaufnahme nicht mehr zusammenarbeiten.“

Anna runzelte die Stirn. „Sie ist eine erfahrene Schwester …“

„Mag sein, aber dann sollte sie für jemand anderen arbeiten. Meine Gegenwart scheint sie nervös zu machen. Ihre Hände zittern, sie lässt sterile Instrumente fallen, und jedes Mal, wenn ich sie anspreche, fährt sie zusammen. Das ist mir zu gefährlich.“

Anna seufzte. „Sie ist noch sehr jung. Vielleicht hat sie Angst vor Ihnen?“

Er zog die Augenbrauen unwillig zusammen. „Ich war immer höflich zu ihr, bin nie laut geworden.“

„Das müssen Sie auch gar nicht. Sie sind …“ Anna unterbrach sich, suchte nach Worten. „Sie sind vielleicht für jüngere Mitarbeiter manchmal etwas beunruhigend, flößen ihnen Angst ein.“

„Dann schicken Sie mir jemanden, der sich nicht so leicht einschüchtern lässt.“ Sein Ton war kühl. „Wenn ich in der Notaufnahme arbeite, muss ich mich ganz auf den Patienten konzentrieren. Und das erwarte ich auch von meinen Mitarbeitern. Ich will meine Instrumente im richtigen Moment in die Hand bekommen – und sie nicht vom Fußboden aufsammeln müssen.“

„Das heißt, Sie erwarten, dass Ihre Mitarbeiter Gedanken lesen können …“

Stefano Lucarelli verzog ironisch die Mundwinkel. „Ganz richtig. Blindes Verständnis und absolute Verlässlichkeit sind notwendige Voraussetzungen für die Arbeit auf der Notfallstation. Da wir das nun geklärt haben, überlasse ich Sie beide wieder Ihrem privaten Vergnügen.“

Anna blickte ihm hinterher, als er den Raum verließ. „Na, großartig. Weil er gesehen hat, wie wir uns umarmten, hält er uns jetzt wohl für lesbisch.“

Liv hielt erschrocken die Luft an. „Hoffentlich hat er nicht mitbekommen, was du über meine große Oberweite gesagt hast und dass ich lange keinen Sex hatte. Glaubst du, er hat gehört, dass du mir zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht verschaffen wolltest?“

„Schon möglich.“ Anna schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen.

Liv bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Okay, Schluss jetzt damit. Sei froh, dass ich dir nicht den Hals umdrehe. Wie soll ich Mr. Lucarelli je wieder in die Augen sehen können?“

„Ich könnte ihn unentwegt angucken. Das ist bei mir schlimmer als bei Rachel.“ Anna lachte. „Umarme mich bitte nicht mehr in der Öffentlichkeit – er könnte sonst meinen, ich wäre nicht mehr zu haben.“

„Aber du bist nicht mehr zu haben! Du bist glücklich verheiratet.“

„Das stimmt. Aber siehst du nicht auch manchmal einen Mann an und denkst nur an Sex?“

„Wenn ich ihn sehe, denke ich erst einmal an Ärger.“ Liv steckte die Schlüssel des Medizinschrankes in ihre Tasche und versuchte, nicht mehr an seine ausdrucksvollen Augen zu denken.

„Mir würde Ärger mit ihm nichts ausmachen“, meinte Anna. „Er redet eben nicht um die Dinge herum, sondern sagt genau, was er denkt.“

„Er hat hohe Ansprüche“, nickte Liv. „Das ist etwas, was ich schätze. Für ihn zählen nur Topleistungen. Das gefällt mir. Wenn ich mal einen Autounfall hätte, würde ich mir wünschen, dass er mich behandelte.“

„Was für ein beunruhigender Gedanke.“ Anna sah Liv beschwörend an. „Sollte mir das jemals passieren, hoffe ich, dass ich gerade schicke, seidene Unterwäsche trage und er mir nicht profane Baumwollschlüpfer vom Körper schneiden muss.“

„Wenn du nach einem Unfall bei ihm auf dem Tisch liegst, ist deine Unterwäsche wahrscheinlich dein geringstes Problem. Oder möchtest du mit der Versorgung deiner Verletzungen so lange warten, bis du dich umgezogen hast?“

„Ja, ja, mach du nur deine Witze. Aber ich weiß zufällig genau, dass Stefano Lucarelli schicke, seidene Unterwäsche bei Frauen ganz besonders schätzt.“

„Das heißt noch nicht, dass Mr. Lucarelli die auch bei seinen Patientinnen erwartet“, gab Liv trocken zurück. „Was ist nun – redest du mit Rachel, oder soll ich das tun? Seine Kritik an ihr ist nicht ganz unberechtigt. Sie ist verträumt und öfter mal geistesabwesend. Sie muss noch lernen, sich besser zu konzentrieren.“

„Arme Rachel. Offensichtlich ist sie völlig verunsichert. Ich glaube, ich gehe mal zu ihr und versuche, sie seelisch aufzurichten.“

„Sie braucht keine Seelenmassage, sondern ein deutliches Signal, damit sie endlich aufwacht“, widersprach Liv. „Seit unser italienischer Kollege zum ersten Mal mit seinem Ferrari auf den Parkplatz gefahren ist, lebt Rachel in einer Art Trancezustand. Sie sollte aufhören, ihn unentwegt anzuhimmeln, und sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Dann würde sie nicht so häufig Sachen fallen lassen.“

„Er ist tatsächlich manchmal etwas beängstigend.“

„Er ist ein begnadeter Arzt. Und sehr effizient.“

„Schön zu hören, wie du über ihn denkst. Wenn du ihn so sehr schätzt, solltest du am besten für ihn auf der Notfallstation arbeiten. Dann wären alle Probleme gelöst. Aber waren wir nicht gerade eben dabei, ein ganz anderes Problem zu lösen? Zum Beispiel, was du mit deinen Eintrittskarten für den Schneeflockenball machen willst?“

„Ich werde sie verkaufen. Schließlich habe ich keinen Begleiter, kein geeignetes Kleid, keinen Babysitter und sowieso keine Lust, hinzugehen.“

„Und warum lädst du nicht Stefano Lucarelli ein, mit dir hinzugehen?“

„Um Himmels willen! Bist du noch ganz bei Trost? Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mir von ihm eine Abfuhr zu holen. Und er würde sowieso ablehnen – da bin ich mir sicher.“

„So, wie er dich vorhin die ganze Zeit angesehen hat, bin ich mir überhaupt nicht sicher.“

„Wahrscheinlich hat er sich nur gefragt, warum jemand mit meinen Hüften nicht längst eine Diät gemacht hat.“

„Hör auf, du brauchst keine Diät.“ Anna sah Liv nachdenklich an. „Er hat sich ganz eindeutig für dich interessiert, Liv.“

„Anna, er kam herein, als wir über Sex redeten und uns gerade umarmten. Natürlich hat das sein Interesse geweckt. Nein, nein, du irrst dich gewaltig.“

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, du bist im Irrtum. Er ist im Augenblick Single, das weiß ich zufällig. Warum, begreife ich nicht. Er ist ein toller Mann. Und er ist sehr reich. Seine Familie besitzt ein gigantisches Bauunternehmen in Italien. So reich und so gut aussehend – die Gaben sind auf dieser Welt sehr ungerecht verteilt.“

„Anna, du bist eine verheiratete Frau mit zwei Kindern!“

Anna überhörte die Bemerkung. „Er war wohl eine Zeit lang mit einer italienischen Schauspielerin liiert, aber die Beziehung ging in die Brüche, als sie darauf bestand, zu ihm zu ziehen. Er ist jetzt seit gut einem Monat in England. Und wahrscheinlich fühlt er sich einsam, besonders jetzt in der Weihnachtszeit.“

„Er scheint mir kein Mann zu sein, der Hilfe braucht, um eine Frau zu finden, mit der er ausgehen kann“, meinte Liv voller Sarkasmus. „Schluss jetzt mit dieser Debatte. Willst du die Karten für dich und Dave haben – oder soll ich sie verkaufen?“

Rachel stieß die Tür auf und kam in das Schwesternzimmer. Ihr Gesicht war blass. „Die Rettungswagenzentrale hat gerade angerufen, dass sie einen Mann bringen, der einen Unfall beim Rugbyspiel hatte.“ Ihre Stimme klang schrill und zittrig. „Ich kann heute nicht mehr in der Notaufnahme arbeiten, Anna. Dr. Lucarelli war … nun ja … ziemlich schroff zu mir …“

„Ernsthafte Verletzungen?“, wollte Anna wissen.

„Nein, nein, nur mein Stolz. Ich nehme an, er wollte …“

„Ich meinte, ob der Patient ernsthaft verletzt ist“, unterbrach Anna sie barsch. „Außerdem, Rachel, heißt das Mr. Lucarelli, nicht Dr. Lucarelli. Er ist Chirurg – und Chirurgen werden Mr. genannt. Das solltest du eigentlich wissen.“

„Oh, ja, entschuldige.“ Rachel hüstelte nervös. „Der Patient hat einen schweren Tritt abbekommen.“

„Wohin? Wo wurde er getroffen?“

„Er hat wohl Probleme beim Atmen“, sagte Rachel unsicher.

Liv schnaufte und gab Anna den Schlüssel zum Medikamentenschrank. „Ich kümmere mich darum. Dann werde ich der Abteilung Bescheid sagen und Mr. Lucarelli bitten, auf die Notfallstation zu kommen.“

„Ich schicke Sue, damit sie dir helfen kann“, sagte Anna und wandte sich zu Rachel um. „Und wir beide sollten uns mal unterhalten.“

Liv ließ Anna mit der unglücklichen Rachel allein und ging zur Notfallstation. Der große Raum war wie immer tipptopp für die sofortige Aufnahme von Patienten vorbereitet. Liv zog einen sterilen Kittel an und streifte gerade ein Paar Gummihandschuhe über, als Stefano Lucarelli den Raum betrat.

Er sah ihr einen Moment lang direkt in die Augen, sagte aber nichts.

Liv war leicht beunruhigt. Noch nie zuvor hatte sie einen Mann getroffen, der eine so starke, unmittelbare Wirkung auf sie ausübte. Sie fühlte, wie ihr Körper auf ihn reagierte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Nervös drehte sie sich um, ihr Herz schlug heftig, und ihr Gesicht war rot geworden. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie ihre Emotionen nicht besser unter Kontrolle hatte. Der italienische Chirurg musste es inzwischen satt haben, von Frauen angestarrt zu werden. Das alles kommt nur von dieser idiotischen Unterhaltung mit Anna, dachte sie und nahm aus einem Schrank einen Packen steriler Tücher.

Das Gerede über Sex hatte sie dazu gebracht, über ihr Sexualleben nachzudenken. Und wenn sie daran dachte …

Sie hätte vor Frustration laut aufschreien mögen!

„Die Rettungssanitäter haben berichtet, der Mann leide unter Atemnot“, sagte sie kurz, blickte den Chirurgen aber nicht an. Sie wollte nicht, dass er ihr gerötetes Gesicht sah und daraus seine Schlussfolgerungen zog. „Ich bereite besser alles für eine künstliche Beatmung vor.“

„Gute Idee.“ In seiner Stimme war ein scharfer Unterton. Liv fragte sich, ob sie das nächste Opfer seines schon sprichwörtlichen Perfektionsanspruches sein würde.

Die Tür wurde aufgestoßen, und mit dem Patienten, der auf einer Liege hereingeschoben wurde, kam der Rest des Notfallteams herein.

Schnell und routiniert wurde der Patient auf den Behandlungstisch gelegt, und Stefano Lucarelli trat zu ihm. Mit einem Blick in die Runde brachte er sein Team zum Schweigen.

Er hat Autorität, dachte Liv. Sie verfolgte, wie jedes Mitglied der Crew sich ernsthaft und schweigend darauf konzentrierte, den Erklärungen der Rettungssanitäter zuzuhören.

Phil, der zweite, jüngere Arzt in dem Team, tastete die Vene in der Armbeuge des Patienten ab, um eine Infusionskanüle zu legen.

Liv begann, die Elektroden für die Überwachung des Blutdrucks, Pulsschlags und der Atemfrequenz auf der Brust und an den Armen des Patienten zu befestigen.

Stefano Lucarelli warf einen Blick auf die Monitore, als diese die ersten Messdaten anzeigten. „Phil, leg eine zweite Kanüle, und schicke sofort sein Blut zur Blutgruppenbestimmung ins Labor. Und macht seinen Oberkörper frei.“

Liv folgte unverzüglich seiner Anordnung. Um den Oberkörper des Mannes frei zu machen, musste sie seine Kleidung aufschneiden. Danach legte sie eine vorgewärmte Decke über ihn, um einen Kälteschock zu vermeiden.

„Seine Atemfrequenz ist nur bei achtunddreißig. Er atmet sehr flach“, sagte sie.

„Er zeigt das typische Atemnot-Syndrom.“ Stefano horchte die Brust des Patienten ab. „Seine Lungen arbeiten kaum noch.“ Liv sah aus den Augenwinkeln, dass Phil aufmerksam jede Bewegung des erfahrenen Kollegen beobachtete.

Phil arbeitete seit ein paar Monaten auf der Notfallstation und war bemüht, keine Gelegenheit zu verpassen, etwas dazuzulernen.

Und von Stefano kann er noch eine Menge lernen, dachte Liv, während sie zusah, wie der Chirurg den Patienten schnell und gründlich untersuchte.

„Er hat mehrere Abschürfungen und Quetschungen“, murmelte Liv und zeigte auf die purpurfarbenen Stellen über den Rippen.

„Seine Atemgeräusche sind ziemlich schwach.“ Stefano hängte sich das Stethoskop um den Hals. „Er hat einen Hämothorax, das heißt, eine Blutung behindert massiv seine Lungentätigkeit. Sagt im OP Bescheid, dass er möglicherweise dringend operiert werden muss. Wir werden zuerst einmal damit beginnen, das Blut abzusaugen. Und ich brauche sofort ein Röntgenbild von seiner Lunge.“

Der Radiologe des Teams machte sich unverzüglich an die Arbeit.

Liv staunte, wie präzise und effizient alle in dem Team zusammenwirkten, wie eine einstudierte Balletttruppe.

„Helfen Sie mir mal, Liv“, bat Phil. Er suchte nach einer Vene, die wegen des abgefallenen Blutdrucks kaum zu spüren war. Liv hielt den Arm des Patienten fest. „Gut, das wäre es. Kleben Sie ein Pflaster darüber, damit die Nadel nicht wieder herausrutscht.“ Auf Phils Stirn standen Schweißperlen, und er warf einen unruhigen Blick auf Stefano.

„Habt ihr zwei Kanülen gelegt?“, wollte Stefano wissen.

„Nein, erst eine“, beeilte sich Phil zu sagen. „Seine Venen sind in sich zusammengefallen und kaum zu finden“, klagte er.

„Ich brauche sofort eine zweite Kanüle, sonst kann ich nicht damit beginnen, das Blut aus seiner Lunge abzusaugen.“ Stefano trat an Phils Seite. „Dreh seinen Arm herum. Bene. Gib mir die Kanüle.“ Er streckte die Hand aus, und Liv legte eine Kanüle hinein. Fasziniert sah sie zu, wie Stefano mit einer ruhigen, sicheren Bewegung und offensichtlich ohne jede Anstrengung die Nadel in die Ader schob.

Bei ihm sehen sogar schwierige Dinge ganz einfach aus, dachte sie. Phil dachte offenbar das Gleiche, denn er warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

„Hier haben wir die Röntgenaufnahme“, sagte der Radiologe.

Alle drehten sich herum und starrten auf den Bildschirm.

„Von einer Flüssigkeitsansammlung ist nichts zu sehen“, murmelte Phil.

Stefano trat näher an den Leuchtschirm und studierte das Röntgenbild aufmerksam. „Wenn man einen Patienten im Liegen röntgt, dann befindet sich das Blut unter seiner Lunge. Hier, links und rechts, kann man die Blutung erkennen. Ich fange jetzt mit der Drainage seines Brustraums an.“ Er drehte sich um. „Liv?“

Er kennt meinen Namen?

Liv hatte gerade die zweite Kanüle mit einem Pflaster fixiert. Hatte er doch vorhin mehr von ihrer Unterhaltung mit Anna mitbekommen? Hatte er auch gehört, dass sie seit vier Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte?

„Sue wird Ihnen bei der Drainage zur Hand gehen“, sagte sie schnell und sah aufmunternd zu der Kollegin. „Ein paar sterile Tücher habe ich schon zurechtgelegt.“ Sie drehte sich zu Phil um. „Denken Sie daran, dass er schnellstens eine Bluttransfusion braucht. Und die Blutkonserve muss angewärmt werden.“

„Sue kann Phil helfen. Ich möchte, dass Sie mir assistieren.“ Stefanos entschiedener Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

Liv trat zurück, um Sue ihren Platz neben Phil zu überlassen, und griff nach den sterilen Tüchern. Erstaunt stellte sie fest, dass ihre Hände leicht zitterten. Wie war das möglich? Rachel war völlig entnervt gewesen, weil sie Stefanos hohen Ansprüchen nicht gewachsen war. Aber sie hatte doch überhaupt keinen Grund, nervös zu sein …

Sie beeilte sich, die Kanüle zurechtzulegen, die er benötigte, um das Blut aus dem Brustraum des Patienten abzusaugen. Seine Bewegungen waren so schnell und präzise, dass sie einen Moment lang Panik empfand, weil sie glaubte, nicht mit ihm mithalten zu können. Es war faszinierend und fast erschreckend, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so sicher und unglaublich effektiv arbeitete.

Dann besann sie sich auf ihre eigenen Fähigkeiten und schüttelte die Nervosität ab. Denk nicht so viel über ihn nach, ermahnte sie sich. Denk an deinen Job.

Aber sie konnte den Blick nicht von den schlanken, braun gebrannten Fingern lassen. Jeder Nerv und jeder Muskel ihres Körpers waren angespannt.

Ohne zu zögern, desinfizierte Stefano zuerst die Haut des Patienten und injizierte ein Mittel zur örtlichen Betäubung. Auf seinen Wink hin reichte ihm Liv ein Skalpell und sah zu, wie er geschickt einen Einschnitt zwischen zwei Rippen vornahm.

Er weitete den Einschnitt mit seinem Finger, der in einem sterilen Handschuh steckte, leicht aus. „Ich brauche einen 36F-Drainageschlauch. Halten Sie ihn bereit.“

Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, reichte sie ihm eine schmale Zange, weil sie wusste, dass er sie als Nächstes brauchen würde.

Stefano nahm sie wortlos und begann, den Drainageschlauch vorsichtig in den Einschnitt zu schieben. Dann befestigte er das andere Ende des Schlauches an einer Absaugpumpe.

Er fixierte den Drainageschlauch mit einer Tabaksbeutelnaht und sah dann aufmerksam auf die Monitore. „Ich brauche noch einmal eine Röntgenaufnahme seiner Brust, damit ich die Lage der Drainage kontrollieren kann.“

Der Radiologe kam sofort mit dem fahrbaren Röntgengerät herbei und machte sich an die Arbeit.

Phil warf einen unruhigen Blick auf den Auffangbeutel der Absaugpumpe. „Er verliert eine Menge Blut. Sollten wir den Schlauch nicht mal abklemmen?“

Stefano schüttelte den Kopf. „Das würde die innere Blutung nicht stoppen. Das Blut würde sich nur im Brustraum stauen und seine Atmung noch mehr behindern.“

„Mr. Lucarelli … die Röntgenaufnahme ist auf dem Bildschirm!“, rief der Radiologe.

Liv sah aus dem Augenwinkel, dass die Tür geöffnet wurde und Anna erschien.

„Die Frau des Patienten ist gekommen. Ich habe sie in den Warteraum für Angehörige gesetzt“, sagte Anna. „Könnte jemand zu ihr gehen und mit ihr reden?“

Liv sah zu Stefano, der aufmerksam und voll konzentriert das Röntgenbild studierte. Er ist noch jung, dachte Liv, noch keine vierzig, ziemlich jung für eine so verantwortungsvolle Aufgabe. Und er sah beängstigend attraktiv aus mit seinem ausdrucksvollen Gesicht, den schmalen Hüften und breiten Schultern.

Sie merkte, dass sie ihn anstarrte. Schnell sah sie weg. Ihre Augen trafen sich mit denen von Anna, die vielsagend lächelte. „Aha, hier läuft alles bestens“, flüsterte sie Liv zu.

„Sag der Frau des Patienten, dass in ein paar Minuten jemand kommt und mit ihr spricht“, bat Liv ihre Freundin.

„Wir warten, bis der Spezialist aus der Unfallchirurgie hier ist“, sagte Stefano. „Sobald der Patient stabil ist und wir genau wissen, wie wir ihn behandeln, werde ich mit der Frau sprechen.“

Phil inspizierte den Drainage-Auffangbehälter. „Es hat sich schon fast ein Liter Flüssigkeit angesammelt.“

„Den Blutverlust können wir leicht ausgleichen. Aber es ist wichtig, die innere Blutung zum Stoppen zu bringen.“ Stefano blickte auf, als der Unfallchirurg den Raum betrat.

Die beiden Männer sprachen kurz miteinander, und Liv sah, dass der Kollege Stefano sehr aufmerksam zuhörte. Es war offensichtlich, dass er großen Respekt vor Stefanos Fähigkeiten hatte.

„Ich würde gern vermeiden, eine große Thoraxoperation bei ihm durchzuführen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist“, hörte Liv den Unfallchirurgen sagen.

„Ich habe eine Drainage gelegt, die gut funktioniert“, erklärte Stefano. „Wir müssen versuchen, damit den Blutstau in seinem Brustraum abzuleiten. Wir sollten die Drainage drei bis vier Stunden lang permanent überwachen. Verliert er mehr als 200 bis 250 Kubikzentimeter Blut pro Stunde, muss er operiert werden. Ich werde jetzt mit seiner Frau sprechen. Sie kommen mit mir, Liv.“

Liv blickte überrascht auf. „Ich … ja, natürlich …“ Beinahe hätte sie sich seinen autoritären Ton verbeten, schwieg aber, als er sie ruhig und fest anblickte. „Sie sind eine ausgezeichnete Schwester. Ich möchte, dass Sie mir immer assistieren, wenn ich hier auf der Notfallstation bin.“

„Oh …“ Das Kompliment kam so unerwartet, dass sie rot wurde. Zum Glück schien er keine Antwort zu erwarten, denn er ging eilig zum Warteraum für Angehörige.

Dann winkte er Liv, ihm zu folgen. Er ging zu der Frau, die ihn unsicher und besorgt ansah, und setzte sich neben sie. „Ich heiße Stefano Lucarelli und bin der Arzt, der sich um Ihren Mann kümmert.“

„Ich bin Helen Myers.“

„Das war bestimmt ein Schock für Sie.“ Stefano sprach mit seiner ruhigen, tiefen Stimme auf sie ein. „Entschuldigen Sie, dass ich nicht eher zu Ihnen gekommen bin, aber ich musste erst Ihren Mann versorgen.“

„Natürlich …“ Die Frau stand ganz offensichtlich noch unter Schock. Sie war sehr blass und hatte vom Weinen gerötete Augen. „Wird er … wird er wieder gesund?“

„Er hat einen schweren Tritt in die Rippen bekommen. Dabei wurde auch seine Lunge verletzt.“ In einfachen, verständlichen Worten schilderte Stefano der Frau, wie es um ihren Mann stand und welche Behandlung er vorgesehen hatte. „Tim wurde auf die Intensivstation verlegt. Dort wird er permanent überwacht. Und wenn es nötig ist, wird er sofort von unserem Spezialisten operiert.“

Tim? Liv blinzelte überrascht. Sie hatte nicht vermutet, dass er sogar den Vornamen seines Patienten kannte.

