Weil wir zusammengehören

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"Wir kriegen ein Baby!" Amy ist überglücklich, als sie die Nachricht erhält. Nach Jahren des sehnsüchtigen Wartens dürfen sie und James endlich ein Kind adoptieren. Doch nur Tage später platzt ihr großer Traum von einer gemeinsamen Familie: In flagranti erwischt Amy ihren Mann mit einer anderen! Tief verletzt verlässt sie ihn und stürzt sich in ihre Arbeit, um den Schmerz zu vergessen. Dort lernt sie den abenteuerlustigen Rohan kennen, der es schafft, ein Fünkchen Hoffnung in ihr zu entfachen. Da gesteht James ihr, dass er sie immer noch liebt. Soll sie ihm eine zweite Chance geben - und damit auch ihrem Wunsch nach einer Familie?


  • Erscheinungstag 11.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495212
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anouska Knight

Weil wir zusammengehören

Roman

Aus dem Englischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

A Part Of Me

Copyright © 2014 by Anouska Knight

erschienen bei: Mills & Boon, Ltd., London

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V. / S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Mills & Boon, London

Autorenfoto: Harlequin Enterprises S.A.,Schweiz; Michael Michaels

ISBN 978-3-95649-521-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Es hatte von Natur aus etwas Unheil verkündendes, zu unbekannter Stunde in einem fremden Raum aufzuwachen. Eine kindliche Angst, die von den drückenden Schatten und den Geheimnissen, die sie verbargen, noch verstärkt wurde. Enthüllungen, die besser in der Dunkelheit blieben.

Gegen die unerklärliche Enge, die mir die Kehle zuschnürte, atmete ich das zarte Parfüm meiner Mutter ein, die regungslos neben mir saß. Ihre Anwesenheit war ein kleiner Trost in der schwer auf mir lastenden Stille.

Als Kinder hatte sie uns einmal weinend durch die Nacht gefahren, um die verbleibenden dunklen Stunden in der kleinen Kammer des Bungalows meiner Großmutter zu verbringen. Jetzt hier in einem Bett zu liegen, das nicht nach zu Hause roch, ließ mich an diese lange Nacht im Finsteren zurückdenken, während ich dem unruhigen Schlaf meines Bruders lauschte, der auf dem Klappbett neben mir lag. Ich erinnerte mich, dass ich mich nicht getraut hatte, auch nur die Luft um mich herum zu zerteilen, um nach meiner Mutter zu rufen.

Jetzt war sie hier, aber es fühlte sich dennoch sehr nach damals an. Im Zimmer hing beinahe greifbar die Schwere der Veränderung. Der Verlust von etwas, das schmerzhaft unersetzlich war.

Nach einem weiteren tiefen Atemzug öffnete ich die Augen. Das Kratzen in meiner Kehle unterbrach meine Anstrengung. Mum rührte sich neben mir.

Es war zu ruhig.

Intuitiv versuchte eine kühle, weiche Hand, mich durch sanftes Streicheln meiner Fingerknöchel zu beruhigen. Die wachsende Anspannung in meiner Brust verstärkte sich daraufhin noch mehr. Eine Welle der Übelkeit rauschte durch meinen rauen Hals, und mein Mund füllte sich mit Speichel. Es tat weh, sowie ich würgte. Das Geräusch hallte durch den trostlosen grauen Raum und erregte die Aufmerksamkeit der Person, die still dort stand.

Ich spürte, wie sich die Hand meiner Mutter um meine schloss.

„Süße? Versuch, dich nicht zu abrupt zu bewegen.“ Im gedämpften Schein der Nachtlampe konnte ich nicht sehen, dass sie geweint hatte, doch ich hörte es an ihrer zittrigen Stimme. Ich würgte erneut, und meine Mum zog ihre Finger weg, um schnell nach einer Spuckschüssel zu greifen. Der Übelkeit folgte sofort ein hämmerndes Stechen in der rechten Seite meines Kopfes, das mich zwang, die Lider zu senken, während sie mir Erbrochenes von den Lippen wischte. Die auch wehtaten. Genau wie meine Zähne, die ich fest aufeinandergebissen hatte – sie waren gereizt infolge der medizinischen Notfallmaßnahmen. Ich schluckte, versuchte, mich daran zu erinnern. Der Schmerz ebbte ab, je weiter er sich nach unten ausbreitete. Unter der gestärkten weißen Krankenhausbettwäsche schien er sogar ganz zu verschwinden.

Ich brachte es nicht über mich, dorthin zu schauen.

Das leise Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum erklang von der anderen Seite des Zimmers. Es wurde lauter, die Schritte kamen zögernd auf mein Bett zu. James’ Hand, schwerer als die meiner Mutter, strich sanft über meinen Kopf. Für einen Moment dämpfte sie das wütende Pochen des Schmerzes dort.

„Es ist in Ordnung, Baby“, flüsterte er. „Alles wird wieder gut.“

Auch James’ Stimme hatte etwas Zerbrechliches, etwas, das dort nicht hineingehörte. Er beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die zerzausten braunen Haare. Seine Bartstoppeln waren lang und kratzig, und ich vermisste den Duft seines üblichen Aftershaves, während er näherschritt. Er roch, wie er manchmal nach dem Joggen roch – nach Anstrengung und Erschöpfung. Etwas an der Art, wie er mich küsste, weckte die Erinnerung an den vorhergegangenen Morgen.

Der Tag hatte angefangen wie jeder andere auch. Der immer gleiche dumpfe Schmerz, von dem ich wusste, dass er aus meiner Hüftgegend verschwinden würde, sobald ich aufgestanden war und geduscht hatte; schelmische kleine Tritte, um mich lange, bevor der Wecker klingelte, munter zu machen. Und dann das Unerwartete, als ich die Bettdecke zurückschlug und erkannte, dass dieser Tag alle Erwartungen der letzten einunddreißig Wochen vernichten würde.

Anfangs war da gar nicht so viel Blut gewesen. In den hektischen Stunden, die folgten, war ich – waren wir – ruhig geblieben, hatten den Vorgehensmaßnahmen zugehört, während die Ärzte mich piksten, alles Mögliche aufschrieben und sich miteinander berieten. James hatte sich auf ihre Versicherungen verlassen, während ich alle meine Hoffnungen auf die kleinen Tritte in mir gesetzt hatte. Das war das Sinnvollste. Keine Panik, bis die Tritte aufhörten. Die ganze Zeit über blieb ich ruhig, dachte praktisch, als wenn diese Gedanken allein uns im Auge des Sturmes, der sich um uns herum zusammenbraute, retten könnten. Jetzt war da nur noch Stille.

James drückte seinen Kopf an meinen, sein Atem strich flach über mein Ohr. Ich lauschte ihm hinterher. Aber er bot keine Erleichterung. Und da wusste ich es: Das hier waren die Nachwirkungen des Sturmes. Die Stille nach dem Chaos. Die veränderte Landschaft, die darauf wartete, betrachtet zu werden. Hier, in diesem zu stillen Raum, würden wir der Zerstörung begegnen.

Mum nahm erneut meine freie Hand; in der anderen steckten Kanülen und Schläuche. Sie drückte sanft zu, hielt sich daran fest, als hätte sie Angst, dass einer von uns in die Vergessenheit weggleiten könnte. Ganz starr lag ich da und fürchtete mich auf einmal davor, die Luft um mich herum zu zerteilen.

