Was ist Ihr Geheimnis, Dr. Benyon?

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Liebe, eine Familie? Das brauche ich nicht, glaubt Megan. Sie lebt nur für ihre Arbeit als Ärztin in der Notaufnahme! Bis ihr Dr. Benyon begegnet. Sein zärtlicher Kuss macht Megan klar, auf was sie bis jetzt verzichtet hat. Und keinen Tag länger verzichten will …


  • Erscheinungstag 08.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718138
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Wie lange bleibst du hier?“, fragte eine Kinderstimme.

Megan blieb verwundert stehen und sah sich um. Woher kam die Stimme?

Eine Männerstimme murmelte eine Antwort.

Sie hatte nicht erwartet, hier an diesem abgelegenen Teil des Kanals jemanden zu treffen.

Nach der Hektik im Krankenhaus war sie froh, endlich abschalten und entspannen zu können. Sie hatte mit ihrer Freundin in einem kleinen Pub am Kanalufer gegessen, und nachdem Sarah für einen Sonntagsbesuch zu ihren Eltern gefahren war, schlenderte Megan an der Hecke, die den Pub abschirmte, entlang durch die Felder.

Die meisten Pubbesucher saßen im Freien auf hölzernen Sitzbänken, genossen die warme Maisonne und beobachteten die Boote, die zu den Schleusentoren schipperten.

„Malst du die Schwäne?“, meldete sich die kindliche Stimme erneut. „Ich mag Schwäne, aber Enten mag ich noch mehr.“

Wieder hörte Megan eine gedämpfte Männerstimme antworten. Diesmal näher. Sie folgte dem Weg durch eine Lücke in der Hecke. Auf der anderen Seite entdeckte sie eine idyllische Wiese am Kanalufer. Schafe weideten dort, und in der Ferne erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein atemberaubendes Panorama aus sanften Hügeln und Wäldern.

Nur ein paar Schritte von der Wasserkante entfernt saß ein Mann vor einer Staffelei. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, dessen Kragen offen stand, und eine legere Hose. Megan schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und passte zu seinen kantigen Gesichtszügen.

„Ist das der Himmel?“ Ein kleiner Junge mit ebenso dunklem Haar deutete auf die Leinwand. Er schien etwa zehn Jahre alt zu sein.

„Genau, das ist der Himmel.“ Die Stimme des Mannes klang angenehm dunkel.

Das Kind sah nach oben. „Er ist blau. Warum ist der Himmel blau?“

„Weil wir ihn durch das Sonnenlicht so sehen.“

„Wirklich? Warum?“, fragte der Junge verwundert.

Der Mann tauchte einen Pinsel in seine Farbpalette und tupfte Weiß auf sein Bild. „Weil die Welt aus Farben besteht.“

„Warum?“

„Weil das so ist.“

Vielleicht ahnte der Junge, dass er keine andere Antwort bekommen würde, denn er ging ein Stück weg, setzte sich ans Ufer und betrachtete sein Spiegelbild.

Er drehte den Kopf hin und her, hob die Arme, wackelte mit den Fingern und begann zu kichern. „Meine Arme schlängeln sich“, rief der Junge. „Siehst du? Mein Gesicht auch.“

Megan erstarrte. Der Kleine saß viel zu nah am Rand.

„Tun sie das?“ Der Mann wischte seinen Pinsel an einem Tuch ab und schaute in die Box zu seinen Füßen.

„Warum schlängeln sie sich?“

Der Mann sah kurz auf. „Weil sich das Wasser bewegt“, antwortete er, bevor er aus der Box eine Farbtube holte und etwas Farbe auf seine Palette drückte.

Bemerkte er denn nicht, dass der Junge gefährlich nah am Wasser saß und leicht hineinfallen konnte?

Entschlossen ging Megan auf die beiden zu. Der Mann sah auf, aber sie ignorierte ihn und wandte sich an den Jungen, der jetzt durch das Gras hopste. Er stolperte kurz, fing sich aber im letzten Moment und breitete die Arme seitlich aus wie die Flügel eines Flugzeugs.

