Unsere italienische Affäre

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Bei einer Wanderung an der Amalfifküste wird Mika von dem faszinierenden Rafe vor dem Absturz bewahrt. Schnell fasst sie Vertrauen zu ihm. Als er sie zärtlich in seine Arme zieht, gibt sie sich rückhaltlos hin. Ein Fehler? Noch ahnt sie nicht, wer ihr Retter wirklich ist …


  • Erscheinungstag 21.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521383
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

So fühlte sich also die Freiheit an!

Raoul de Poitier sog tief die Luft in seine Lungen, als er sich nach einem Aufstieg von rund zweitausend Stufen endlich der unglaublichen Aussicht widmen konnte.

Die ganze Welt lag zu seinen Füßen.

Nun ja … zumindest ein großer Teil der Amalfiküste am Mittelmeer. In weiter Ferne konnte er unten in Praiano einen blauen Punkt ausmachen – den Swimmingpool auf dem Dach des Hotels, in dem er übernachtet hatte. Daneben ragte der Glockenturm der uralten Kirche aus den weißen, mit Terrakottaziegeln gedeckten Häusern des kleinen Küstendorfes.

Hinter dem Dorf erstreckte sich bis zum Horizont das Meer, das im schwindenden Abendlicht in einem atemberaubenden Saphirblau leuchtete. Irgendwo dort draußen war seine Heimat, das Fürstentum Les Iles Dauphins. Die Delfininseln …

Raoul atmete mit einem Seufzen aus und spürte mit einem Mal so etwas wie Heimweh. Oder Schuld?

Sein Großvater war sehr krank. Sein Herz wurde zusehends schwächer und es war an der Zeit, die Verantwortung und Herrschaft an den Thronfolger zu übergeben.

Seine Großmutter würde sehr besorgt sein. Nicht nur um ihren geliebten Ehemann, sondern auch um ihren Enkel, den sie nach dem tragischen Tod seiner Eltern wie ihren eigenen Sohn aufgezogen hatte. „Ich verstehe dich nicht, Raoul. Urlaub … ja. Zeit, um dich auf das vorzubereiten, was vor dir liegt, und auf deine Ehe … Aber allein? Inkognito? Das bist nicht du und das passt einfach nicht zu dir.“

„Vielleicht ist es genau das, was ich herausfinden muss, Großmama, wer ich eigentlich bin. Und jetzt ist meine allerletzte Chance dazu.“

Nein, es war kein Schuldgefühl, was Raoul spürte. Er brauchte diese Zeit, um sich auf sich selbst zu besinnen. Um sicher zu sein, dass er bereit war, seine eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, wenn dies dem Schutz und Wohle einer gesamten Nation diente – so klein diese auch sein mochte. Er war zweiunddreißig, doch bisher hatte er sich noch nie beweisen müssen. Natürlich hatten sich seine offiziellen Verpflichtungen auch auf sein Privatleben ausgewirkt, ein Prinz musste schließlich gewisse Regeln beachten. Doch trotz dieser Einschränkungen hatte Raoul den Beruf erlernen können, der ganz oben auf seiner Wunschliste gestanden hatte: Helikopterpilot.

Und über einen Mangel an schönen Frauen an seiner Seite konnte er sich auch nicht beklagen …

Doch all dies sollte sich sehr bald ändern. Die Grenzen, in denen Raoul sich bewegte, würden enger werden. Bald würden seine Tage bis auf die Minute genau durchgeplant sein.

Dass dieser Moment kommen musste, war ihm immer klar gewesen. Er war sich nur nicht sicher, ob er jetzt schon dafür bereit war.

Genau das musste er irgendwie herausfinden. Er wollte sich selbst testen, ganz auf sich allein gestellt sein. Aus diesem Grund hatte Raoul einen Ort gewählt, an dem niemanden wusste, wer er war.

War es vielleicht doch Heimweh, was er spürte? Er hatte ein eigenartiges Gefühl von Einsamkeit, das er nicht an sich kannte. Nein. Schon vor vielen Jahren, als er auf die besten Schulen Europas geschickt worden war, hatte er lernen müssen, mit Heimweh umzugehen. Raoul war gern auf Reisen, wenngleich die Liebe, die er für seine Familie und seine Heimat fühlte, ihn immer wieder nach Hause zog.