„Amy? Weißt du, wo du bist?“, fragte James leise und bemüht, gelassen zu klingen. Er stand immer noch etwas unbeholfen neben mir, das Gesicht abgewandt. Ich nickte und zwang ihn, es auszusprechen. Er zitterte. „Amy … Wir haben ihn verloren, Baby.“

Der Griff meiner Mutter löste sich, während sie unter einem quälenden Schluchzer zusammenbrach. „Alles wird gut, Baby“, versicherte er mir. „Alles wird wieder gut.“

1. KAPITEL

Fünf Jahre später

Was unangenehme Erlebnisse angeht, bin ich ganz gut gerüstet, dachte ich. Ruhig. Kontrolliert. Selbst in schwierigen Situationen bewahrte ich einen kühlen Kopf. Diese Eigenschaften waren in den letzten turbulenten Jahren in einem schnell wachsenden Architekturbüro ganz praktisch gewesen. Aber das jetzt? Das verlieh dem Wort „Druck“ eine ganz neue Bedeutung. Alles war darauf ausgerichtet, einen Menschen zerbrechen zu lassen. Ein unaufhörliches Klopfen an die Mauern unserer Entschlossenheit, nur dürftig verborgene Versuche, unsere Schwächen zu enthüllen, damit sie uns endlich sagen konnten, worauf ich mich schon seit Jahren vorbereitete: dass wir nicht gut genug waren, dass wir schreckliche Eltern wären und dass das alles eine grauenhafte Zeitverschwendung gewesen sei.

Irgendwo unten auf dem Flur, auf dem wir saßen, schlug eine schwere hölzerne Tür zu. Auf unseren Stühlen zappelten wir wie Schulkinder, die zum Rektor gerufen worden waren. Wir lauschten dem Geklapper von Absätzen, das sich entfernte und in den Tiefen des Gebäudes verschwand. Mir war klar, dass es nicht Anna war, sie hatte bei unserem Gespräch heute Morgen flache Schuhe getragen. Und ich hatte beobachtet, wie sie nervös damit auf den Boden getippt hatte, bevor das Komitee uns hereingerufen hatte. Dann hatte ich mich auf die strassverzierten Schuhspitzen konzentriert, während James die Fragen beantwortete, die die Mitglieder an ihn stellten.

Ich stieß langsam und leise den Atem aus. Die Luft war kühl in diesem modrigen alten Gebäude. James’ Knie wippte wieder ungeduldig. Dass James, der Inbegriff der Unerschütterlichkeit, selbst so nervös war, machte mich noch nervöser.

Jedes Meeting, jede Befragung und jede Sitzung war in einem extra für diesen Zweck gebauten Zimmer abgehalten worden. In einem Konferenzraum, einem Büro, sogar in unserem Zuhause – in dem es Teppiche und Kaffee und eine Heizung gab. Doch das Rathaus, die letzte Etappe auf der Zielgeraden, war ungefähr so einladend wie eine Einrichtung aus einem Buch von Dickens.

Ich sah auf die Uhr. Es war beinahe eine Viertelstunde her, dass das Komitee uns gebeten hatte, draußen auf die Verkündung unseres Schicksals zu warten. Man konnte eine erstaunliche Menge Selbstzerfleischung in diesen Zeitraum quetschen, wie ich herausgefunden hatte. Ich wusste, dass James es nicht hören wollte, dennoch musste ich irgendetwas sagen, und Worte schienen mir sinnvoller als ängstliches Geschniefe.

„Ich hätte nicht erwähnen sollen, dass wir nach einem größeren Haus suchen“, meinte ich leise stöhnend.

Verärgert strich sich James eine dicke blonde Strähne aus dem Gesicht und gönnte seinem auf und ab wippenden Knie eine Pause. Ich hatte ihn überzeugt, sich die Haare ein wenig wachsen zu lassen, nachdem eine der Frauen aus dem Vorbereitungskurs gemeint hatte, wir sähen so geschäftsmäßig aus. Bei ihr hatte es wie ein Schimpfwort geklungen. James verstand nicht, warum ich den Rat von einer Frau annahm, die sich freiwillig dafür entschieden hatte, alleinerziehende Mutter zu werden. Als sie uns erzählt hatte, dass sie hoffte, mehr als nur ein Kind adoptieren zu können, hatte James mir zugeflüstert, dass man bei ihr, sobald die medizinischen Untersuchungen dran wären, vermutlich eine Geisteskrankheit diagnostizieren würde.

Erst jetzt fiel mir auf, wie wenig James das längere Haar stand.

Er drehte sich so, dass er mich anschauen konnte. „Sie haben uns nichts gefragt, das nicht auch schon in unserem Bericht stand, okay? Und es gibt keine Regel, die besagt, dass wir nicht irgendwann umziehen dürfen.“ James’ Knie fing wieder an, zu wippen.

Ich steckte mir eine streng glatt geföhnte Strähne hinters Ohr und fing an, mit den kleinen Diamantsteckern zu spielen, die er mir letzten Monat zu meinem neunundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Das war einer der wenigen Abende gewesen, an denen wir gemeinsam ausgegangen waren und uns nicht gestritten hatten.

„Stabilität, James. Das wollen sie hören, nicht, dass wir Veränderungen planen und unser Haus aufgeben …“

James hob eine Hand, um mich zu unterbrechen. „Amy, vergiss es! Wir machen das nicht noch mal. Wir sind im letzten Jahr durch jeden verdammten Reifen gesprungen, den man uns hingehalten hat. Wir haben da drinnen gerade zehn Menschen getroffen, die wir absolut nicht kennen, und doch wissen sie alles, was es über uns zu wissen gibt.“ Er zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger den Korridor hinunter in Richtung des Raumes, in dem das Komitee immer noch diskutierte und unser Leben auseinandernahm. „Sie haben sich unsere Einkünfte angeschaut, unsere Kindheit … verdammt noch mal, sogar unseren verfluchten Body-Mass-Index! Wenn das jetzt alles nicht zählt, weil du gemeint hast, du hättest gerne irgendwann einen größeren Garten, dann kann jeder Einzelne von ihnen sich das Ganze in seinen pedantischen Arsch schieben.“

„Pst, wenn dich jemand hört“, stotterte ich und schaute nervös nach rechts und links. James stand auf. Ich sah zu, wie er von mir weg und zu dem fast blinden bleigefassten Fenster auf der anderen Flurseite ging. Diese Reise war nicht leicht gewesen, doch irgendwie war mir bewusst, dass sie für James schwerer gewesen war als für mich, und so würde es ihm auch leichter fallen, darüber hinwegzukommen, wenn es nicht klappen sollte.

Wir haben es beinahe geschafft, wollte ich zu ihm sagen, aber er wirkte so angespannt. Er würde den Pullover nie wieder anziehen. Ich hatte ihn bei Marks and Spencer gekauft, weil sein Lieblingspulli von Ralph Lauren ihn als „Teilzeit-Segelenthusiasten“ hätte wirken lassen können, wenn wir doch den Eindruck erwecken wollten, „Vollzeit-Wachsmalkreidenenthusiasten“ zu sein. Ich stieß hörbar den Atem aus. Unterbewusste Botschaften durch das Tragen des richtigen Pullovers versenden – wie weit war das noch vom puren Wahnsinn entfernt?

James starrte in den trüben Märzmorgen hinaus und schüttelte den Kopf. Wir hatten um den frühestmöglichen Termin gebeten. Ansonsten wäre ich ein Wrack gewesen. James klimperte mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche herum, bevor er mich aus seinen blauen Augen anschaute.