„Komm lieber weg vom Ufer“, sagte Megan leise und versuchte, den Jungen aufzufangen, der erneut schwankte. „Der Boden hier ist uneben. Du könntest ausrutschen.“

Das Kind runzelte die Stirn und sah ins Wasser. „Ist es denn sehr tief?“

„Das ist schwer zu sagen“, erklärte sie ihm, „aber ich möchte trotzdem nicht, dass du hineinfällst.“

Der Junge nickte und ging ein Stück zurück. Dann hob er Kieselsteine vom Pfad auf und warf einen nach dem anderen ins Wasser.

Zufrieden, dass das Kind nicht mehr in Gefahr schwebte, sah Megan zu dem Mann, der ruhig weitermalte.

„Ein wunderschönes Bild“, murmelte sie mit Blick auf die Leinwand. Er hatte die Landschaft in allen Einzelheiten eingefangen. Offensichtlich hatte er ein Talent dafür. „Aber sollten Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht lieber etwas anderem zuwenden?“

Er sah sie unbekümmert an, bevor er sich wieder auf die Leinwand konzentrierte. „Und das wäre?“

Megan biss die Zähne zusammen. „Das Kind ist zu jung, um unbeaufsichtigt so nah am Kanal zu spielen.“

Flüchtig sah er zu dem Jungen. „Er scheint doch trittsicher zu sein.“

Sie hob eine Augenbraue und schüttelte über seine Antwort den Kopf. „Der Kleine ist zu nah am Wasser.“

Der Maler sah sich um und runzelte die Stirn. „Übertreiben Sie da nicht? Ich bezweifle, dass Kinder so leichtsinnig sind, wie Sie denken.“

Empört holte Megan Luft, ihre graublauen Augen blitzten ihn an. „Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen? Was, wenn er hineinfällt? Dann ist Ihr Bild bestimmt nicht mehr so wichtig.“

Der Mann drehte sich zu Megan um und betrachtete sie aufmerksam. Sein Blick glitt über ihr enges Baumwolloberteil und die Jeans, die ihre Hüfte umschmeichelte. Als er ihr endlich wieder ins Gesicht sah, wurde ihr heiß, und sie fühlte, wie sie leicht errötete.

„Da könnten Sie recht haben“, antwortete er trocken. „Dann müsste ich ihn herausfischen, und wir wären beide nass.“

Gereizt erwiderte Megan: „Das ist alles, was Ihnen Sorgen macht?“

Seine tiefblauen Augen wurden dunkler. „Nehmen Sie das nicht etwas zu ernst?“

„Zu ernst?“, wiederholte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Der Junge könnte ertrinken. Ich verstehe nicht, wie es Eltern so wenig interessieren kann, was ihre Kinder anstellen. Stört es Sie überhaupt nicht, dass er ausrutschen könnte?“

Er nickte. „Doch. Es wäre ausgesprochen unangenehm, wenn ich ihn wieder herausholen müsste. Aber vor allem beunruhigt mich, dass er überhaupt hier ist.“

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Das glaube ich.“ Der Mann runzelte die Stirn. „Das ist nicht mein Kind. Ich dachte, er gehört zu Ihnen.“ Ironisch verzog er den Mund. „Jetzt muss ich wohl herausfinden, wer für ihn zuständig ist, wenn seine Eltern nicht bald auftauchen.“

Megan war sprachlos. Sie war überzeugt gewesen, dass der Junge zu dem Maler gehörte. Was musste er nur von ihr denken?

„Tut mir leid“, stammelte sie verlegen. „Weil Sie zusammen hier sind, dachte ich, er sei Ihr Sohn.“

„Ich kann mir vorstellen, wie Sie darauf kommen, aber ich frage mich auch, ob Ihre Instinkte nicht etwas überdreht sind. Sie sollten sich entspannen.“

Entspannen? Darin war er wohl Experte. Megan senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen.