„Oh, mein Gott, wie konnte das nur passieren? Beim Mittagessen hatten wir noch über unsere Pläne für Weihnachten gesprochen. Wir wollten mit unseren beiden Töchtern eine Reise nach Lappland machen.“ Sie verzog das Gesicht und begann zu weinen. „Entschuldigen Sie“, stammelte sie, „aber ich kann es immer noch nicht begreifen.“

Liv setzte sich auf der anderen Seite neben Mrs. Myers und reichte ihr eine Box Papiertaschentücher. Sie hatte erwartet, dass Stefano sich bald zurückziehen würde, wie das Ärzte normalerweise machten, aber er blieb sitzen, zog ein Taschentuch aus der Box und reichte es Mrs. Myers.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich weiß, wie schwer das für Sie ist. Sie sagten, dass Sie zwei Töchter haben. Wer kümmert sich jetzt um sie?“

„Meine Mutter.“ Mrs. Myers wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich habe sie gleich angerufen, als ich die Nachricht von Tims Unfall erhielt. Ich wollte die beiden Kinder nicht mit herbringen. Aber ich möchte Sie nicht länger aufhalten, Herr Doktor. Sie sind bestimmt sehr beschäftigt und haben Wichtigeres zu tun, als mir zuzuhören.“

„Im Moment gibt es für mich nichts Wichtigeres, als mit Ihnen zu sprechen“, sagte Stefano beruhigend. Er sah sie fragend an. „Haben Sie sonst noch eine Frage?“

„Ich möchte natürlich wissen, ob er wieder ganz gesund wird, aber das können Sie jetzt bestimmt noch nicht sagen, oder?“

„Nein, das kann ich tatsächlich noch nicht“, sagte Stefano ehrlich. „In ein paar Stunden kann Ihnen der Kollege auf der Intensivstation diese Frage besser beantworten.“

Er ist gut, wirklich gut, dachte Liv. Er war ehrlich und überzeugend, erweckte keine falschen Hoffnungen und drückte sich nicht vor den Problemen der betroffenen Angehörigen.

„Schwester Liv wird bei Ihnen bleiben und nachher auf der Intensivstation anrufen, ob Sie Ihren Mann sehen können.“

„Sobald es möglich ist, bringe ich Sie zu ihm“, meinte Liv. Die Frau sah sie dankbar an. „Das ist sehr nett … Sie sind beide sehr nett zu mir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Männer! Warum müssen sie auch so einen gefährlichen Sport treiben?“

Stefano stand auf, und um seinen Mund spielte ein ironisches Lächeln. „Der Mann, das unbekannte Wesen. Das muss am Testosteronspiegel liegen.“ Plötzlich erschien Stefano ihr sehr italienisch, und Liv verspürte ein Kribbeln am ganzen Körper.

2. KAPITEL

„Mum, können wir dieses Jahr einen richtig großen Weihnachtsbaum haben? Einen, der bis zur Decke reicht?“

„Aber sicher.“ Liv versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ein „richtig großer“ Baum kosten würde. Vielleicht konnte sie mit dem Verkäufer handeln, wenn sie den Baum erst kurz vor Heiligabend kaufte. „Wie war es heute in der Schule?“

„Gut. Können wir den Baum schon am Wochenende kaufen?“ Max kletterte auf einen Stuhl und breitete seine Spielsachen auf dem Küchentisch aus. „Dann haben wir viel länger Freude daran.“

„Es ist doch erst Anfang Dezember. Wenn wir jetzt schon einen Baum anschaffen, verliert er bis Weihnachten seine Nadeln.“

„Aber Sams Eltern holen ihren Weihnachtsbaum auch schon am Wochenende. Warum wir nicht? Bitte, Mum.“

Max’ Blick strahlte so viel Vorfreude aus, dass es Liv einen Stich gab. „Mal sehen“, sagte sie vage. Nachher, wenn Max schlief, würde sie Papier und Bleistift zur Hand nehmen und Kassensturz machen. „Ich habe dich lieb. Habe ich dir das schon gesagt?“

„Jeden Tag, Mum.“

„Ist es dir zu viel?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Max griff nach einem großen Plastiksaurier. „Ich habe dich auch lieb. Heute hat es übrigens wieder etwas geschneit. Ich hätte gern viel, viel mehr Schnee. Wäre das nicht toll?“

Liv war nicht so angetan von viel Schnee in der Stadt, aber sie wollte Max’ Begeisterung nicht schmälern. „Ja, das wäre fantastisch.“

„Ben hat sich gestern ein Bein gebrochen. Er musste ins Krankenhaus, da haben sie ihm einen Gipsverband und ein Paar Krücken gegeben. Ich habe ihm gesagt, dass du auch im Krankenhaus arbeitest, aber er meinte, er habe dich nicht gesehen. Musst du über Weihnachten wieder arbeiten?“

Liv hatte ein schlechtes Gewissen. In den letzten Jahren hatte sie sich freiwillig für den Weihnachtsdienst gemeldet, weil die Bezahlung sehr gut war. Aber sie hatte nicht bei Max sein können.

„Dieses Jahr arbeite ich nicht an den Festtagen“, beruhigte sie ihren Sohn. „Ich habe ein paar Resturlaubstage und nehme mir über Weihnachten fast eine ganze Woche frei. Nur an Silvester habe ich Dienst, aber Spätdienst, wenn du längst im Bett bist.“

„Kann ich dann vielleicht bei Sam schlafen?“

„Vielleicht. Aber da muss ich erst Anna fragen.“ Liv setzte Teewasser auf. Sie fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn sie nicht eine Freundin und Kollegin mit einem Sohn im gleichen Alter wie Max hätte.

„Cool! Ich mag gern bei Sam schlafen.“ Er schaute sie mit leuchtenden Augen an. „Weißt du, was das Tollste an Sams Haus ist?“

Nein, das wusste sie nicht. Wenn sie allerdings ihre bescheidene, winzige Wohnung mit Annas Haus mit den fünf Schlafzimmern, drei Bädern und dem großen Garten verglich, fühlte sie sich beschämt.

Sie merkte, dass Max sie fragend ansah. „Also, was ist das Beste an Sams Haus?“

„Sein Meerschweinchen. Es heißt Rambo. Und es ist so süß.“

Liv lachte, beugte sich vor und gab ihrem Sohn einen Kuss. Ihm hatte also das Meerschweinchen imponiert – und nicht die fünf Schlafzimmer.

Ihr Blick fiel auf einen nassen Fleck an der Wand der Küche. Sie würde die Stelle mal wieder überstreichen müssen. Aber erst im Frühjahr, denn jetzt in der kalten und nassen Jahreszeit kam der Fleck immer wieder durch.

Plötzlich wünschte sie sich, es würde ein Wunder geschehen und sie könnte die Welt für sich und ihren Sohn perfekt machen. Niemand hatte ihr vorher gesagt, wie viele Schuldgefühle und Sorgen eine alleinerziehende Mutter hatte.

Sie warf einen Blick auf ihren Sohn, der begeistert mit seinem Spielzeug Fantasiewelten aufbaute. Er war so fröhlich, so ausgeglichen, so zufrieden. Sie brauchte sich keine Sorgen um ihn zu machen.

Alles war in Ordnung.

Max hob den Kopf und sah Liv an. „Weißt du, dass Sams Vater ihm ein Fußballtor schenkt? Es wird im Garten aufgestellt, dann kann Sam Tore schießen üben. Ist das nicht toll? Ein großes Tor mit einem weißen Netz. Ich habe ein Foto davon gesehen. Können wir nicht auch ein Tor haben?“

„Nicht in einer Wohnung im 4. Stock.“ Wieder nagten Schuldgefühle an ihr. Max war ein Junge, er brauchte einen Garten, wo er herumtoben und Fußball spielen konnte, ohne dass sie mit ihm in den Park gehen musste.

„Wenn wir das Geld hätten, würdest du dann so ein Haus kaufen?“, wollte Max wissen. „Ich habe gehört, wie du zu Anna gesagt hast, wenn du auch so ein großes Badezimmer hättest wie sie, dann würdest du den ganzen Tag in der Wanne liegen. Warum liegst du nicht in deiner Wanne hier?“

Weil die Kacheln zersprungen sind und es durch die Fensterritzen zieht, dachte Liv. „Weil ich arbeiten muss. Das habe ich dir doch schon erklärt. Damit verdiene ich das Geld für uns beide.“ Liv griff nach dem Gemüsekorb. „Schluss jetzt mit der Diskussion. Sonst ist das Abendessen noch nicht fertig, wenn du ins Bett musst.“

Max begann mit dem Dinosaurier, den er in der Hand hielt, eine Attacke gegen die anderen Spielzeugtiere, sodass mehrere vom Küchentisch auf den Fußboden purzelten. „Warum spielst du nicht Lotto?“

„Das ist weggeworfenes Geld. Die Chance, zu gewinnen, ist winzig klein.“

„Du könntest doch heiraten. Emmas Mutter hat auch wieder geheiratet, und jetzt hat sie jede Menge Geld, denn ihr Mann ist stinkreich.“

Liv schnappte empört nach Luft. „Woher hast du diesen Ausdruck?“

„Das hat Emma gesagt.“ Max schaute seine Mutter unsicher an. „Darf man das nicht sagen?“

„Es ist keine nette Bemerkung.“ Liv dachte an die Unterhaltung mit Anna am Morgen, aber sie verdrängte gleich wieder den Namen Stefano Lucarelli aus ihrem Kopf. „Außerdem zählt nicht, wie viel Geld jemand hat, sondern ob er nett ist.“

„Emmas Mutter hat zweimal geheiratet, und du nur einmal. Wieso?“

„Das ist kein Wettbewerb, mein Schatz.“

„Warum bist du nicht mehr verheiratet?“

Liv schloss für einen Moment die Augen. Warum stellte er immer solche Fragen, wenn sie zu müde war, um eine kluge Antwort zu geben? „Darüber haben wir doch schon gesprochen, Max. Manchmal verstehen sich Menschen nicht mehr, ohne dass einer von ihnen die Schuld hat.“ An meiner gescheiterten Ehe bin ich allerdings selbst schuld, dachte Liv. Offensichtlich war sie für Jack nicht aufregend genug gewesen. Sie wischte sich die Augen trocken. Es muss an der Zwiebel liegen, die ich gerade schneide, dass meine Augen feucht geworden sind, redete sie sich ein.

„Du solltest wirklich wieder heiraten“, meinte Max altklug und nickte gewichtig. „Mir sagst du, ich soll es immer und immer wieder versuchen, wenn etwas nicht sofort klappt. Aber du selbst versuchst es erst gar nicht.“

„Das Essen ist gleich fertig“, wechselte Liv schnell das Thema. „Übrigens – heiraten ist nichts, was man mal einfach so versuchen kann. Dazu müsste ich wissen, dass ein Mann mich wirklich sehr lieb hat. Und dich natürlich auch, denn du bist ein ganz besonderer Junge.“

„Du bist auch eine ganz besondere Mum.“ Max strahlte sie an. „Ich kenne keine andere Frau, die Fußball und Autos mag. Und keiner macht so leckere Pizza wie du. Alle meine Freunde finden dich cool.“

„Nun, für ein paar Siebenjährige bin ich vielleicht cool.“ Aber die Männer in meinem Alter haben da andere Ansichten, dachte sie. Die wollen eine Frau, die sexy und verführerisch ist. Für die bin ich viel zu normal …

Liv verlor sich einen Augenblick in ihren Gedanken. Sie blickte aus dem Fenster auf das Haus gegenüber. In einer der Wohnungen setzten sich gerade ein Mann und eine Frau und ihre beiden lebhaften Kinder zum Abendessen an den Tisch.

Sie sah zu Max. Zu ihrem kleinen Sohn, der so sehr einen liebevollen Vater gebraucht hätte, der mit ihm Fußball spielte und kleine Abenteuer mit ihm erlebte.

Verdammt – warum hatte sich Jack als so ein unzuverlässiger Frauenheld erwiesen? Warum musste Max darunter leiden, dass sein Vater nicht erwachsen genug gewesen war, um sich seiner Verantwortung zu stellen?

Schluss mit den trüben Gedanken über die Vergangenheit! ermahnte sie sich.

„Wir können am Wochenende Fußball spielen im Park, wenn du willst.“

„Cool. Ich darf am Freitag in der Schulmannschaft mitspielen. Eigentlich sollte Ben spielen, aber er kann nicht.“

Liv strahlte Max an. „Das ist ja fantastisch. Warum sagst du mir das erst jetzt?“

Er sah sie nachdenklich an und zuckte mit seinen schmalen Schultern. „Ich wusste doch, dass du nicht kommen kannst, weil du arbeiten musst.“

Liv schluckte heftig. „Max …“

„Schon gut, Mum. Wir beide sind ein Team. Du gehst arbeiten – und ich gehe zur Schule.“

„Aber am Freitagnachmittag werde ich nicht arbeiten. Da nehme ich frei.“

„Wirklich?“

Sie wusste noch nicht, wie sie das machen sollte, aber irgendwie würde sie sich an dem Nachmittag freimachen. Sie würde zu dem Spiel ihres Sohnes gehen. „Um wie viel Uhr fängt es an?“

„Um zwei Uhr.“

„Ich werde pünktlich dort sein.“ Wie, das wusste sie noch nicht. Aber sie würde auf dem Schulsportplatz erscheinen, und wenn sie das den Job kostete.

Plötzlich spürte sie, wie müde sie nach dem langen Tag war. Um fünf Uhr war sie am Morgen aufgestanden. Und wenn sie einen Blick auf den Stapel Wäsche warf, der in die Waschmaschine musste, und auf Max’ Hemden, die zu bügeln waren, dann war ihr klar, dass sie nicht vor Mitternacht ins Bett kommen würde.

Ein Hoch auf die alleinerziehenden Mütter!

Am nächsten Morgen schneite es, und die Temperatur war stark gefallen.

„Isabella? Tutto bene?“ Stefano brachte seinen Ferrari auf dem Parkplatz der Klinik zum Stehen, um die Nachricht auf der Mailbox seines Handys zu beantworten. Der Wind trieb den Schnee durch die Straßen, und der Asphalt war vereist. Den Tag über würde ihm in der Notfallabteilung keine Minute Zeit bleiben, also war es besser, wenn er jetzt telefonierte. „Du hast mich angerufen?“

„Jeden Tag in den letzten beiden Wochen“, explodierte seine Schwester auf Italienisch. „Wo hast du gesteckt? Du rufst nicht an, du kommst nicht nach Hause – du hast deine Familie anscheinend vergessen. Bedeuten wir dir denn gar nichts mehr? Du bist herzlos, Stefano.“

„So einen Kommentar würde ich von meiner Freundin erwarten, aber nicht von meiner kleinen Schwester.“ Stefano stieg aus dem Wagen und lief zum Eingang der Klinik. Sein langer Cashmeremantel wärmte ihn. Er musste über die Aufregung seiner Schwester lächeln. „Warum bist du noch zu Hause? Um diese Zeit müsstest du deine Kinder in die Schule bringen.“

Wie er erwartet hatte, schnaubte Isabella vor Empörung. „Ich habe sie natürlich eben zur Schule gebracht und bin jetzt auf dem Weg ins Büro. Erinnerst du dich überhaupt noch an das Familienunternehmen, dem du den Rücken gekehrt hast, um in der Fremde Doktor zu spielen und dich mit Schauspielerinnen zu verabreden, die so dünn sind wie Spaghetti und ein Gehirn haben, kleiner als ein Stück Ravioli? Ich gebe mir wenigstens Mühe, Papa bei Laune zu halten“

Die Unterhaltung begann Stefano zu langweilen. Er stieß die Schwingtür zur Notfallabteilung auf. „Hast du mich angerufen, um über meinen Beruf als Arzt zu diskutieren – oder über meine Frauenbekanntschaften?“

„Nein, weil du trotz deiner vielen Fehler mein Bruder bist, und außerdem jemand, den man wie alle Männer ab und zu an seine Familienpflichten erinnern muss. Wann hast du Papa zum letzten Mal angerufen?“

Stefano ging den Korridor entlang zu seinem Zimmer. „Es gab nichts Neues, das ich ihm hätte erzählen können.“

„Neues? Was soll das heißen?“ Isabella gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen. „Er will nichts Neues von dir erfahren, sondern nur mal wieder deine Stimme hören.“

„Typisch Frau, nichts zu sagen zu haben, aber reden wollen“, sagte Stefano anzüglich. „Außerdem bin ich sehr beschäftigt.“

„Nun, die Zeit für einen Anruf wirst du ja noch aufbringen können. Und sieh zu, dass du auf jeden Fall Weihnachten zu Hause bist. Wir sind ab dem 23. Dezember in Cortina.“

Stefano wusste, was ihn da erwartete. Eine laute, ausgelassene Schar von Familienangehörigen und Freunden, die das geräumige Chalet der Familie in dem bekannten Wintersportort Cortina d’Ampezzo in den italienischen Dolomiten mit quirligem Leben füllen würde.

„Isabella …“

Sie unterbrach ihn. „Ich weiß, du hast viel zu tun. Aber mal hat auch die Familie Vorrang, Stefano. Du musst einfach kommen …“

„Ich werde kommen, aber ich weiß noch nicht genau, wann und für wie lange.“ Kommt darauf an, wie lange ich die Familie ertragen kann, dachte er.

„Eine Menge Freunde werden auch da sein“, meinte Isabella mit einem gewissen Unterton in der Stimme. „Auch die hübsche Donatella. Sie ist immer noch ledig.“

„Die ist ja fast noch ein Kind.“

Isabella lachte. „Sie wird bald einundzwanzig, ist also kein Kind mehr. Erinnerst du dich noch an letztes Jahr Weihnachten?“

„Ja, ich erinnere mich genau an Donatellas Push-up-BH und das mehr als großzügige Dekolleté. Ich dachte, Papa bekäme einen Schlaganfall, als er sie sah.“

„Sie hat mir gesagt, dass sie in diesem Jahr beim Weihnachtsessen unbedingt neben dir sitzen möchte.“

„Das ist keine gute Idee. Donatella ist in meiner Gegenwart immer so gehemmt, dass sie kaum ein Wort herausbringt“, protestierte Stefano. „Also vergiss es, Isabella.“

„Sie wäre eine traditionelle italienische Ehefrau, Stefano.“ Er merkte, dass die Unterhaltung Isabella Vergnügen bereitete. „Sie wäre häuslich und würde dir wunderbare Pasta kochen.“

„Unglücklicherweise lege ich mehr Wert auf Frauen, mit denen ich mich intelligent unterhalten kann. Und damit ist Donatella hoffnungslos überfordert.“

Isabella lachte laut auf. „Du bist zu hart. Um ehrlich zu sein, ich begreife nicht, warum sie so in dich verknallt ist. Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie dich zu Tode langweilt.“

Stefano ersparte sich die Antwort.

Isabella seufzte. „Außerdem glaube ich nicht, dass du nur eine Frau suchst, mit der du dich intelligent unterhalten kannst. Mit dieser Schauspielerin, mit der du zuletzt zusammen warst, hast du bestimmt nicht nur geredet.“

Stefano warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich habe jetzt zu tun, Isabella. Ist sonst noch etwas?“

„Nein, ich wollte nur mal wieder deine Stimme hören. Und dir sagen, dass du die Familie und das gemeinsame Weihnachten nicht vergessen darfst.“

Bevor er antworten konnte, unterbrach ihn ein heftiges Klopfen, dann wurde die Tür aufgestoßen. Irritiert sah er Greg Hampton, einen jungen Assistenzarzt, hereinkommen. Stefano runzelte die Stirn. Im Gegensatz zu Phil, dem anderen Assistenzarzt, gefiel ihm Greg Hamptons saloppes Auftreten und seine lässige Art, sich zu kleiden, nicht besonders. „Ciao, Isabella“, sagte er knapp und beendete das Gespräch. „Ja, bitte? Gibt es ein Problem?“, fragte er Greg.

„Könnten Sie einen Blick auf eine Röntgenaufnahme werfen? Haben Sie einen Moment Zeit?“

Stefano nickte und ging zur Tür hinüber. „Was ist das für ein Patient?“

Greg verzog das Gesicht. „Ein schreiendes, ungezogenes kleines Mädchen mit einem gequetschten Finger. Ich habe sofort eine Röntgenaufnahme machen lassen.“

Stefano warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Ihm gefiel der herablassende Ton des jungen Arztes nicht.

Sie kamen im Technikraum an, und Stefano ging gleich zu der Wand mit den Bildschirmen, auf denen die Röntgenaufnahmen der Patienten zu sehen waren. Schon der erste Blick zeigte ihm, dass ein arbeitsreicher Tag vor ihm liegen würde.

Er war noch in Gedanken bei der Unterhaltung mit seiner Schwester, während er das Röntgenbild des gequetschten Fingers näher in Augenschein nahm. Er drückte auf einen Knopf, um das Bild zu zoomen. Wieso mischt sich meine Familie immer in mein Leben ein? fragte er sich. Entweder ging es um sein Liebesleben oder seinen Beruf.

„Der Finger ist nicht gebrochen. Was haben Sie bei der Untersuchung festgestellt?“

„Ich habe sie noch gar nicht untersucht.“

„Sie haben das Mädchen zum Röntgen geschickt, ohne sie vorher zu untersuchen?“ Stefano sah Greg ungläubig an, der leicht zurückzuckte.

„Das Kind war wirklich aufsässig und wollte nicht angefasst werden. Glauben Sie mir, niemand wäre mit diesem Kind fertig geworden … und was die Mutter angeht …“ Er zuckte die Schultern. „Sie ist auch ein Albtraum. Ein Glück, dass ich nicht Kinderarzt geworden bin. Da brauche ich meine Fähigkeiten nicht an hysterische Kinder und Mütter zu verschwenden.“

„Welche Fähigkeiten?“

„Wie bitte?“ Gregs Gesicht gefror. Sein Lächeln wirkte plötzlich gequält.

„Sie sagen, Sie wollen Ihre Fähigkeiten nicht verschwenden, aber ich warte immer noch darauf, dass Sie Ihre Fähigkeiten, auf die Sie so stolz zu sein scheinen, endlich mal unter Beweis stellen, Dr. Hampton. Als Sie entschieden haben, das Kind nicht zu untersuchen, ist Ihnen das nicht gelungen.“

Greg Hampton räusperte sich verlegen. „Ich bin einfach nicht mit dem Kind fertig geworden.“

„Das wollte ich zum Ausdruck bringen.“ Stefano sah, dass der junge Arzt bis unter die Haarwurzeln rot wurde.

„Das Kind ist vollkommen durchgedreht“, versuchte er sich zu verteidigen.

„Dann ist es unser Job, einen Patienten zu beruhigen. Nach sieben Jahren Studium und Praxis sollten Sie gelernt haben, wie man mit Patienten umgeht.“

„Ich habe die Röntgenaufnahme angeordnet“, erwiderte Greg Hampton pikiert.

„Sie haben sie röntgen lassen und hätten sie ohne eingehende Untersuchung wieder weggeschickt? Ich hoffe, Sie haben ein gute Haftpflichtversicherung. Oder einen gewieften Anwalt. Wenn das Ihre Auffassung von medizinischer Arbeit ist, werden Sie beides nötig haben.“

Gregs Gesicht war inzwischen puterrot. „Ich habe angenommen, dass die Röntgenaufnahme mir Klarheit verschaffen würde.“

„Sie sind Arzt, kein Kfz-Mechaniker. Ihre Aufgabe ist es, sich eingehend mit den Patienten zu befassen.“

„Mr. Lucarelli …“

„Und noch eins … in dieser Abteilung werden Sie aufmerksam zuhören, wenn eine Mutter Ihnen etwas über den Zustand ihres Kindes sagen will. Verstanden?“

Greg starrte ihn an. „Ja.“

„Gut. Und jetzt führen Sie mich zu dem Kind.“

Sichtlich eingeschnappt ging Greg Hampton zu einem der Behandlungszimmer. Stefano erwartete, ein weinendes oder zeterndes Kind zu Gesicht zu bekommen, aber als er die Tür öffnete, hörte er das Kind fröhlich lachen.