„Anna hätte uns nicht vor das Komitee geschickt, wenn sie nicht glauben würde, dass wir bereit sind, das weißt du. Versuch einfach, dich zu entspannen … okay?“ Ich nickte und ließ widerstrebend meinen Ohrring in Ruhe, ehe er auf dem Fußboden landete. Stattdessen kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Die Chance, dass die auf der Erde landete, war gering, und anders als Diamantohrringe wuchs Haut von selber nach. Von dort, wo der Flur einen Knick machte, erklangen leise, aber entschlossene Schritte. James’ Brust hob sich, als er tief einatmete und sich wieder dem Fenster zuwandte.

Der Vorsitzende des Komitees, ein Mann um die vierzig mit schütterem Haar und einem Namen, den ich in der Aufregung vergessen hatte, kam um die Ecke auf uns zu. Ungelenk erhob ich mich und strich über meine Kleidung. Ich hatte mich für eine blassblaue Bluse und eine hübsche lavendelfarbene Strickjacke entschieden. Je nachdem, wie die nächsten Minuten verlaufen würden, würde auch ich beides vermutlich nie wieder anziehen.

„Miss Alwood, Mr Coffrey, würden Sie bitte wieder hereinkommen?“

Ich schenkte ihm ein kleines, unaufdringliches Lächeln und redete mir ein, dass er es erwidert hatte. Dann sah ich James nach Bestätigung heischend an, allerdings verrieten mir seine Augen nichts.

Auf dem ganzen Weg in das stickige Zimmer, in dem Anna auf einem der drei Stühle vor dem Komitee saß, hielt ich den Blick fest auf die Lederflicken an den Ellbogen des Komiteevorsitzenden gerichtet. Wir hatten Glück, dass Anna uns zugeteilt worden war. Nicht alle mochten ihre Sozialarbeiter, doch wir Gott sei Dank schon. Ich wartete darauf, dass sie uns anschaute, aber nur ihr kurzer blonder Pferdeschwanz zeigte in unsere Richtung. Mein Magen zog sich zusammen. Hinter Anna sah das Komitee aus vier Männern und sechs Frauen aus, als säßen sie am Kopf einer Hochzeitstafel mit einer sehr kleinen Gruppe von nur drei Gästen, um ihre Freude zu teilen.

Ich drückte unbewusst die Daumen. Bitte, lass es wirklich Freude sein, die sie mit uns teilen wollen.

„Hey, setzt euch“, flüsterte Anna und deutete auf die Stühle, auf denen wir uns erst vor einer halben Stunde durch die Befragung geschwitzt hatten. Ich war sicher, dass eines der Komiteemitglieder, das Adoptivkind, auch lächelte, doch hier drin war es so warm, dass mir von der Temperaturschwankung ganz schwindlig wurde.

Der Vorsitzende nahm wieder Platz und blätterte in seinen Papieren herum, so wie Offizielle es bei offiziellen Angelegenheiten gerne tun. „Mr Coffrey, Miss Alwood.“ Ein Pochen setzte sich in meiner Brust fest. „Wir wissen, dass das ein sehr nervenaufreibender Prozess sein kann, also wollen wir Sie nicht unnötig weiter auf die Folter spannen.“ James nahm meine Hand fest in seine. Alles wird gut. Was auch immer passiert, wir stehen das durch.

„Deshalb möchten wir Ihnen beiden unsere Glückwünsche übermitteln. Dieses Komitee spricht die Empfehlung aus, Sie als Adoptiveltern eines Kindes im Alter von unter vier Jahren zuzulassen.“

Klopf, klopf, klopf …

Das Pochen in meiner Brust war das Einzige, das mir verriet, dass ich nicht zusammengeklappt und hier auf der Stelle gestorben war, aber selbst das verebbte langsam. Das Zittern in meinem Inneren wurde von etwas anderem überdeckt: Ich war erschrocken und wie betäubt – etwas rauschte durch meinen Körper und wurde dann von einem warmen, angenehmen Gefühl abgelöst …

Freude.

Passierte das gerade wirklich? Waren wir endlich angekommen? Ich schaute fassungslos von einem freundlichen Gesicht zum anderen. Hatte ich wirklich richtig verstanden, was sie eben gesagt hatten?

Ich sah Anna an. Sie wirkte beherrscht, aber ihre Wangen waren vor Freude gerötet, was etwas in mir löste, ein unsichtbares Stahlseil, das mich in den vergangenen Monaten gehalten hatte und das sich jetzt so plötzlich aufdröselte, dass ich fürchtete, vom Stuhl zu fallen. James drückte mir einen Kuss auf die Wange, dann strich er mit dem Daumen über die Tränenspur, die sich über mein Gesicht zog. Er sprach mit Anna, während die Nachricht endlich meinen Kopf erreichte.

Wir werden ein Kind kriegen. Irgendwo da draußen wartet unser kleiner Junge oder unser kleines Mädchen darauf, von uns nach Hause geholt zu werden.

Dunkel war ich mir bewusst, dass Anna etwas zu James sagte. Sie tätschelte mir beruhigend den Rücken, eine kleine Geste des Trostes, die aber reichte, um den Dominoeffekt auszulösen. Ich hatte nicht vorgehabt, mich mitten in diesem Zimmer so vollständig aufzulösen, mich von meinem Glück so komplett lähmen zu lassen und zu einem heulenden Häufchen Mensch zusammenzufallen, aber nach einundzwanzig Monaten höchster Anspannung konnte ich nicht eine Sekunde länger an mich halten.

Es gab nur Raum für einen Gedanken, und er löste eine neue Serie unkontrollierbarer Schluchzer aus, die nur durch James’ Marks-and-Spencer-Pullover gedämpft wurden. Die Strasssteine auf Annas Schuhspitzen tanzten wie ein Kaleidoskop durch die beeindruckende Flut meiner Tränen, und James verbarg sein Gesicht in meinen Haaren und sagte die Worte. Sprach sie laut aus, damit wir endlich die Wahrheit hören konnten.

„Wir werden Eltern.“

2. KAPITEL

Tja, du weißt ja, was man sagt.“ Phil grinste, und ihre schokoladenfarbenen Augen blitzten unter dem stumpf geschnittenen Pony hervor. Um uns herum sonnten sich die Reichen und Schönen, kurz: alle, die angesagt waren in der Stadt, in der funkigen Kelleratmosphäre von Rufus’s Cocktail Lounge. Das war schon immer unsere Lieblingsbar gewesen.

„Komm schon, Phil, was sagt man?“, machte ich ihren Spaß mit.

„Wenn dein Sexleben mau ist und man sich die ganze Zeit streitet, kann man auch genauso gut Kinder kriegen.“ Phil unterstrich ihre ermutigenden Worte mit einem blutroten Lächeln und einem kleinen Schulterzucken.

„Ich denke, du meinst, dann kann man auch genauso gut heiraten, Phil. Wenn dein Sexleben mau ist und du dich die ganze Zeit streitest, kannst du auch genauso gut heiraten. So heißt es doch, oder?“

Mit einem langen, glänzenden Fingernagel strich sich Phil ein Haar, das sich an dem gerade neu aufgetragenen Lipgloss festgeklebt hatte, zurück. „Wie auch immer. Jedes für sich ist eine schlechte Idee.“ Sie zwinkerte mir zu.