„Wie auch immer“, entgegnete sie nach einer Weile und straffte die Schultern. „Das Problem ist immer noch das Kind.“ Sie überlegte einen Moment. „Ob er vom Pub gekommen ist? Irgendjemand muss ihn doch vermissen.“

Der Maler zuckte mit den Schultern. „Wie Sie schon sagten, manche Leute interessiert es nicht, was ihre Kinder anstellen. Oder es gibt eine andere Erklärung dafür.“

In dem Moment kam ein junges Mädchen den Weg entlanggelaufen. „Nicky? Nicky, wo bist du?“

„Ach“, murmelte der Mann leise. „Vielleicht ist das unsere Antwort. Ich wusste doch, dass sich alles aufklärt, wenn wir lange genug warten.“ Er sah zu dem Jungen hinüber, der aufgehört hatte, Kieselsteine ins Wasser zu werfen, und sich zu dem Mädchen umdrehte. „Dann ist das hier wohl der kleine Nicky.“

Megan sah sie genau an. Sie konnte nicht älter als fünfzehn sein. Vielleicht seine Schwester?

„Nicky“, rief das Mädchen ärgerlich, „was tust du hier? Ich habe dich überall gesucht. Du sollst doch nicht weglaufen. Deine Mum macht sich schon Sorgen.“

„Wirklich?“, fragte Nicky unschuldig. „Warum denn?“

Das Mädchen seufzte verärgert. „Deinem Dad geht es nicht gut. Sie hat keine Zeit, dir hinterherzujagen. Jetzt komm.“

„Meinem Dad geht es gut“, widersprach der Kleine. „Er macht ein Picknick.“

„Aber jetzt fühlt er sich nicht wohl.“ Sie nahm den Jungen an die Hand und wandte sich an Megan. „Haben Sie vielleicht ein Handy dabei? Meine Tante hat versucht, einen Rettungswagen zu rufen, aber ihr Akku ist leer.“

„Ich bin Ärztin“, sagte Megan alarmiert. „Soll ich mitkommen? Vielleicht kann ich helfen. Ist es dein Onkel, dem es schlecht geht?“

„Ja, genau. Es wäre toll, wenn Sie mitkommen würden.“ Das Mädchen klang erleichtert. „Wir dachten, er erstickt, weil er nicht richtig sprechen konnte, und dann sah es aus, als hätte er einen Schlaganfall, weil er den Mund so komisch verzogen hat. Meine Tante wusste nicht, was sie tun sollte.“

Wenn die Frau nicht nach ihrem Kind suchte, musste es ernst sein. Kurz drehte sich Megan zu dem Maler um und fragte sich, ob er vielleicht mitkommen würde, um zu helfen. Doch er rührte sich nicht vom Fleck und wirkte sehr nachdenklich. Wahrscheinlich ist er ungehalten, weil sein ruhiger Nachmittag gestört worden ist, dachte sie, und kümmert sich nicht weiter darum. Verärgert über sein Verhalten ging sie davon.

Auf einer Wiese in der Nähe lag der Vater des Jungen im Schatten einer Hecke. Seine Frau öffnete ihm gerade ängstlich den Hemdkragen. Als Megan und das Mädchen näher kamen, blickte sie auf.

„Gott sei Dank, du hast ihn gefunden, Chloe!“, rief sie erleichtert. „Ich war so abgelenkt, dass ich nicht gemerkt habe, wie er weggelaufen ist.“

„Er war nicht weit weg, Tante Alice.“

Die Frau schluckte schwer. „Danke, dass du ihn zurückgeholt hast. Passt du bitte auf ihn auf?“ Chloe nickte, und Alice wandte sich wieder ihrem Mann zu. „William“, flehte sie, „du musst mir sagen, was mit dir los ist. Ist dir das Bier nicht bekommen? Hast du dich verschluckt? Das Essen kann es nicht sein, das hast du gar nicht angerührt.“

