Warum so scheu, MyLady

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Auf dem imposanten Landsitz ihres frisch angetrauten Gatten könnte Sarah ein herrliches Leben führen. Doch Devon St. Clair, Marquess of Huntingdon, hat sie nicht aus Liebe geheiratet, sondern um einen Skandal zu vermeiden. Er will nur eine Vernunftehe führen. Sarah hingegen träumt vom Glück in seinen starken Armen …


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955760175
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ann Elizabeth Cree

Landsitz – Warum so scheu, MyLady

Roman

Ladies, die Skandale fürchten, wenn es um die Liebe geht

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der englischen Originalausgaben:

The Marriage Truce

Copyright © 2000 by Annemarie Hasnain

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Harlequin Books S.A.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-017-5

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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1. KAPITEL

Devon St. Clair, der fünfte Marquess of Huntington, stand am Fenster seines Schlafzimmers in Henslowe Hall und beobachtete, wie die Kutsche des Earls of Monteville auf der kreisrunden Zufahrt hielt. Die Stirn gerunzelt, ließ er den Vorhang fallen und wandte sich ab. Die Aussicht auf den bevorstehenden Ball erschien ihm ungefähr so reizvoll wie ein Aufenthalt im Newgate-Gefängnis. Insbesondere nachdem die Bewohner von Monteville House eingetroffen waren. Wie sollte er Sarah Chandlers Gesellschaft einen ganzen Abend lang ertragen?

“Devon?” Seine jüngere Schwester Jessica trat ein. Sie trug ein hellrosa Ballkleid. Aus dem dichten, hochgesteckten dunklen Haar hingen ein paar kleine Locken herab, die ihr hübsches Gesicht umrahmten. Schmerzlich krampfte sich sein Herz zusammen. Sie wirkte viel zu jung, um ihre eigene Verlobung zu feiern. “Bist du bereit?”, fragte sie. “Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen, mich nach unten zu begleiten.”

“Natürlich nicht. Obwohl es mich überrascht, dass Adam diese Ehre nicht für sich beansprucht.” Ein Lächeln erwärmte seine normalerweise kühle Miene. “Wie zauberhaft du aussiehst.”

“Und du bist hochelegant”, meinte sie und begutachtete seinen schwarzen Frackrock und die Kniehosen aus schwarzer Seide. “O Devon, also bist du wirklich und wahrhaftig hier. Darüber freue ich mich sehr. Ich weiß, es ist nicht einfach für dich.”

“Nun ja, ich war nicht allzu begeistert, als du dich ausgerechnet in einen Vetter der Chandlers verliebt hast, dessen künftige Ländereien an das Gut Monteville grenzen.”

Zerknirscht senkte sie den Blick. “Und ich habe mich so bemüht, meine Gefühle zu bekämpfen.”

“Schon gut, ich wollte dich nur ein bisschen hänseln.” Er ging zu ihr und ergriff ihre behandschuhte Hand. “Schau nicht so beklommen drein, Jessica. Ich mag deinen jungen Mann. Und ich hätte eurer Verlobung niemals zugestimmt, wenn ich nicht glaubte, dass er dich glücklich machen will. Heute Abend werde ich mich mustergültig benehmen. Das verspreche ich dir.”

“Deshalb sorge ich mich nicht. Was immer die Leute auch behaupten – du hast nie etwas Falsches getan, und die Schuld liegt einzig und allein bei Lord Thayne.” Sekundenlang wurden ihre haselnussbraunen Augen von Zorn überschattet, dann von einem neuen Unbehagen. “Ich will nicht, dass du wieder … verletzt wirst.”

Beruhigend drückte er ihre Hand, bevor er sie losließ. “Keine Bange, das alles gehört der Vergangenheit an. Komm, ich führe dich hinunter. Sonst glaubt Adam womöglich, du hättest dich anders besonnen.”

Arm in Arm stiegen sie die geschwungene Treppe hinab. Aus dem Ballsaal drangen Gelächter und fröhliches Stimmengewirr. Ein bitteres Lächeln umspielte Devons Lippen. Es fiel ihm verdammt schwer, sich von den Chandlers fern zu halten. Vor einem Monat in London war es unmöglich gewesen, Sarah Chandler aus dem Weg zu gehen. Und nun musste er ihren Anblick einen ganzen Abend verkraften. Eigentlich sollte das keine Probleme aufwerfen, wenn er sich stets am anderen Ende des Raumes aufhielt.

Teilweise hinter einer griechischen, von Efeu und Seidenblumen umrankten Säule verborgen, stand Sarah Chandler in einer Ecke des Ballsaals und wünschte nicht zum ersten Mal an diesem Abend, sie könnte nach Hause fahren. Doch es wäre zu augenfällig gewesen, Kopfschmerzen vorzuschützen.