„Nun, ich weiß, an was ich interessiert bin“, sagte ich über die sanften Beats von Rufus’s In-House-DJ hinweg. „Und es hat nichts mit einem weißen Kleid zu tun.“ Ich zog die Falten in meiner zinnfarbenen Seidenweste glatt, während Phil mit ihrem Blick ein paar Männern auf dem Weg zur Bar folgte. In dem gedämpften Licht des Clubs sah ihr dunkelbrauner Bob beinahe schwarz aus, was sie fast japanisch wirken ließ. Was auch immer an der Bar ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, es reichte nicht aus, und sie verlor schnell das Interesse.

„Wir werden sehen“, sagte sie. „Sobald das Kind erst mal da ist, wirst du vor Liebe überfließen, und Vivian wird dir mit ihren Theorien über die Kleinfamilie in den Ohren liegen, und du wirst einknicken. Darauf würde ich sogar Geld wetten. Noch vor Ende des nächsten Jahres bist du Mrs Coffrey.“

Phil kannte meine Familie zu gut. Mum hatte bereits auf alle möglichen Arten versucht, mir die Vorzüge einer Ehe schmackhaft zu machen, obwohl mein Vater der ihren ein abruptes Ende gesetzt hatte, nachdem er sich in unsere Babysitterin verliebt hatte. Es war nicht so, dass ich gegen die Ehe war, und ich musste meinem Vater zugestehen, dass es auch nach achtzehn Jahren zwischen ihm und Petra noch zu funktionieren schien, aber was Verpflichtungen anging, gab es für mich nichts Verbindenderes, als gemeinsam ein Kind großzuziehen.

„Mum ist einfach nur auf das ganze Hochzeitsspektakel scharf, Phil. Das hat sie bei meinem Bruder verpasst, weil Laurens Mum sich um alles gekümmert hat. Deshalb dreht sie ja auch so durch wegen dieser bekloppten Party, zu der sie uns überredet hat. Habe ich dir erzählt, dass sie mich dazu gebracht hat, eine riesige Torte zu bestellen?“

Phil kicherte heiser. „Wenn sie damit zufrieden ist, euch eine Scheinhochzeitsfeier auszurichten, Ame, mit Torte und allem, dann nimm den Deal an und sieh zu, dass du danach Land gewinnst.“

„Das ist keine Scheinhochzeit.“ Ich schüttelte mich. Zumindest nicht außerhalb der Gedankenwelt meiner Mum. „Es ist nur eine kleine Zusammenkunft, um unseren neuen Status als …“ Was sind wir denn jetzt eigentlich genau? „… Eltern in Wartestellung zu feiern.“

„Es ist die letzte Chance für ein riesiges Gelage, bevor du langweilig wirst, das ist es. Ich schätze, wir hatten immerhin bislang eine gute Zeit.“ Phil seufzte. „Wir hatten so viel Spaß zusammen, wenn man bedenkt, dass du schon seit Ewigkeiten mit der gleichen Beinfessel herumläufst.“

James war keine Beinfessel. Denn die erstellte keine Listen von all den Dingen, die wir in den nächsten paar Jahren nicht mehr würden tun können. Wie Skiferien und Städtetrips. Wenn überhaupt jemand den anderen in Ketten legte, dann wohl eher ich ihn. „Acht Jahre sind kaum eine Ewigkeit, Phil.“ Ich lächelte.

„Seit acht Jahren Sex mit dem gleichen Mann, und du bist noch nicht mal dreißig. Das bricht mir das Herz“, sagte sie gedankenverloren.

Ich schüttelte den Kopf und wirbelte mit dem Strohhalm die Zitronenscheibe in meinem Glas herum. „Man kann nie wissen, Philippa. Vielleicht wirst du selber auch eines Tages sesshaft.“

Bei diesem Horrorgedanken verzog Phil das Gesicht. „Und wache für den Rest meines Lebens neben dem gleichen Kerl auf? Nein, danke. Es gibt keinen Mann, der mir das schmackhaft machen könnte. Ich meine, wie deprimierend ist das denn, bitte? Kein Wunder, dass Frauen sich, nachdem sie sesshaft geworden sind, nur noch Schokolade und Chips zuwenden. Du kaufst dir jetzt auch besser eine Jogginghose, Honey. Es ist schön, dass du so lange durchgehalten hast. Ehrlich gesagt frage ich mich, was für ein Geschenk ich euch zu eurer ‚Wir verabschieden uns von unserem Leben‘-Party mitbringen soll. Vielleicht Jogginghosen für sie und ihn – mit Taschen für das Einwickelpapier deiner Pralinen.“

Phil grinste, während ein paar der anderen Mädels am Tisch, die noch klar genug waren, um der Unterhaltung zu folgen, sich einmischten.

„Ich kann mir Amy nicht in einer Jogginghose vorstellen“, flötete Hannah, die neueste Angestellte von Cyan Architecture & Design. Hannahs fliegendes blondes Haar war immer fliegender geworden, je weiter sie sich durch die Cocktailliste gearbeitet hatte. „Du bist immer so … elegant“, ergänzte sie.

Neben Hannah saß Sadie Espley – eine Nichte von Adrian Espley, einem der Gründungsarchitekten von Cyan. Sie sah aus, als würde sie tatsächlich zum ersten Mal an diesem Abend etwas beitragen wollen. Dann vibrierte ihr Handy, und sie zog ihren Kopf hinter den Vorhang aus honigblonden Strähnen zurück.

„Du weißt, dass Amy nicht deine Vorgesetzte ist, oder, Hannah?“, bohrte Phil trocken nach. „Du musst ihr nicht in den Hintern kriechen. Und bevor du es sagst, ja: Obwohl es sich bei diesem Hintern tatsächlich um eine perfekte, knackige Größe sechsunddreißig handelt.“

„Inzwischen achtunddreißig“, korrigierte ich sie. James hatte das Wort Feiertagsvöllerei seit meinem Geburtstag bereits zwei Mal erwähnt.

Tom und Alice, Cyans computergenerierte Abbilder eines Technikers und einer Marketingspezialistin, ließen sich auf die rechte Bank der Nische fallen, sodass wir anderen vier näher an Phil heranrutschen mussten.

„Habe ich da etwas über einen perfekten Hintern gehört?“, fragte Tom, dem durch das Tanzen ein leichter Schweißfilm die Haare an die Stirn klebte. „Sprichst du wieder von meinem Knackarsch, Philippa?“ Er hatte sich nicht einmal für ihren freitäglichen Cocktailabend von seiner Hipster-Jeans und seinem lässigen Shirt getrennt.

„Dieses Mal nicht“, erwiderte Phil. „Es ging um Amys Hintern, nicht deinen. Hannah hat die Tendenz entwickelt, hineinzukriechen.“

„Ganz ruhig, Phil. Hannah war nur nett. Erinnerst du dich daran, wie das ist? Nett zu sein?“ Ich streckte ihr spielerisch die Zunge heraus und wurde mit einem weiteren gefährlich roten Grinsen belohnt.