William murmelte etwas Unverständliches, und Megan kniete sich neben ihn. „Chloe meinte, dass sich ihr Mann nicht wohlfühlt“, wandte sie sich an die Frau. „Ich bin Ärztin. Ist es in Ordnung, wenn ich ihn mir ansehe?“

Alice schluckte erleichtert. „Oh bitte! Es ging ihm schon eine Weile nicht gut, aber wir dachten, es sei nicht so schlimm. Wir hatten gehofft, dass es hier draußen besser würde. Ich hab ihn noch nie so gesehen.“

„Okay.“ Megan sprach den Mann an. „Hallo William, ich bin Dr. Rees.“ Sein Mund bewegte sich, aber kein Laut war zu hören. Rasch überprüfte sie seinen Puls. „Sein Puls geht sehr schnell, und er atmet flach“, sagte sie zu Alice. „Ich muss meine Arzttasche aus dem Auto holen. Das steht drüben beim Pub. Ich bin gleich wieder da.“

Als sie losging, bemerkte sie, dass ihnen der Maler doch gefolgt war. Wollte er sehen, was los war?

„Er sieht nicht gut aus, oder?“, fragte er mit Blick auf Nickys Vater. „Ich rufe einen Rettungswagen.“

„Danke“, murmelte sie. „Das wäre eine große Hilfe.“ Seine Malutensilien hatte er offensichtlich liegen lassen. Wie unstimmig, dachte sie gereizt. Als der Junge in Gefahr schwebte, hatte er sein Bild nicht aus den Augen gelassen, doch nun, da ein Erwachsener krank war, kam er sofort herbei.

Oder hatte er recht, und sie war einfach zu angespannt? Schnell verscheuchte sie jeden Gedanken an den Unbekannten und ging raschen Schritts zu ihrem Wagen.

Kurze Zeit später war sie zurück. „Ich gebe ihm Sauerstoff“, erklärte sie Williams Frau, „um ihm das Atmen zu erleichtern.“ Schnell befestigte sie die Atemmaske über seinem Gesicht. „Könnten Sie bitte die Sauerstoffflasche für mich halten?“

„Ja.“

„Gut.“ Megan legte William eine Blutdruckmanschette um.

„Was ist mit meinem Daddy?“

Megan sah auf und bemerkte, wie ängstlich der Junge alles beobachtete.

„Es geht ihm nicht so gut, Nicky“, erklärte sie. „Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen, damit er wieder gesund wird.“

Nicky sah sie aufgewühlt an. Megan wandte sich an Chloe: „Könntest du dir mit ihm die Enten ansehen?“, fragte sie leise. „Das hier ist nichts für ihn.“ Als das Mädchen nickte, fügte Megan hinzu: „Pass aber auf, dass er nicht zu nah ans Wasser geht.“

„Mach ich.“ Chloe nahm ihren Cousin an die Hand. „Komm, Kleiner, schauen wir mal, wie viele Entenjungen wir finden.“

„Wissen Sie, was mit meinem Mann nicht stimmt?“, fragte die Frau.

„Noch nicht“, antwortete Megan. „Dazu müssen im Krankenhaus einige Untersuchungen gemacht werden und wahrscheinlich eine Computertomografie.“ Plötzlich begann Williams Körper unkontrolliert zu zucken. „Hat er eine Epilepsievorgeschichte?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, aber er spürt von Zeit zu Zeit einen krampfartigen Schmerz.“

„Können Sie mir zeigen, wo?“

Die Frau deutete auf eine Stelle um die Nieren. „Hilft Ihnen das weiter?“

„Ohne genauere Untersuchungen kann ich nichts sagen.“ Megan runzelte die Stirn. „Sein Blutdruck ist sehr hoch. Hatte er schon vorher damit Probleme?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aber er hatte ständig Kopfschmerzen. Ist das wichtig?“

„Möglich. Ich muss ihm etwas gegen die Krämpfe geben“, murmelte Megan. „Mit etwas Glück ist der Krankenwagen bald da.“

Nach ein paar Minuten kamen die Sanitäter tatsächlich, und Megan beaufsichtigte Williams Transport in den Krankenwagen.