Wenigstens hatte niemand gestritten. Aber es lag eine fast greifbare Spannung in der Luft, und die Gäste hatten sich in zwei Lager geteilt, wie feindliche Heere auf einem Schlachtfeld. Auf einer Seite standen die Verwandten der Chandlers, neben der hohen Doppeltür, die zur Halle führte, und gegenüber, neben den gläsernen Verandatüren, die St. Clairs. Die übrigen Gäste postierten sich an den beiden anderen Wänden, und ein paar tapfere Ballbesucher wanderten hin und her. Noch schlimmer wäre es, würde Sarahs Bruder Nicholas an der Verlobungsfeier teilnehmen. Zum Glück hielt er sich in Schottland auf.

Als sie über die Köpfe der Tanzpaare hinwegspähte, entdeckte sie Adam, ihren Vetter zweiten Grades. Er tanzte gerade eine Quadrille mit seiner Verlobten, und die beiden schauten sich verliebt in die Augen. Bedauerlicherweise verabscheute Jessicas Bruder die Chandlers.

Sarah schaute zur St. Clair-Formation hinüber. Ausnahmsweise starrte Lord Huntington sie nicht an. An die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, schien er die Ereignisse mit sarkastischem Amüsement zu betrachten. Das war nicht ungewöhnlich. Letzten Monat hatte er in London die gleiche Miene zur Schau getragen. Anscheinend störte ihn die gedrückte Stimmung im Ballsaal nicht.

Nur ein oder zwei Mal hatte Sarah eine seltsame Verletzlichkeit in seinen attraktiven Zügen wahrgenommen und das unsinnige Bedürfnis verspürt, auf ihn zuzugehen. Natürlich wäre er sofort geflohen. Als spürte er ihr Interesse, wandte er sich in ihre Richtung und hob spöttisch die Brauen. Errötend senkte sie den Kopf. Warum hatte sich Adam ausgerechnet in Lord Huntingtons Schwester verlieben müssen? Hoffentlich würde sich der Marquess nicht verpflichtet fühlen, das Henslowe-Landgut regelmäßig zu besuchen.

“Sarah, versteckst du dich schon wieder?”

Verwirrt zuckte sie zusammen. Ihre Kusine Amelia, Lady Marleigh, hatte sich zu ihr gesellt.

“Nicht, dass ich’s dir verübeln würde”, fuhr die hoch gewachsene, anmutige Blondine mit den lebhaften blauen Augen fort. “So einen grauenvollen Ball habe ich nie zuvor besucht – und noch nirgends so viele Leichenbittermienen auf einmal gesehen.”

“Und diese Stimmung – wie die Ruhe vor einem Sturm …”

“Was glaubst du, welch ein Gewitter losbrechen wird? Ein Duell?”

“Um Himmels willen, das würde ich nicht ertragen.”

“Vielleicht sollten wir zu den St. Clairs hinübergehen und Lord Henslowe bitten, dich Huntington als nächste Tanzpartnerin zu präsentieren.” Amelia kicherte boshaft. “Damit würden wir für ein bisschen Abwechslung sorgen und die gespannte Atmosphäre auflockern.”

“Nein, besten Dank”, erwiderte Sarah schaudernd. “Wahrscheinlich würde er mir wortlos den Rücken kehren.” Oder noch schlimmer – er würde die Herausforderung annehmen. Dann müsste sie seinen höhnischen Blick und seine bissigen Kommentare während einer ganzen Tanzserie über sich ergehen lassen. So wie in London, wo Lady Ralston den unverzeihlichen Fehler begangen hatte, sie an der Dinnertafel neben dem Marquess zu platzieren … Bei dieser Erinnerung fröstelte Sarah immer noch.

“Bist du sicher? Dauernd starrt er dich an. Das ist sogar John aufgefallen. Normalerweise bemerkt er so was nie. Wäre es möglich, dass du gewisse Gefühle in Lord Huntington erregst?”

“Mach dich nicht lächerlich!”, fauchte Sarah. “Er hasst mich. Was ich ihm nicht einmal übel nehmen kann.”

Amelia verdrehte die Augen. “Wie albern! Ich finde diesen Streit grauenhaft. Gewiss, das war eine sehr unerfreuliche Affäre. Aber seither sind fast zwei Jahre vergangen. Wenn ich auch verstehe, dass er nichts mehr von Nicholas wissen will – was wirft er dir vor? Du hattest doch gar nichts damit zu tun.”

Leider täuschte sie sich. Sarah hatte sehr viel damit zu tun. Hätte sie Mary nicht eingeladen, wäre sie nicht so besorgt um Mama und so naiv gewesen, würde sie jetzt keine Schuldgefühle empfinden.

“Jedenfalls wärst du mit Huntington besser dran als mit Cedric Blanton”, bemerkte Amelia und klappte ihren Fächer zu. “Ich fürchte, er will dich wieder zum Tanz auffordern. Wenn du noch einmal mit ihm tanzt, wird man euch für verlobt halten.”

“O Gott …” Sarah drehte sich um und sah ihren unwillkommenen Bewunderer tatsächlich auf sich zukommen. Vor einem Jahr hatte der etwa 30-jährige Mann ein kleines Landgut in der Nähe gekauft und wenig später sein Interesse an ihr bekundet. Sogar in London war er aufgetaucht, wo sie einen Monat lang bei Amelia und deren Ehemann John gewohnt hatte.