Liv kniete auf dem Fußboden vor dem Mädchen und unterhielt sich mit dem lächelnden, lebhaften Kind, das an ihren Lippen zu hängen schien. Jedenfalls sah sie die Schwester fasziniert an, und Stefano merkte plötzlich, dass er dasselbe tat.

Er konnte seinen Blick kaum von ihrem Profil und dem aufregenden Mund abwenden, und unwillkürlich verglich er Livs Gesicht mit dem ganz auf Wirkung und sexuelle Ausstrahlung geschminkten Gesicht seiner letzten Freundin Francine.

Stefano war selbst überrascht und fragte sich, wieso er zwei Frauen miteinander verglich, die absolut nichts gemeinsam hatten.

Francine war Schauspielerin und Model, und ihr Aussehen war wichtig für ihren Job. Liv war völlig anders. Sie war nicht schön im gewöhnlichen Sinne. Ihr Mund war etwas zu groß. Aber sie hatte eine Ausstrahlung, die Stefano fesselte. Ihre Augen waren intelligent und fröhlich, und sie strahlte Wärme und Humor aus, wie sie sich mit dem Kind unterhielt.

Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Die Schwesterntracht war nicht zu eng, aber ihre weiblichen Rundungen waren nicht zu übersehen. Er merkte, dass sein Körper sofort und heftig auf den Anblick reagierte. Die unsinnige Unterhaltung mit seiner Schwester vorhin am Telefon war wohl der Grund, warum er während der Arbeit an Sex dachte …

„Du sitzt also neben deiner Freundin Annabelle“, hörte er Liv sagen. Ihre sanfte, warme Stimme klang sehr beruhigend. „Und wer ist dein Lehrer?“

„Eine Lehrerin, Mrs. Grant.“ Das Mädchen lachte Liv an. „Sie trägt ihr Haar in einem Pferdeschwanz, wie du.“

„Das ist während der Arbeit am bequemsten, dann können einem die Haare nicht über die Augen fallen. Und jetzt erzähl mir mal, Bella, was du mit deinem Finger gemacht hast.“

Als Stefano merkte, dass Greg Hampton etwas sagen wollte, brachte er ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Glücklicherweise hatte das Mädchen noch nicht gesehen, das Stefano und Greg in der offenen Tür standen.

„Das ist gestern passiert. Wir übten gerade für das Krippenspiel, da bin ich über ein Schaf gestolpert. Kein richtiges Schaf natürlich, das war Gareth, der sich verkleidet hatte. Ich bin auf meinen Finger gefallen, mit meinem ganzen Gewicht.“

Liv hatte dem Mädchen aufmerksam zugehört und untersuchte nun vorsichtig den Finger.

Stefano musterte sie versonnen. Ihr Haar hatte einen warmen, braunen Kastanienton und glänzte in dem grellen Licht der Deckenstrahler. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber ein paar widerspenstige Locken spielten um ihre Stirn. Stefano, der seit Wochen keine Frau mehr als einmal angesehen hatte, registrierte verblüfft, dass er seinen Blick nicht von ihr wenden konnte. Sie trug keine Spur von Make-up, ihre Wangen zeigten eine frische, natürliche Röte, und ihre Augenbrauen waren dicht und dunkel. Was ihn jedoch am meisten beeindruckte, war die Art und Weise, wie sie sich mit dem Mädchen unterhielt.

Bisher hatte Liv noch nicht bemerkt, dass er in der Tür stand. Ihm fiel die Unterhaltung mit ihrer Kollegin Anna ein, die er am Tag zuvor teilweise mitbekommen hatte.

Warum hatte Anna ihrer Kollegin zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht gewünscht?

Er betrachtete sie aufmerksam. Sie sah nicht wie eine Frau aus, die Probleme damit hatte, einen Liebhaber zu finden.

Warum hatte ihre Kollegin Anna sie tröstend in den Arm genommen? Was stimmte mit ihr nicht?

„Aua, das tut weh“, meinte das kleine Mädchen und zuckte zurück, als Liv ihren Finger bewegte.

„Ich weiß, es tut weh“, sagte Liv mitfühlend. „Wenn das mein Finger wäre, würde ich bestimmt weinen. Du bist sehr tapfer.“

„Ist der Finger gebrochen?“

„Das kann der Doktor, der dich gleich untersuchen wird, erst auf der Röntgenaufnahme sehen.“

Das Mädchen warf einen Blick zur Tür und erstarrte augenblicklich. Sie hatte Greg Hampton dort stehen sehen. „Er soll mich nicht anfassen!“, rief die Kleine und zog mit einem Ruck die Hand zurück.

Stefano wusste, dass er schnell eingreifen musste. Er warf einen unheilvollen Blick auf den jungen Kollegen und eilte zu Liv und dem Mädchen.

Ciao, cucciola mia“, sagte er freundlich, aber das Mädchen schaute immer noch starr auf den Assistenzarzt. „Ich will ihn nicht als Doktor.“

„Er ist nicht dein Doktor“, beruhigte Stefano sie. Er war sich bewusst, dass seine Größe dem Mädchen Angst einflößen konnte. Deshalb ging er in die Hocke, sodass sein Gesicht mit dem des Mädchens auf gleicher Höhe war. „Du bist also auf der Bühne hingefallen.“

„Ja.“ Das Mädchen wandte den Blick von Greg Hampton ab und schaute Stefano an. „Warum sprichst du so komisch?“

Stefano lächelte. „Weil ich aus Italien komme.“

„Wie die Pizza? Ich liebe Pizza.“

„Ja, wie die Pizza.“ Stefano nahm ihre Hand und sah sich den Finger an. „Welche Sorte Pizza magst du denn besonders gern?“

„Margarita, aber nicht mit zu viel Käse und zu viel Tomaten.“

„Offensichtlich bist du eine junge Dame, die genau weiß, was sie will.“ Stefano ließ ihre Hand los. „Kannst du mir mal zeigen, wie du gefallen bist?“

Das Mädchen streckte die Hand aus und berührte leicht den Fußboden. „So bin ich auf den Finger gefallen.“

Stefano war sich Livs Gegenwart sehr bewusst, aber als er einen kurzen Seitenblick auf sie warf, merkte er, dass sie ihn nicht beachtete, sondern immer noch voll und ganz mit dem Mädchen beschäftigt war.

„Es könnte sich um eine Stauchung des zweiten Gelenkes handeln“, sagte Liv leise.

„Das halte ich auch für wahrscheinlich“, stimmte Stefano ihr zu und sah sie lächelnd an. Aber sie reagierte nicht. Sie richtete sich auf und sagte zu dem Mädchen: „Du musst in den nächsten beiden Wochen sehr vorsichtig mit deinem Finger sein.“

Stefano, der es gewohnt war, dass Frauen den Blickkontakt mit ihm suchten, war einen Moment lang irritiert durch ihr offensichtliches Desinteresse. Gestern während der Arbeit in der Notaufnahme hatte er das Gefühl gehabt, dass ein Funke zwischen ihnen übergesprungen war. Er war sicher gewesen, dass sie dasselbe gespürt hatte, aber das war wohl ein Irrtum gewesen.

Fast hätte er aufgelacht. War er schon so arrogant geworden, dass er es als selbstverständlich voraussetzte, alle Frauen würden ihn anhimmeln?

Die Mutter des kleinen Mädchens reagierte wie die meisten Frauen. Als sie Stefano ansah, weiteten sich ihre Augen. „Sind Sie hier der Chef?“

Stefano ignorierte ihren bewundernden Blick und blieb ganz cool und professionell. „Ihre Tochter muss den Finger eine Zeit lang ruhig halten, sonst kann eine Schädigung des Gelenkes eintreten.“

„Heißt das, ich kann nicht weiter in dem Stück mitspielen?“, erkundigte sich das Mädchen. Sie sah sehr enttäuscht aus.

„Was tust du denn auf der Bühne?“, wollte Stefano wissen.

„Ich bin ein Stern, der herumhüpft, während die Hirten mit den Tieren auf die Bühne kommen.“

„Das kannst du auch mit dem verletzten Finger machen“, beruhigte Stefano sie. „Du musst nur aufpassen, dass du nicht noch einmal irgendwo anstößt. Und nicht ein zweites Mal über ein Schaf stolperst.“

„Ist der Finger nicht gebrochen?“

„Nein, nur verstaucht. Wir werden dafür sorgen, dass du den Finger ruhig hältst.“

„Bekomme ich einen Gips?“

„Das ist nicht nötig. Aber wir werden den verletzten Finger an den heilen Finger daneben anbinden.“ Stefano sah Liv an. „Können Sie das übernehmen?“

Liv nickte. „Natürlich. Ich gehe davon aus, dass Sie sie in zehn Tagen zur Nachuntersuchung sehen wollen.“ Sie schrieb eine Notiz, die sie der Mutter reichte. „Und jetzt mache ich dir den Verband um die beiden Finger, Bella.“

„Ich kenne dich“, sagte die Kleine plötzlich zu Liv. „Du bist die Mutter von Max, oder? Und du heißt Liv …“

Stefano blickte überrascht auf. Sie hatte ein Kind?

Er wusste nicht, worüber er mehr überrascht war – über die Tatsache, dass sie Mutter war, obwohl sie dafür zu jung aussah, oder darüber, dass sie einem anderen Mann gehörte.

Aber wenn sie verheiratet war, warum hatte Anna dann davon gesprochen, dass sie ihr zu Weihnachten eine heiße Liebesnacht wünschte?

Beunruhigt wegen der Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, erhob er sich. „Wenn Sie mich brauchen, geben Sie mir Bescheid“, sagte er sachlich.

Aber sie schien davon ebenso wenig Notiz zu nehmen wie vorhin von seinem Lächeln. Sie war voll darauf konzentriert, die Finger des Mädchens zu verbinden.

Er sah sich noch einmal kurz um. Liv war gerade dabei, den Verband zu befestigen. Dabei fiel Stefano etwas auf: Sie trug keinen Ehering.

3. KAPITEL

Liv fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Während sie Bellas Mutter noch ein paar Instruktionen gab, dachte sie daran, dass es sie ungeheuer viel Beherrschung gekostet hatte, Seite an Seite mit Stefano Lucarelli zu arbeiten und dabei ganz cool zu bleiben.

Aber irgendwie hatte sie es geschafft, obwohl sie sich jede Sekunde seiner Wirkung auf sie bewusst gewesen war. Jedes Mal, wenn er in der Nähe war, kribbelte ihre Haut, und sie hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.

Da war ein Funke übergesprungen.

Nein, bei ihr hatte es gefunkt. Was er empfand, darüber machte sie sich keine Illusionen. Bei ihr jedenfalls löste er ein ganz unmissverständliches sexuelles Verlangen aus, und das beunruhigte sie.

Das war alles nur Annas Schuld. Wenn sie nicht angefangen hätte, über ihre sexuelle Enthaltsamkeit zu reden, hätte Liv wohl kaum so auf Stefano Lucarelli reagiert.

Oder doch?

Liv seufzte und wusch ihre Hände. Sie dachte an Jack, was sie sonst nach Möglichkeit vermied, aber der Gedanke an ihn erinnerte sie in diesem Moment daran, warum sie sich bewusst für ein Leben als Single entschieden hatte.

Als sie gerade ihren nächsten Patienten hereinrufen wollte, schlüpfte Anna ins Zimmer. Sie zwinkerte Liv vielsagend zu. „Unser verehrter Chefarzt scheint ja eine Menge von dir zu halten …“

„Unsinn, ich mache nur meinen Job. Übrigens – kann ich am Freitagnachmittag zwei Stunden freibekommen? Max spielt in der Fußballmannschaft der Schule mit.“

„Wirklich?“ Anna strahlte. „Das ist ja wundervoll. Ja, nimm dir zwei Stunden frei. Was hältst du davon, wenn ich ihn am Donnerstag mit Sam von der Schule abhole und er bei uns schläft?“

„Das will ich dir nicht zumuten …“

„Du tust mir damit sogar einen Gefallen. Wenn die Jungs zusammen spielen, habe ich endlich Zeit, meine Weihnachtskarten zu schreiben. Dazu bin ich einfach noch nicht gekommen.“

Liv lächelte. „Also gut. Und vielen Dank.“

„Was tut man nicht alles für sein bestes Pferd im Stall? Der gestrenge Chefarzt, vor dem die ganze Abteilung zittert, ist zu dir sanft wie ein Lamm.“ Anna lächelte maliziös. „Heute Morgen kam Stefano zu mir und sagte ohne Umschweife: ‚Wenn ich auf der Notfallstation arbeite, möchte ich, dass Liv mir assistiert.‘ Wie er deinen Namen aussprach, das klang ungeheuer sexy.“

Livs Puls schlug schneller. „Du übertreibst maßlos.“

„Was hast du nur mit ihm angestellt, dass er so viel von dir hält? Das würde ich gern wissen. Im Vergleich zu dir scheint er uns alle für Nieten zu halten.“

„Wir haben gut zusammengearbeitet, das ist alles.“

Anna lächelte vielsagend. „Ihr beide gebt ein hübsches Paar ab. Hast du ihn schon zum Schneeflockenball eingeladen?“

„Nein, das habe ich nicht. Weil ich nämlich gar nicht hingehen werde.“

„Das solltest du aber tun. Und ihn einladen, mit dir zu kommen. Davon könntest du noch deinen Enkeln erzählen.“ Anna blickte sich um, ob sie allein waren. „Eine der Schwestern hat im Internet ein Interview mit einer seiner Exfreundinnen gefunden – einer üppigen Blondine, einer Schauspielerin. Darin hat sie sich geradezu enthusiastisch über seine Fähigkeiten im Bett geäußert. Italienische Männer sind so unglaublich dominant und männlich, hat sie gesagt.“

„Schluss jetzt damit.“ Liv hielt sich die Ohren zu.

„Ich weiß gar nicht, was du hast“, sagte Anna anzüglich. „Wäre es für dich keine aufregende Vorstellung, morgens neben einem Mann wie Stefano wach zu werden?“

„Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Liz schauderte. „Dann wäre es ja hell – und ich hätte niemals den Mut, mich einem Mann bei Tageslicht nackt zu zeigen.“

Anna lachte auf. „Du hast nicht die geringste Ahnung davon, wie attraktiv du bist.“

„O doch. So attraktiv, dass Jack gleich nach der Hochzeit anfing, mit anderen Frauen zu schlafen.“

„Jack war doch nur ein …“ Anna benutzte ein derbes Schimpfwort, das Liv erröten ließ.

„Schäm dich, solche Ausdrücke zu gebrauchen.“

„Ich wollte nur damit sagen, dass er dich unglaublich mies behandelt und dein Selbstvertrauen beschädigt hat. Seinetwegen hast du jetzt Angst vor Männern und verzichtest auf Sex. Tu dir selbst einen Gefallen – lade Stefano ein und warte ab, was passiert.“

„Wahrscheinlich wäre er schockiert und würde ablehnen.“

„Du wagst es ja noch nicht einmal, mit ihm zu flirten – mit dem reichsten und attraktivsten Junggesellen, der dir je über den Weg gelaufen ist. Vielleicht solltest du mal zum Psychiater gehen.“

„Wenn hier jemand eine Therapie nötig hat, dann ja wohl du, Anna.“

„Du willst mir also tatsächlich weismachen, du könntest ihn anschauen und dabei nicht an Sex denken?“

„Hör endlich auf, über Sex zu reden. Was ist nur los mit dir, Anna? Am besten nimmst du eine kalte Dusche.“

„Nein, ich gehe jetzt zum Essen.“ Anna drückte Liv einen Schlüsselbund in die Hand. „Du bist jetzt die Herrin über die Medikamentenschränke, bis ich wieder da bin.“

Liv blickte ihr nach, wie sie aus dem Raum ging. Annas ständiges Gerede über Sex begann sie zu beunruhigen.

Bei Stefano hatte Anna nicht ganz unrecht. Er sah gut aus, war vertrauenswürdig, erfahren – und während der Arbeit waren seine Bewegungen zielstrebig und präzise. Sie zweifelte nicht daran, dass er seine Hände auch im Bett mit derselben Sicherheit einsetzen würde.

Dann seufzte sie tief auf. So zu tun, als würde er sie nicht beeindrucken, war lächerlich und unglaubwürdig. Jeder, der mit ihm zu tun hatte, war von ihm hingerissen.

Die Gedanken, die ihr nicht aus dem Kopf gingen, beunruhigten sie zunehmend.

Unsinn! Sie musste damit aufhören. Ein Mann wie er würde sich nie ernsthaft für sie interessieren …

„Hol dir den Ball, du schaffst es.“ Zwei Tage später stand Liv mit anderen Eltern am Rand des Sportplatzes und feuerte ihren Sohn an. Sogar mehrere Väter hatten sich den Nachmittag freigenommen, um ihre Söhne spielen zu sehen.

Es war kalt geworden. Liv hatte sich einen dicken Wollschal um den Hals gewickelt. Ihre Finger waren trotz der Handschuhe ganz klamm, und ihr Atem erzeugte kleine weiße Wölkchen in der eisigen Luft.

Sie stand neben Simon und Claire, deren Sohn James in einer Klasse mit Max war. Claire erwartete wieder ein Baby und kam regelmäßig in die Müttersprechstunde zu Liv. Die beiden unterhielten sich über das Weihnachtsfest, über Simons Mutter, die zu Besuch kommen, und den Truthahn, den Claire braten wollte.

Liv verspürte einen Stich von Eifersucht. Sie musste alles allein sein – Fußballcoach, Weihnachtsmann –, um zu versuchen, Max den Vater zu ersetzen, den er dringend gebraucht hätte.

Und gleichzeitig verabscheute sie sich für diese Gedanken. Worüber beschwerte sie sich? Sie hatte einen Sohn, den sie liebte, und einen Job, der ihr Spaß machte. Da konnte sie doch glücklich sein – oder?

Sie sah zu Claire und Simon, deren Haus zu Weihnachten voll sein würde. Und sie würde wieder mit Max allein feiern.

Vielleicht hatte Anna doch recht, und es war wirklich an der Zeit, dass sie sich mal wieder mit einem Mann verabredete.

Die Kontaktbörse im Internet – wäre das eine Möglichkeit? überlegte sie. Wie würde sie sich vorstellen? Alleinerziehende Mutter, kann eine gute Pizza backen, Fußball spielen und Gutenachtgeschichten vorlesen. Welcher Mann würde das wohl besonders prickelnd finden?

Der Gedanke, sich im Internet anzubieten, erschreckte sie. Schnell verdrängte sie den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Fußballspiel.

Max war mit großem Eifer bei der Sache. Seine kleinen Beine waren mit blauen Flecken und Schlammspritzern übersät. Sein Trikot war so lang, dass es weit über der Hose hing. Er sieht so klein und verletzlich aus, dachte Liv.

Er war der Mittelpunkt ihres Lebens. Niemals würde sie etwas tun, was ihn verunsichern oder in der Entwicklung hemmen könnte. Vor ihrer Heirat hatte sie schon Schwierigkeiten gehabt, sich mit Männern zu verabreden, aber jetzt mit dem Kind war sie noch nie auf den Gedanken gekommen. Denn wenn wieder etwas schiefginge, würde Max am meisten darunter leiden.

Die begeisterten Rufe von Claires Mann schreckten sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen Blick auf das Spielfeld und sah ihren Sohn, der mit dem Ball auf das gegnerische Tor zulief, mächtig ausholte, den Ball voll traf – und Tor!

Max schrie triumphierend auf und kam zu seiner Mutter gerannt. „Hast du das gesehen, Mum?“ Seine Augen strahlten, und sein Gesicht war von der Anstrengung und der Freude gerötet.

„Ja, ich habe gesehen, wie du das Tor geschossen hast.“ Liv bückte sich und nahm ihn in die Arme. „Das war großartig.“

„Ich liebe Fußball, Mum.“

„Ich weiß, mein Schatz.“ Sie umarmte ihn noch einmal, ohne Rücksicht auf sein schlammverschmutztes Trikot.

„Musst du wirklich gleich zur Arbeit?“

„Ja. Du fährst mit Anna und Sam und schläfst heute Nacht dort. Morgen früh hole ich dich ab.“

„Prima, Mum.“ Er lief über das Spielfeld auf seinen Freund zu, und Liv sah, dass beide eifrig redend in Richtung Umkleidekabinen gingen.

Liv verabschiedete sich bald darauf von Claire und Simon und ging zu ihrem Wagen. Sie hatte mit Anna vereinbart, dass sie an diesem Nachmittag zwei Stunden freimachen würde, aber jetzt wurde es Zeit, wieder ins Krankenhaus zu fahren.

Kaum hatte sie die Eingangstür hinter sich geschlossen, als sie Stefano Lucarelli über den Weg lief. Er sah sie erstaunt an. „Wo kommen Sie denn her?“

Seine männliche Ausstrahlung nahm Liv fast den Atem. Sie fühlte, wie ihr Körper heftig auf ihn regierte. Ihr Herz pochte wie wild, und ihre Knie wurden weich. Zu allem Überfluss fielen ihr gerade in dieser Sekunde die Schilderungen in dem Interview mit der Schauspielerin ein, die sich über Stefanos Liebeskünste ausließ, und sie meinte fast, seine Hände über ihre Haut gleiten zu spüren.

Sie wurde rot und vermied es, ihn anzuschauen. „Ich hatte mir zwei Stunden freigenommen.“

„Während der Arbeitszeit?“ Er stand mit leicht gespreizten Beinen vor ihr und versperrte ihr den Weg. Einen Moment lang war sie unfähig zu antworten. Er hatte also bemerkt, dass sie nicht da gewesen war? Mit Mühe brachte sie es fertig, ihre Nervosität zu verbergen.

„Haben Sie mich vermisst?“

„Ja, ich habe Sie gesucht. Wir hatten ein Kind hier mit einem Schienbeinbruch. Da hätte ich Sie gebraucht.“

Also nur deswegen hatte er sie vermisst. Wegen der Arbeit. „Es waren ja noch andere Schwestern da“, meinte sie, ohne sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen.

„Die anderen Schwestern waren mir keine große Hilfe. Sie waren nicht so wie Sie in der Lage, das Kind aufzuheitern. Ich habe mich gefragt, wo Sie steckten.“

Liv wusste nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Aber vielleicht war es auch gerade gut so – dann gab sie sich wenigstens keinen falschen Hoffnungen hin.

„Ich hatte mit Anna vereinbart, dass ich für zwei Stunden nicht da bin – ich wollte bei einem Fußballmatch meines Sohnes zugucken.“

Der strenge Ausdruck auf Stefanos Gesicht verschwand und wich einem Lächeln. „Ein Fußballspiel? Und – hat er ein Tor geschossen?“

Einen Moment lang sah sie ihn perplex an. „J…ja, das hat er.“

Stefano warf Liv einen verwunderten Blick zu. „Und warum sehen Sie dann so besorgt aus?“

„Besorgt?“

„Ja, ich habe das Gefühl, Sie machen sich wegen irgendetwas Sorgen.“ Seine Augen ließen sie nicht los. „Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie beschäftigt?“

Sie bemerkte das Glitzern in seinen Augen. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch begannen heftig zu flattern. Mein Sohn braucht einen Vater, hätte sie sagen können, aber sie dachte es nur. Und mir graut vor einem weiteren einsamen Weihnachtsfest.

Sie lachte verlegen auf. „Bei mir ist alles in Ordnung. Ich sollte jetzt besser Anna Bescheid sagen, dass ich wieder da bin. In fünf Minuten bin ich wieder im Dienst, wenn Sie mich brauchen.“

In fünf Minuten würde sie sich wieder völlig unter Kontrolle haben. Sie musste endlich mit diesen unrealistischen Träumereien aufhören und begreifen, dass er in einer ganz anderen Liga spielte als sie.