„Ist deine Schicht nicht schon lange vorbei?“, fragte einer der Sanitäter schmunzelnd. „Du kannst es einfach nicht lassen, stimmt’s?“

„Wie wahr“, antwortete sie mit einem schwachen Lächeln. „Ich sehe euch dann vermutlich morgen früh.“

„Wir möchten gern mitfahren“, meldete sich Alice. „Geht das?“

Der Fahrer nickte. „Wir kriegen Sie bestimmt noch unter.“

Er half der Frau und den beiden Kindern in den Wagen und schloss dann die Türen. Sein Kollege würde den Patienten unterwegs betreuen. „Wir fahren dann“, sagte er zu Megan.

Als der Krankenwagen abgefahren war, drehte Megan sich um und bemerkte, dass der Maler noch immer in der Nähe stand und sie beobachtete.

„Sind das Kollegen von Ihnen?“, fragte er.

„Ja, ich arbeite in der Notaufnahme des Borderlands-Krankenhauses.“

„Ach.“ Er legte den Kopf schief, und für einen Moment kam er ihr bekannt vor.

„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, fragte sie spontan. „Ich habe plötzlich das Gefühl, als würde ich Sie kennen.“

Er lächelte flüchtig. „Möglich, obwohl ich es bezweifle. Daran würde ich mich erinnern.“ Er reichte ihr die Hand, und sie zuckte leicht zusammen, als sich ihre Hände berührten. „Ich bin Theo Benyon“, stellte er sich vor.

„Megan Rees.“

„Vielleicht treffen wir uns bald wieder?“ Der Blick seiner blauen Augen glitt über sie.

„Gut möglich.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Wenn Sie Zeit haben, möchten Sie vielleicht in meinem Seminar ‚Eine sichere Umwelt für Kinder‘ aushelfen. Wir veranstalten es ab und zu im Krankenhaus und suchen immer nach freiwilligen Helfern.“

Er lachte. „Megan Rees, Sie lassen nicht locker, oder? Aber ich passe. Ich muss mich im Moment um genug anderes kümmern.“

„Wirklich?“ Sie fragte sich, was das wohl sein könnte und zog freundlich lächelnd ihre Hand zurück. „Ich muss gehen“, sagte sie abrupt. „Dann können Sie in Ruhe weitermalen.“

Es war nur ein Vorwand, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie Abstand zu ihm brauchte. Ihre Hand prickelte noch immer von seinem warmen Händedruck, und ihr Körper zitterte als Reaktion auf seinen intensiven Blick. Ihr Bauchgefühl riet ihr, sich zurückzuziehen. Schnell.

Sie war nicht sicher, warum, doch sie nahm ihre Instinkte immer ernst. Theo war ein Mann, und sie spürte sein Interesse an ihr genau. Sie musste vorsichtig sein.

2. KAPITEL

„Definitiv ein Herzinfarkt. Schau dir die Laborergebnisse an … ihre Herzenzyme sind erhöht.“ Megan überflog den Bericht und sah sich dann die Ergebnisse der Echokardiografie an. „Siehst du den Bereich hier?“ Sie blickte die Assistenzärztin an ihrer Seite an und deutete auf die Region, die ihr Sorgen bereitete. „Die Herzfunktion ist eindeutig beeinträchtigt.“

„Ich sehe es. Das ist nicht gut, oder?“

Sarah sieht blass aus, dachte Megan, der lange Dienst macht ihr offensichtlich zu schaffen. Hoffentlich konnte sie die junge Ärztin bald in die Pause schicken. Die letzten Stunden waren sehr hektisch gewesen.