“Da du’s anscheinend nicht fertig bringst, ihm einen Korb zu geben, solltest du das Weite suchen”, schlug Amelia vor. “Geh schon! Ich werde ihn mit meiner geistreichen Konversation ablenken.”

Dankbar nickte Sarah und eilte an der Wand des Ballsaals entlang. Es war wohl am besten, wenn sie durch eine der Glastüren auf die Veranda floh. Unglücklicherweise hatten sich die St. Clairs auf dieser Seite des Raums versammelt. Nun, vielleicht würde man gar keine Notiz von ihr nehmen. Plötzlich versperrte ihr eine rundliche ältere Frau den Weg. Um ihr nicht auf die Zehen zu steigen, trat Sarah beiseite, und ihr Fuß landete auf dem Schnallenschuh eines Gentleman. Verlegen blickte sie auf. “Oh, verzeihen Sie …” Als sie sein Gesicht erkannte, erstarb ihre Stimme.

Lord Huntington schaute genauso verwirrt drein, wie sie sich fühlte. Dann zog er arrogant die Brauen hoch. “Miss Chandler, allmählich gewinne ich den Eindruck, Sie legen es darauf an, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.”

“Da irren Sie sich”, fauchte sie.

“Wieso laufen Sie mir dann immer wieder in die Arme?”

“Genauso gut könnte ich fragen, warum Sie mir dauernd im Weg stehen.”

Sein spöttischer Blick trieb ihr das Blut in die Wangen. “Vielleicht, weil ich unsere Bekanntschaft vertiefen will.”

“Versuchen Sie mich zu ärgern, Sir?”

“Aus welchem Grund sollte ich diesen Wunsch verspüren?”

“Keine Ahnung. Würden Sie mich vorbeilassen?”

“Wäre das ratsam? Dies ist die St. Clair-Seite des Saals. Kehren Sie lieber um, und bringen Sie sich in Sicherheit. Außerdem scheint es unserem Gastgeber zu missfallen, dass Sie mit mir sprechen.”

Unauffällig spähte Sarah in Lord Henslowes Richtung. In der Tat, er starrte sie mit finsterer Miene an. Seufzend wandte sie sich ab. Einfach lächerlich. Warum durfte sie nicht selbst bestimmen, mit wem sie sich unterhielt? Über Lord Huntingtons Schulter beobachtete sie Cedric, der Amelia gerade verließ und sich suchend umschaute. Ein paar Sekunden später entdeckte er sie und näherte sich zielstrebig. “Wenn Sie mich entschuldigen würden, Sir – ich kann nicht den ganzen Abend hier herumstehen und Unsinn mit Ihnen reden.”

“Wollen wir Unsinn reden, während wir tanzen?”, fragte Huntington.

Sarah schluckte krampfhaft. “Bitte, Sir, hänseln Sie mich nicht … Ich muss mich um meinen Großvater kümmern …” Während sie auf die Veranda eilte, wusste sie nicht, ob sie vor Huntington oder Blanton floh.

Devon schaute ihr nach. Wollte sie Lord Monteville im Garten suchen? Im Spielsalon würde sie ihn eher finden. Ärgerlich runzelte er die Stirn. Warum musste er sie jedes Mal verspotten, wenn sie sich begegneten? Um ihre schönen Wangen erröten zu sehen? Wenn er vernünftig wäre, würde er sich von ihr fern halten. Ihr sichtliches Entsetzen über seinen Vorschlag, sie sollte mit ihm tanzen, hatte verraten, wie schrecklich gern sie das tun würde.

“Schon wieder auf Kriegsfuß?” Lord Jeremy Pennington, sein Vetter, tauchte neben ihm auf. Womit hast du Miss Chandler in die Flucht geschlagen?”

“Ich bat sie nur um einen Tanz.”

“Darauf hat sie etwas seltsam reagiert. Aber das verstehe ich. Anscheinend bist du wild entschlossen, die arme junge Dame unablässig zu necken.”

“Was soll ich denn sonst tun, wenn sie mich für den Teufel persönlich hält?”

“Mit den Sünden ihres Bruders hat sie nichts zu tun. Vielleicht solltest du eine Versöhnung anstreben. Sonst werden immer wieder peinliche Situationen entstehen. Nachdem Jessica und Adam verlobt sind …”

“Selbst wenn ich’s wollte – Miss Chandler wäre wohl kaum damit einverstanden.”

“Von Miss Chandler habe ich gar nicht gesprochen”, erwiderte Jeremy lächelnd.

Devon wollte antworten, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von Cedric Blanton abgelenkt, der vor einer Terrassentür stand, in den Garten schaute und jemanden zu suchen schien. Wen – das wusste Devon nur zu gut. In London war Blantons brennendes Interesse an Sarah Chandler unübersehbar gewesen. Das beunruhigte Devon – insbesondere seit einem Picknick im letzten Sommer, bei dem er Blanton in letzter Minute daran gehindert hatte, die Tochter des Duke of Wrexton in ein Gebüsch zu zerren.