Es war wohl Erleichterung, was er fühlte. Er hatte Zeit gewonnen. Eine Gnadenfrist, bevor er sich der enormen Verantwortung stellen musste, eine Nation zu führen. Außerdem würde er heiraten müssen. Es handelte sich um eine Ehe, die seine Großeltern bereits arrangiert hatten, als er noch ein Kind war. Sie hatten dabei darauf abgezielt, zwei vergleichbare Fürstentümer miteinander zu verbinden, um damit beide zu stärken.

Raoul wandte seinen Blick vom Meer ab. Sein Fürstentum war von hier aus nicht zu sehen und er würde versuchen, Les Iles Dauphins für eine Weile aus seinen Gedanken zu verbannen.

Er war frei. Ein Rucksack mit dem Allernötigsten war alles, was er bei sich trug, und er konnte gehen, wohin auch immer er wollte. Seit gestern wusste niemand mehr, wo er war, und mit ziemlicher Sicherheit würde ihn hier auch niemand erkennen. Sein Haar wuchs schnell und er hatte bewusst den letzten Friseurtermin ausgelassen. Auch sein Bart war schon recht ansehnlich geworden. Mit der dunklen Sonnenbrille konnte er ohne Weiteres als Tourist aus Italien, Frankreich oder Spanien durchgehen.

Auf seinen Lippen formte sich ein Schmunzeln. Wenn er anstelle des Rucksacks auch noch einen Gitarrenkoffer auf dem Rücken hätte, würde er wahrscheinlich aussehen wie ein Zeitreisender aus den Sechzigern. Er war vollkommen auf sich selbst gestellt, und das – so schien es ihm – zum ersten Mal in seinem Leben. Keine Familie, keine Freunde und vor allem keine Bodyguards oder lauernden Paparazzi. Raoul konnte einfach er selbst sein.

Jetzt musste er nur noch herausfinden, wer genau das eigentlich war, denn er hatte den Eindruck, dass bestimmte Schichten seiner Persönlichkeit seit einer Ewigkeit verschüttet lagen. Bereits seine frühesten Kindheitserinnerungen waren mit dem Gefühl verbunden, sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten zu müssen. Im Gegensatz zu anderen Kindern wurden an einen Thronfolger schon von klein auf gewisse Forderungen gestellt.

Als Fünfjähriger hatte er die nationale Trauerfeier für seine Eltern ohne eine einzige Träne bis zum Ende durchgestanden. Danach hatte er sich ins Bett gelegt und so getan, als würde er tief und fest schlafen. Selbst bei den sorgsam für ihn ausgewählten Freunden hatte der kleine Thronfolger immer darauf geachtet, was er sagte. Und als junger Erwachsener war ihm stets bewusst gewesen, welche großen Opfer seine Großeltern gebracht hatten, die bereits ein Kind großgezogen hatten und danach noch einmal von vorn beginnen mussten. Das Gefühl, für immer und ewig in der Schuld seiner Großeltern zu stehen, hatte Raoul ständig begleitet.

Nie hatte er durch ein Besäufnis oder durch eine indiskrete Affäre einen Skandal verursacht. Beim Studium und bei der militärischen Ausbildung hatte er herausragende Leistungen erbracht, und danach hatte er als Helikopterpilot für Militärtransporte und Rettungseinsätze geglänzt. Die Reise hierher war im Grunde seine erste Auszeit!

Manchmal kam es ihm so vor, als sei sein Leben nichts als eine Aneinanderreihung von für die Öffentlichkeit inszenierten Fotografien. Das Bilderbuchleben eines glücklichen Prinzen. Und im nächsten Fotoalbum würde der ganze Prunk seiner Thronbesteigung abgebildet sein. Dann würden Bilder von seiner Hochzeit folgen und danach Fotos des nächsten Thronerben.

Das auf den Fotos abgebildete Glück war keine Illusion. Raoul liebte sein Leben und war sich darüber im Klaren, wie privilegiert er war. Doch sein Hunger nach dem Unbekannten war in letzter Zeit immer stärker geworden. Gab es etwas Greifbares, das die Essenz seiner Person bildete? Etwas, das auch dann existiert hätte, wenn er nicht als Prinz geboren worden wäre?