„Überhaupt nicht.“ Megan beobachtete den Monitor, der die Vitalzeichen ihrer Patientin aufzeichnete. „Ihr Puls ist zu hoch, und ihr Zustand verschlechtert sich schnell.“

„Was wirst du tun?“, fragte Sarah. Besorgt studierte sie die Laborergebnisse. „Sie hat schon Glycerintrinitrat und Diamorphin bekommen, zusammen mit Tirofiban- und Heparininfusionen, doch die Brustschmerzen bleiben, und sie bekommt kaum Luft.“

Megan presste die Lippen zusammen. „Wir lassen sie noch eine Weile an der Infusion, vielleicht bessert es sich dann.“ Sie strich sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie sieht es denn mit Dr. Carlson aus? Uns läuft die Zeit davon. Wenn sie nicht bald operiert wird, rutscht sie vielleicht in einen kardiogenen Schock.“

„Ich frage nach. Aber soweit ich gehört habe, steckt er immer noch in einer Operation in einem anderen Krankenhaus.“

Megan seufzte. „Wir brauchen wirklich mehr Personal für solche Notfälle. Wir sind schon seit Monaten unterbesetzt, und es scheint sich nicht zu bessern, was?“

Sarah schüttelte den Kopf und ging telefonieren, während Megan leise mit der diensthabenden Schwester sprach. „Gib mir bitte Bescheid, wenn sich irgendetwas verändert“, murmelte sie, und die Schwester nickte.

Megan holte tief Luft und ging zu ihrem nächsten Patienten. Seit ihre Schicht begonnen hatte, arbeitete sie wie am Fließband. Ein normaler Tag in der Notaufnahme, und die Probleme stapelten sich. Aber war das nicht das Übliche in ihrem Beruf?

Etwa eine Stunde später betrat sie den Empfangsbereich, um zu sehen, wer als Nächstes an der Reihe war.

„Aua.“ Eine leise Stimme erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie sah in den Behandlungsraum, an dem sie gerade vorbeigegangen war. Gerade rechtzeitig bemerkte sie, wie ein kleiner Junge auf ein Rollbett kletterte. Er versuchte, eine Sauerstoffmaske samt Schläuchen von der Wand hinter dem Bett abzumachen, und es sah so aus, als habe er sich dabei ein Bein angeschlagen. Kurz rieb er über die schmerzende Stelle, bevor er die Geräte weiter untersuchte.

Warum um Himmels willen war er hier allein?

„Passt jemand auf dich auf?“, fragte Megan. Der Junge konnte nicht älter als fünf Jahre sein, schätzte sie.

Er sah sie an und nickte stumm.

„Bist du krank?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das ist schön. Aber du hast dich am Bein gestoßen. Soll ich mir das ansehen?“

Wieder schüttelte er den Kopf und zog erneut an den Schläuchen.

„Hör bitte auf damit. Wenn du so daran ziehst, geht es kaputt, und wir können es nicht mehr nehmen, wenn jemand Hilfe beim Atmen braucht“, erklärte sie ihm.

„Oh.“ Er legte die Maske auf das Kopfkissen. „Ich will zu meiner Mum“, sagte er leise.

„Okay.“ Megan fragte sich, warum er so traurig aussah. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. „Wollen wir sie suchen?“

Trotzig starrte sie der Junge an. „Ich soll nicht mit Fremden mitgehen.“

„Da hast du recht“, murmelte sie und überlegte. „Wer passt denn auf dich auf?“, versuchte sie es anders. „Du solltest hier wirklich nicht allein sein, weißt du?“

Der Junge zuckte mit den Schultern und deutete in den Empfangsbereich. Mehr würde sie von ihm wohl nicht erfahren.

Sie sah in die Richtung, in die der Kleine gedeutet hatte. Dort stand jemand mit dem Rücken zu ihr und sprach mit Sarah. Megan starrte den großen Mann im grauen Anzug an, dessen breite, maskuline Schultern ihr merkwürdig bekannt vorkamen.

Es war Theo Benyon.