Als die Musik verstummte, erschien ein Lakai, um das Dinner anzukündigen, und Jeremy wandte sich zu Devon. “Gehen wir? Tante Beatrice hat mir befohlen, sie zu eskortieren. Wenn ich mich verspäte, handle ich mir einen Tadel ein, und dieser Gefahr will ich entrinnen.”

“Ich komme gleich nach.”

“Gut, bis dann.”

In wachsendem Unbehagen beobachtete Devon, wie Blanton in den Garten ging. War Sarah leichtsinnig genug, sich immer noch da draußen herumzutreiben? Hastig ließ er den Blick über die Gästeschar schweifen, die zum Ausgang strömte. Aber er entdeckte keine schlanke Gestalt in cremefarbenem Kleid mit hochgestecktem kastanienroten Haar.

Kurz entschlossen eilte er in den kühlen, dunklen Garten. Wolkenschleier verhüllten den Mond. Zwischen hohen Büschen drangen Stimmen hervor. Er beschleunigte seine Schritte, und wenige Sekunden später erblickte er eine Frau, die sich in Blantons Armen wand. Nachdem sie ihn abgewehrt hatte, packte er sie sofort wieder, und Devon hörte, wie die Seide ihres Kleids zerriss.

“Lassen Sie mich los!”, zischte sie.

“Nein, meine Liebe, ich muss mit Ihnen reden.”

Ohne lange zu überlegen, trat Devon vor. “Sir, ich empfehle Ihnen, den Wunsch der Dame zu erfüllen.”

Erschrocken gehorchte Blanton und fuhr herum. Als er den Marquess erkannte, kniff er die Augen zusammen. “Warum mischen Sie sich in eine private Unterredung ein, Sir?”

“Für solche Gespräche sollten Sie einen anderen Ort und Zeitpunkt wählen.” Er warf einen kurzen Blick auf Sarah, die zitternd ihre Arme vor der Brust verschränkte, um ihr zerrissenes Kleid zu verbergen. Anscheinend fühlte sie sich elend, und er bezähmte seinen Zorn nur mühsam. “Aber ich fürchte, Miss Chandler würde Ihre Konversation auch anderswo nicht sonderlich schätzen.”

“Was meinen Sie damit?”, stieß Blanton erbost hervor.

“Ist das nicht offensichtlich? Miss Chandler wollte gehen, und Sie versuchten Sie gewaltsam zurückzuhalten.”

“Keineswegs.” Blanton rückte seine Krawatte zurecht. “Außerdem ist sie meine Verlobte.”

“O nein!”, protestierte Sarah.

“Nun, Sie werden mich wohl oder übel heiraten müssen. Sonst wäre Ihr Ruf gefährdet. Huntington hat Sie in meinen Armen gesehen.”

“Deshalb müssen Sie keine so drastischen Maßnahmen ergreifen”, erklärte Devon verächtlich. “Ich werde Stillschweigen bewahren.”

“Warum sollte ich Ihnen trauen? Sie hassen die Chandlers, und Sie könnten grausame Rache üben, indem Sie den Ruf dieser jungen Dame ruinieren. Damit würden Sie der ganzen Familie schaden.”

“Auf diese Weise würde ich mich niemals rächen. Und jetzt sollten Sie ins Haus zurückkehren. Oder wollen Sie mich morgen bei Tagesanbruch zum Duell treffen?”

Erschrocken zuckte Blanton zusammen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und lief zur Veranda.

Devon musterte Sarah, die reglos dastand, als hätte sie einen Schock erlitten. “Alles in Ordnung?”

“Ja.”

Einerseits wollte er sie schütteln, andererseits tröstend in die Arme nehmen. Dieser unerwartete Gedanke irritierte ihn. “Was zum Teufel haben Sie hier draußen mit Blanton gemacht?”

“Aber ich bin nicht mit ihm hierher gekommen. Er … er ist mir gefolgt.”

“Für eine junge Dame ist es höchst unschicklich, allein durch einen nächtlichen Garten zu wandern. Wissen Sie das nicht? Oder haben Sie versucht, Blanton zu ermutigen?”

Mit dieser Frage schien er sie aus ihrer Trance zu reißen. “Natürlich nicht! Ich wollte einfach nur ein paar Minuten allein sein. Und plötzlich stand er da … Wahrscheinlich war es mein Fehler … Entschuldigen Sie mich jetzt.” Das Oberteil ihres Kleids immer noch an sich gepresst, ging sie an ihm vorbei.

“Warten Sie, Miss Chandler!” Verwirrt drehte sie sich um. “Wie schlimm sieht der Riss in Ihrem Kleid aus?”

“Nicht so tragisch. Nur eine Rüsche ist ein bisschen ramponiert. Diesen Schaden kann man mit Nadel und Faden leicht beheben.”

“So können Sie nicht in den Ballsaal gehen.”