Ihm blieben vier Wochen. Um eine Antwort auf seine Fragen zu finden, wollte Raoul sich einer Herausforderung stellen, die ihn an seine Grenzen bringen würde. Sein Rucksack enthielt nur, was zum Überleben unbedingt nötig war – ein Telefon, einen gefälschten Ausweis, etwas Geld und Wechselkleidung. Der anstrengende Aufstieg zum Wanderweg von Praiano nach Positano war der Beginn zu einer sehr persönlichen Reise.

Doch war Raoul wirklich ganz allein? Das hatte er zumindest geglaubt.

Mit einem Stirnrunzeln blickte er auf den verschlungenen Pfad, der vor ihm lag. Er konnte Stimmen hören. Oder zumindest eine Stimme.

Eine Frauenstimme.

„Aiuto! Per favore aiutatemi …“

Das Schwindelgefühl war wie aus dem Nichts gekommen.

Und es hatte sie vollkommen gelähmt.

Tamika Gordon klammerte sich verzweifelt an die Felswand und wagte nicht, die Augen zu öffnen. Wenn sie es versuchte, würde ihr nur wieder schwindelig werden. Alles würde sich wieder zu drehen beginnen und nichts würde sie dann noch davor bewahren, diesen entsetzlich steilen Abhang hinunter in die Tiefe zu fallen. Doch selbst mit geschlossenen Augen konnte Mika den ungesicherten schmalen Wanderweg in aller Deutlichkeit vor sich sehen.

Hinzu kam noch, dass die Panik, die sie dazu gebracht hatte, um Hilfe zu rufen, fast genauso schrecklich war wie der gähnende Abgrund.

Noch nie zuvor hatte Mika aus heiterem Himmel einen Panikanfall bekommen. Das passte gar nicht zu ihr! Sie war ein Freigeist, stolz auf ihre Unabhängigkeit – und stolz darauf, sich nicht so leicht unterkriegen zu lassen! Natürlich war sie hart im Nehmen. Kein Wunder, wenn man als Kind von einer schrecklichen Pflegefamilie zur nächsten geschleift worden war, um dann als Teenager auf der Straße zu landen.

Alles, was sie in ihren neunundzwanzig Jahren auf dieser Erde bisher erreicht hatte, hatte Mika sich selbst erkämpft. Und sie war davon überzeugt, dass sie auch in Zukunft mit allen Herausforderungen, die das Leben für sie bereithielt, fertigwerden würde.

Doch das hier … das überstieg ihre Kräfte. Mit reiner Willensstärke hatte sie so lange sie konnte dagegen angekämpft, doch die Symptome waren nicht mentaler, sondern eher körperlicher Natur. Das Schwindelgefühl war immer schlimmer geworden, bis sie den Punkt völliger Hilflosigkeit erreicht hatte und nur noch ein schlotterndes Häuflein Elend war, das sich an einem Büschel trockenen Berggrases festhielt. Es war unendlich erniedrigend. Sicher würde sie vor allem wütend sein, sobald sie sich aus dieser Lage befreit und die Panik nachgelassen hatte. Falls sie sich jemals aus dieser Lage befreien würde …

Bisher war sie auf diesem angeblich so beliebten Wanderweg noch niemandem begegnet. Doch das war wohl ihre eigene Schuld. Sie war bewusst viel später als die normalen Touristen in Praiano aufgebrochen, weil das Licht zum Fotografieren dann viel besser sein würde. Und wahrscheinlich hatte sie am Anfang des Wanderweges auch zu viel Zeit in dem Kloster zugebracht. Dort hatte Mika ausgiebig fotografiert und ihr Notizbuch mit Beobachtungen und Eindrücken gefüllt.

Wie viel Zeit blieb ihr noch bis zum Einbruch der Dunkelheit?

„Hilfe!“ Diesmal versuchte sie es auf Englisch. „Kann mich jemand hören?“

Ihre Stimme brach. Hinter den geschlossenen Lidern stiegen ihr die Tränen auf. Sich diese Verzweiflung eingestehen zu müssen, die sie seit der Zeit, als sie sich noch nicht selbst beschützen konnte, nicht mehr gefühlt hatte, war wohl der schwerste Moment ihres gesamten Erwachsenenlebens.