„Bleib hier“, sagte sie zu dem Kind. „Wie heißt du eigentlich?“

„Harry.“ Trotz seines aggressiven Verhaltens spürte sie, wie ängstlich und verletzbar der kleine Junge war.

„Ich bin gleich zurück, Harry.“

Sarah war von dem Maler eindeutig beeindruckt. Ihre sonst blassen Wangen waren leicht gerötet, und mit ihren grünen Augen schaute sie ihn bewundernd an.

Megan presste die Lippen zusammen. Was tat Theo Benyon hier in ihrer Notaufnahme, wenn er nicht krank war?

„Hallo“, begrüßte sie ihn kurz angebunden. „Ich hätte nicht erwartet, Sie so schnell wiederzusehen. Können wir Ihnen irgendwie helfen, Mr. Benyon?“

Ein mattes Lächeln spielte um seine Lippen, verschwand aber sofort, als er ihrem Blick begegnete. „Kriege ich wieder Ärger?“, fragte er in Erinnerung an ihre letzte Begegnung.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie darauf kommen.“ Zu Sarah sagte sie leise: „Warum machst du nicht eine Pause? Im Moment scheint es ruhiger zu sein.“

Die junge Ärztin grinste. „Beschrei es nicht.“

„Geh schon, wir kommen zurecht“, erwiderte Megan lächelnd.

„Gut. Ich brauche dringend einen Kaffee.“ Und zu Theo gewandt fügte sie hinzu: „Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.“

Damit ging sie, und Megan blieb nichts übrig, als sich weiter mit Theo zu unterhalten. „Der kleine Harry dort drüben sagt, er gehöre zu Ihnen“, begann Megan ruhig. „Und ich fürchte, er kommt auf dumme Gedanken, wenn er noch länger sich selbst überlassen ist.“

Theo runzelte die Stirn, als wüsste er nicht, wovon sie sprach.

„Ich habe gerade die Sauerstoffausrüstung aus seinen neugierigen Fingern gerettet“, erklärte sie, „und …“, ihr Blick wanderte in den Behandlungsraum, „… es sieht aus, als hätte er sich bereits etwas Neues gesucht. Ich vermute, das Rollbett wird sich jeden Moment in Bewegung setzen.“

Theos blaue Augen verengten sich. „Er sollte sich Bilderbücher ansehen.“

Megan verzog den Mund. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum er das nicht tut, wo es hier eine ganze Station voller interessanter Geräte zu erforschen gibt“, erwiderte sie sarkastisch. „Cleverer Junge. Hoffentlich hat er auch herausgefunden, wie die Bremsen funktionieren.“

„Ungeheuer clever“, seufzte Theo. „Entschuldigen Sie mich.“ Entschlossen ging er in den Behandlungsraum und kam einen Moment später mit einem missmutigen Harry an der Hand zurück. „Ich möchte meine Mum sehen“, maulte der Junge.

„Das wirst du.“ Theo wuschelte ihm leicht durchs Haar. „Ich muss mich nur noch bei der Ärztin dafür entschuldigen, dass ich dich allein gelassen habe. Sie denkt nämlich, ich weiß nicht, wie man auf kleine Kinder aufpasst, und du hast ihre Meinung gerade bestätigt.“

Er sah Megan an. „Es tut mir leid“, sagte er reumütig, aber das kleine Lächeln, das seinen Mund umspielte, ruinierte den Eindruck. „Ich dachte, ich könnte mich darauf verlassen, dass er für ein oder zwei Minuten nichts anstellt, während ich Dr. Edwards eine Nachricht hinterlasse. Aber da habe ich mich wohl getäuscht.“

Autor

Joanna Neil
Joanna Neil startete ihre Karriere als Autorin von Liebesromanen auf ganz unkonventionellem Wege. Alles begann damit, dass Joanna Neil einen Werbespot für Liebesromane sah und von diesem Zeitpunkt an wie verzaubert war.
Sie fing an, die Romane zu verschlingen, und war überwältigt. Je mehr sie las, umso mehr hatte sie...
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