“Was bleibt mir denn anderes übrig? Wenigstens sitzen sie schon alle an der Dinnertafel.”

Devon zeigte auf Sarahs Brosche. “Könnten Sie den Riss damit zusammenhalten?”

“Ja – vielleicht …” Mit bebenden Fingern versuchte sie die Schließe der Brosche zu öffnen, ohne Erfolg.

“Lassen Sie mich das machen.” Seine Hand streifte ihren Busen, und sie erstarrte. Plötzlich waren seine Finger genauso ungeschickt wie ihre, und es fiel ihm schwer, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Sarah duftete viel zu süß, und da sie sich anscheinend bemühte, keine Luft zu holen, nahm sie auch ihm den Atem.

“Sir … jetzt … jetzt sollte ich hineingehen”, stammelte sie.

“Gleich …” Als er die Nadel aus der dünnen Seide zog, hörte er einen schrillen Schrei hinter sich.

“Oh, mein Gott!”

Die Brosche in der Hand, drehte er sich um. Lady Henslowe stand auf dem Gartenweg und griff sich an die Kehle. Sogar im schwachen Mondlicht sah er, wie alles Blut aus ihren Wangen wich. Und über ihrer Schulter nahm Lord Henslowes normalerweise sanftes Gesicht mörderische Züge an.

“Verdammt”, murmelte Devon. Offenbar plante das Schicksal, ihn für jede einzelne seiner zahlreichen Sünden zu bestrafen.

2. KAPITEL

Selbst wenn Sarah hundert Jahre alt werden sollte, würde sie Lord und Lady Henslowes schreckensbleiche Gesichter niemals vergessen. Sie schloss die Augen und hoffte inständig, sie würde im Erdboden versinken oder auf der Stelle sterben.

Weder das eine noch das andere geschah. Widerstrebend hob sie die Lider und sah Lord Henslowe auf Huntington zugehen. “Sir, ich nehme an, wir haben eine Verlobung zu feiern”, sagte er in eisigem Ton.

“Ja”, bestätigte Huntington kühl.

“Nein”, erwiderte Sarah gleichzeitig.

“Meine Liebe!”, rief Lady Henslowe. “Du kannst dem Marquess nicht solche Freiheiten gestatten und dich dann weigern, ihn zu heiraten!”

Lord Henslowes Blick fiel auf Sarahs zerrissene Seidenrüsche. “So danken Sie mir meine Gastfreundschaft, Sir? Indem sie über einen meiner weiblichen Gäste herfallen? Leider ist es zu spät, um die Heirat meines Sohnes und Ihrer Schwester zu verbieten. Aber ich will verdammt sein, wenn Sie je wieder einen Fuß in dieses Haus setzen.” Mit erhobener Hand ging er auf Huntington zu, und Sarah trat hastig dazwischen.

“Nein! Halt! Er … er hat nichts verbrochen. Dafür ist er nicht verantwortlich.”

“Verteidigst du den Schurken auch noch, Sarah? Hat er dich bereits verführt?”

“Natürlich nicht.”

“Und wieso ist dein Kleid zerrissen, Kindchen?”, fragte Lady Henslowe verstört. “Warum bist du mit ihm in den Garten gegangen?”

“Ich wollte nur ein paar Minuten allein sein, und dann …”, begann Sarah.

Entschlossen fiel Huntington ihr ins Wort. “Das ist weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt für dieses Gespräch. Miss Chandler zittert am ganzen Körper. Bitte, Lady Henslowe, führen Sie die junge Dame ins Haus und geben Sie ihr einen Brandy.”

“Ja, gewiss”, stimmte die Gastgeberin zu und ergriff Sarahs Hand. “So ein Schock … Komm, Kindchen.”

“Aber ich will keinen Brandy”, protestierte Sarah.

“Sie bleiben hier bei mir, Huntington”, entschied Henslowe, ohne Sarah zu beachten. “Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten davonlaufen, bevor diese Angelegenheit geregelt ist.”

“Das hatte ich auch gar nicht vor”, erwiderte der Marquess und verschränkte gleichmütig die Arme vor der Brust.

“Bitte, hört doch zu!”, flehte Sarah verzweifelt. “Lord Huntington hat mein Kleid nicht zerrissen, sondern …”

“Gehen Sie, Miss Chandler.” Warnend runzelte Huntington die Stirn.

“Nein, erst muss ich alles erklären.”

“Es gibt nichts zu erklären. Begleiten Sie Lady Henslowe ins Haus.”

Lady Henslowe zerrte an Sarahs Hand. “Komm endlich, Liebes! Du darfst nicht mehr hier herumstehen – in deinem zerrissenen Kleid. O Gott, Sarah, wie konntest du nur! Was wird Monteville sagen?”

“Nicht Großvater. Wenn du ihm davon erzählst … Er wird mich umbringen!”

“Hoffentlich hast du nichts getan, was diese Angst rechtfertigen würde …” Plötzlich erstarrte Lady Henslowe und stöhnte leise. Bestürzt wandte sich Sarah zu dem Mann, der lautlos herangekommen war und jetzt hinter ihr stand. Zum zweiten Mal an diesem Abend wünschte sie, im Erdboden zu versinken.