„Ich komme … Halte durch!“

Sie war nicht allein. Jemand schien sie gehört zu haben. Inmitten der Dunkelheit ihrer Verzweiflung leuchtete plötzlich ein Funke Hoffnung auf. Die Stimme war männlich und die Wörter klangen abgehackt, als ob er außer Atem war. Sie hörte Schritte auf dem spärlichen Schotter des Pfades.

Rannte er?

Zwischen der steilen Felswand und dem schrecklichen Abhang ins Nichts lag doch nicht mehr als ein halber Meter.

Seine Schritte wurden langsamer und kamen dann zum Stillstand.

„Was ist passiert?“ Der Unbekannte hatte eine tiefe Stimme und sprach mit einem leichten Akzent, den sie nicht zuordnen konnte. „Bist du verletzt?“

Mika schüttelte ihren Kopf, ohne jedoch die Augen zu öffnen.

Die Erleichterung darüber, nicht mehr allein zu sein, verschlug ihr für einen Augenblick die Sprache.

„Schwindelanfall“, stieß sie schließlich hervor und hasste es, wie weinerlich ihre Stimme dabei klang. „Ich … ich kann mich nicht bewegen.“

„Du bist in Sicherheit“, sagte er. „Ich kümmere mich um dich.“

Oh Gott … hatte das überhaupt schon einmal jemand zu ihr gesagt?

Das Gefühl der Hilflosigkeit hatte sie in ihre Kindheit zurückversetzt und somit fiel es ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie es sich für das kleine verängstige Mädchen von damals angefühlt hätte, wenn ihr jemand diese Worte gesagt hätte. Zu spüren, wie die Angst und die Verzweiflung nachzulassen begannen. Sie konnte sich plötzlich vorstellen, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn jemand damals so mit ihr gesprochen und es auch wirklich so gemeint hätte. Wenn jemand sie beschützt und geliebt hätte …

Es war für Mika schrecklich erniedrigend, dass ihr Atem sich plötzlich wie das Schluchzen eines kleinen Kindes anhörte! Schon früh im Leben hatte sie gelernt, dass man um keinen Preis Schwäche zeigen durfte.

„Alles okay“, hörte sie die fremde Stimme sagen. „Dir wird nichts zustoßen. Seit wann sitzt du hier schon fest?“

„Keine Ahnung.“ Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

„Hast du Durst? Ich habe Wasser dabei.“

Sie hörte Schritte auf dem steinigen Untergrund und dann, wie ein Reißverschluss geöffnet wurde. Sie war durstig, doch um trinken zu können, musste sie die Augen öffnen, und was, wenn sich dann wieder alles um sie herum drehen würde? Es war schlimm genug, vor einem Fremden zu weinen, ganz zu schweigen davon, wenn sie sich vor ihm auch noch erbrechen würde.

„Ist schon okay. Ich brauche kein Wasser.“

Einen Moment lang sagte keiner von beiden etwas. „Wie heißt du?“

„Mika.“

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Mika.“

Dieses Mal war es eher ein Lachen als ein Schluchzen, als sie die Luft ausstieß. Ihr Retter hatte sehr gute Manieren. Es klang, als seien sie einander gerade auf einer Cocktailparty vorgestellt worden.

„Mein Name ist Ra … äh … Rafe.“

Sie hatte nicht mehr als eine oder zwei Minuten mit diesem Mann gesprochen und keine Vorstellung davon, wie er aussah, doch dieses Zögern schien irgendwie nicht zu ihm zu passen. Wollte er nicht, dass sie seinen wirklichen Namen kannte? War sie gerade im Begriff, vom Regen in die Traufe zu kommen und ihr Schicksal in die Hand eines Serienkillers zu legen? Oder eines Vergewaltigers?

Es mochte schon fünf Jahre zurückliegen, doch die Angst war noch immer ihr ständiger Begleiter. Wenn Rafe nicht ausgerechnet diesen Moment gewählt hätte, um sie zu berühren, wäre Mika irgendwie damit fertig geworden.