Liv konnte sich lebhaft vorstellen, wie er reagieren würde, wenn sie ihn zu dem Schneeflockenball einlud. Er würde freundlich und höflich sein – aber er würde ablehnen.

„Wir sehen uns dann gleich, Mr. Lucarelli“, sagte sie und wollte gehen.

„Stefano“, unterbrach er sie mit seiner tiefen, sonoren Stimme. „Ich heiße Stefano. Warum nennen alle mich Mr. Lucarelli? Ich dachte immer, auf der Notfallstation gingen wir ganz zwanglos miteinander um?“

„Nun, Sie sind noch nicht lange hier und eine Respektsperson. Ich glaube, die Mitarbeiter haben ein bisschen Scheu, Ihnen gegenüber zu familiär aufzutreten. Einige Kollegen finden Sie sogar …“ Sie unterbrach sich. „Gestatten Sie, dass ich mich jetzt schnell umziehe?“

„Augenblick.“ Er hielt sie leicht am Arm zurück. „Wie finden manche Kollegen mich?“

„Streng. Furchteinflößend …“

„Sie fürchten mich? Wieso denn das? Ich bin sanft wie ein Kätzchen.“

„Das ist ein Tiger auch“, sagte Liv trocken.

Stefano lachte.

„Wenn meine Mitarbeiter ihren Job zufriedenstellend erledigen, fahre ich nie die Krallen aus.“ Er musterte sie forschend. „Sie sagten ‚einige Kollegen‘, also nicht Sie?“

Wusste er eigentlich, dass er noch immer ihren Arm hielt? „Ich halte es für sehr gut, dass Sie hohe Standards setzen. Das ist gerade auf einer Notfallstation sehr beruhigend. Ich glaube, ich bin so etwas wie ein Kontrollfreak.“

„Ich auch“, lachte er.

„Zwei Kontrollfreaks im selben Raum, das könnte problematisch werden.“

Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Nicht, wenn sie vertrauensvoll miteinander arbeiten. Dann bilden sie ein erstklassiges Team.“

Sie löste sich sanft aus seinem Griff. „Jetzt sollte ich mich wirklich umziehen. Sonst fragen sich die anderen noch, wo ich bleibe.“

4. KAPITEL

Kurz nach 22 Uhr konnte Stefano endlich die Notfallstation verlassen.

Es war ein chaotischer Nachmittag gewesen, mit zwei schweren Verkehrsunfällen und mehreren Verletzten, die dem überlasteten Team alles abverlangt hatten.

Zum Glück hatte Liv auf der Station mit ihm zusammengearbeitet, und so war trotz der allgemeinen Hektik alles in geordneten Bahnen verlaufen.

Als er über den Parkplatz zu seinem Wagen ging, war der Boden mit einer feinen, glitzernden Eisschicht bedeckt, und der Himmel war sternenklar. Es würde eine weitere kalte Nacht werden. Vermutlich würden sich am nächsten Morgen wieder viele Verkehrsunfälle ereignen und ihnen eine Flut von Verletzten bringen.

Von der anderen Seite des Parkplatzes war das Geräusch eines gequälten Anlassers zu hören. Offensichtlich wollte dort ein Wagen nicht anspringen. Als Stefano näher kam, sah er Liv in dem kleinen Wagen sitzen, den Schal eng um den Hals geschlungen. Ihr Atem erzeugte weiße Wolken in der kalten Luft.

Sofort gingen bei Stefano alle Alarmsignale hoch. Es war ihm schon mehrfach passiert, dass Frauen eine Motorpanne vorgespielt hatten, um ihn dazu zu bringen, sie nach Hause zu fahren.

Er hörte einen Moment zu, wie Liv versuchte, den Motor in Gang zu bringen, und kam zu dem Schluss, dass sein Verdacht in diesem Fall unberechtigt war. Der Wagen war sichtlich alt und ziemlich klapperig. Kein Wunder, dass er bei diesem Wetter nicht anspringen wollte. Er fragte sich, wie sie es mit dem Wagen überhaupt bis hierher geschafft hatte.

Stefano ging zu ihr. „Probleme?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein, er springt nur manchmal schlecht an. Einen schönen Abend, Mr. Lucarelli. Bis morgen.“

Einen schönen Abend? Bis morgen? Stefano staunte darüber, dass sie so abweisend antwortete. Er lehnte sich an das geöffnete Fenster. „Ich habe aber nicht den Eindruck, dass der Wagen heute noch anspringt.“

Er soll gehen, sagte sie sich. Sie hatte ihn sogar dazu aufgefordert. Warum blieb er trotzdem bei ihr stehen? „Der Wagen hat seine Mucken, zugegeben.“ Entschlossen drehte sie den Zündschlüssel herum. Der Anlasser jaulte noch einmal müde auf und sagte dann nichts mehr.

„Liv, ich schätze, jetzt ist die Batterie leer. Mit dem Wagen können Sie heute nicht mehr fahren.“

„Das ist doch nicht möglich. Ich weiß, Kälte bekommt ihm nicht gut, aber bisher ist er immer noch angesprungen. Ich muss nur einen Moment warten.“

Ihre Zähne klapperten vor Kälte. Mit einem verzweifelten Blick ließ sie sich in den Sitz zurückfallen und zog dann mit klammen Fingern langsam den Zündschlüssel ab.

„Wohin müssen Sie? Ich nehme Sie mit“, bot Stefano an. Er fragte sich, was so besonders an dieser Frau war, dass er ihr ein Angebot machte, das er sonst immer sorgsam vermied.

Aber anstatt sein Angebot freudig zu akzeptieren, schüttelte sie den Kopf. „Kommt nicht infrage.“ Sie griff nach ihrer Handtasche. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Lucarelli. Aber ich will Sie nicht aufhalten. Sicher haben Sie noch etwas vor.“

Sie wies seine Hilfe zurück?

Das war für ihn eine völlig neue Situation. Stefano wusste nicht, ob er erstaunt oder beleidigt sein sollte. „Und was ist mit Ihnen? Wollen Sie im Bereitschaftsraum übernachten?“

„Ich nehme die U-Bahn. Die Station liegt ziemlich nahe bei meiner Wohnung.“

Einen Moment lang konnte er unter ihrem schwarzen Mantel lange Beine in engen schwarzen Hosen sehen. Sie wirkte auf ihn eher wie ein Teenager als eine Mutter mit einem Sohn, der bereits Fußball spielte.

„Nein, ich lasse nicht zu, dass Sie zur U-Bahn laufen. Ich nehme Sie mit.“ Er beugte sich vor, löste ihren Sicherheitsgurt und half ihr beim Aussteigen.

„Mr. Lucarelli, ich möchte wirklich nicht …“

„Stefano, bitte.“ Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und schloss den Wagen ab, obwohl keine Gefahr bestand, dass er gestohlen wurde. Aber er wusste, dass es ihrem Ordnungssinn entsprach, den Wagen nicht offen stehen zu lassen. „Die Werkstatt kann ihn morgen abholen. Hoffentlich ist er überhaupt noch zu reparieren.“

„Das hoffe ich auch.“ Ihre Stimme klang so verzweifelt, dass Stefano sie verblüfft ansah.

„Es ist doch nur ein altes Auto, Liv.“

Sie schwieg für einen Moment, dann schaute sie ihn lächelnd an. „Ich weiß. Nochmals danke für Ihr Angebot, aber ich nehme die U-Bahn.“ Sie löste sich aus seinem Griff.

Stefano Lucarelli war enttäuscht über ihr Verhalten. „Lehnen Sie Hilfe grundsätzlich ab?“

„Ich habe normalerweise keine Hilfe nötig und komme sehr gut allein zurecht. Ihr Angebot macht mich … nun, ja … verlegen. Ich möchte Sie nicht ausnutzen.“

Er fragte sich, warum sie plötzlich so abweisend war, während sie noch vor einer Stunde vertrauensvoll zusammengearbeitet hatten. „Verstehe ich das richtig, dass Sie aus Prinzip bevorzugen, auf der vereisten Straße zur U-Bahn zu schliddern und in ein lautes, muffig riechendes Abteil zu steigen, statt sich von mir bis vor die Haustür fahren zu lassen? Ich muss gestehen, dass Sie mich überraschen. Bin ich denn wirklich so furchteinflößend?“

Liv sah ihn nachdenklich an. „Sie können doch nicht ernstlich meinen, dass Sie mich nach Hause bringen wollen …“

„Schluss jetzt mit der Diskussion. Steigen Sie schon ein.“

„Setzen Sie immer Ihren Willen durch?“

„Bei diesem Wetter hat das doch etwas für sich, meinen Sie nicht? Oder wollen wir hier noch länger frieren?“ Er nahm ihre Hand und zog Liv zu seinem Wagen. Ihre Finger waren schlank und eiskalt. „Sie tragen ja noch nicht einmal Handschuhe.“

„Die habe ich vor ein paar Tagen verloren.“ Sie schien erst jetzt zu merken, dass er immer noch ihre Hand hielt, und machte sich hastig los. Fast augenblicklich kam sie ins Rutschen und wäre gefallen, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. „Hoppla … oh, mein Gott.“ Die Sohlen ihrer Schuhe waren so glatt, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Stefano zog sie fester an sich, um ihr Halt zu geben, und fühlte, wie ihr Körper sich an ihn presste.

Liv fand anscheinend die Situation ausgesprochen komisch und begann zu lachen.

Er stutzte nur kurz, dann lächelte auch er. „Und denken Sie daran … ich heiße Stefano. Sie nennen mich ab sofort bei meinem Vornamen – oder ich lasse Sie fallen.“

„Dann müssen Sie vielleicht bei mir ein gebrochenes Bein richten.“ Sie löste ihre Hände von dem Kragen seines Mantels, an dem sie sich festgeklammert hatte. „Es geht schon wieder. Danke, dass Sie mich gestützt haben.“

Der Duft ihres Haares stieg ihm in die Nase, und er spürte immer noch ihre weichen Kurven. Sein Körper hatte spontan und ziemlich heftig auf ihre Nähe reagiert. Und er war erfahren genug, um sofort zu merken, dass es nicht nur eine einseitige Reaktion von ihm war.

Ihre Wangen hatten sich gerötet, und sie vermied es, ihm in die Augen zu schauen.

Er fragte sich, warum sie sich so dagegen gewehrt hatte, mit ihm zu kommen, wenn sie Ähnliches empfand wie er. Widerstrebend ließ er sie los. „Nun steigen Sie endlich in den Wagen, sonst holen wir uns beide eine Erkältung. Sagen Sie mir, in welche Richtung ich fahren soll.“

Sie ließ ihren Blick über den schwarzen Ferrari gleiten, den er sich vor einem Jahr zu Weihnachten gegönnt hatte. „Da kann man nur neidisch sein – der Wagen hat nicht den geringsten Rost, und der Motor springt bestimmt beim ersten Versuch an.“

„Leider nicht immer. Der Wagen ist nicht für so kaltes, nasses Wetter gebaut. Eigentlich müsste ich ihn hier im Winter in die Garage stellen und …“ Fast hätte er gesagt ‚… und lieber den anderen Wagen nehmen‘. Aber das ließ er bleiben, denn es hätte unter den gegebenen Umständen angeberisch geklungen.

Zögernd ging Liv zur Beifahrerseite. Stefano öffnete die Tür für sie, ließ sie einsteigen und nahm dann hinter dem Steuer Platz.

Ohne dass sie sich dessen bewusst war, strich sie mit der Hand genüsslich über die Lederpolster. Dann warf sie einen Blick auf das Armaturenbrett. „4,3 Liter Hubraum“, murmelte sie, „in 5,1 Sekunden von 0 auf 100 km/h, F1-Druckknopfschaltung und Karbon-Keramik-Bremsen.“

Stefano starrte sie fassungslos und ungläubig an.

Sie lächelte über seine Reaktion.

„Verstehen Sie etwas von Autos?“

„Überhaupt nicht. Aber ich bin die Mutter eines Jungen, für den Autos, vor allem solche Autos wie dieses, das Größte sind. Was blieb mir anders übrig, als mir einige Kenntnisse anzueignen?“

Stefano prustete vor Lachen. „Sie haben das alles auswendig gelernt?“

„Notgedrungen. Max hat kein Interesse an Märchen. Er wollte seit jeher alles über Maschinen, in erster Linie über schnelle Autos, wissen. Also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen.“

„Dann verbringen Sie Ihre Abende damit, Bücher über schnelle Autos zu lesen?“

„Richtig. Und ich kann es kaum erwarten, neue Modelle kennenzulernen. Nächste Woche ist der Lamborghini dran. Und besonders genossen habe ich den November, da ging es um den Maserati.“

Er schätzte ihren Sinn für Humor, aber am meisten beeindruckte ihn ihr Lächeln. Sie lächelte ihn jetzt endlich ohne Scheu an. Am liebsten hätte er sich zu ihr hinübergebeugt und sie geküsst. Was hatte sie für einen sinnlichen Mund!

Aber sie flirtete nicht mit ihm. Nichts an ihrer Haltung verriet, dass sie sich ihrer Wirkung auf ihn bewusst war.

„Ihr Sohn muss sehr glücklich sein“, sagte er leise.

„Nicht so, wie ich es gern hätte. Er ist verrückt nach Autos und Fußball. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, über beides so viel wie möglich zu lernen, damit ich ihn nicht enttäusche.“ Sie lächelte etwas gequält. „Zurzeit verbringe ich viele Abende damit, Bücher über Fußball, Taktik und die richtigen Trainingsmethoden zu lesen. Max möchte für sein Leben gern Stammspieler in der 1. Schülermannschaft werden.“

„Heute hat er doch mitgespielt, also sind Sie auch als Fußballtrainerin erfolgreich.“

„Ich fürchte, damit ist es nicht weit her“, gab sie zweifelnd zurück. „Als ich heute Nachmittag all die Väter erlebte, die ihren Sprösslingen vom Spielfeldrand Anweisungen zuriefen, wurde mir bewusst …“ Sie unterbrach sich. „Entschuldigung, das muss Sie entsetzlich langweilen.“

Er hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die ihn weniger langweilte als Liv. „Wichtig für Max war doch, dass Sie da waren und ihn angefeuert haben. Was ist mit seinem Vater? Warum war er nicht da?“

Sie rutschte tiefer in ihren Sitz und sah verlegen zur Seite.

„Ich habe keine Ahnung, wo sein Vater ist.“ Ihre Wangen hatten sich tief gerötet. „Er amüsiert sich wahrscheinlich irgendwo. Ich bin nicht verheiratet, Mr. Lucarelli, nicht mehr. Und ich habe auch nicht die Absicht, das zu ändern“, fügte sie hastig hinzu, damit er nicht auf die Idee kam, sie habe das in einer bestimmten Absicht gesagt.

Er dachte an Francine, für die Flirten und Verführen eine Art Leistungssport gewesen war. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sehr gern mehr über Liv erfahren würde. „Haben Sie keinen Kontakt mehr zu ihm?“

„Jack konnte Kinder nicht ausstehen. Leider habe ich das erst herausgefunden, als ich schon mit Max schwanger war.“

„Er wusste, dass Sie schwanger waren, und hat Sie trotzdem verlassen?“ Stefano konnte seine Abscheu nicht verbergen.

Liv räusperte sich. „Nicht sofort. Er hat es, wenn auch widerwillig, irgendwie ausgehalten, bis Max drei Jahre alt war.“

„Irgendwie?“

„Nun, wir waren verheiratet, aber nicht wirklich ein Paar. Er hatte damals eine andere Frau, aber ich habe nicht herausgefunden, wer sie war. Er hatte wohl eine ganze Reihe von Affären. Sie können sich vorstellen, wie sehr das am Selbstbewusstsein einer jungen Mutter nagt.“ Sie sah ihn erschrocken an. „Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle …“

„Weil ich gefragt habe.“

„Dann fragen Sie besser nicht mehr.“ Sie schaute verlegen zur Seite. „Es war sowieso alles mein Fehler.“

„Wieso denn das?“

„Ich war einfach nicht sein Typ. Das hätte ich gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft merken müssen. Aber ich war wohl blind. Und Jack war sehr attraktiv und clever.“

„Aber er wollte mit seinem Sohn nichts zu tun haben …“

„Nein.“

„Unterstützt er Sie wenigstens finanziell?“

Liv antwortete nicht und starrte aus dem Fenster. „Sollten wir nicht losfahren, bevor die Straßen noch mehr vereisen?“

Stefano verstand sehr gut, dass sie das Thema wechselte. Es war offensichtlich, dass sie keine finanzielle Hilfe von ihrem Exmann erhielt. Und mit dem Gehalt einer Krankenschwester kam man in einer teuren Stadt nicht sehr weit.

Aber das erklärte nicht, warum sich Anna um das Liebesleben ihrer Freundin Sorgen machte. Warum hatte sie keine neue Beziehung? Tief in Gedanken startete er den Motor und fuhr langsam los. „Wer kümmert sich um Max, wenn Sie Dienst im Krankenhaus haben?“

„Manchmal habe ich jemanden, der auf Max aufpasst. Heute bleibt er beispielsweise über Nacht bei Anna. Ihr Sohn Sam und Max sind Freunde.“

„Dann wartet er jetzt nicht zu Hause auf Sie?“

„Nein. Wieso?“

Stefano lenkte den Wagen vom Parkplatz auf die Hauptstraße. „Weil das bedeutet, dass Sie Zeit hätten, mit mir irgendwo zum Essen zu gehen. Sie sind bestimmt genauso hungrig wie ich. Und ich kenne nicht weit von hier ein fantastisches italienisches Restaurant.“

„Nein, das möchte ich nicht.“ Liv sah ihn fast erschrocken an. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber das kann ich nicht annehmen.“

„Wieso nicht?“

„Weil …“ Sie wandte den Kopf ab. „Ich mache mir jeden Abend nur einen Toast vor dem Schlafengehen.“

„Toast?“ Stefano hatte noch nie am Abend nur Toast gegessen. „Ich schlage Ihnen ein Abendessen in einem italienischen Restaurant vor – und Sie wollen lieber einen Toast essen?“

„Ja.“

„Wieso?“

„Dafür gibt es Gründe.“ Nervös hantierte sie mit ihrer Handtasche. Es war offensichtlich, dass ihr die Diskussion unangenehm war. „Zum Beispiel bin ich für ein schickes Restaurant überhaupt nicht passend angezogen. Außerdem kann ich es mir nur selten leisten, auswärts zu essen.“

Stefano war mehr als verblüfft über ihr Verhalten. Während der Arbeit war sie selbstbewusst und schnell entschlossen, aber wenn es um eine einfache Einladung zum Abendessen ging, reagierte sie wie ein verstörter, schüchterner Teenager. Sie brachte es nicht einmal fertig, ihm in die Augen zu sehen.

„Das Restaurant ist ganz schlicht und einfach. Und ich möchte Sie einladen, als Dank dafür, dass Sie mir meine Arbeit auf der Notfallstation so erleichtert haben.“

„Mr. Lucarelli, das kann ich nicht …“

„Liv, ich lade Sie zu einem Teller Spaghetti ein, sonst nichts.“ Noch nie zuvor hatte er es nötig gehabt, eine Frau mit so vielen Argumenten davon zu überzeugen, mit ihm essen zu gehen.

Sie schien zu spüren, was er dachte, denn sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. „Sie kennen bestimmt jemanden, der gern mit Ihnen ausgehen würde.“

„Sie lassen mich an meinem Ego zweifeln. Ist die Vorstellung, mir bei einem Teller Spaghetti gegenüberzusitzen, so erschreckend?“

„Nein, es ist nicht Ihretwegen, sondern wegen mir. Ich bin einfach nicht …“ Sie unterbrach sich und suchte nach Worten. „Ich bin einfach keine amüsante Gesellschafterin, das ist alles.“

Lange musterte er sie, ohne etwas zu sagen. Er sah den Selbstzweifel in ihren Augen und die Röte ihrer Wangen. „Liv, was ist los mit Ihnen? Wollen Sie mir wirklich weismachen, dass Sie die schwierigsten Situationen in Ihrem Beruf ohne Probleme meistern, aber Angst davor haben, mit mir einen Teller Spaghetti zu essen und ein wenig Small Talk zu machen?“

Sie lachte kurz auf. „Mit dem, was auf der Notfallstation geschieht, kenne ich mich gut aus. Für Small Talk beim Essen fehlt mir die Übung.“

„Gut, dann reden wir über Beinbrüche und Schürfwunden. Oder wir reden gar nicht. Ich bin mit allem einverstanden – Hauptsache, Sie essen etwas mit mir.“

Er hielt vor dem Restaurant an, kam um den Wagen herum, öffnete die Tür, löste ihren Sicherheitsgurt und zog sie in Richtung der Eingangstür. Sie wollte noch protestieren, aber dann waren sie schon in dem Lokal.

Wohlige Wärme und ein köstlicher Duft empfingen Liv. Einen Moment lang ließ sie unruhig ihren Blick durch den Raum schweifen, als ob sie eine Gefahr witterte.

Von der Sicherheit und dem Selbstbewusstsein, das sie im Beruf auszeichnete, war nichts mehr zu spüren. Sie sah so verängstigt aus, dass Stefano befürchtete, sie würde sich umdrehen und hinauslaufen. Er stellte sich hinter sie und ließ ihr einen Augenblick Zeit, den Raum mit den rot gedeckten Tischen, dem großen Weihnachtsbaum und dem gemütlichen Kamin auf sich wirken zu lassen.

Schließlich drehte sie sich lächelnd um. „Es ist sehr hübsch hier.“

Si, ich weiß. Warten Sie, bis Sie die Pasta probiert haben. Sie ist einmalig.“ Stefano wollte ihr aus dem Mantel helfen, aber sie wehrte ab und schlang den Mantel fester um sich.

„Ich behalte ihn an. Ich bin nicht für ein Abendessen angezogen.“

Sanft, aber bestimmt schob Stefano ihre Hände beiseite und nahm ihr den Mantel ab. „Sie können nicht in Ihrem Mantel am Tisch sitzen. Die anderen Gäste sind auch ganz zwanglos gekleidet.“

Dabei sieht sie fabelhaft aus, dachte Stefano. Ohne den Mantel konnte er ihre endlos langen Beine bewundern. Und der Pullover betonte ihre weiblichen Formen, die sofort die Aufmerksamkeit einiger männlicher Gäste erregten.

Ihr war ganz offensichtlich gar nicht bewusst, wie attraktiv sie war. Was für ein erfrischender Unterschied zu den Frauen, mit denen ich sonst zu tun habe, dachte Stefano.

Er wechselte ein paar Worte auf Italienisch mit dem Wirt, der sie zu einem ruhigen Tisch in einer Ecke führte. Liv warf einen Blick aus dem Fenster und nickte anerkennend. „Ich wusste gar nicht, dass wir so nah beim Fluss sind. Es ist sehr schön hier.“

„Das Restaurant ist ein verborgenes Juwel. Ich habe es zufällig auf einer Reise nach London vor ein paar Jahren entdeckt. Ein so uriges, gemütliches Lokal erwartet man kaum mitten in der Stadt hier an der Themse. Was möchten Sie trinken? Ein Glas Champagner?“

„Champagner?“ Liv sah ihn erstaunt an. „Nein, ich hätte gern Wasser, Mineralwasser.“

„Wasser?“

„Ich habe Sie gewarnt, dass Sie mich langweilig finden werden.“ Sie griff nach ihrer Serviette und legte sie auf ihren Schoß. „Champagner ist nur etwas für Frauen, die nicht morgens um fünf Uhr aufstehen müssen.“

„Sie stehen um fünf Uhr auf?“

„Ich muss morgens die Hausarbeit machen und Max zur Schule bringen.“

Der Kellner kam und stellte zwei große Teller Spaghetti Bolognese auf den Tisch.