Kühl und ausdruckslos wanderte der Blick des Earl of Monteville von einem zum anderen und blieb schließlich an Sarahs Kleid hängen. “Ich wüsste gern, warum meine Enkelin im dunklen Garten steht, mit einem Riss in ihrem Kleid.”

“Am besten, wir sprechen unter vier Augen miteinander, Sir”, schlug Huntington vor.

“Nein, das ist nicht nötig”, mischte Sarah sich ein und schüttelte Lady Henslowes Arm ab. “Ich kann alles erklären. Was mein zerrissenes Kleid betrifft – Lord Huntington ließ sich nichts zu Schulden kommen, und er wollte mir nur helfen.”

“Dieser Schurke wollte dich verführen!”, stieß Lord Henslowe hervor.

“O nein!”, rief Sarah empört.

Als sich der Earl zu ihr wandte, wirkte sein Blick nicht unfreundlich. “Am besten gehst du jetzt ins Haus, mein Kind. Offensichtlich frierst du. Penelope wird einen Schal für dich finden.”

“Ja, gewiss.” Lady Henslowe griff wieder nach Sarahs Hand. “Komm, Liebes.”

Widerstandslos folgte Sarah ihrer Tante. Es hatte keinen Sinn, mit ihrem Großvater zu diskutieren. Nun konnte sie nur hoffen, er würde Huntington von dem albernen Entschluss abbringen, sie zu heiraten.

Lord Monteville folgte Devon in Henslowes Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Auf dem wuchtigen Mahagonischreibtisch verbreiteten Kerzen in einem Silberleuchter schwaches Licht. Der Earl ging zum Sideboard und füllte zwei Gläser mit Brandy. “Jetzt können wir sicher einen Drink vertragen.”

“Danke.” Devon nahm ein Glas entgegen. Offenbar beabsichtigte Monteville nicht, ihn zum Duell zu fordern. Wenigstens jetzt noch nicht. Trotz seines Alters war der Earl immer noch ein ausgezeichneter Fechter. Auch Devon wusste seinen Degen zu schwingen. Aber er wollte nicht gegen einen Mann kämpfen, der um einige Jahrzehnte älter war als er. Er nippte an seinem Glas, und nachdem der Brandy seine Kehle erwärmte hatte, wandte er sich zu Monteville.

Mit durchdringenden grauen Augen schaute der Earl ihn an. “Nun, Huntington? Würden Sie mir das kleine Drama im Garten erklären?”

“Lord und Lady Henslowe trafen Miss Chandler und mich allein zwischen den Büschen an.”

“Das war alles? Warum gewann Penelope den Eindruck, Sarah wäre kompromittiert worden?”

“Meine Hand berührte ihre Brust.”

“Ah, jetzt wird die Sache etwas delikater. Aber es gibt sicher einen Grund, warum Sie das taten.”

“Ich versuchte den Verschluss einer Brosche zu öffnen, die Miss Chandler brauchte, um einen Riss in ihrem Kleid zu kaschieren.”

“Und wie ist dieser Riss entstanden?”

Devon hatte nicht vor, Cedric Blanton zu erwähnen. “Keine Ahnung. Ich habe nichts damit zu tun. Trotzdem werde ich Miss Chandler heiraten.”

“Warum?”

“Weil mir niemand vorwerfen soll, ich hätte Ihre Enkelin verführt, Sir. Zwischen unseren Familien gibt es schon genug Spannungen. Außerdem sollen meine Sünden das Glück meiner Schwester nicht trüben. Wenn es möglich wäre, würde Henslowe die Heirat seines Sohnes verhindern.”

“Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie mit Sarah im Garten waren, Huntington.”

“Ich sah sie hinausgehen. Als das Dinner angekündigt wurde, kam sie nicht zurück. Da beschloss ich, ihr zu folgen.”

Nachdenklich nickte der Earl. “Ich verstehe … Sagen Sie, Huntington – empfinden Sie etwas für meine Enkelin?”

Devon runzelte verwirrt die Stirn. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. “Ich kenne sie kaum. Bestenfalls könnte man unsere Beziehung als Waffenstillstand bezeichnen.”

“Ja, so könnte man’s unter diesen Umständen nennen. Nach einer kurzen Pause fuhr der Earl fort: “Dieser Abend verläuft wirklich hochinteressant. Kurz vor unserer Begegnung im Garten sprach mich ein Gentleman an, der ebenfalls behauptete, er sei mit meiner Enkelin zwischen den Büschen allein gewesen. Als er sie umarmt habe, sei er beobachtet worden. Nun scheint er zu glauben, ich wäre verpflichtet, ihn mit Sarah zu vermählen.”

Kalter Zorn stieg in Devon auf. “Seien Sie versichert, Sir – lieber würde jener Zeuge seine Seele verkaufen, als solche Indiskretionen zu verbreiten. Übrigens war Ihre Enkelin nicht sonderlich erfreut über die Umarmung.”