Doch als er jetzt seine Hand auf ihren Arm legte, schreckte sie instinktiv vor seiner Berührung zurück. Bloß fort von hier! Ohne nachzudenken, ließ Mika das Grasbüschel los, an dem sie sich bisher festgehalten hatte. Ihre Knie gaben nach und sie verlor das Gleichgewicht.

Panisch tastete sie nach einem neuen Halt. Als sie etwas Festes hinter ihren Füßen spürte, stemmte sie sich dagegen, verlor jedoch erneut das Gleichgewicht. Während sie unsanft auf ihren Händen und Knien landete, hörte sie im Hintergrund das Fallen von Steinen und direkt neben ihr das leise, aber vehemente Fluchen ihres Retters.

Danach herrschte Stille.

Vorsichtig setzte sich Mika auf und versuchte zu verarbeiten, was gerade passiert war. Noch immer wagte sie nicht, die Augen zu öffnen.

„Alles in Ordnung, Mika?“

„Ja, es tut mir leid. Ich … ich bin abgerutscht.“

„Hmm …“

Sie fühlte, dass ihr Retter sie musterte. „Hab ich dich … äh … getreten?“

„Mich nicht, aber meinen Rucksack, und zwar so, dass er in den Abgrund gefallen ist.“

Entsetzt riss Mika die Augen auf. „Was? Oh nein … Das tut mir so leid …“

„Besser der Rucksack als du.“

Sie wusste nicht, warum, aber der Fremde lächelte sie an. Ein Lächeln, das bis zu seinen Augenwinkeln reichte. Er hatte dunkle Augen. Dunkles, wuscheliges Haar. Um Kinn und Mund waren dichte Stoppeln zu sehen, mehr als ein Dreitagebart, aber noch kein richtiger Bart. Außerdem war dieser Mann groß. Selbst in der Hocke wirkte er noch riesig.

Merkwürdig, dass die Angst nicht zunahm, die seine Berührung noch kurz zuvor bei ihr ausgelöst hatte! Vielleicht waren es seine Augen. Dieser Mann mochte zwar gerade Macht über sie haben, doch er kam ihr überhaupt nicht gefährlich vor. Er wirkte … nett. Warmherzig.

Du bist in Sicherheit. Ich kümmere mich um dich.

„War irgendwas Wichtiges drin? Zum Beispiel dein Portemonnaie?“ Das flaue Gefühl in ihrem Magen erinnerte sie daran, nicht über den Rand der Felswand nach unten zu schauen.

„Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Es wird bald dunkel, Mika, und ich muss dich irgendwie von diesem Weg hier nach unten bringen.“

Mika nickte. Zitternd stand sie auf. Sie richtete ihren Blick auf die massive Felswand neben ihr und streckte ihre Arme aus, um zusätzlichen Halt zu haben.

„Ich überlege, in welche Richtung wir gehen sollten. Du bist schon ziemlich weit auf diesem offenen Stück des Weges gekommen. Es ist wahrscheinlich besser, weiter in Richtung Positano zu gehen, als bei einbrechender Dunkelheit all die Stufen wieder zurück nach Praiano hinunterzusteigen.“

Mika musste schlucken und nickte dann erneut. „Dort wohne ich gerade. In Positano.“

„Der Weg ist hier ziemlich schmal. Möchtest du lieber, dass ich vor dir oder hinter dir gehe?“

„Vor mir, denk ich … Dann kann ich mich auf deine Füße konzentrieren. Wenn ich nicht nach unten in den Abgrund schaue, wird es mir vielleicht auch nicht wieder schwindelig.“

So ging es … zumindest für eine Weile, doch so sehr sie auch versuchte, sich nicht darauf zu konzentrieren, aus dem Augenwinkel sah Mika den Abgrund doch. Sie hatte ihre freie Hand wie eine Art Sichtschutz an den Kopf gelegt, sodass sie diesen Teil des Weges nicht mehr sah. Doch auch das genügte nicht. Ihr Magen begann wieder, sich zusammenzuziehen, und in ihrem Kopf schien sich langsam wieder alles zu drehen. Sie versuchte, ihren Blick nur auf die Stiefel vor ihr zu richten: hochwertige, teuer aussehende Wanderstiefel aus Leder. Die dicken Socken hatte er bis zum Stiefelschaft nach unten gerollt und darüber waren seine nackten Beine zu sehen, unter deren bronzener Haut sich bei jedem Schritt seine Muskeln abzeichneten.