„Oh“, sagte Liv überrascht. „Ich wusste nicht, dass Sie schon bestellt hatten.“

„Die Spaghetti sind die Spezialität des Hauses, genau das Richtige nach einem langen Arbeitstag.“ Stefano nahm seine Gabel, zögerte dann aber. „Wenn die Pasta Ihnen zu schwer ist, essen Sie doch nur ganz wenig, aber dafür mit viel Soße.“

Liv lachte auf und wickelte entschlossen eine große Portion Nudeln um ihre Gabel. „Ich bin eine arbeitende Mutter, Stefano. Wenn ich nicht genügend Kohlehydrate esse, schaffe ich das alles nicht. Außerdem habe ich mächtigen Hunger, und die Pasta riecht verführerisch.“

Stefano sah ihr zu, wie sie mit Genuss die erste volle Gabel in den Mund schob. Ein plötzlicher Wärmestoß fuhr durch seine Lenden. „Sie müssen italienische Gene in sich haben.“

„Nein, aber ich habe einen Sohn, der Spaghetti über alles liebt. Sie sind sein Leibgericht Nummer zwei.“

„Und was ist die Nummer eins?“

„Pizza. Die würde er jeden Tag essen, wenn er sie bekäme. Ich backe sie selbst. Nichts ist nach einem langen Arbeitstag entspannender, als den Teig zu kneten.“

Stefano freute sich, dass sie sich endlich zwanglos benahm und offensichtlich das Essen genoss. Sie plauderten über die Arbeit und das Leben in London.

Liv erwähnte häufig Max, der tatsächlich der Mittelpunkt ihres Lebens war.

„Was Sie jeden Tag leisten, ist erstaunlich“, sagte er bewundernd. „Sie arbeiten einen vollen Arbeitstag und haben davor und danach noch Ihre Pflichten als Mutter zu erfüllen. Viel Zeit für sich selbst haben Sie bestimmt nicht.“

„Die brauche ich auch nicht.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich mag mein Leben und bin gern mit meinem Sohn zusammen. Wir haben eine Menge Spaß miteinander. Wenn er dann endlich schläft, kann ich mich mit mir selbst beschäftigen.“

Dann liest sie Bücher über Fußball und Autos, dachte Stefano. Warum aber hatte Anna ihr eine heiße Liebesnacht zu Weihnachten gewünscht? „Gehen Sie auch mal aus?“

„O ja. Wir gehen öfter am Wochenende in ein Museum. Und ab und zu auch mal ins Kino. Das mögen wir beide.“

Das war nicht, was Stefano hatte wissen wollen, aber er fragte nicht nach.

Ihr Leben drehte sich offensichtlich um die Arbeit und um Max. Stefano hatte seine Spaghetti gegessen und lehnte sich entspannt zurück, während sie weiter aus ihrem Leben mit Max erzählte. Er war erstaunt, wie zufrieden und glücklich sie zu sein schien. „Freut Max sich schon auf Weihnachten?“, fragte er.

„O ja. Er weiß, dass ich einen Truthahn brate. Es gibt Geschenke, und wir machen einen Ausflug. Letztes Jahr sind wir an die Küste gefahren und haben einen langen Strandspaziergang gemacht.“

„Haben Sie keine Familie, mit der Sie Weihnachten feiern?“

„Nein. Ich habe nur noch eine Tante, die in Schottland lebt, aber ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Und was ist mit Ihnen? Werden Sie Weihnachten bei Ihrer Familie verbringen?“

„Ja. Meine jüngere Schwester hat darauf bestanden, dass ich komme. Außer meinen Eltern werde ich noch mindestens acht Vettern und Cousinen treffen.“

„Sie können sich glücklich schätzen. Nichts ist schöner als ein lautes, chaotisches Weihnachtsfest.“

„Finden Sie das wirklich?“

Liv trank einen Schluck Wasser. „Es ist doch schön, wenn Menschen da sind, die sich um den anderen kümmern, auch wenn sie sich manchmal auf die Nerven gehen. Ohne das kann die Welt ziemlich einsam sein.“

War das ihr Geheimnis? War sie einsam?

Stefano fürchtete, sie könnte sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen, wenn er nachfragte. Deshalb wechselte er das Thema. „Meine Schwester hat Zwillinge, ungefähr in dem Alter von Max.“

„Tatsächlich?“, staunte Liv. „Dann ist sie aber sehr beschäftigt. Ich könnte mir kaum vorstellen, mit zwei Kindern fertig zu werden.“

„Sie hat eine Kinderfrau. Meine Schwester arbeitet in unserem Familienunternehmen.“

Liv musterte Stefano forschend, und ihre grünen Augen schimmerten im Licht der Kerze. „Höre ich da heraus, dass Sie das nicht gut finden?“

„Die Kinder brauchen ihre Mutter. Und sie hat es nicht nötig, zu arbeiten.“

„Aber vielleicht hat sie andere Gründe.“

„Darf ich Sie etwas fragen? Wenn Sie so viel Geld hätten, wie Sie brauchen, würden Sie dann noch arbeiten?“

„Ich weiß es nicht. Darüber habe ich nie nachgedacht, weil es nie dazu kommen wird. Glück hat auch damit zu tun, realistisch zu denken, Stefano.“

Er sah, dass sie mühsam ein Gähnen unterdrückte, und winkte dem Kellner. „Es wird Zeit, dass ich Sie nach Hause bringe.“

„Entschuldigung, ich bin schon sehr früh aufgestanden.“ Sie sah kurz zu einem der Nebentische, an dem eine Gruppe junger Frauen lachte und sich anscheinend prächtig amüsierte. Eine von ihnen prostete Stefano zu.

Stefano reagierte nicht auf die unverhohlene Aufforderung, aber Liv wurde plötzlich still und wirkte wieder verschlossen.

Ihn erstaunte ihre Reaktion auf die fröhliche, lärmende Frauenrunde am Nebentisch. Aber wie war es möglich, dass so etwas Liv beeinflussen konnte?

Der Kellner kam an den Tisch und reichte Stefano die Rechnung. Als er seine Kreditkarte herausholte, meldete sich Liv. „Ich möchte die Hälfte bezahlen“, sagte sie hastig. „Ich gebe Ihnen das Geld morgen. Jetzt habe ich nicht so viel bei mir.“

Erstaunt sah Stefano sie an. „Wenn ich eine Frau zum Essen einlade, bin ich gewohnt, zu bezahlen.“

„Das ist schon möglich, aber schließlich hatten wir keine Verabredung. Es war ein gemeinsames Abendessen von zwei Kollegen. Ich bestehe darauf, für mich zu bezahlen.“

Die Frage der Bezahlung war offensichtlich für sie von enormer Wichtigkeit. Er fragte sich, wenn sie so knapp bei Kasse war, wie sie jemals die Reparatur ihres Wagens würde bezahlen können.

„Kommt gar nicht infrage, dass Sie das Essen bezahlen. Ich hatte Hunger und habe Sie fast genötigt, mit mir zu kommen, weil ich ungern allein zu Abend esse. Sie haben mir also einen Gefallen getan.“

„Wohl kaum. Ich habe zu viel geredet und Sie bestimmt gelangweilt.“ Liv schien es plötzlich eilig zu haben, stand auf und sagte kein Wort mehr, bis sie bei seinem Wagen ankamen. „Danke für den Abend, Stefano.“

„Sagen Sie mir, in welche Richtung ich fahren soll.“ Um die Unterhaltung von der Geldfrage abzubringen, wechselte er das Thema. „Arbeiten Sie schon lange auf der Notfallstation?“

„Seit zwei Jahren. Vorher war ich in der Kinderabteilung. Und wenn dort sehr viel zu tun ist, helfe ich manchmal noch aus. Und wie ist es mit Ihnen? Wo haben Sie vorher gearbeitet?“

„In einem Krankenhaus in Schottland – und davor in Mailand.“

„Mailand.“ Sie wiederholte das Wort mit andächtiger Stimme. „Das klingt irgendwie verlockend.“

„So etwas können Sie nur denken, wenn Sie noch nie in Mailand waren.“

„Ich bin noch nie aus London herausgekommen. Biegen Sie bei der Ampel links ab. Dann kommen wir direkt zu meiner Wohnung. Erzählen Sie, wie ist Mailand wirklich?“

„Es ist eine großartige Stadt, aber auch laut, hektisch und in einigen Stadtteilen unansehnlich.“

„Warum sind Sie in den kühlen Norden gekommen?“

„Ich brauchte eine neue Herausforderung.“ Im Scheinwerferlicht seines Wagens sah er, dass die Wohngegend ziemlich grau und etwas heruntergekommen wirkte. Auf den Straßen lag Müll, und die Wände der Häuser waren von oben bis unten mit Graffiti beschmiert. An den Straßenecken lümmelten Gruppen von Jugendlichen herum.

„Wollten Sie Ihrer Familie entfliehen?“

„So etwas Ähnliches.“ Seiner Familie und einer Freundin, die nicht akzeptieren wollte, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte. Ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht überholte sie. Stefano war beunruhigt, dass Liv mit ihrem Sohn hier wohnte. Das war keine Gegend, in der eine Frau wie sie leben sollte.

„Wir sind da. Dort drüben wohne ich“, sagte Liv eine Minute später. „Danke für den Abend. Das Essen war köstlich, und Sie waren sehr freundlich und aufmerksam. Bis morgen.“

Er warf einen Blick in die Runde. „Warten Sie, ich bringe Sie zur Haustür.“

„Das ist nicht notwendig. Ich weiß, es sieht hier etwas düster aus, aber ich bin es gewohnt.“ Sie zog ihre Schlüssel aus der Tasche. „Ich komme schon zurecht.“

„Sie sind sehr unabhängig, ja?“

„Das muss ich sein.“ Liv sah ihm in die Augen, die sie nicht mehr losließen. Sie schauderte leicht und wandte sich ab. „Gute Nacht, Mr. Lucarelli. Und nochmals danke.“

Sie müsste doch genau wie ich merken, dass zwischen uns ein Funke übergesprungen ist, dachte Stefano.

„Wollen Sie mich nicht noch auf einen Kaffee einladen?“ Seine Stimme klang heiser. Offensichtlich hatte sein Vorschlag sie so überrascht, dass ihr der Schlüssel aus der Hand fiel. Gut zu wissen, dass sie doch nicht so unbeteiligt ist, wie sie tut, dachte Stefano.

„Sie haben mir doch gesagt, dass Max bei Anna übernachtet. Dann brauchen Sie ihm heute keine Gutenachtgeschichte vorzulesen.“

„Sie sehen nicht wie ein Mann aus, der für eine Tasse Instantkaffee aus seinem Ferrari aussteigen würde“, sagte sie lächelnd.

„Ich liebe Instantkaffee. Und ich verspreche Ihnen auch, dass ich Ihnen gute Ratschläge als Fußballtrainer geben werde.“

„Das ist unfair“, meinte Liv. „Mr. Lucarelli … Stefano … Sie wissen ganz genau, dass ein solches Angebot wegen Max sehr verlockend für mich ist. Aber ich habe Sie an diesem Abend schon lange genug in Beschlag genommen. Ich bin sicher, Sie haben Besseres zu tun, als bei mir Kaffee zu trinken.“

Bevor er antworten konnte, war sie aus dem Wagen geschlüpft und hastete zur Eingangstür ihres Wohnblocks.

Liv stand in ihrer Küche und widerstand dem Wunsch, zum Fenster zu laufen und nachzuschauen, ob Stefanos Wagen noch da war.

Wieso hatte er sich selbst auf einen Kaffee eingeladen? Hatte er während des Essens in dem Restaurant nicht genügend Gelegenheit gehabt, festzustellen, was für eine schlechte Gesellschafterin sie war? Den ganzen Abend hatte sie nur über ihren Job und ihren Sohn geredet.

Dabei hatte sie das Zusammensein mit ihm wirklich genossen. Er war charmant, humorvoll und selbstbewusst. Und sie hatte es insgeheim begrüßt, dass er für sie Spaghetti bestellt hatte. Als Single und alleinerziehende Mutter musste sie sonst jede Entscheidung selbst treffen. Mal für kurze Zeit ausspannen zu können und ihm die Entscheidung zu überlassen hatte ihr gutgetan.

Aber er hatte sicher nur höflich und freundlich sein wollen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann mit seinem Ruf Interesse an ihr als Frau haben könnte.

Das durfte sie nicht vergessen – und vor allem sich keine Illusionen machen.

5. KAPITEL

„Liv, du wirst auf der Notfallstation verlangt. Da wurde gerade eine Frau eingeliefert, die vor einer Woche mit einem Kaiserschnitt entbunden hat. Sie klagt über Schmerzen in der Brust.“ Anna warf Liv einen fragenden Blick zu. „Ist das nicht dein Wagen, der da unten völlig vereist auf dem Parkplatz steht?“

„Er ist gestern Abend nicht angesprungen. Sagtest du, die Patientin hat erst kürzlich entbunden?“

„Richtig. Ihr zweites Baby, Kaiserschnitt ohne Probleme. Wie bist du denn ohne Auto nach Hause gekommen?“

„Jemand hat mich mitgenommen.“ Um weiteren Fragen zu entgehen, machte sich Liv eilig auf den Weg zur Notfallstation.

Als sie dort ankam, sah sie Stefano, der sich über die Patientin beugte. „Wir geben Ihnen jetzt etwas Sauerstoff, Michelle, dann können Sie leichter atmen.“ Er schaute auf, als Liv neben ihn trat. Einen Moment ruhten seine dunklen Augen auf ihr, und sofort kamen ihr die Träume der vergangenen Nacht wieder in den Sinn, in denen er eine Hauptrolle gespielt hatte.

Bei dem Gedanken daran, was sie im Traum mit ihm erlebt hatte, röteten sich ihre Wangen. Sie wusste, dass er das bemerkt hatte, bevor er sich wieder an die Patientin wandte. „Wir werden gleich eine Röntgenaufnahme von Ihrer Lunge machen, Michelle.“

„Ich kann kaum atmen … ich mache mir solche Sorgen.“ Die Lippen der Frau waren blau.

Liv nahm ihre Hand und streichelte sie beruhigend.

Es war doch nur ein Traum, ermahnte sie sich. Davon kann er doch nichts ahnen. Wenn er Gedanken lesen könnte, würde er sich gewaltig wundern, was für ausgefallene Fantasien sie in ihrem Traum ausgelebt hatte. Ärgerlich auf sich selbst versuchte Liv, diese Gedanken zu verdrängen. „Der Puls ist bei 115. Haben Sie noch Schmerzen, Michelle?“

„Ja, bei jedem Atemzug.“

Liv war sich sicher, dass die Frau unter einer Lungenembolie litt, dass sich in ihrer Lunge ein Blutpfropf gebildet hatte. Sie sah zu Stefano.

Er nickte ihr kurz zu, als ob er wüsste, was sie dachte, und dem zustimmte.

„Das Röntgenbild zeigt keine Auffälligkeiten“, sagte Phil leise zu Stefano.

Dieser warf einen Blick auf den Bildschirm.

Liv kontrollierte den Blutdruck. „Druck lässt weiter nach.“

„Alle Anzeichen sprechen für eine Embolie.“ Stefano blätterte in den Untersuchungsberichten der Entbindungsstation, die eine Schwester ihm gereicht hatte. „Kaiserschnitt vor sieben Tagen, Risikofaktor für Embolie wurde als hoch eingeschätzt. Wir geben ihr sofort eine hohe Dosis eines Gerinnungshemmers.“

Es dauerte dann fast noch eine Stunde, bevor Michelle auf die Intensivstation gebracht werden konnte.

Dann gingen Stefano und Liv zum Wartezimmer, zu dem Ehemann der Patientin und den beiden Kindern.

Sie fanden einen aufgeregten Vater vor, der einen schreienden Säugling auf dem Arm wiegte, während sich der zweijährige Sohn an sein Bein klammerte.

Stefano versuchte, den Vater zu beruhigen. „Warten wir ab, wie es morgen früh aussieht. Vielleicht hat sich der Zustand Ihrer Frau dann ja schon so weit gebessert, dass sie in ein Gastzimmer verlegt werden kann. Dann könnte das Baby bei ihr bleiben. Ich versichere Ihnen, dass wir alles tun werden, um ihr zu helfen.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

Die Tür ging auf, und Anna steckte den Kopf herein. „Liv? Kann Rachel deinen Job hier übernehmen? Wir brauchen dich auf der Station.“

„Ich komme sofort!“, rief Liv. „Wenn ich etwas Neues von Ihrer Frau erfahre, sage ich Ihnen sofort Bescheid.“

Sie wollte Anna folgen und aus dem Zimmer eilen. Als sie an Stefano vorbeikam, griff er nach ihrem Arm und hielt sie zurück. „Warten Sie, Liv.“

Seine Berührung ließ ihre Knie weich werden. Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen.

„Noch einmal danke für den gestrigen Abend“, sagte sie leise. „Es waren die besten Spaghetti, die ich jemals gegessen habe. Oh …“, sie fasste in die Tasche, „hier ist das Geld, das ich Ihnen schulde.“

„Ich will kein Geld von Ihnen, Liv.“

„Bitte, nehmen Sie es. Ehrlich, es gibt keinen Grund, warum ich nicht mein Essen bezahlen sollte.“ Sie hatte die ganze Zeit vermieden, ihn anzusehen, aber als sie jetzt den Kopf hob, waren seine Augen so fest auf sie gerichtet, dass sie errötete. Und als sein Blick zu ihrem Mund wanderte und dort verweilte, schoss eine warme Welle durch ihren Körper. Einen kurzen Moment lang fragte sie sich, wie es wohl sein würde, wenn er sie küsste.

Unsinn. Wieso sollte er ausgerechnet sie küssen?

Langweilig.

„Was ist langweilig?“, fragte Stefano erstaunt.

Entsetzt starrte Liv ihn an. Hatte sie es wirklich laut ausgesprochen? „Ach, nichts. Bitte nehmen Sie das Geld.“ Sie drückte es ihm in die Hand und trat einen Schritt zurück. „Anna wartet auf mich.“

„Bitte, Liv, einen Moment noch.“ Seine Augen glitzerten amüsiert. „Warum so eilig? Gestern Abend beim Essen haben Sie es geschafft, sich zu entspannen und ganz Sie selbst zu sein. Das war das erste Mal, dass ich einen Eindruck davon bekam, wie Sie wirklich sind.“

Fast hätte Liv aufgestöhnt. „Ja, das ist ja das Dilemma. Leider habe ich mich hinreißen lassen, viel zu viel über mich und mein Leben zu reden. Kein Wunder, dass Sie weder ein Dessert noch einen Kaffee wollten, sondern gleich die Rechnung verlangt haben.“

Er sah sie überrascht und nachdenklich an. „Hat das so auf Sie gewirkt? Dazu müssten Sie wissen, dass die meisten Frauen, mit denen ich zum Essen gehe, so sehr auf ihre schlanke Linie achten müssen, dass sie kaum eine Portion zu Ende essen.“ Er sah sie entschuldigend an.

Wenn es noch einer Bestätigung bedurft hätte, dass sie nicht dem Typ Frau entsprach, mit dem er sich sonst abgab, dann hatte Liv sie jetzt bekommen. „Wenn die Panne mit meinem Wagen nicht passiert wäre, hätten Sie mich nie zum Essen eingeladen, oder?“ Sie zögerte einen Moment. „Warum lächeln Sie?“

„Weil Sie mich immer wieder verblüffen. Hier im Dienst sind Sie selbstbewusst, kontrolliert und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Kaum sind Sie nicht mehr auf der Station, werden Sie zu einem Nervenbündel. Ich frage mich, was der Grund ist.“

Die Art, wie er sie anschaute, ließ sie erschauern und schickte gleichzeitig eine neue Hitzewelle durch ihren Körper.

„Ich muss jetzt wirklich gehen“, stammelte sie. „Ich habe … nun, ich muss zu Anna.“

„Vorher geben Sie mir noch Ihre Autoschlüssel.“

„Wie bitte?“

„Jemand von meiner Werkstatt kommt gleich und holt Ihren Wagen ab.“

Liv schaute ihn ungläubig an. „Aber das ist doch eine Ferrari-Werkstatt …“

„Es sind erfahrene Mechaniker. Die reparieren jedes Ding, das vier Räder und einen Motor hat.“

„Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob das auf meinen Wagen überhaupt noch zutrifft. Außerdem werden sie mir ein Vermögen in Rechnung stellen. Ich weiß aus Erfahrung, dass Werkstätten dazu neigen, einen auszurauben.“

„Niemand raubt mich aus“, versicherte Stefano bestimmt.

Liv musste lächeln. „Ich bin sicher, das würden sie nicht wagen.“ Trotzdem würde die Reparatur ihr schmales Budget erheblich belasten. „Ich glaube, ich kann mir die Werkstatt momentan nicht leisten, selbst wenn ich mein Weihnachtsgeld dafür ausgebe.“

„Wie viel ist das?“

„Hundert Pfund. Das reicht wahrscheinlich nicht mal aus, um den Wagen abzuschleppen.“

„Vielleicht ist der Schaden ja gar nicht so groß. Warten Sie es doch erst einmal ab.“ Er sah sie beschwörend an.

„Also gut, aber wenn es mehr als hundert Pfund kostet …“

„… dann sollen sie die Reparatur nicht ausführen.“ Er streckte die Hand aus. „Die Schlüssel, Liv.“

Sie gab sie ihm nicht gern. „Warum tun Sie das für mich?“

„Ich weiß, dass Sie nicht wissen, warum.“ Er nahm den Schlüssel und ließ sie stehen. Verblüfft sah sie ihm nach.

„Es ist mir egal, wie viel die Reparatur kostet“, sagte Stefano am Telefon zu dem Leiter der Werkstatt. „Ich will, dass der Wagen in Ordnung gebracht wird. Und zwar schnell. Und ich möchte eine Rechnung, die genau auf 102 Pfund lautet.“ Er lauschte einen Moment den Erklärungen des Mechanikers über den miserablen Zustand von Livs Wagen. „Ja, das weiß ich alles, ich bin ja nicht blind. Tun Sie, was notwendig ist. Bauen Sie einen neuen Motor ein, wenn es sein muss.“

Während des Telefongesprächs rief er auf dem PC seine E-Mail-Nachrichten ab. Der Direktor der Klinik bat ihn am Nachmittag zu einer Besprechung. „Übrigens“, sagte er zu dem Mann von der Werkstatt, „besorgen Sie einen Leihwagen, irgendein nicht so luxuriöses Modell, und lassen Sie ihn heute Nachmittag herbringen.“ Er legte den Hörer auf.

So, das Problem war gelöst. Als er gerade beginnen wollte, den Stapel an Briefen und Unterlagen abzuarbeiten, der sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte, wurde er zu einem Patienten gerufen. Es vergingen mehrere Stunden, bis er wieder an seinem Schreibtisch saß und sich endlich um den Papierkram kümmern konnte.

Er las sich gerade unwillig durch ein ausgesprochen trockenes Memo hindurch, als es an der Tür klopfte.

Liv trat ein, in der Hand einen Autoschlüssel, den sie hochhielt. „Die Werkstatt hat mir ein anderes Auto auf den Parkplatz gestellt. Haben Sie das veranlasst?“

Stefano lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah sie prüfend an. „Sie stellen immer einen Leihwagen zur Verfügung, solange der eigene in der Werkstatt ist. Habe ich das nicht erwähnt?“

„Vielleicht ist das so, wenn Sie einen Ferrari in die Werkstatt bringen, aber nicht bei einer Rostlaube wie meiner.“

„Es ist Weihnachten. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie ein Kind haben und dass Sie Krankenschwester sind. Die Leute wollen sich mit Krankenschwestern immer gutstellen. Akzeptieren Sie das doch einfach, Liv.“ Sie antwortete nicht, sondern stieß einen langen Seufzer aus, und plötzlich traten ihr Tränen in die Augen.