“Das dachte ich mir. Ich sorge mich um ihr Glück, und ich würde mir wünschen, sie könnte mit Ihnen eine bessere Ehe führen als mit jenem anderen Gentleman.”

“Wenn Sie an Miss Chandlers Wohl denken, sollten sie Blanton von ihr fern halten.” Mit ausdrucksloser Miene fügte Devon hinzu: “Ich würde sie sicher nicht unglücklich machen.”

“Hoffentlich nicht. Sie besitzt ein gütiges, großzügiges Herz. Daran soll sich nichts ändern.” Monteville schaute zur Uhr hinüber, die auf dem Kaminsims stand. “Es ist spät geworden. Setzen wir unser Gespräch morgen früh fort. Übrigens – haben Sie meine Enkelin über Ihre Absichten informiert?”

“Ja, und sie war nicht sonderlich begeistert.” Welch eine Untertreibung … Sie hatte den Eindruck erweckt, er würde ihr eine lebenslange Gefängnisstrafe androhen.

“Vielleicht sollten Sie ihr etwas konventioneller begegnen”, meinte der Earl lächelnd. Er ging zur Tür. “Kommen Sie morgen früh zu mir. Falls Sie sich fragen, wo Sie in dieser Nacht schlafen sollen – Lord Henslowe wird Sie gewiss nicht hinauswerfen.”

Verblüfft starrte Devon die Tür an, die hinter Lord Monteville ins Schloss gefallen war. Hatte er ihm soeben befohlen, Sarah Chandler einen offiziellen Heiratsantrag zu machen? Bei dieser Unterredung hatte Devon erwartet, der Earl würde ihn einen Schurken und Wüstling nennen und vielleicht sogar sein Leben bedrohen. Mit dieser widerstandslosen Einwilligung in seine Pläne hatte Devon nicht gerechnet.

Er wusste, wie sehr die Chandlers ihn hassten. Obwohl seine Frau ihn mit Nicholas betrogen hatte, gaben sie auch ihm selbst die Schuld. Einem Gerücht zufolge war es seine Gefühlskälte gewesen, die Mary in Nicholas’ Arme getrieben hatte.

Und das Duell … Er lächelte grimmig. Beinahe hätte an diesem Abend ein weiterer Kampf stattgefunden. Und nach Henslowes finsterer Miene zu schließen, bestand diese Möglichkeit immer noch. Er ging zum Sideboard und ergriff die Karaffe. Was zum Teufel hatte er getan? Wäre er bloß seiner inneren Stimme gefolgt und Sarah Chandler aus dem Weg gegangen. Doch dann würde Blanton ihr am nächsten Morgen einen Antrag machen. Er stellte die Karaffe wieder ab. Plötzlich verging ihm die Lust auf einen zweiten Brandy.

3. KAPITEL

Sarah versuchte eine Scheibe Toast hinunterzuwürgen, gab es schließlich auf und sank ins Kissen zurück. Normalerweise freute sie sich an einem so schönen, sonnigen Morgen auf die nächsten Stunden, die sie im wundervollen Garten von Monteville House verbringen würde, um zu malen oder zu zeichnen.

Aber an diesem Tag hätte sie sich am liebsten unter der Decke verkrochen oder die Zeit zurückgedreht. Dann könnte sie Kopfschmerzen vorschützen, damit sie den Henslowe-Ball nicht besuchen müsste – ganz egal, ob sich ihre Tante Penelope, Lady Henslowe, aufregen würde oder die St. Clairs beleidigt wären. Zumindest hätte sie sich an diesem Morgen nicht an die Ereignisse des vergangenen Abends erinnern müssen, mit dem Gefühl, ein böser Traum wäre Wirklichkeit geworden. Lady Henslowes sichtliches Entsetzen, Lord Henslowes Drohungen, die kühle Miene des Großvaters und – am allerschlimmsten – Lord Huntingtons eisiger Blick …

Im Vergleich dazu erschienen ihr sogar Cedric Blantons Liebeserklärung und sein widerwärtiger Kuss eher harmlos. Bis jetzt hatte sie noch keine Gelegenheit gefunden, mit ihrem Großvater zu sprechen. Lady Henslowe hatte sie nach dem Zwischenfall in einen kleinen Salon geführt und war davongeeilt, um ein Dienstmädchen zu holen. Wenig später erschien Sarahs Tante Helen, Lady Omberley, mit Amelia im Schlepptau und verkündete, sie alle müssten das Haus sofort verlassen. John, Amelias Mann, wurde vom Spieltisch geholt und beauftragt, die Damen nach Hause zu bringen. Wenn er auch kein Wort über die unerfreuliche Angelegenheit verlor – sein grimmiges Gesicht sprach Bände. Während der Fahrt fand Sarah das drückende Schweigen viel schrecklicher, als wenn die Verwandten ihr bittere Vorwürfe gemacht hätten.