„Wie geht es dir?“

Mika ließ ihre Hand fallen, um ihren Retter besser ansehen zu können. Er hatte sich zu ihr umgedreht, weil sie nicht auf seine Frage reagierte. Sie versuchte zu lächeln. Doch das Schwindelgefühl war noch schlimmer geworden, nachdem sie aufgeschaut hatte.

„Komm … vielleicht hilft es, wenn du meine Hand nimmst.“

Da war seine Hand, direkt vor ihr, die Handfläche zeigte nach unten und die Finger streckten sich ihr einladend entgegen.

Mika war hin und weg.

Nicht von seiner Hand an sich, obwohl er wunderbar feingliedrige Finger hatte. Nein. Sondern vielmehr von der Vorstellung, ihre eigene Hand in seine zu legen. Die fünf Jahre, in denen sie es nicht zugelassen hatte, dass ein Mann sie berührte, waren eine sehr lange Zeit gewesen.

Doch der Überlebenswille ist eine starke Triebkraft, die alles andere in den Schatten stellt. Stark genug, um die Schutzmauer zu durchbrechen, die in diesem Moment fehl am Platze war. Sie legte ihre Hand in die Hand des fremden Mannes und spürte, wie er seine Finger um ihre schloss. Sie konnte die Kraft seines Arms, seines gesamten Körpers spüren. Die Sicherheit, die in jedem seiner Schritte lag.

Er ging ein kleines Stück vor ihr, weil auf dem Weg nicht genügend Platz war, um nebeneinander zu laufen. Doch alles, was zählte, war seine Hand.

Er hielt sie sicher und fest. Er kümmerte sich um sie …

Diese Mika war eine Kämpferin.

Und sie hatte etwas Wildes an sich.

Sie war anders als alle Frauen, die Raoul bisher kennengelernt hatte. Schon die Tatsache, dass sie allein hier draußen unterwegs war, zeigte ihre Unabhängigkeit und ihren Mut! Dabei war sie von ihrer Statur her eher klein und zierlich. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, was sie wahrscheinlich jünger aussehen ließ, als sie tatsächlich war. Und dann diese großen, dunklen Augen, die erahnen ließen, dass sie für ihr Alter bereits viel zu viel erlebt hatte …

Ihr dunkles kurzes Haar stand in alle Richtungen ab und hätte jemandem, der sich eigentlich zu Frauen mit langem blondem Haar hingezogen fühlte, unattraktiv erscheinen müssen. Doch er konnte nicht leugnen, dass es Mika wirklich gut stand. Wie auch ihre Kleidung, die eher nach einem Strandspaziergang als nach einer Bergtour aussah: ausgefranste kurze Jeans und ein lässiges weißes Top, das nicht ganz bis zum Bund der Shorts reichte.

Auch die ausgetretenen Turnschuhe waren nicht wirklich passend fürs Wandern – vor allem wenn man sie ohne Socken trug! Noch ungewöhnlicher fand Raoul ihr schwarzes Tribaltattoo, das sich wie ein Ring aus spitz zulaufenden Wellen um ihren Oberarm schlang. Als er jedoch den kleinen Anhänger bemerkte, der an einem einfachen Silberkettchen um ihren Hals hing, kannte seine Überraschung keine Grenzen mehr.

Ein Delfin …

Das Symbol seines Landes. Dieser Anhänger gab ihr eine direkte Verbindung zu allem, was ihm im Leben lieb und teuer war. Was sie wohl denken würde, wenn sie dies wüsste?

Dass Raoul diese Frau für eine wilde Kämpfernatur hielt, lag jedoch weniger an ihrem Äußeren oder daran, dass Mika ganz allein unterwegs war. Es lag vor allem an dem instinktiven Zurückschrecken, mit dem sie auf seine beruhigend gemeinte Berührung reagiert hatte.

An dem Zittern, das er fühlen konnte, als sie schließlich seine Hand genommen hatte.