Alarmiert sprang Stefano auf. „Was ist mit Ihnen? Warum weinen Sie?“

„Es ist nichts, entschuldigen Sie.“ Sie wischte sich die Tränen ab. „Es ist nur … ich bin es nicht gewohnt, dass sich jemand um mich kümmert. Sonst muss ich alles allein machen. Ich weiß nicht, wie Sie sie überzeugt haben, mir einen Wagen zur Verfügung zu stellen, aber ich danke Ihnen. Das ist ein vorweggenommenes Weihnachtsgeschenk.“

Stefano wusste nicht, was er antworten sollte. Für gewöhnlich ließen ihn Frauentränen kalt. Und bedankt hatte sich noch nie eine der sonstigen Damen für eine Gefälligkeit. Einmal hatte er Francine eine mit Diamanten besetzte Halskette geschenkt. Sie hatte begeistert aufgeschrien und gleich angemerkt, dass die passenden Ohrringe ihr auch nicht schlecht stehen würden.

„Es ist schön, dass ich Ihnen eine Freude machen konnte“, sagte Stefano leise.

Liv sah ihn unsicher an und zog ein Taschentuch heraus. „Ich weiß nicht, warum ich mich in Ihrer Gegenwart immer so idiotisch benehme.“ Sie schnaubte hörbar ihre Nase aus. „Sie müssen mich für eine Psychopathin halten.“

Im Gegenteil, hätte er am liebsten gesagt. Ich halte Sie für erfrischend natürlich und atemberaubend sexy. „Ich glaube, Sie sind müde, und das ist bei der vielen Arbeit nicht überraschend.“

„Ich liebe meine Arbeit.“

Und in der spärlichen Freizeit las sie ihrem Sohn Bücher über Autos und Fußball vor …

Er hatte nie zuvor einen Menschen kennengelernt, der so selbstlos war. Stefano fühlte, dass sie um ihre Fassung rang, und wechselte das Thema. „Ich habe gerade mit der Intensivstation gesprochen. Michelles Zustand hat sich erheblich gebessert.“

Liv strahlte ihn an. „Das ist eine gute Nachricht.“

Wieder einmal wurde Stefano bewusst, wie selbstbewusst sie im Dienst war – und wie unsicher privat. „Gehen Sie heute Abend wieder mit mir essen?“ Normalerweise war er von Frauen keine Ablehnung gewohnt, aber wie er erwartet hatte, schüttelte Liv gleich den Kopf.

„Nein, das möchte ich nicht. Warum fragen Sie mich?“

Diese Frage hatte er sich auch schon gestellt. Er hatte sich noch nie mit einer Kollegin oder einer alleinerziehenden Mutter verabredet. Aber er hatte auch noch nie während der Arbeit an Sex gedacht. „Ich bin Ihnen noch ein Dessert und einen Espresso schuldig.“

Liv zog sich zur Tür zurück. „Sie schulden mir gar nichts.“

Er sah sie nachdenklich an. „Ist es wegen Max? Haben Sie niemanden, der auf ihn aufpasst?“

Liv nickte. „Aber das ist nicht der eigentliche Grund. Es geht um mich. Und um Sie. Gestern Abend habe ich Ihnen schon meine Lebensgeschichte erzählt und Sie sicher zu Tode gelangweilt. Worüber soll ich mich sonst unterhalten? In meinem Leben passiert nichts, über das es sich zu reden lohnte.“

Sie schätzt sich selbst völlig falsch ein, dachte er erstaunt. Er sah fasziniert auf ihre geschwungenen Lippen und ihr schüchternes Lächeln, als er aufstand und auf sie zuging.

Sie musterte ihn wachsam. „Mr. Lucarelli … Stefano …“

Ohne etwas zu sagen, nahm Stefano ihr Gesicht in beide Hände, blickte ihr tief in die graugrünen Augen und beugte sich dann vor, bis sein Mund ihre Lippen berührte.

Einen Moment lang schien sie zu erstarren, dann seufzte sie leise und öffnete ihre Lippen.

Er küsste sie lange, sanft, nahm sich Zeit, wollte sie nicht drängen. Erst als er merkte, dass sie sich an seinem Hemd festkrallte und sich gegen ihn lehnte, zog er sie fester an sich.

Wie konnte sie nur glauben, sie sei langweilig? Im Gegenteil. Sie war aufregend. Ihre weichen Lippen, die verführerische Hüfte und ihre vollen Brüste … Er musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht die Tür abzuschließen und diese sinnliche Frau auf die Couch zu ziehen.

Als er sich endlich von ihr löste, öffnete Liv die Augen, und Stefano sah ihr an, dass sie total überrascht war. Es schien sehr lange her zu sein, dass jemand sie geküsst hatte.

„Es gibt noch so viel, was ich über Sie wissen möchte, Liv“, sagte er und fuhr mit dem Daumen über ihre vollen Lippen. „Und ich werde mir viel Zeit nehmen, alles herauszufinden.“

6. KAPITEL

„Mum, warum guckst du aus dem Fenster und lächelst?“

Liv drehte sich zu Max um. „Oh …“ Sie räusperte sich, um ihre Kehle frei zu bekommen, und trank einen Schluck Kaffee. Es war Samstagvormittag, aber sie war schon sehr früh aufgestanden. „Ich habe nur nachgedacht.“

Über Stefanos Kuss.

Es kam ihr so vor, als ob sie zum ersten Mal richtig geküsst worden sei. Stefano war dabei genauso beeindruckend gewesen wie bei allem, was er tat.

Max schüttete Cornflakes aus der Packung auf seinen Teller. „Glaubst du, der Weihnachtsmann kann uns vergessen? Schließlich muss er am Heiligen Abend überall auf der ganzen Welt sein.“

„Meinst du?“, fragte sie geistesabwesend. Warum hatte er sie geküsst? Sie war immer noch völlig überrascht von dem Vorfall, aber sie konnte seinen Kuss nicht vergessen – und ihr Körper auch nicht.

„Mum? Hörst du überhaupt zu?“

„Ja, mein Schatz, ich höre …“

„Ich glaube, der Nikolaus ist zuerst in Australien.“ Max schlenkerte mit den Beinen und plapperte munter weiter. „Und dann arbeitet er sich in unsere Gegend vor.“

Liv brachte es fertig, für einen Moment Stefanos Kuss und seine Umarmung zu verdrängen. „Okay, reden wir mal darüber, was wir heute machen. Fußball im Park – und danach kaufen wir den Weihnachtsbaum. Wie klingt das für dich?“

„Toll.“ Max machte sich über seinen Teller Cornflakes her. „Gibt’s heute Abend Pizza?“

Liv musste lachen. Warum fühlte sie sich so beschwingt und glücklich? „Dann werde ich jetzt gleich den Teig vorbereiten. Willst du mir helfen? Aber zuerst wäschst du dir die Hände.“

„Hayleys Mutter erlaubt ihr nicht, beim Kneten von Pizzateig zu helfen. Sie sagt, dass dann die ganze Küche voller Mehl ist.“ Max lief zum Küchenschrank und holte die Waage und eine Tüte Mehl heraus. „Ich habe ihr gesagt, dir macht das nichts aus.“

„Anscheinend habe ich mich daran gewöhnt“, gab Liv trocken zurück. Aber es machte so viel Spaß, ihren eifrigen Sohn bei der Arbeit zu sehen.

Max schüttete Mehl auf die Waage, wobei eine ordentliche Ladung vorbeiging und auf seine Schuhe fiel. „Ups – na, macht nichts. Bringst du das Wasser, Mum?“

Gerade als Liv beginnen wollte, das Mehl, Wasser, Hefe und Salz zu einem Teig zu verkneten, läutete es an der Tür.

„Das ist bestimmt der Briefträger.“ Liv wischte sich schnell die Hände ab und ging zur Tür. Sie trug noch ihren Pyjama, ihr Haar fiel in losen Locken auf ihre Schultern, und ihre Füße waren nackt.

Sie öffnete die Tür nur einen Spalt und erwartete, das freundliche Gesicht des Postboten zu sehen.

Aber vor der Tür stand Stefano Lucarelli. Er trug einen schwarzen Mantel zu Jeans und einen Rollkragenpullover. In der Hand hielt er eine große, weiße Schachtel.

Buongiorno.“

War er es wirklich? Oder war er das Produkt ihrer Fantasie, ihres Wunschdenkens?

„Was wollen Sie denn hier?“ Liv stöhnte auf, weil sie merkte, wie abweisend ihre Frage geklungen hatte. Kein Wunder, dass sie Single war.

„Wollen Sie mich nicht hereinbitten?“

Sie dachte daran, dass sie noch im Schlafanzug war. „Warum sollte ich Sie hereinlassen?“

„Weil ich ungern mein Dessert allein im Hausflur esse.“

Das Paket, das er in der Hand hielt! „Sie haben ein Dessert mitgebracht?“

„Einen fantastischen Schokoladenkuchen mit geschlagener Sahne.“

Liv lachte. „Es ist zehn Uhr morgens, üblicherweise nicht die Tageszeit für ein Dessert.“

Stefano zuckte die Achseln. „Wenn man schon entschlossen ist zu sündigen, kann man auch morgens damit anfangen.“ Sein italienischer Akzent klang für Liv mehr nach Sünde als der Schokoladenkuchen. Wie er sie ansah, brachte ihre Haut am ganzen Körper zum Kribbeln.

„Ich kann Sie nicht hereinlassen.“ Ihre Stimme klang für sie selbst fremd. „Ich bin noch im Schlafanzug. Außerdem – wenn Sie den Ferrari hier vor der Tür geparkt haben, kann es sein, dass er verschwunden ist, wenn Sie herunterkommen.“

„Im Schlafanzug? Das hätten Sie nicht sagen sollen.“ Er musterte sie forschend. „Sie haben wunderschönes Haar. Sie sollten es öfter offen tragen.“

Sie errötete vor Aufregung, aber sie hielt sich hinter der nur einen Spalt geöffneten Tür versteckt. „Sie können jetzt nicht herein …“

Er lächelte. „Doch, das kann ich.“ Mit der Schulter schob er die Tür auf.

„Was tun Sie da?“

„Ich dringe in Ihr Schneckenhaus ein.“ Er schloss die Tür hinter sich und musterte sie mit Kennerblick. Sie errötete noch stärker. „Hübscher Pyjama.“ Sein Lächeln war ironisch. „Ich hatte schon immer eine Vorliebe für kleine, pinkfarbene Elefanten.“

Sie war sich bewusst, dass sein inquisitorischer Blick auf ihr ruhte. Auf der nackten Haut trug sie nur den dünnen Baumwollstoff. Warum war das Leben so unfair zu ihr? Als er mit ihr zum Essen gegangen war, hatte sie Jeans und ihren ältesten Pullover getragen. Und jetzt stand sie in dem dünnen Pyjama vor ihm, der kaum etwas verbarg und vor allem ihre Brüste zur Geltung brachte.

Warum trug sie kein seidenes, elegantes Nachthemd? Ganz einfach, dachte sie, seidene, elegante Nachthemden sind dafür da, einen Mann zu verführen – und nicht, um mit dem Sohn Pizza zu backen.

Sie wollte gerade eine Entschuldigung murmeln und ins Schlafzimmer verschwinden, um ihren Morgenmantel anzuziehen, als Max aus der Küche in die winzige Diele kam.

„Hatte der Briefträger Post für uns, Mum?“

„Nein.“ Liv überlegte krampfhaft, wie sie ihm die Gegenwart eines unbekannten Mannes erklären sollte, denn sie hatte noch nie jemanden mit nach Hause gebracht.

Aber sie musste sich keine Erklärung ausdenken, denn Stefano übernahm das. „Ich arbeite im Krankenhaus mit deiner Mutter zusammen.“ Er ging in die Hocke, um mit dem Jungen auf gleicher Höhe zu sein. „Ist das Pizzateig, den ich da an deinen Händen sehe?“

Max grinste. „Ja, der Teig klebt jedes Mal überall an mir.“

Stefano nickte verständnisvoll. „Vielleicht solltest du etwas weniger Wasser für den Teig verwenden.“

Max dachte kurz über den Tipp nach. Dann drehte er sich zu seiner Mutter um. „Du nimmst zu viel Wasser, Mum.“

Liv lächelte etwas gequält. „Ich werde beim nächsten Mal darauf achten.“ Nervös beobachtete sie, wie Max sich wieder an Stefano wandte.

„Bleibst du zum Frühstück?“ Er peilte auf die Schachtel, die Stefano immer noch in der Hand hielt. „Was ist das? Ein Geschenk?“

„Max!“

Aber Stefano lachte und richtete sich auf. „Es ist ein Geschenk, etwas zum Essen.“ Er gab Liv die Schachtel. „Ich habe gehört, dass deine Mutter gern Desserts isst.“

Max sprang aufgeregt auf und ab. „Sie mag Desserts unheimlich gern, aber wir essen nicht oft Süßes. Sie sagt, davon wird sie zu dick. Darf ich mal in die Schachtel gucken? Ist das Schokolade?“

Liv hielt die Schachtel wie einen Schild vor sich. „Ich muss mich jetzt erst schnell umziehen.“

Aber Max war zu aufgeregt. Er packte sie am Arm und zog sie in die Küche. „Du bist doch prima angezogen, Mum“, sagte der Junge ganz ernsthaft. „Warum willst du dich umziehen? Das ist mein Lieblingspyjama. Die Elefanten sind so lustig.“

Liv schloss die Augen, als sie Stefano losprusten hörte.

Na, toll!

Der attraktivste Mann, den sie kannte, stand in ihrer Diele – und sie trug einen Pyjama mit einem kindischen Muster.

Wieso war er überhaupt hier? Hatte er an einem sonnigen Samstag im Dezember nichts Besseres zu tun, als sie in ihrer bescheidenen Wohnung zu besuchen?

Max war begeistert. „Das ist toll. Bei Mum darf ich keinen Nachtisch probieren, bevor ich mein Gemüse aufgegessen habe. Und zum Frühstück gab es überhaupt noch nie etwas Süßes.“

Die beiden gingen in die kleine Küche hinüber, Liv folgte ihnen.

Stefano schien sich wie zu Hause zu fühlen, er zog sich einen Stuhl heran und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein.

„Wir müssen zuerst das Band durchschneiden“, erklärte er Max. Er nahm ein Messer und zerschnitt es. Dann klappte er die Schachtel auf und brachte einen wunderbaren Schokoladenkuchen zum Vorschein, der mit einem Schneemann verziert und mit Puderzucker wie mit Raureif bestäubt war.

Max ließ sich sprachlos auf seinen Stuhl fallen. „Hast du so etwas schon mal gesehen, Mum?“

„Er sieht wundervoll aus.“ Sie versuchte erst gar nicht, sich vorzustellen, wie viele Kalorien jedes Stück enthielt.

„Ich hoffe, er schmeckt auch so.“ Stefano nahm das Messer und teilte den Kuchen in gleichmäßige Stücke.

Liv stellte mittlerweile den Wasserkessel auf den Herd, um Kaffee zu kochen.

Dabei überschlugen sich ihre Gedanken. Es konnte einfach nicht sein, dass er sein freies Wochenende opferte, um sie zu sehen. Nein, das war völlig unmöglich.

Die Fragen purzelten in ihrem Kopf wild durcheinander, aber sie schwieg, weil Max dabei war. Sie brühte den Kaffee auf und stellte eine Tasse vor Stefano auf den Tisch. „Leider kein italienischer Espresso, sondern Kaffee aus Kuba.“

Er lehnte sich zurück und sah sie neugierig an. „Ich dachte, bei Ihnen gibt es nur Instantkaffee?“

„Am Samstagmorgen habe ich mehr Zeit als in der Woche, da gibt es richtig gebrühten Kaffee.“ Liv fuhr sich durch ihr langes Haar und merkte sofort, dass er aufmerksam wurde und sich unruhig auf seinem Stuhl bewegte.

„Wir gehen nachher zum Fußballspielen in den Park“, verkündete Max. Als die Erwachsenen gerade abgelenkt waren, nutzte er die Gelegenheit, um ein zweites Stück Kuchen auf seinen Teller zu befördern. „Kommst du mit uns?“, wollte er dann von Stefano wissen.

„Max!“ Entrüstet rief Liv ihn zur Ordnung. „Mr. Lucarelli kann nicht mit uns kommen … ich meine, er ist zu beschäftigt und muss gleich gehen …“

„Nein, ich habe genug Zeit. Ich liebe Fußball.“ Er streckte behaglich seine langen Beine unter den Tisch und sah den Jungen verschwörerisch an. „Du musst nur etwas Rücksicht auf mich nehmen … ich bin ziemlich aus der Übung.“

„Magst du wirklich Fußball?“

„Ich bin Italiener“, erklärte Stefano. „Alle Italiener lieben Fußball, Pizza und schnelle Autos.“

Max vergaß bei dieser Bemerkung sogar den Schokoladenkuchen. „Hast du ein schnelles Auto?“

„Ein sehr schnelles sogar.“ Stefano lächelte und warf einen Blick auf Liv, die sich mit ihrem Kaffee ihm gegenüber hingesetzt hatte und offensichtlich fasziniert seiner Unterhaltung mit Max lauschte.

„Cool, ich würde selbst so gern fahren können, aber dazu bin ich noch zu klein. Beim Fußball möchte ich bald in die 1. Schülermannschaft. Mum ist meine Trainerin.“

„Übertreib mal nicht“, sagte Liv, „ich bin keine richtige Trainerin.“ Sie zog den Schokoladenkuchen zur Seite, bevor Max sich noch einmal bedienen konnte. „Es war köstlich, Stefano. Danke.“

„Riesig!“, rief Max begeistert. „Können wir den Rest später essen, wenn wir vom Fußballspielen zurückkommen? Aber erst wollen wir noch den Weihnachtsbaum kaufen.“

Liv sah ihren Sohn liebevoll an. Er erinnerte sich nicht mehr an Jack, aber er hatte seinen Vater auch nie vermisst. Dafür hatte Liv gesorgt. Max ahnte nicht, wie weh Menschen einander tun konnten.

Plötzlich fiel die Beklemmung von ihr ab, die sie seit Stefanos Ankunft verspürt hatte. „Max, geh dich jetzt anziehen – und räum dein Zimmer auf.“

„Aber …“

„Kein Aber – entweder du räumst auf, oder das Fußballspielen fällt aus.“

Max seufzte tief. Dann stand er auf und rannte raus.

Liv schloss die Tür hinter ihm.

Stefano sah sie nachdenklich an. „Dann bin ich jetzt wohl dran … Sind Sie verärgert?“

„Ich möchte nur wissen, warum Sie unerwartet am Samstagmorgen hier auftauchen.“ Sie wünschte, sie hätte sich umgezogen und müsste diese Unterhaltung mit ihm nicht im Pyjama führen. „Und sagen Sie bitte nicht, Sie wollten nur das Dessert vorbeibringen.“

„Sie hatten meine Einladung zum Essen abgelehnt.“

„Überraschen Sie immer Frauen mit einem Schokoladenkuchen zum Frühstück, die eine Einladung ablehnen?“ Bevor er antworten konnte, winkte Liv ab. „Oh, ich vergaß … sicher hat Ihnen noch nie eine Frau einen Korb gegeben. Ist es also für Sie eine Frage Ihres Egos, ob Sie Ihren Willen durchsetzen, Stefano?“

Er starrte sie einen Moment lang an. „Ich habe keine Probleme mit meinem Ego.“ Langsam stellte er seine Tasse vor sich auf den Tisch. „Ich fühle mich in Ihrer Gegenwart wohl – das ist alles.“

Sie dachte eine Sekunde über seine Bemerkung nach und strich dann unbewusst ihr Haar zurück. „Stefano, Sie wissen besser als ich, dass es Hunderte von Frauen gibt, die Gott weiß was tun würden, um mit Ihnen zu frühstücken. Frauen, die eleganter, schlanker und unterhaltsamer sind als ich. Was also machen Sie in meiner Küche?“

„Ich hatte das Gerücht gehört, dass Sie einen Pyjama mit pinkfarbenen Elefanten tragen.“

„Warum machen Sie jetzt Witze?“

„Und warum sind Sie so wenig selbstbewusst?“ Seine tiefe Stimme war ganz sanft. „Warum verwundert es Sie so, dass ich in Ihrer Nähe sein möchte?“

Liv sah ihn fassungslos an. Sie fürchtete, Max könnte jeden Moment wieder hereinkommen. „Muss ich das wirklich sagen?“

„Ja, das sollten Sie.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Ich möchte auch gern wissen, woran ich mit Ihnen bin.“

„Sie haben es mit einer ganz gewöhnlichen Frau zu tun, die arbeitet, immer Geldsorgen hat und versucht, trotz der anstrengenden Arbeit ihrem Sohn eine gute Mutter zu sein. Ich bin stolz darauf, eine gute Krankenschwester zu sein, aber ich bin ganz sicher nicht aufregend oder sexy.“ Sie seufzte und richtete ihren Blick Hilfe suchend zum Himmel. „Ich begreife nicht, wieso ich mit Ihnen diese Unterhaltung führe.“

„Wie können Sie nur auf die Idee kommen, Sie seien nicht sexy?“

„Weil ich einen großen Spiegel im Badezimmer habe.“ Liv zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. „Wenn Sie sich vorstellen, Sex mit mir zu haben, kann ich Sie nur warnen. Es ist lange her, dass ich mit einem Mann zusammen war … ehrlich gesagt, seit meiner Trennung von Jack. Es würde also für Sie eine enttäuschende, langweilige Erfahrung werden. Sie würden nur Ihre Zeit verschwenden, Stefano, begreifen Sie das doch endlich.“

Aber sie spürte, dass seine Gegenwart sie gleichzeitig beunruhigte und erregte.

„Wenn Sie sich für unattraktiv halten, muss irgendetwas mit Ihrem Spiegel nicht stimmen. Ich jedenfalls halte Sie weder für langweilig noch für gewöhnlich. Sie sind warmherzig, freundlich, unabhängig und selbstlos. Sie kümmern sich beispielhaft um Ihren Sohn. Das alles macht Sie zu einer außergewöhnlichen Frau.“

„Stefano …“

„Ich bin nicht hier, weil ich Ihnen etwas beweisen wollte, sondern weil ich gern in Ihrer Gesellschaft bin. Ich würde mich freuen, wenn wir den Tag miteinander verbringen könnten. Habe ich je etwas von Sex erwähnt?“ Er lächelte verhalten und zuckte mit den Schultern. „Also, zugegeben, ich habe daran gedacht. Und wenn Sie vergessen haben, um was es dabei geht, würde ich Sie gern daran erinnern.“

„Stefano!“

„Sie sind immer ehrlich zu mir, also bin ich es auch zu Ihnen. Ich bin Italiener … und Sie sind für mich ungeheuer sexy. Aber ich möchte Sie nicht bedrängen. Vielleicht müssen wir uns noch besser kennenlernen. Wir werden sehen. Vielleicht steht ja tatsächlich eine heiße Liebesnacht auf Ihrem Wunschzettel.“

Liv sah ihn anklagend an. „Dann haben Sie doch meine Unterhaltung mit Anna belauscht.“

„Anna redet nicht gerade leise.“

„Das war ihre Meinung … nicht meine. Ich kann mir nicht vorstellen, mit Ihnen eine heiße Liebesnacht zu verbringen …“

Mille grazie.“

Sie schlug die Hände vors Gesicht. „So war das doch nicht gemeint. Sie sind ein sehr attraktiver Mann, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Es ist nur …“

„Sie sind ein Nervenbündel“, sagte er und lächelte ironisch. Im Gegensatz zu Liv war er vollkommen entspannt.