„Wenn du glaubst, dass Phil eine große Klappe hat, Hannah, dann warte nur, bis du mal mit Dana und Marcy ausgehst“, warf Alice schlagfertig ein. „Danach hältst du Phil für eine Schmusekatze.“ Phil warf Alice eine Kusshand zu. In den letzten Jahren war Cyan Architecture & Design so gewachsen, dass die Frauen der Firma jetzt zwei lose Grüppchen bildeten. Wir und die. Dana und Marcy gehörten definitiv zu „die“. Phil meinte, Sadie gehöre auch zu ihnen, und war nicht sonderlich begeistert gewesen, dass ich sie eingeladen hatte, heute Abend mit uns zu kommen. Sadies unermüdliche Beschäftigung mit ihrem Smartphone trug ihr nicht gerade Sympathiepunkte ein. Sadie hob den Kopf und fing Alices Blick kurz mit ihren großen blauen Augen hinter den trendig eckigen Brillengläsern auf. „Dana und Marcy sind in Ordnung, Alice“, erklärte sie.

Phil hob eine Augenbraue. „Na ja, sie sind zumindest immer nett zu dir, Sadie, nicht wahr? Wo doch Onkel Adrian ihre Gehälter zahlt.“

„Ich verdiene mir mein Gehalt wie jeder andere auch“, erwiderte Sadie. „Ich arbeite genauso viele Stunden wie du.“

„Äh, du verbringst die gleiche Anzahl von Stunden im Büro, Sadie, das muss ich dir lassen. Aber das ist nicht dasselbe.“

Die Atmosphäre kühlte merklich ab. „Ich bekomme keine Sonderbehandlung, Phil.“

Phil lächelte. „Aber uns lässt Onkel Adrian keinen kleinen Quickie mit dem Vertreter der Lichtfirma im Materiallager durchgehen, Sadie. Der arme Kerl, er ist nur ins Büro gekommen, um dir eine neue Produktpalette vorzuführen.“

Tom kicherte. „Er hat ihr definitiv mehr als nur das vorgeführt.“

Sadie funkelte Phil an. „Wer bist du eigentlich, Phil? Die verdammte Spaßpolizei?“ Sie versuchte, Phils Blick standzuhalten, dann überlegte sie sich offensichtlich, sich nicht noch weiter auf den Streit einzulassen, den Phil angezettelt hatte, und kehrte zu ihrem WhatsApp-Marathon zurück. Zum Glück hatte das Smartphone mehr Leben in sich als Leah aus der Reprotechnik, die seit mindestens zwanzig Minuten mit dem Kopf auf dem von Gläsern übersäten Tisch lag. Phil hörte auf, Sadie anzufunkeln, und murmelte etwas von geschönten Lebensläufen und locker sitzenden Unterhosen. Sie gerieten ständig aneinander. Phil mochte Sadie aus den gleichen Gründen nicht, aus denen ich es nicht über mich brachte, sie nicht zu mögen – Sadie war dreiundzwanzig mit Beinen bis zum Himmel, und sie schien viel zu viel Spaß zu haben am Leben, um für einen Menschen allein da zu sein. Ich hoffte für sie, dass diese Zeit so lange wie möglich anhalten würde. Einst war ich genauso gewesen wie sie. Phil war es immer noch, nur war sie nicht mehr dreiundzwanzig, was sie nervte.

Phil vergaß den Streit in dem Moment, in dem eine weitere Runde Cosmopolitans neben Leahs Kopf auf den Tisch gestellt wurde.

„Also, wer hat Lust, noch um die Häuser zu ziehen?“, fragte Alice begeistert.

„Ihr kümmert euch erst mal um die da“, ich nickte in Richtung der Drinks. „Ich verschwinde mal kurz für kleine Mädchen.“ Ich quetschte mich an Tom und Alice vorbei.

Ein paar Minuten Ruhe auf der Toilette, und außerdem war ich froh, mich nicht an der Diskussion beteiligen zu müssen. Als ich aus meiner Kabine trat, schwächelte ich bereits. Die Tür zur Damentoilette schwang auf, und ein vertrauter Kopf wurde herausgestreckt. „Also, was ist? Gehen wir noch mit?“

Ich verzog das Gesicht und drückte auf den Seifenspender. „Ich glaube nicht, dass ich es noch lange mache, Phil.“

Phil zog eine Schnute. „Okay, du hast recht. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, weiter zuzuhören, wie Hannah dir Zucker in den Hintern bläst.“

„Lass sie mal in Ruhe, Phil. Sie ist ein nettes Mädchen.“

Phil bedachte mich mit einem säuerlichen Blick, dann drehte sie sich zum Spiegel und begann, ihre Lippen nachzuziehen. „Ich bin auch ein nettes Mädchen, weißt du“, schnaubte sie indigniert.

„Ich weiß! Sei einfach … cool. Gib Hannah die Chance, diese Seite an dir kennenzulernen.“ Ich wusch mir die Seife von den Händen. „Und lass Sadie in Frieden. Ich weiß, du magst sie nicht, aber sie ist nicht so schlimm. Außerdem will ich Adrian nicht aufregen. Er ist schon angespannt genug.“

Phil betrachtete mich im Spiegel. „Adrian ist immer angespannt. Seit wann setzt du dich überhaupt so für ihn ein?“

Ich zog ein paar Papierhandtücher aus dem Spender und beugte mich kurz nach unten, um zu sehen, ob jemand in einer der Kabinen war. „Seitdem Claire Farrel ihm erzählt hat, dass sie die Partnerschaft bei Devlin Raines annimmt. Sie geht in sechs Wochen.“ Devlin Raines war Cyans Hauptkonkurrent in der Stadt. Ihre Firma war größer als unsere und hatte Büros in mehreren Städten Englands. Adrian hasste es, etwas an sie zu verlieren, vor allem eine Mitarbeiterin.

„Claire verlässt uns? Davon hat sie keinen Ton gesagt. Deshalb ist Adrian also so verspannt.“ Phil kämmte sich ihren Pony. „Aber was hat das mit dir zu tun?“

„Ein paar Tage, bevor Claire gekündigt hat, hat Adrian zugestimmt, darüber nachzudenken, ob James und ich nach der Adoption die Elternzeit gemeinsam nehmen können. Claires Weggang sprengt das Vermessungsteam, und ich möchte nicht, dass Adrian seine Meinung ändert und James doch nicht freistellt.“

„Wie lange würde das sein?“

„Ein Jahr.“

„Ein Jahr? Und dem hat Adrian zugestimmt? Jetzt weiß ich wenigstens, warum du Glitzerhöschen eingeladen hast, uns heute Abend zu begleiten. Schön Onkel Adrian auf deiner Seite halten, Honey.“

„Deshalb habe ich Sadie nicht eingeladen, Phil. Sie wirkte in letzter Zeit ein wenig aus der Bahn geworfen. Ich glaube, sie hat Männerprobleme.“

„Männerprobleme? Sadie? Du machst Witze! Mein Gott, Ame, du bist so ein Träumer. Sie schreibt sich den ganzen Abend irgendwelche Sexnachrichten mit irgendeinem hirntoten Muskelprotz. Ich wette, dass sie bald geht, um die Nacht mit ihm zu verbringen.“

Ich beobachtete Phil aufmerksam im Spiegel. „Eifersüchtig?“

Sie versuchte, eine ernste Miene zu machen. „Da hast du verdammt noch mal recht“, gab sie zu und lachte rau. „Ich hätte auch nichts dagegen, mal wieder flachgelegt zu werden.“

Phil zog mich aus der Toilette zurück in den Lärm des Rufus’s. Leah aus der Reprotechnik saß jetzt zwischen Tom und Hannah. Sie unterhielten sich, als stünden sie gemeinsam an der Bushaltestelle und nicht, als hätten sie einen menschlichen Körper zwischen sich zu stützen.