Oder vielleicht war es die verbissene Art, in der sie ihm gefolgt war, obwohl es sie ganz offensichtlich eine enorme Überwindung kostete. Sie war kreidebleich gewesen, als er sich zu ihr umgedreht hatte. Er sah, dass sie sich alles abverlangte, sah ihre Entschlossenheit, sich nicht geschlagen zu geben. Und beinahe so etwas wie Zorn darüber, dass sie sich in dieser kläglichen Lage befand. Ein bisschen wie ein wildes Tier in der Falle.

Einige Hundert Meter weiter entlang des Wegs, der hier eher einem Ziegenpfad glich – vorbei an einem verwitterten Holzschild mit der Aufschrift Praiano auf der Vorder- und Noecelle auf der Rückseite –, konnte Raoul spüren, dass das Zittern in ihrer Hand nachgelassen hatte. Zu Beginn hatte nur er ihre Hand festgehalten, doch jetzt erwiderte sie den Druck seiner Finger. Und Raoul fühlte sich … gut.

Wie ein Beschützer.

Sie hatte nicht gewollt, dass er sie berührte. Doch als sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war, hatte sie es zugelassen.

Sie vertraute ihm und er würde sich ihres Vertrauens würdig erweisen. Er würde sich um dieses wilde weibliche Wesen kümmern, bis er absolut sicher war, dass es ihr wieder gutging.

„Keine Sorge“, sagte er zu ihr. „Es wird nachlassen, sobald du nicht mehr so dicht am Abhang laufen musst.“

„Ich weiß.“ Es klang, als würde sie beim Sprechen die Zähne zusammenbeißen.

„Es muss dir nicht peinlich sein“, fügte er hinzu. „Dinge wie Schwindelgefühle oder Höhenangst haben nichts damit zu tun, wie fit oder stark jemand ist.“

Mika stieß ein leises, verächtliches Lachen aus, weil sie normalerweise nicht zuließ, dass ihr Dinge einfach zustießen, und Raoul konnte plötzlich sehr gut nachfühlen, was gerade in ihr vorging. Wenn er in ihrer Situation gewesen wäre … Wenn er aufgebrochen wäre, um seine Stärken zu entdecken, um mit Selbstvertrauen in die Zukunft gehen zu können, sich dann aber hilflos und vollkommen abhängig von der Hilfe eines Fremden wiedergefunden hätte …

Merkwürdigerweise war er beinahe ein wenig neidisch auf Mika. Vielleicht brauchte er ja auch etwas so Dramatisches, um zu den tiefer gelegenen Schichten seiner Persönlichkeit vordringen zu können. Vielleicht bedurfte es einer solchen Angst, wie sie Mika gerade erlebt hatte, um die eigenen Stärken und Schwächen zum Vorschein zu bringen. Einer Situation, der man sich niemals freiwillig aussetzen würde.

Doch so etwas ließ sich nicht herbeizaubern. Wie die Schwindelgefühle, über die sie gesprochen hatten – entweder man bekam sie oder eben nicht.

Doch auch er war mit einer unerwarteten Situation konfrontiert. Eine Lappalie verglichen mit dem, was Mika gerade durchmachte, doch was in aller Welt sollte er ohne seinen Rucksack tun? Die Kleidung und die Toilettenartikel spielten keine Rolle, doch er hatte auch sein Portemonnaie, den Ausweis und sein Telefon verloren. Es wäre kein Problem gewesen, von einem öffentlichen Telefon aus seine Großmutter anzurufen und um Hilfe zu bitten. Wahrscheinlich würde sie nichts sagen, doch er konnte sich nur zu gut vorstellen, was seine Großmutter insgeheim denken würde: Siehst du, ich hab es dir doch gleich gesagt!

Unter einer falschen Identität heimlich in die Welt hinauszugehen, ziemte sich ihrer Ansicht nach einfach nicht für einen Prinzen …

Aufgeben kam also nicht infrage. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht hatte er ja auf dem Weg nach Positano einen Geistesblitz.

Doch auch nachdem sie eine gute Wegstrecke schweigend hinter sich gebracht hatten, war dem Prinzen noch kein glücklicher Einfall gekommen. Sein Unmut schien sich auf Mika zu übertragen, denn sie zog plötzlich ihre Hand aus seiner.

„Es geht wieder.“

Autor

Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
Mehr erfahren