Erst als sie im Bett lag, fragte Amelia besorgt: “Alles in Ordnung? Ich will deine Nerven nicht strapazieren – aber was ist passiert? Mama und ich hatten das Dinner gerade beendet, als Tante Penelope uns zu sich bat. Völlig außer sich, fast hysterisch beklagte sie sich über Schlangen an ihrem Busen und erklärte, wir müssten uns sofort um dich kümmern, weil Lord Huntington dich zu verführen versucht habe. Dann ließ Großvater uns ausrichten, wir sollten dich nach Hause bringen.” Von plötzlicher Wut erfasst, stieß sie hervor: “Wenn Huntington dir was angetan hat, fordere ich ihn selber zum Duell!”

“Nein, er … hat nichts verbrochen.” Und mich gerettet, ergänzte Sarah in Gedanken. “Er versuchte mir zu helfen. Als Lord und Lady Henslowe in den Garten kamen, öffnete er gerade meine Brosche, mit der ich einen Riss in meinem Kleid zusammenstecken wollte.”

“Wieso ist es zerrissen? Und warum warst du mit Huntington im Garten?”

“Ich ging allein hinaus, und Cedric Blanton folgte mir. O Gott, welchen Unsinn er geredet hat … Ich sei eine Vision im Mondlicht. Das mochte ich mir nicht länger anhören und sagte, ich müsste ins Haus zurückkehren. Plötzlich packte er mein Handgelenk – und küsste mich.” Beschämt wich Sarah dem Blick ihrer Kusine aus.

“Oh, wie schrecklich!”

Schaudernd erinnerte sich Sarah an den seltsamen Ausdruck in Blantons Augen. Beinahe hatte sie gefürchtet, er könnte ihr Gewalt antun. Glücklicherweise war Huntington gerade noch rechtzeitig aufgetaucht. “Er wollte mich nicht loslassen. Als ich mich aus seinen Armen befreite, zerriss er mein Kleid. Und dann kam Huntington in den Garten. Blanton behauptete, ich sei seine Verlobte, weil er hoffte, Lord Huntington würde aus lauter Rachsucht überall ausposaunen, mein Ruf sei ruiniert, und ich müsste meinen Verführer heiraten. Aber Huntington versicherte, er würde schweigen, und Blanton verschwand. Huntington öffnete meine Brosche – und im selben Augenblick erschienen die Henslowes.”

“O Sarah …”

“Lord Henslowe fragte, ob eine Verlobung stattfinden würde, was Huntington bejahte. Natürlich protestierte ich.”

“Hast du denn eine Wahl? Wenn sich das alles herumspricht!”

“Warum sollte es? Außer den Henslowes, dir, Tante Helen und Großvater weiß niemand Bescheid. Und sobald ich Großvater alles erklärt habe …”

“Leider ist es zu spät”, seufzte Amelia. “Tante Penelope hat Serena bereits eingeweiht. Und die kann kein Geheimnis für sich behalten.”

“O nein …” Lady Henslowes einzige Tochter war herzensgut, aber furchtbar geschwätzig.

Und an diesem Morgen, in der Stille ihres Schlafzimmers, fühlte sich Sarah immer noch völlig hilflos. Ihre größte Sorge galt Lord Huntington. Was er gestern Abend mit ihrem Großvater besprochen hatte, wusste sie nicht. Und sie konnte nur hoffen, er hätte nicht erneut um ihre Hand angehalten. Dieser Gedanke hatte ihr fast die ganze Nacht den Schlaf geraubt. Warum sollte er die Schuld an einem Zwischenfall auf sich nehmen, mit dem er gar nichts zu tun hatte? Und außerdem – trotz der Gerüchte, wegen seiner Herzenskälte sei seine Frau in die Arme eines anderen gesunken, hatte er allen Grund, ihre Familie zu hassen. Nun betete Sarah, ihr Großvater möge einsehen, dass Lord Huntington keine Schuld an der Szene im Garten trug. Der Earl besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Und es wäre ungerecht, Huntington für den peinlichen Vorfall verantwortlich zu machen.

Deshalb musste sie möglichst bald mit ihrem Großvater sprechen. Wie sie von der Zofe erfahren hatte, war er bereits zu seinem üblichen Morgenspaziergang aufgebrochen. Inzwischen musste er zurückgekehrt sein. Sobald sie angezogen war, würde sie in sein Arbeitszimmer gehen. Bei diesem Gedanken drehte sich ihr Magen um. In den drei Jahren, die sie seit dem Tod ihrer Mutter bei ihm lebte, war er ihr stets sehr freundlich begegnet. Trotzdem schüchterte er sie immer noch ein.

Als sie ihr fast unberührtes Frühstückstablett auf die Nachtkonsole stellte und aus dem Bett stieg, öffnete sich die Tür, und Amelia spähte ins Zimmer. “Alles in Ordnung?”

“Ja, natürlich.”

“Aber du siehst so blass aus.”

“Ich bin nur müde.”

“Vermutlich hast du schlecht geschlafen”, meinte Amelia mitfühlend.

Autor

Ann Elizabeth Cree
Foto: © privat
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