„Wo sind Sadie und Alice?“, fragte Phil.

„Mit der hier kann man aber auch nichts anfangen“, schnaubte Tom und zog Leahs schlappen Arm über seinen. „Alice ist los, um die Erste bei der Pizza zu sein, und Sadie … äh, sie ist weg, als ihr aufs Klo gegangen seid.“

„Sadie ist gegangen? Ganz allein?“, fragte ich.

Tom zuckte mit den Schultern. „Sie wollte weder eine Pizza noch ein Taxi mit Phil teilen. Sie meinte, sie würde sich oben am Taxistand einen Wagen nehmen.“ Ich warf Phil einen vorwurfsvollen Blick zu und sah auf die Uhr.

„Was?“

„Komm schon, es ist halb zwei Uhr morgens. Wir lassen sie nicht alleine mit dem Taxi fahren.“

Phil verzog das Gesicht. „Aber was ist mit der Pizza?“

Ich sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Du isst gar keine Pizza, Phil. Die ist nicht makrobiotisch.“

Phil war besser darin, die Augen zusammenzukneifen, als ich. „Ach, zum Teufel, Ame! Warum musst du so eine verdammte Pfadfinderin sein?“, schnaubte sie und marschierte in Richtung Tür. Dort wartete sie ungeduldig, während ich mich von den anderen verabschiedete.

„Jetzt komm schon!“, rief Phil. „Lass uns Glitzerhöschen retten.“

Zehn eiskalte Minuten später kam das Ende der Taxischlange in Sicht.

„Ich sehe sie nicht, Phil“, sagte ich und ließ meinen Blick über die Reihe spärlich bekleideter Mädchen und Kebab schwingender Jungs gleiten, die nach dem nächsten freien Taxi winkten.

„Sie ist ein großes Mädchen, Ame. Vermutlich hat ihr Muskelprotz sie abgeholt.“

„Und was, wenn nicht?“

Phil schaute sie ernst an. „Sie ist nicht hier, Ame.“ In der Schlange brach ein Tumult aus, der nie zur Neige gehende Cocktail aus Testosteron und Alkohol. „Scheiß was drauf“, grummelte Phil. „Ich werde nicht mit diesen Idioten hier warten. Das Büro ist nur fünf Minuten von hier entfernt. Lass uns von da ein Taxi rufen. Das ist schneller und wärmer.“ Sobald Phil die Kälte erwähnte, spürte ich auch, wie sie durch meine Jacke drang.

„Das geht nicht, Phil. Kein unautorisierter Zugang am Wochenende mehr. Das hat Adrian ziemlich deutlich gemacht.“

„Schon wieder die Pfadfinderin, Ame! Du bist in den letzten Tagen so ein Gutmensch geworden.“

Ich hob meine Hände. „Okay, okay! Wir gehen zum Büro. Aber ich werde mich nicht als diejenige brandmarken lassen, die hier nachts heimlich Sex hat, okay? Sollten wir erwischt werden, werde ich sagen, dass du es warst, Phil.“

Bei diesen Worten erhellte sich Phils Miene. „Ich sag dir was: Wenn ich diejenige wäre, die Dinge die Herrentoilette runtergespült hat, die sich nicht runterspülen lassen, würde ich es jetzt nicht riskieren, mich da erwischen zu lassen. Die Reinigungsleute sind auf dem Kriegspfad. Wie auch immer, alle wissen, dass es Stewart aus der Reprotechnik war, das geile kleine Monster. Kein Wunder, dass Leah so viel trinkt. Es muss schlimm sein, die ganze Woche über neben Stewie zu arbeiten.“ Phil kuschelte sich an mich und führte uns von der Menge fort.

„Du meinst also, Stewart schleicht sich nachts heimlich ins Studio? Bist du dir sicher?“ Ehrlich gesagt dachte ich nicht, dass er das draufhatte.

„Ja, bin ich. Weißt du, Ame, während du dich über Beförderungen und Umstrukturierungen in der Firma auf dem Laufenden hältst, ist der Rest von uns bezüglich der wirklich wichtigen Dinge gut informiert – wie zum Beispiel, wer sich nachts zum Poppen ins Büro schleicht. Es wäre beinahe romantisch, wäre der Mistkerl nicht verheiratet.“

„Stewart ist verheiratet? Mir ist nie aufgefallen, dass er einen Ring trägt.“

„Weil er ihn außerhalb seines Hauses nie trägt, der kleine Scheißer.“

So komisch die Geschichte der nächtlichen Vögelei auch gewesen war, mir tat Stewarts Frau leid, wer auch immer sie war. Ich hatte über Dad die andere Seite von außerehelichem Spaß kennengelernt, und die war überhaupt nicht lustig. Phil zitterte, als wir den verlassenen Innenhof des perfekt angelegten Gebäudekomplexes überquerten, in dem sich die Büros von Cyan Architecture & Design befanden. Die Studios lagen in dem Teil, der einst eine alte Keksfabrik gewesen war. Ein Gebäude aus alten roten Backsteinen, die aus einer Ära stammten, als Industriegebäude noch schön waren.

Wir blieben zwischen zwei Buchsbäumen stehen, die in großen Kübeln neben dem gläsernen Eingang zu Cyan Wache standen. Phil bestellte übers Handy bereits ein Taxi, während ich den Zahlencode eingab, um in den von Nachtlichtern erhellten Empfangsbereich zu gehen. In der Lobby war es nur unwesentlich wärmer, aber der kalte Wind draußen hatte mir bereits klargemacht, dass ich nicht so nüchtern war, wie ich gedacht hatte.

Phil legte in dem Moment auf, in dem ich mich auf den Bürostuhl hinter Allys Empfangstresen fallen ließ.

„Das Taxi kommt in fünfzehn Minuten. Wir könnten hochgehen und uns eine der Zeichnungen ansehen, während wir warten. Was meinst du?“

Ich winkte ab. Okay, ich war in den letzten Jahren ein wenig ein Sklave dieses Büros geworden, aber angesichts von Phils Hingabe war das nötig, um das Gleichgewicht im Inneneinrichterteam zu halten.

Ich fing an, mich langsam mit dem Stuhl zu drehen. „Warum braucht Ally so viele winzige Post-it-Zettel?“, flüsterte ich und schaute auf die Menge an neonfarbenen Quadraten, die Allys Computerbildschirm einrahmten.

„Vielleicht, um ihren Hintern von ihrem Ellbogen unterscheiden zu können?“ Phil beugte sich über meine Schulter, um die Notizen zu lesen. „Nägel feilen, Adrian die Titten ins Gesicht drücken, bis zehn zählen üben …“

Ich schob sie weg. „Sei nicht so gemein, Phil. Ally ist in Ordnung. Ich mag ihre Wimpern. Die sind so lang und …“, ich versuchte, um die zu vielen Mojitos herum das richtige Wort zu finden, „… wimperig.“

Phil grinste. „Oh, das gefällt dir, Honey? Darf ich?“ Phil nahm einen bunten Post-it-Zettel von einem der Blocks neben Allys Tastatur und fing an, ihn mit der Schere aus dem Stifthalter einzuschneiden. Dann beugte sie sich über den Tisch und klebte ihn mir aufs Auge. Ich wartete, bis sie das Gleiche mit einem neongrünen Post-it tat, den sie mir aufs andere Auge klebte. Dann lehnte sie sich zurück und bewunderte ihr Werk. „Ist das was für einen Abschluss in Produktdesign? Plinker mal.“

Ich fing an, wie wild zu blinzeln, und wir grinsten in angesäuselter Einigkeit. Es schien, als würden die Cocktails bei Phil auch langsam Wirkung zeigen, und wir beide brachen in lautes Gelächter aus.