Liv ließ hilflos die Arme sinken und schüttelte verzweifelt den Kopf. Niemals würde sie es fertigbringen, sich vor diesem Mann auszuziehen. „Sie wollen ganz sicher nicht mit einer Frau ins Bett gehen, die um zehn Uhr morgens Schokoladenkuchen isst.“

Langsam breitete sich ein gefährliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Wenn Sie das denken, dann haben Sie keine Ahnung von den Gefühlen der Männer. Hunger auf Schokolade am Morgen bedeutet, dass die betreffende Person lebensfroh, leidenschaftlich und den angenehmen Dingen des Lebens aufgeschlossen ist. Ich bin brennend daran interessiert, diese verborgenen Eigenschaften bei Ihnen zu entdecken.“

Seine Worte erschreckten sie, aber gleichzeitig merkte sie, dass ihr Herz bis zum Hals schlug. „Wollen Sie wirklich mit uns zum Fußballspielen kommen?“, fragte sie.

Er stand auf. „Da Sie mich so freundlich einladen, kann ich wohl nicht ablehnen.“

Es wurde der unterhaltsamste Tag, den Stefano seit seiner Ankunft in London erlebt hatte.

Der Spielplatz im Park war gefroren, aber das störte Max nicht. Er rannte auf das Tor zu und schoss den Ball mitten hinein. Mit einem Freudenschrei schnappte er sich den Ball und warf ihn Stefano zu. „Hast du das gesehen?“ Er sprang vor Begeisterung auf und ab.

Stefano grinste ihn an. „Toller Schuss. Aber beim nächsten Mal solltest du versuchen, den Ball vor dem Körper zu treffen. Etwa so …“ Er zeigte es dem Jungen. „Und jetzt versuchst du es noch mal.“

Das Geräusch von zwei Feuerwehrwagen, die mit Blaulicht und Sirenengeheul am Park vorbeifuhren, lenkte Max ab. „Cool“, meinte er. „Sind die aber schnell.“

Stefano sah zu Liv.

Frierend, mit hochgezogenen Schultern und gerötetem Gesicht stand sie im Tor. Sie versuchte, Max den Eindruck zu vermitteln, dass sie mit Begeisterung bei der Sache war.

In Wirklichkeit hasste sie Fußball. Das war Stefano sofort klar.

Aber trotzdem war sie bereit, an ihrem freien Wochenende stundenlang im Tor zu stehen, um ihrem Sohn eine Freude zu machen. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal beschwert, obwohl sie vor Kälte zitterte. Sie hatte Jeans angezogen, einen dicken Pullover und einen Wollmantel. Aber trotz des Schals, den sie fest um den Hals geschlungen hatte, waren ihre Lippen mittlerweile blau vor Kälte. Am liebsten hätte Stefano sie in die Arme genommen und ihr gezeigt, welche Möglichkeiten ein Mann hatte, eine vor Kälte zitternde Frau aufzuwärmen.

„Zeit für eine Pause!“, rief er. Dann gingen sie langsam den Weg zu Livs Wohnhaus zurück.

Als sie näher kamen, blieb Liv plötzlich ruckartig stehen. „Nein, Stefano, nein! Die Feuerwehr steht vor unserem Haus. Dort brennt es.“

Jetzt sah er es auch. Das Gebäude brannte. Die beiden Feuerwehren hatten ihre Leitern ausgefahren, und die Feuerwehrmänner versuchten, mit ihren Schläuchen das Feuer einzudämmen.

Plötzlich gab es im 2. Stock eine Explosion. Dort war wohl eine Gasflasche in die Luft gegangen. Sofort loderten helle Flammen aus den zerborstenen Fenstern.

Mit einem erstickten Schrei wollte Liv zu dem Gebäude laufen, aber Stefano hielt sie fest und legte den Arm um sie. „Nein, Sie können nicht dorthin. Es ist zu spät.“ Er spürte, wie sie fast zusammengesackt wäre.

„Aber … unsere Wohnung … alles, was wir besitzen …“ Ihre Stimme versagte.

Max schluchzte auf und klammerte sich Hilfe suchend an den Mantel seiner Mutter. „Brennt unser Haus ab, Mum?“

„Oh, mein Schatz!“ Liv hockte sich zu dem Jungen und nahm Max in die Arme. „Es wird alles wieder gut. Das kriegen wir zusammen schon hin. Hab keine Angst.“

Auch in dieser Situation denkt sie zuerst an ihren Sohn und vergisst ihren eigenen Kummer, dachte Stefano. Er wusste, dass der Verlust all ihrer persönlichen Habe ein schwerer Schlag für sie war. Aber sie klagte und jammerte nicht, sondern beherrschte sich, um ihren Sohn nicht noch mehr zu beunruhigen.

„Wo sollen wir wohnen? Wo schlafen wir?“ Max weinte und schlang seine Arme um den Hals der Mutter.

Stefano, der sich nicht daran erinnern konnte, jemals geweint zu haben, seit er kein Kind mehr war, spürte plötzlich einen Kloß im Hals.

„Ruhig, mein Schatz“, redete Liv auf Max ein. „Ganz ruhig. Nicht weinen.“ Sie sah ihm ganz fest in die Augen. „Ich mache das schon, vertrau mir. Du weißt, ich kümmere mich immer um alles.“

„Meine ganzen Spielsachen“, jammerte Max. „Und die schönen Poster in meinem Zimmer, meine Schulsachen, alles ist weg.“

Stefano bewunderte Liv, dass sie in dieser Situation ein Lächeln voller Zuversicht auf ihr Gesicht zauberte. „Ich wette, dein Lehrer wird nicht böse sein, dass du ihm deine Hausaufgaben nicht zeigen kannst.“ Sie klang fröhlich. Dann beugte sie sich vor und gab Max einen Kuss. „Dinge sind nicht wichtig, mein Schatz. Die lassen sich ersetzen. Nur Menschen sind wichtig.“ Obwohl ihre Worte sehr tapfer und gefasst klangen, spürte Stefano, dass sie zutiefst erschüttert war.

Er musste die beiden schnellstens von hier fortbringen.

In diesem Moment richtete Liv sich auf und nahm Max an die Hand. „Es macht keinen Sinn, weiter hier herumzustehen. Das regt Max nur auf. An der nächsten Ecke ist ein Coffeeshop. Ich gehe mit ihm dorthin und rufe meine Versicherung an. Sie müssen dafür sorgen, dass wir in den nächsten Tagen irgendwo unterkommen.“

7. KAPITEL

Liv war im Schwesternzimmer dabei, mit ihrer Versicherungsgesellschaft zu telefonieren. Sie sah erleichtert auf, als Stefano hereinkam. Dabei fiel ihr ein, dass sie und Max kein Zuhause mehr hatten. „Ich muss noch mit der Feuerwache telefonieren, wie das passieren konnte.“

„Das habe ich schon gemacht“, winkte Stefano ab. „Sie gehen davon aus, dass das Feuer in einer Wohnung im Erdgeschoss durch eine Kerze entstanden ist.“ Er betrachtete sie besorgt. „Sie sehen mitgenommen aus. Sie brauchen dringend Ruhe. Sie und Max werden bei mir bleiben.“

Liv war sprachlos über sein unerwartetes Angebot. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Nein, das kommt nicht infrage, auf keinen Fall.“

„Das werden Sie nicht ablehnen. Verschwenden Sie also nicht Ihre Zeit mit nutzlosen Argumenten.“

„Das kann ich unmöglich annehmen …“

„Doch.“

„Ich bringe Ihr ganzes Leben in Unordnung. Es geht das Gerücht, Sie hätten noch nie eine Frau bei sich wohnen lassen.“

„Stimmt, weil ich nicht wollte, dass jemand auf mich wartet und böse auf mich ist, wenn ich zu lange arbeite. Aber die Gefahr besteht ja bei Ihnen nicht, da Sie selbst von früh bis spät im Dienst sind. Nun sagen Sie schon Ja …“

Plötzlich merkte Liv, wie sehr sie das alles mitgenommen hatte. „Ich mache mir Sorgen um Max. Er ist ein so aufgeweckter kleiner Junge. Das alles ist sicher nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.“

„Umso wichtiger, dass er Ruhe findet.“

„Warum?“ Sie sah ihn unsicher an. „Warum wollen Sie das für mich tun?“

„Weil ich Sie mag.“

„Weil Sie …?“ Ihr Wagen hatte den Geist aufgegeben, ihr Haus war abgebrannt, sie hatte nur noch das, was sie auf dem Körper trug, und roch nach Ruß und Rauch. Aber wie Stefano sie ansah, gab ihr das Gefühl, dass gerade etwas Besonderes passierte.

„Ja, weil ich Sie mag.“ Auf seiner Wange zuckte ein Muskel. „Und weil ich Max mag.“

„Sie wissen nicht, was Sie anrichten, wenn Sie so liebenswürdig zu mir sind“, sagte sie heiser. „Also überlegen Sie es sich noch einmal.“

„Ich weiß, was ich tue – ich biete Ihnen eine Lösung für Ihr Problem.“ Er unterbrach sich, als eine Schwester vorbeikam und sie neugierig musterte. „Max wartet immer noch in meinem Büro. Er ist aufgeregt und verängstigt. Er sollte bald wissen, wo er heute Nacht schläft. Ein anonymes Hotelzimmer wäre keine gute Lösung. Gehen Sie zu ihm, und reden Sie mit ihm. Sagen Sie ihm, dass wir morgen zusammen den Weihnachtsbaum kaufen. Nach den Feiertagen können wir in Ruhe überlegen, wo Sie künftig mit Max leben wollen.“ Stefano zog sein Handy aus der Tasche. „Sie holen jetzt Max und gehen zu meinem Wagen. Ich kümmere mich um den Rest.“

Stefanos Apartment lag in einem exklusiven, teuren Neubau direkt am Hydepark.

Liv kam sich wie im Traum vor, als sie mit Max an der Hand wartete, bis Stefano mit dem Mann am Empfang in der Eingangshalle gesprochen hatte. Offensichtlich gab es strenge Sicherheitsvorkehrungen, um die Ruhe und den Schutz der Bewohner zu gewährleisten.

Max schien von den Ereignissen immer noch geschockt, denn er war ganz still. Als sie jedoch durch die Sicherheitsschleuse gingen, siegte seine Neugier über seine Beklommenheit. „Das ist cool, wie in einem Spionagefilm“, sagte er aufgeregt, während Stefano mit ihm und seiner Mutter zu den Fahrstühlen ging.

„Ich rieche immer noch entsetzlich nach Rauch.“ Liv zog die Nase kraus.

„Sobald wir oben sind, können Sie ein Bad nehmen.“

Und was dann? Sie hatte keine Kleidung mehr zum Wechseln. Sicher würde die Versicherung für den Schaden aufkommen, aber bis alle Formalitäten geregelt waren, würde sie eine Menge Geld ausgeben müssen.

Geld, das sie nicht hatte.

Vielleicht sollte ich über die Weihnachtstage Dienst tun, dachte sie. Nur des Geldes wegen.

Plötzlich wurde ihr alles zu viel. Sie hatte sich wegen Max zusammengenommen, aber der Berg Probleme, der vor ihr lag, war schier unüberwindlich.

Wie sollte sie das alles schaffen?

Der Aufzug brachte sie in den 10. Stock. Als Stefano die Eingangstür aufschloss, hielt Liv überwältigt den Atem an.

Max fand zuerst seine Spreche wieder. „Welches ist dein Zimmer?“, wollte er von Stefano wissen.

Stefano lächelte und nahm seine Hand. „Das sind alles meine Zimmer. Man nennt das ein Apartment. Ich habe die ganze Etage gekauft. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“

„Das gehört alles dir?“, staunte Max. „Das ist ja größer als das Krankenhaus.“

Stefano hob ihn hoch und setzte ihn auf seine Schultern. „So, jetzt kannst du alles besser sehen.“

Max blickte sich begeistert um.

Liv seufzte, aber sie war Stefano dankbar, dass er ihren Sohn wieder aufgemuntert hatte.

„Ich zeige dir jetzt dein Zimmer, aber du kannst auch ein anderes haben, wenn du willst.“ Stefano ging mit Max über den mit Parkett ausgelegten Flur, öffnete eine Tür und hob den Jungen von den Schultern. „Na, was hältst du davon?“

„Es ist wie mein Zimmer.“ Max war überwältigt. „Nur viel größer. Guck mal, Mum, da ist eine richtige Weltraumkapsel.“

„Ich habe zwei Neffen, die ungefähr so alt sind wie Max“, erklärte Stefano. „Sie haben die Einrichtung ausgesucht.“

„Sie mögen die gleichen Dinge wie ich.“ Max kletterte auf das Hochbett, über dem sich ein dunkelblauer Stoffhimmel mit aufgenähtem Mond und Sternen spannte. „Das ist toll, wie bei mir zu Hause, nur schöner.“ Er sah seine Mutter schuldbewusst an. „Das war nicht schön, so etwas zu sagen, Mum. Bist du deswegen traurig?“

„Nein, mein Schatz“, beruhigte ihn Liv. „Ich bin froh, dass dir das Zimmer so gut gefällt. Es ist sehr freundlich von Stefano, dass er uns hier wohnen lässt.“

Stefano führte sie in den riesigen Wohnraum, der einen überwältigenden Blick über den Park bot. Unten sah sie Reiter über die verschneiten Wege traben. Die Pferde stießen in der kalten Luft weiße Atemwolken aus. In dicke Mäntel und lange Schals gehüllte Mütter schoben Kinderwagen oder passten auf ihre Kinder auf, die im Schnee herumtollten.

„Das ist eine Traumwohnung.“

„Wie Sie das sagen, klingt das nach einem Problem.“

Sie lächelte schüchtern. „Ich hoffe nur, dass es Max nicht zu schwerfällt, sich in ein paar Tagen wieder an die Normalität zu gewöhnen.“

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Er ist ein kluger Junge, und Sie geben ihm Sicherheit und Geborgenheit. Solange Sie bei ihm sind, ist für ihn alles gut.“

Stefano legte ihr die Hand auf die Schulter. „Sie sind erschöpft. Hören Sie auf, sich Sorgen zu machen, und überlassen Sie alles mir. Max und ich gehen gleich los und kaufen einen Weihnachtsbaum. Und Sie nehmen inzwischen ein ausgiebiges heißes Bad. Bleiben Sie meinetwegen eine Stunde in der Wanne.“

„Eine Stunde? Was soll ich denn um Gottes willen die ganze Zeit machen?“

Er schaute sie mit einem amüsierten Lächeln an. „Gar nichts, nur entspannen und ausruhen.“

„Mum?“

„Ja, mein Schatz?“ Sie drehte sich zu Max um. „Du gehst jetzt mit Stefano einen Weihnachtsbaum kaufen. Aber keinen zu großen.“ Sie holte ihr Portemonnaie heraus, griff nach einem Geldschein und drückte ihn Stefano in die Hand. „Mehr gibt unser Budget nicht her. Und bitte keine Widerrede.“

Stefano zögerte einen Moment, doch dann steckte er den Geldschein ein. Ein Blick in ihr Gesicht hatte ihm gesagt, dass es sinnlos war, jetzt mit ihr darüber zu diskutieren. „Grazie. Und nun marsch mit Ihnen ins Bad. Alles andere überlassen Sie uns Männern.“

„Magst du den Baum?“ Stefano hatte längst bemerkt, dass Max den großen, reich geschmückten Baum im Schaufenster des exklusiven Kaufhauses in Knightsbridge fasziniert anstarrte.

„Er ist super“, meinte Max und warf den Kopf weit in den Nacken, um den Baum bis zur Spitze zu bestaunen.

„Gut.“ Stefano wünschte, dass alle Entscheidungen so einfach wären. Er nahm Max an die Hand und ging in den Laden. Ein junger Verkäufer kam eilfertig auf sie zu. Stefano sagte ihm kurz, er wolle den Baum aus dem Schaufenster. Als er fühlte, dass Max an seinem Ärmel zupfte, beugte er sich zu dem Jungen hinunter. „Du wolltest doch diesen Baum, oder?“

„Ja … nein … das geht doch nicht“, flüsterte der Kleine. „Den Baum im Schaufenster kann man doch nicht kaufen.“

Stefano lächelte. „Doch, das kann ich.“

„Wirklich?“ Max drehte sich um und warf einen Blick auf den Baum. „Und was ist mit dem ganzen Schmuck?“

„Den kaufen wir auch.“

„Aber was machst du dann mit deinem Weihnachtsschmuck, den du zu Hause hast?“

„Ich habe keinen Weihnachtsschmuck.“

Max sah ihn überrascht an. „Aber du stellst doch den Weihnachtsbaum nicht ohne Schmuck in deine Wohnung?“

Stefano hatte seine Kreditkarte herausgeholt und reichte sie dem Verkäufer. „Ich habe normalerweise auch keinen Weihnachtsbaum.“

„Du hast keinen Weihnachtsbaum?“ Max konnte es nicht fassen. „Nicht mal einen kleinen?“

„Nein.“

„Und warum nicht?“

„Ich brauche keinen Baum, weil ich Weihnachten allein verbringe, wenn ich nicht verreise.“

Max schwieg lang, er dachte über das nach, was er gerade gehört hatte. „Meine Mum hat gesagt, dass es Menschen gibt, die Weihnachten allein sind, und dass das ganz schlimm für sie ist.“ Er sah Stefano mitleidig an und schlang die Arme um ihn. „Dieses Jahr bist du nicht allein. Meine Mum und ich leisten dir Gesellschaft. Wir können so lange bleiben, wie du willst.“

Stefano achtete nicht auf die neugierigen Blicke des Verkäufers, der dabei war, den Schmuck von dem Baum abzunehmen und in Kartons zu verpacken. Er war überwältigt von dem, was der Junge gerade gesagt hatte. Max ist wie seine Mutter, dachte er, er denkt nicht zuerst an sich selbst, sondern an andere. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. „Grazie. Das ist sehr lieb von dir. Danke.“

„Mum macht zu Weihnachten immer etwas Besonderes.“ Er warf einen besorgten Blick auf die Kartons mit dem Schmuck. „Hoffentlich ist das nicht so teuer, sonst macht Mum sich Sorgen.“

„Macht sie sich oft Sorgen?“

„Immer. Sie gibt sich Mühe, dass ich es nicht merke, aber ich bekomme es doch mit. Frauen sagen nicht immer, was sie denken“, meinte er altklug.

„Nein, das tun sie tatsächlich nicht“, stimmte Stefano trocken zu.

„Ich finde das schade.“ Max verzog das Gesicht. „Wenn ich ein Problem habe, dann sage ich es sofort. Mum versucht, es zu verheimlichen. Warum tut sie das?“

„Wahrscheinlich, weil sie dich nicht beunruhigen will.“

„Aber ich sehe es doch immer ihrem Gesicht an, wenn sie sich Sorgen macht. Sie lächelt dann besonders freundlich und glaubt, dann merke ich nichts. Und wenn sie sich Sorgen ums Geld macht, dann stellt sie lange Listen auf und rechnet immer wieder.“

Stefano musste diese Information erst einmal verdauen. „Was, glaubst du, würde sie sich zu Weihnachten wünschen?“

„Oh, das weiß ich genau. Eine Umarmung.“

„Eine Umarmung?“

„Ja, jedes Mal, wenn ich sie frage, was sie sich zu Weihnachten wünscht, sagt sie ‚dass du mich ganz fest in den Arm nimmst‘. Ich finde das schade, denn ich selbst liebe Spielzeug mit Elektronik und Fernsteuerung. Aber sie sagt, sie ist damit zufrieden, gedrückt zu werden. Frauen sind schnell zufrieden, meinst du nicht auch?“

Stefano lächelte etwas gequält. Solche Frauen hatte er bisher noch nicht kennengelernt. „Bei deiner Mutter scheint das so zu sein.“

Der Verkäufer hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Er gab Stefano die Kreditkarte zurück. „Nennen Sie mir bitte noch die Adresse, an die wir liefern sollen.“

„Wir wollen noch mehr einkaufen“, sagte Stefano. Er nahm Max an die Hand. „Komm, wir brauchen noch eine Menge Sachen für dich und deine Mum. Sonst habt ihr über Weihnachten nichts anzuziehen.“

Max sah ihn fragend an. „Und woher soll Mum das Geld nehmen? Hat sie vielleicht die Eintrittskarten für den Ball verkauft?“

Stefano verstaute die Kreditkarte in seiner Brieftasche. „Sie hat Eintrittskarten für einen Ball? Für den Schneeflockenball des Krankenhauses?“

„Ja, sie hat sie gewonnen. Aber sie will nicht hingehen und die Karten lieber verkaufen. Sie kann nicht hingehen, weil sie nicht Aschenputtel ist …“

Stefano staunte. „Hat sie dir das gesagt?“

„Ja, an dem Morgen, als die Karten mit der Post ankamen, hat sie gesagt, das sei das erste Mal in ihrem Leben, dass sie etwas gewinnt. Und dann hat sie gesagt: ‚Aber ich bin nicht Aschenputtel und werde nicht auf den Ball gehen.‘ Ich habe nicht verstanden, was sie damit gemeint hat. Aber sie hat die Karten noch. Ich habe gesehen, dass sie den Umschlag in ihre Handtasche gesteckt hat.“

„Ich weiß nicht, was du darüber denkst, Max“, meinte Stefano, „aber ich fände es schade, die Karten einfach verfallen zu lassen.“

„Sie will nicht hingehen, weil sie findet, ihr Po ist zu dick, und weil sie nichts anzuziehen hat. Für Frauen sind solche Dinge wichtig, glaube ich.“

Stefano lachte. „Dann müssen wir unbedingt etwas tun. Du kannst doch ein Geheimnis für dich behalten, oder?“

Als Liv Gelächter und Max’ fröhliche Stimme hörte, kam sie aus dem Bad, fest in einen flauschigen Bademantel gehüllt, den Stefano ihr gegeben hatte.

„Mum, komm her, und schau dir den Baum an!“, rief Max aufgeregt. Er sauste durch Stefanos Wohnung, als ob er schon immer hier zu Hause wäre. „Wir wollen ihn gleich schmücken.“

„Den Schmuck habt ihr auch mitgebracht?“ Sie staunte über die Größe des Baumes. Beim Anblick der vielen Schachteln und Tüten fühlte sie so etwas wie Panik.

Max kam auf sie zugerannt und warf sich ihr in die Arme. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Stefano brauchte sowieso einen Baum und auch den Schmuck dafür.“ Er senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. „Er hat nie einen gehabt vorher. Kannst du das glauben?“

Liv warf einen verstohlenen Blick zu Stefano.

Der lächelte verschwörerisch. „Hat das Bad Spaß gemacht?“

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie unter dem Bademantel nackt war, und errötete. „Ja, wunderbar, danke.“

„Ich habe ein paar Sachen zum Anziehen für Sie und den Jungen gekauft. Nur das Nötigste für den Anfang. Sie werden sicher selbst einkaufen gehen wollen.“ Er reichte ihr mehrere Einkaufstüten. „Ich hoffe, die Sachen passen.“

Liv musste heftig schlucken, als sie die Labels auf den Shoppingtüten sah. „Das war doch nicht …“

„Sie können doch in den nächsten Tagen nicht nur im Bademantel herumlaufen, oder?“ Stefanos Augen funkelten vielsagend, was sie noch mehr erröten ließ.

Was soll ich dagegen schon sagen? dachte Liv. Irgendwie würde sie es schon hinbekommen, Stefano seine Ausgaben zurückzuerstatten. Sie nahm die Shoppingtüten. „Danke, Stefano.“

Sie ging ins Schlafzimmer und leerte die erste Tüte auf dem Bett aus. Jeans? Sie konnte es nicht fassen und setzte sich auf die Bettkante. Warum Jeans? dachte sie. Sie hatte immer Schwierigkeiten gehabt, passende Jeans zu finden. Wieso sollte ihm das besser gelungen sein? Die Vorstellung, sie müsste ihm gestehen, dass er ihre Größe falsch geschätzt habe und die Jeans zwei Nummern zu klein seien, war ziemlich peinlich.