„Haha! Das ist lustig“, kreischte sie. „Du solltest beim Ausgehen definitiv Post-its tragen, Ame. Du siehst scharf aus.“

„Beste Freundinnen sollten im Partnerlook gehen, Phillypops. Du brauchst auch welche“, meinte ich. Ich hielt gerade lange genug mit dem Klimpern meiner neuen Wimpern inne, um Phil ebenfalls ein paar grell orangefarbene Papierwimpern auf ihre grau geschminkten Augenlider zu kleben. Phil hing in schweigendem Zucken über dem Schreibtisch, während ich mich im Bürostuhl zurückwarf und es schaffte, immer noch mit meinen farblich nicht zusammenpassenden neonfarbenen Wimpern zu klimpern, während ich nach Luft schnappte.

Hätten wir nicht irgendwann Atem holen müssen, hätten wir es vermutlich nicht gehört. Mir fiel es zuerst auf. Irgendwie schaffte ich es, mein Kichern lange genug zu unterdrücken, um eine Weile zu lauschen.

Da war es wieder. Tief im Inneren der Designstudios lachte jemand. Ich hielt den Atem an und winkte Phil panisch zu, mit dem Kichern aufzuhören.

Phil verstand den Wink und verstummte. Jetzt hörten wir es beide. Das Lachen einer Frau. Ganz eindeutig.

Langsam stieß ich den angehaltenen Atem aus und beobachtete, wie Phils Miene ernst wurde, als sie sich anstrengte, mehr zu verstehen. Der Schuldige nahm in ihrem Kopf bereits Gestalt an, das sah ich. „Der geile Bock“, flüsterte sie. „Komm, crashen wir ihr kleines Stelldichein.“

Ich war zu betrunken für so etwas, genau wie Phil. Ich spürte, dass der letzte Lachanfall immer noch in meiner Brust saß und drohte, jederzeit wieder auszubrechen. Ich sah, wie Phil ihren Kopf neigte und wartete. Die nächtlichen Sünder hatten keine Ahnung, dass sie Gesellschaft hatten.

„Und was jetzt?“, flüsterte ich.

„Wir platzen einfach rein. Ame, wir werden nie wieder darauf warten müssen, dass unsere Ausdrucke an der Reihe sind, oder panisch versuchen, unsere Sachen fertig zu kriegen, bevor die Repro Feierabend macht. Stewie wird alles tun, um das vor Adrian geheim zu halten. Wie gut ist die Kamera an deinem Handy?“

Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern nahm meine Hand und zog mich auf die Füße, bevor wir beide versuchten, so leise wie möglich auf unseren High Heels über den glänzenden Fußboden der Lobby zu schleichen. Als wir in die Dunkelheit des ersten Studios schlüpften, wurde das Flüstern aus dem Büro am Ende des Flures durch ein erneutes Lachen unterbrochen. Dieses Mal fiel Stewart in das Lachen seines Gastes ein; ein gedämpftes, maskulines, tiefes Lachen, das sich in Wellen erhob und verebbte, als er sein Gesicht an irgendeinem Körperteil vergrub, der vermutlich nichts mit seiner Frau zu tun hatte. Wem auch immer diese Körperteile gehörten, sie schien diesen Besuch zu genießen. Das Lachen kitzelte mich in der Kehle. Ich riss an Phils Hand, um ihren soldatischen Vorstoß durch die dunklen Büros ein wenig zu bremsen, bevor ich in ohrenbetäubendes Gelächter ausbrechen konnte.

Was? formte sie stumm mit den Lippen, als ich sie zurückhielt. Eine von Phils neonorangefarbenen und definitiv nicht armeetauglichen Wimpern löste sich. Das Keuchen kam aus dem Konferenzraum, der auf der anderen Seite der schmalen Lichtstreifen lag, die der Mond durch die Bürofenster warf. Phil zerrte mich weiter vorwärts. Wir kamen an unseren eigenen Schreibtischen vorbei und ließen uns direkt auf der anderen Seite des gläsernen Konferenzraums auf den Boden sinken, wo uns die Jalousien zum Glück vor Blicken verbargen.

Es war vermutlich der ungünstigste Zeitpunkt, aber die Mojitos in mir fanden, dass ich noch ein paarmal mit meinen Post-it-Wimpern blinzeln sollte. Phil schlug sich die Hand vor den Mund, und ein paar Augenblicke lang blieben wir so – im Dunkeln auf dem Boden hockend, unser hysterisches Kichern unterdrückend, während der Stöhner weiter stöhnte. Über sein Keuchen hinweg kommentierte Stewies Gast laufend seine eindeutigen Talente. Diesem Dirty Talk zu lauschen war zu viel für mich. Ich presste mir die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu in dem Versuch, mir mit letzter Kraft das Lachen zu verkneifen, bevor es laut herausplatzen konnte.

Phil hatte die gleichen Probleme. Sie versuchte, leise zu sein, als sie sich gegen die Glaswand lehnte, aber anders als ich war Phil konzentriert – sie war entschlossen, Stewie auffliegen zu lassen. Unter ihren falschen Wimpern heraus warf Phil mir einen ernsten Blick zu. Sie hob ihre freie Hand und zeigte aggressiv mit zwei Fingern erst auf ihre, dann auf meine Augen. Dann zählte sie stumm runter.

Drei Finger …

Zwei Finger …

Einer …

Halb stürmten wir, halb fielen wir in den Konferenzraum. Phil hatte so etwas offensichtlich schon mal gemacht, denn sie streckte die Hand direkt zum Lichtschalter aus.

„MOBILES EINSATZKOMMANDO! NIEMAND RÜHRT SICH!“, rief sie, als eine halb nackte Blondine vom Schoß ihres Freundes glitt.

Das Lachen, das nur darauf gewartet hatte, sich endlich lösen zu können, sprang von meinem Körper zu dem verwirrten Pärchen, bevor ich es zurückhalten konnte.

Ein paar Sekunden lang war der Raum wie ein Vakuum, ein schwarzes, gurgelndes Loch. Ein unangenehmes Gefühl füllte die Stille, die mein Lachen hinterlassen hatte. Ich schwankte.

Sadie sah ohne ihre Brille viel jünger aus.

Fassungslos sah ich zu, wie der Stöhner vom Stuhl aufsprang und seine Hose hochzerrte.

„Amy!“ Ein erschrockener James fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten blonden Haare. „Mist! Amy, ich kann das erklären …“

3. KAPITEL

Bist du sicher, dass du das tun willst, Honey? Warum lässt du dir nicht noch ein bisschen Zeit, nur ein paar Tage, um alles noch mal zu durchdenken?“ Das war das dritte Mal, dass Phil mich anrief. Es passierte selten, dass sie die weiche Seite hinter ihrer stachligen Fassade zeigte, aber ich schätze, sie glaubte, die Situation würde es erfordern. Irgendwo in den trüben Tiefen meines Gehirns wusste ich, dass das kein gutes Zeichen war.