Sie griff nach der nächsten Tüte. Als sie den Inhalt ausbreitete, fühlte sie ihre Wangen brennend rot werden. Es waren ein Büstenhalter aus Seide mit Spitzenbesatz und ein entsprechender Slip. Was sollte sie damit anfangen? Bei ihrer Figur brauchte sie etwas Solideres.

Sie betrachtete das exklusive Label des BHs und das Schild mit der Größenangabe … und ließ den BH fallen, als ob er glühend sei. Es war exakt die richtige Größe. Wie hatte Stefano das wissen können?

Unwillkürlich warf sie einen Blick zur Tür, ob er sie etwa beobachtete … mit diesem unbeschreiblichen sexy Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte bestimmt eine Menge Erfahrung mit Frauen, aber die waren alle gertenschlank gewesen – und nicht weiblich gerundet wie sie selbst.

Sie zog den Slip an und genoss das Gefühl von Seide auf ihrer Haut. Was für ein Luxus! Als sie den BH anlegte, stellte sie fest, dass er nicht nur genau passte, sondern ihr exakt den Halt gab, den sie brauchte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass ihr die Sachen wunderbar standen.

Sie griff nach den Jeans und erwartete, dass sie Schwierigkeiten haben würde, hineinzuschlüpfen, aber zu ihrem Erstaunen passten auch die wie angegossen.

Sie konnte einfach nicht glauben, dass er es geschafft hatte, die idealen Jeans für sie auszuwählen, nach denen sie selbst immer vergebens gesucht hatte. Ein Blick auf das Label machte ihr klar, dass ihn die Jeans ein Vermögen gekostet hatten.

Eigentlich hätte sie so ein teures Stück nicht annehmen und ihm sofort zurückgeben müssen. Aber dann warf sie einen Blick in den Spiegel und lachte vor Freude über den Anblick, der sich ihr bot.

Ihre Beine wirkten lang und schlank, ihre Hüften weiblich rund. Zusammen mit dem BH, den sie trug, fand sie sich selbst zum ersten Mal seit langer Zeit wieder attraktiv.

Aus der dritten Shoppingtüte holte sie einen Cashmere-Jumper in einem hellen Grün, das sie so sehr liebte, dazu einen passenden Schal, eine Mütze und ein Paar Handschuhe.

Sie fühlte sich wie neugeboren, als sie in den Wohnraum hinüberging.

„Sagten Sie vorhin nicht ‚nur das Nötigste‘?“

„Nun, das ist es doch wohl.“ Stefano stand auf einem Stuhl und versuchte, den Stern auf der Spitze des Baumes zu befestigen. „Passen die Sachen? Ich hatte beim Aussuchen nicht viel Zeit, denn Max und ich hatten es eilig, nach Hause zu kommen.“

„Die Jeans sind ein Traum.“ Da war etwas in Stefanos Blick, was sie verlegen machte. „Die Passform wirkt fast wie eine Schönheitsoperation.“

„Sie haben keine Schönheitsoperation nötig, Liv“, sagte Stefano, kam zu ihr hinüber und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Sie sehen wunderhübsch aus.“

Sie sah nervös zu Max. Stefano ließ sofort die Hände sinken. „Ich bin froh, dass ich zu Ihrer Zufriedenheit ausgewählt habe.“

„Wie konnten Sie nur so genau meine Größen wissen?“, wunderte sie sich.

Er lächelte. „Gut geschätzt.“ Die Art, wie er sie ansah, nahm ihr den Atem. Aber in den neuen Sachen fühlte sie sich einfach unglaublich.

„Nochmals … danke, Stefano.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Sein Blick ruhte noch einen Moment lang auf ihr, dann wandte er sich wieder dem Baum zu.

Mitte Dezember gab es im Krankenhaus nur noch ein Gesprächsthema – den an diesem Abend bevorstehenden Schneeflockenball. Die Damen – und nur an die waren die Eintrittskarten vergeben worden – waren nur noch mit der Frage nach der geeigneten Garderobe beschäftigt. Diejenigen, die keine der begehrten Karten bekommen hatten, hofften, dass jemand nicht hingehen konnte und deshalb im letzten Moment seine Karte noch zurückgab.

„Die Kolleginnen scheinen alle durchzudrehen“, murmelte Liv, als sie Anna einen Stapel Patientenberichte übergab. „Dabei treffen sie auf dem Ball doch nur Leute, die sie jeden Tag auch bei der Arbeit sehen.“

„Aber du musst doch zugeben, dass ein Abendkleid und ein Smoking etwas ganz anderes sind als ein Arztkittel oder eine Schwesterntracht.“

„Für mich würde das keinen Unterschied machen“, widersprach Liv. „Ich bin froh, dass ich dir meine Karten gegeben habe. Hast du schon entschieden, was du anziehst?“

„Oh“, erwiderte Anna, „ich bin mir noch nicht sicher …“

Liv sah sie überrascht an. „Aber der Ball ist doch schon heute Abend.“

„Ich weiß. Jetzt ist es vier Uhr nachmittags. Da habe ich noch vier Stunden, mich zu entscheiden.“

„Soll Sam nicht heute Nacht bei mir und Max bleiben?“

„Meinst du nicht, zwei so aktive Jungs würden Stefanos Apartment etwas zu sehr in Unordnung bringen?“ Anna nickte ihr dankbar zu. „Lieb von dir, es anzubieten, aber Daves Mutter ist zu ihrem jährlichen Weihnachtsbesuch gekommen, und sie passt gern auf Sam auf. Wie geht es Max? Hat er sich schon an die neue Umgebung gewöhnt?“

„Er hat nur die ersten Tage bei mir im Zimmer geschlafen. Jetzt bleibt er in seinem eigenen Zimmer. Stefano hat ihn mit seinen Fußballkenntnissen und seinen Geschichten über Ferraris so eingenommen, dass er schon fast vergessen hat, was mit unserer alten Wohnung und dem Haus passiert ist.“

„Sam hat mir erzählt, dass Stefano Max mit dem Ferrari von der Schule abgeholt hat.“

„Ja, das war für Max garantiert der Höhepunkt des Schuljahres.“

Anna beugte sich ganz nah zu ihr. „Aber du scheinst nicht besonders begeistert darüber zu sein, habe ich recht?“

Liv biss sich auf die Lippen. „Ich freue mich, dass Max so zufrieden ist, aber ich frage mich natürlich, wie es weitergeht. Im Moment ist Max wunschlos glücklich. Er hat sich inzwischen mit den Sicherheitsleuten in dem Apartmenthaus angefreundet. Sie spielen bei jeder möglichen Gelegenheit Computerspiele mit ihm. Und die Fahrten in Stefanos Ferrari sind jedes Mal ein Höhepunkt. Ich frage mich nur, wie er sich wieder im normalen Leben zurechtfinden wird.“

„Lass ihm doch seinen Spaß. Du bist für ihn das ‚normale Leben‘, Liv. Du bist der ruhende Pol in seinem Leben.“ Anna legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Du solltest die Situation ebenfalls genießen, solange das möglich ist. Das Leben ist schwierig genug. Mach dir nicht zu viele Gedanken.“

„Ich versuche es ja.“ Liv dachte an das traumhafte Apartment und an die wunderschönen Sachen, die Stefano ihr gekauft hatte. „Ich genieße es vor allem, dass ich mich dort so sicher fühle. In der Gegend, in der wir vorher gewohnt haben, musste ich immer wachsam sein, damit uns nichts zustößt.“

Anna lachte. „Ich glaube, ich habe genug gehört. Oder gibt es da noch Einzelheiten, die mich interessieren könnten? Zum Beispiel frage ich mich, ob du Stefano schon mal nackt gesehen hast.“

„Der Vorteil eines so riesigen Apartments ist, dass zwei Menschen sich ganz gut aus dem Weg gehen können.“ Und das ist auch gut so, dachte sie. Dann kam sie wenigstens nicht in Versuchung, ihrer Fantasie allzu freien Lauf zu lassen.

Ja, Stefano hatte durchblicken lassen, dass er nicht abgeneigt war, mit ihr zu schlafen, aber er war eben ein Mann. Und sie war sicher, dass er schnell von dieser Idee Abstand nehmen würde, falls er sie mal in einem unachtsamen Moment ohne Kleidung sehen sollte.

Anna sah sie nachdenklich an. „Wenn da etwas zwischen euch läuft, solltest du mir das sagen.“

Liv fühlte, wie ihr Herz aufgeregt schlug. „Nein, nein, wo denkst du hin?“ Seinen Kuss, diesen unglaublich erregenden Kuss in seinem Büro, erwähnte sie lieber nicht. Seitdem hatte er nicht mehr versucht, sich ihr zu nähern, also hatte er wohl seine Meinung darüber, dass er sie attraktiv fand, geändert.

„Jetzt wohnst du schon eine Woche mit dem aufregendsten Mann zusammen, den man sich vorstellen kann, und es ist nicht das Geringste passiert? Du bist eine Schande für alle Frauen. Schäm dich.“

Anna sah sich hastig um und schlüpfte in Stefanos Büro. „Das wird nie klappen. Sie werden sie ganz bestimmt nicht dazu bringen, in ein Ballkleid zu schlüpfen. Und sie ist viel zu gehemmt, als dass sie bereit sein würde, mit Ihnen zu tanzen.“

„Das mit dem Tanzen lassen Sie nur meine Sorge sein. Ist sonst alles arrangiert wie besprochen?“

„Ja, ja.“ Anna lief nervös vor seinem Schreibtisch auf und ab. „Sie hat überhaupt kein Selbstvertrauen im Umgang mit Männern. Das ist Ihnen doch klar?“

Ja, das wusste er nur zu gut.

Aber im Vergleich zu den Frauen, die er kannte und die nur an ihr Äußeres und ihre Wirkung dachten, war Liv eine erfrischende Abwechslung. „Machen Sie sich keine Sorgen.“

Anna verzog das Gesicht. „Die Aufregung bringt mich noch um. Ich habe noch nie ein Geheimnis lange für mich behalten können. Und wie Sie Max dazu gebracht haben, kein Sterbenswörtchen zu sagen, ist mir ein Rätsel.“

„Er fährt eben gern in dem Ferrari mit“, grinste Stefano.

„Sie erpressen ihn, den Mund zu halten, indem Sie ihm sagen, dass er sonst nicht in Ihrem Ferrari mitfahren darf? Ihr Italiener schreckt aber auch vor gar nichts zurück“, staunte Anna.

„Max möchte unbedingt, dass seine Mutter zu dem Ball geht. Sie haben doch Ihre Meinung nicht geändert?“

„Dass ich Ihnen die Eintrittskarten zurückgebe? Natürlich nicht. Aber ich bezweifle, dass Sie Liv dazu bringen können, mit Ihnen hinzugehen. Dank ihres unsäglichen Exmannes hält sie sich nämlich für unattraktiv und glaubt, für keinen Mann begehrenswert zu sein. Warum lachen Sie?“

„Warten Sie ab, wie schnell sie ihre Meinung ändern wird“, murmelte Stefano. „Sie wird bald erkennen, wie attraktiv sie ist.“ Und es wird mir ungeheures Vergnügen bereiten, sie dazu zu bringen, dachte er.

„Ich bitte Sie nur um eines, Stefano.“ Anna ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken. „Brechen Sie ihr nicht das Herz. Ein zweites Mal würde sie das nicht ertragen. Ich würde Sie glatt dafür in Stücke reißen. Brauchen Sie Informationen über Livs Wünsche und Vorlieben? Nein?“ Sie lachte kurz auf. „Ich bin sicher, Sie brauchen keine Ratschläge, wie man mit Frauen umgeht, Sie Supermann.“

„Ich glaube tatsächlich, ich komme ganz gut allein zurecht.“ Stefano sah zur Uhr. „Sie vergessen nicht, Max von der Schule mit zu sich nach Hause zu nehmen?“

„Ganz bestimmt nicht.“ Anna stand auf. „Was halten Sie von einem telefonischen Zwischenbericht?“

„Nichts … ich gehe davon aus, dass ich dazu viel zu beschäftigt bin.“

„Warum geben Sie sich solche Mühe mit Liv? Nur um sie ins Bett zu bekommen?“

„Hätten Sie etwas dagegen?“ Er wusste, dass Anna Livs beste Freundin war und sie besser, als jeder andere Mensch kannte. „Guter Sex kann eine Frau dazu bringen, sich schön und begehrenswert zu fühlen.“

„Falls sie anschließend nicht unsanft auf dem Boden der Tatsachen landet.“ Anna sah Stefano skeptisch an. „Ich habe zugesagt, bei Ihrem Plan mitzuspielen, aber ich fühle mich irgendwie für sie verantwortlich. Ein romantisches Erlebnis würde Liv zweifellos guttun, aber wehe, es kommt anders …“

„Übrigens …“ Stefano zeigte auf seine Uhr. „Es ist gleich halb vier.“

„Ja, ja, ich fahre jetzt los und hole die Jungs von der Schule ab. Und Sie, Mr. Lucarelli, geben sich gefälligst Mühe, Ihrem Ruf gerecht zu werden.“

„Sie müssen nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht.“

8. KAPITEL

Liv zog sich im Schwesternzimmer um. Sie ließ sich Zeit, denn sie hatte es nicht eilig und sah amüsiert den aufgeregten Kolleginnen zu, die sich hastig auf den Weg zum Friseur oder zur Kosmetikerin machten, um sich für den Ball herrichten zu lassen.

Heute würde sie sich mit Max einen fröhlichen und gemütlichen Abend zu Hause machen.

Sie würde eine Pizza backen. Das hatte sie lange nicht mehr gemacht. Vielleicht würde sie sich dann in Stefanos gemütlichen Sessel kuscheln und sich einen Film im Fernsehen ansehen.

Sie machte sich keine Gedanken darüber, warum Stefano nicht versucht hatte, mit ihr intim zu werden, seit sie in sein Apartment gezogen war. Der Kuss vor einigen Tagen hatte ihn also nicht sonderlich beeindruckt, und er hatte ihn offenbar längst vergessen.

Sie verließ das Krankenhaus und ging über den Parkplatz zu ihrem Leihwagen. Sie blieb überrascht stehen, als sie Stefano sah, der an seinem Ferrari lehnte und auf sie zu warten schien.

Liv runzelte die Stirn. „Ich dachte, Sie wollten Max von der Schule abholen?“

„Kleine Programmänderung.“ Er öffnete die Tür seines Wagens. „Steigen Sie bitte ein.“

„Aber …“

„Für Max ist bestens gesorgt.“ Er ließ sich neben ihr auf dem Fahrersitz nieder. „Er wird heute Nacht bei Annas Sohn Sam bleiben. Und von Ihnen möchte ich in den nächsten Stunden weder Fragen noch Widerworte hören, sondern nur ‚Si, Stefano‘. Können wir uns darauf einigen?“

Beunruhigt sah sie ihn an. Hunderte von Fragen gingen ihr durch den Kopf. „Das ist nicht fair. Ich muss doch wissen, was …“

„Vertrauen Sie mir?“ Er sah ihr in die Augen. Seine Stimme war tief und volltönend.

Liv fühlte, wie ihr Mund vor Aufregung trocken wurde. „Nein … ja …“ Sie war ziemlich durcheinander. „Ich traue Ihnen, was Max betrifft …“

„Das genügt mir vorerst“, meinte er lächelnd. Er gab Gas, und der Ferrari schoss vorwärts.

„Darf ich fragen, wohin wir fahren?“

„Nein.“

„Darf ich mit Max reden?“

„Würden Sie sich dann besser fühlen?“

„Ich möchte nur wissen, ob es ihm gut geht.“

„Dann rufen Sie ihn an.“

„Ist er bei Anna?“

„Vielleicht unternimmt Anna noch etwas mit den Jungs. Rufen Sie sie auf dem Handy an.“

„Aber sie müsste sich doch zu Hause für den Ball fertig machen.“

Ratlos und verwirrt wählte sie die Nummer von Annas Handy. Ihre Freundin ließ ihr keine Zeit, Fragen zu stellen, sondern gab das Telefon gleich weiter an Max.

Als Liv das Gespräch eine Minute später beendete, war sie beruhigt. „Ich verstehe nur eine Sache nicht“, sagte sie zu Stefano. „Warum hat er am Schluss gesagt, dass er mir einen schönen Abend wünscht?“

„Vielleicht, weil er gern möchte, dass Sie einen schönen Abend verbringen.“ Stefano fuhr in die Einfahrt eines bekannten Londoner Luxushotels und hielt vor dem Eingang.

Ein uniformierter Page kam gleich auf sie zu. „Miss Winchester? Wir haben Sie schon erwartet.“

Man hatte sie erwartet? Liv sah Stefano fragend an, der jedoch nur lächelte.

„Ich hole Sie in drei Stunden wieder ab und wünsche Ihnen viel Spaß.“

Spaß? Wobei? „Sagen Sie mir bitte, was das alles soll.“

Stefano nahm ihr Gesicht in beide Hände. Sein Mund war nur noch Zentimeter von ihrem entfernt. „Die nächsten drei Stunden geht es nur um Sie allein, Liv“, sagte er leise. „Und danach um uns beide. Denken Sie darüber nach, während man Sie umsorgt.“

Umsorgt?

Was sollte das heißen? Diese Frage schoss ihr durch den Kopf, als Stefano ihr plötzlich einen verführerischen, zärtlichen Kuss gab.

Liv hatte das Gefühl, dass sich alles um sie drehte, als er sie wieder losließ.

„Und jetzt denken Sie erst mal nur an sich selbst“, meinte er lächelnd. „Versprochen?“

Wie kann ein einziger Kuss mich nur so aus der Fassung bringen? dachte Liv noch ganz benommen, während sie dem jungen Mann, der sie empfangen hatte, durch die elegante Halle des Hotels zum Fahrstuhl folgte. Er fuhr mit ihr hinauf in das oberste Stockwerk. Als die Fahrstuhltüren sich öffneten, fand sie sich in einem luxuriösen Wellnesscenter wieder, von dem aus sich ein atemberaubender Blick über die Dächer von London bot.

Voller Bewunderung schaute sich Liv in diesem Paradies aus Marmor, Glas und Spiegeln um. „Wo bin ich hier?“

„Ich gehe davon aus, dass die meisten Frauen dies als eine Art Himmel auf Erden ansehen“, lächelte der junge Mann und winkte eine junge Frau in einem blendend weißen Hosenanzug herbei. „Das ist Irina, sie wird sich um Sie kümmern.“

Die nächsten drei Stunden verbrachte Liv völlig entspannt, eingehüllt von leiser Musik und dem intensiven Geruch duftender Öle. Sie war in einen kleinen Raum geführt worden, in dessen Mitte ein Springbrunnen leise plätscherte, der verschwenderisch mit exotischen Blumen dekoriert war. Nachdem sie sich ausgezogen und in einen weichen, weißen Bademantel gehüllt hatte, genoss sie eine Massage, die wunderbar entspannend war.

„Es ist wirklich himmlisch hier“, murmelte sie schläfrig. „Das könnte immer so weitergehen.“

Irina deckte sie mit einem großen, vorgewärmten Handtuch zu. „Dazu haben wir leider keine Zeit“, meinte sie bedauernd. „Wir müssen uns ja auch noch um Ihre Haare, Nägel und das Make-up kümmern. Und das Abendkleid anpassen. Allzu viel Zeit bleibt uns nicht.“

Liv hob den Kopf. „Zeit … bis was geschieht?“

„Bis Mr. Lucarelli Sie abholt. Er wird kurz vor acht Uhr hier sein. Und bis dahin wollen wir alles tun, damit Sie wunderschön aussehen.“

„Ich weiß überhaupt nicht, was das alles soll“, sagte Liv vor sich hin, „aber ich zerbreche mir auch nicht mehr den Kopf.“ Sie schloss die Augen und ließ sich zurücksinken. „Jetzt wird mir klar, was ich bisher in meinem Leben vermisst habe. Ich frage mich, wie ich künftig ohne eine solche Massage jeden Tag weiterleben soll …“

Stefano sah auf die Uhr, als er die Lobby des Hotels betrat. Wenn Liv sich nicht verspätete, würden sie es pünktlich schaffen.

Er war ungeduldig, aber er hatte dem Personal des Wellnesscenters genaue Anweisungen gegeben. Gerade wollte er sein Handy aus der Tasche nehmen, um nachzufragen, als die Fahrstuhltür sich öffnete und Liv heraustrat.

Im ersten Moment war er sprachlos. Das silberfarbene, lange Kleid glitzerte im Licht der Kronleuchter. Es fiel in einer eleganten Linie von ihrem Nacken bis auf den Boden und betonte ihre weibliche Figur so eindrucksvoll, dass jeder Mann in der Hotelhalle fasziniert zu ihr hinüberstarrte.

Ihr Haar war zu einer eleganten Frisur aufgesteckt, nur gehalten von einer einzigen goldenen, mit Diamanten besetzten Schneeflocke.

Stefano lächelte zufrieden. Die Schneeflocke, die ihr Haar festhielt, hatte er selbst ausgesucht. Kleine, passende Schneeflocken funkelten als Gehänge in ihren Ohren.

Die einzigen Farben, die ihre elegante, kühle Erscheinung schmückten, waren ihr leuchtend roter Mund und das intensive Grün ihrer Augen.

Stefano ging ihr entgegen und gab ihr einen Handkuss. „Sie sehen bezaubernd aus.“

Noch etwas unsicher sah sie ihn an. „Meinen Sie das auch wirklich so?“

„Soll ich es Ihnen beweisen?“ Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. „Wenn ich Sie so sehe, bedaure ich fast, dass wir ausgehen wollen.“

Liv sah das Begehren in seinen Augen und zitterte innerlich. „Ich nehme an, wir gehen zu dem Ball?“

Er lächelte. „Woraus schließen Sie das?“

„Weil ich davon ausgehe, dass Sie sich nicht all die Mühe mit mir gegeben hätten, um bei Luigi einen Teller Spaghetti essen zu gehen“, scherzte sie. „Und dass Sie Max bei Anna untergebracht haben, ist doch auch eindeutig. Und was sollte sonst dieses Ballkleid und alles andere? Übrigens … haben Sie das Kleid ausgesucht?“

„Ich habe dem Modeatelier genau erklärt, was ich wollte.“ Er hatte verlangt, sie solle elegant, verführerisch und unglaublich weiblich aussehen.

Und sein Wunsch war hundertprozentig in die Tat umgesetzt worden, wie er feststellte, als er noch einmal seinen Blick bewundernd über sie gleiten ließ.

„Das Kleid ist wunderschön“, murmelte Liv, „und die Diamanten auch. Ich habe fast ein bisschen Angst, sie zu tragen. Was ist, wenn ich sie nun verliere?“

„Sie gehören Ihnen“, sagte Stefano. „Hoffentlich haben Sie Freude daran.“ Da er wusste, wie viel Wert sie auf Unabhängigkeit legte, war er unsicher, wie sie auf seine Bemerkung reagieren würde.

Das Lächeln, mit dem sie ihn ansah, nahm ihm die Sorge und ließ ihn gleichzeitig ein brennend heißes Gefühl in den Hüften verspüren.

„Ich weiß, dass ich sie Ihnen gleich morgen früh zurückgeben müsste“, bekannte sie, „aber das bringe ich nicht fertig. Sie sind so wunderschön. Ist das unverschämt von mir?“

Autor

Sarah Morgan

Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 18 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen. Manchmal sitzt Sie...

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Lori Wilde wollte schon immer Autorin werden. Sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester und konnte in dieser Zeit auch nebenbei ihrer Leidenschaft zu schreiben nachgehen. Ihr erstes Buch hat sie 1994 veröffentlicht.

Sie arbeitete 20 Jahre als Krankenschwester, doch ihre große Liebe ist die Schriftstellerei. Lori Wilde liebt das Abenteuer....

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