„Ich habe nichts anderes getan, als nachzudenken, Phil. Mein Kopf tut mir schon weh. Ich will einfach nur …“ Ich sah dem Regen zu, der leise über die Fenster rann, die auf die Häuser auf der anderen Straßenseite hinausgingen. Bisher war der April ungewöhnlich kalt gewesen. Den ganzen Morgen über hatte der Himmel nach Schnee ausgesehen, aber jetzt lauerte am Horizont nichts als schreckliche graue Unausweichlichkeit.

Phil wartete darauf, dass ich mich wieder fasste, doch ich hatte vergessen, was ich sagen wollte.

„Du kannst nicht einfach allem den Rücken kehren, Amy. Dafür hast du zu hart gearbeitet. Sag Adrian noch nichts. Melde dich einfach … krank. Denk später noch mal über alles nach.“

Später? Weil später plötzlich bedeuten würde, dass ich nicht mehr in derselben Firma arbeitete wie der Mann, der unser Leben gegen die Wand gefahren hatte? Oder wie die Frau, mit der er diese Fahrt unternommen hatte? Meine Aufmerksamkeit wanderte von den Regenschlieren am Fenster zu der neuen Sandkiste im Garten zu dem schwachen Spiegelbild meines Gesichts, das ich in dem kalten, grauen Glas sah. Ich wandte mich ab – weg von allem, dem Haus zu, in das James letzte Nacht nicht zurückgekehrt war. Offensichtlich konnte er es doch nicht erklären. Außer ein paar verpassten Anrufen um drei Uhr nachts hatte es keine Meldung von ihm gegeben.

„Ame? Bist du noch da?“

Ich lehnte mich gegen das Bücherregal und ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Mein eigenes Haus fühlte sich mit einem Mal fremd an.

„Ich bin da.“

Anna hatte uns empfohlen, den gläsernen Couchtisch durch einen aus Holz zu ersetzen. Holz war sicherer, und es war leichter, die Kissen an den Ecken anzubringen, die ich noch am gleichen Tag gekauft hatte. Und die Steckdosensicherungen, die Sonderschließen für die Küchenschubladen und die Brandmelder. Alles installiert und einsatzbereit. Wir waren komplett gegen jede Art von Unfall gesichert. Wenn man sich hier wehtun wollte, also sich wirklich qualvolle Schmerzen zufügen, war James’ Vorstellung von Liebe und Loyalität vermutlich die beste und nicht zu übertreffende Möglichkeit. Ich versuchte, seinen Namen aus meinem Kopf zu verbannen, aber wie aus dem Nichts rauschten die Turbulenzen der letzten zwölf Stunden wieder über mich hinweg. Ich bedeckte mein Gesicht mit dem Ärmel meines Pullovers und drehte den Hörer weg, damit Phil es nicht hörte.

„Warum kommst du nicht rüber?“, versuchte sie es.

Ganz leise atmete ich durch. Ich spürte, wie die Enge in meiner Brust sich wieder löste, öffnete widerstrebend meine zur Faust geballte Hand und riskierte einen tiefen Atemzug.

„Ich kann nicht hierbleiben, Phil. Sobald ich ein paar Sachen gepackt habe, ziehe ich erst einmal zu meiner Mum.“

„Holt Viv dich ab, oder soll ich dich fahren?“, fragte sie leise.

„Nein, danke. Ich nehme ein Taxi.“ Meine Stimme brach.

„Weinst du? Denn wenn du weinst, komme ich sofort rüber.“ Ein warmer Strom rann über meine Wangen. Ich wischte die Tränen fort, als wenn ich es damit irgendwie vor meiner Freundin verbergen könnte.

„Das musst du nicht, Phil. Ich weine nicht“, log ich. „Ich muss jetzt los. Ich will nicht länger hierbleiben, für den Fall, dass er auftaucht.“

Anhand der Art, wie sie den Atem ausstieß, hörte ich, dass Phil noch nicht beruhigt war. „Gut. Ruf mich an, okay?“

Ich nickte und legte den Hörer auf, bevor Phil hörte, wie ich erneut in Tränen ausbrach.

Ich war nicht sicher gewesen, ob ich nicht doch hierbleiben konnte, bis ich es laut ausgesprochen hatte. Jetzt wusste ich, dass es nicht ging. Ich glaubte eigentlich nicht, dass er sie hier hergebracht hatte, aber es war nicht unmöglich. Ich bestellte mir ein Taxi und ging nach oben, wobei ich die erste Tür zuzog, an der ich vorbeikam. Der noch in der Luft hängende Geruch von frischer Farbe war Grund genug, das Zimmer zu verschließen. James hatte gesagt, wir sollten erst einmal abwarten, wer uns zugeteilt würde, aber ich hatte noch an dem Tag, an dem wir vom Komitee zurückgekehrt waren, angefangen, das Zimmer in neutralen Tönen zu streichen. Vielleicht hatte ich die Sache damit verhext. Es gab genügend Aberglauben zu derartigen Dingen.

Mein Schlafzimmer fühlte sich so fremd an wie der Rest des Hauses. Ich fing an, wahllos Klamotten in James’ Übernachtungstasche zu packen, bevor ich zu meiner Frisierkommode ging. Die unterste Schublade glitt leicht heraus und enthüllte die hübsch dekorierte Feuerschachtel, die auf den warmen Winterpullovern lag. Ich weiß nicht, woher die Idee ursprünglich stammte, vermutlich von meiner Großmutter, aber jetzt war ich dankbar dafür. Im Falle eines Feuers oder einer anderen Katastrophe befände sich alles, was einen unschätzbaren Wert hatte – Briefe, Andenken –, in dieser Feuerkiste. Alles an einem Ort, bereit, gerettet zu werden.

Ich hob die verzierte Kiste aus der offenen Schublade und betrachtete sie. Als hingebungsvolle Lehrerin, die sie war, gab es nur wenig, das Mum nicht mit etwas Klebstoff und Geduld hinkriegen konnte. Kurz machten sich meine Finger mit den sorgsam aufgeklebten Art-déco-Motiven in gedämpften Blau- und Grüntönen vertraut, der leichten Unebenheit der verschiedenen Bilder, die sie in Serviettentechnik so meisterhaft erschaffen hatte. Sie hatte die Feuerkiste in jenem August für uns gemacht, hatte in der Küche vor sich hin gewerkelt, während ich so getan hatte, als würde ich hier oben schlafen. James hatte irgendwann in die Firma zurückkehren müssen, und sei es nur, um wieder etwas Normalität herzustellen. Mum hatte gesagt, solche wertvollen Dinge verdienten es, hübsch aufbewahrt zu werden.

Ich ließ meine Finger einen Moment auf dem Verschluss der Kiste ruhen. Als wenn ich hineinschauen müsste. Als wenn ich die Erinnerungen, die ich darin verwahrte, nicht auswendig kennen würde. Das erbärmliche Vermächtnis des kleinen Lebens unseres Sohnes.

Er würde jetzt in die Schule gehen. Greenacres Primary in Earleswicke, wo seine Großmutter als Schulleiterin ein Auge auf ihn hätte. Sichergehen würde, dass er sein Pausenbrot aß, ihn tröstete, wenn die anderen Kinder gemein zu ihm waren. Wut flammte in mir auf. Ich stellte die Feuerkiste vorsichtig in James’ Tasche, zog meine Jacke an und ging über den Flur zur Treppe.

Der Gedanke, dass Sadie mein Haus von innen kennen könnte, brachte mich zur Weißglut. Die Feuerkiste war nicht das Einzige, von dem ich nicht ertragen könnte, sie in ihrer Nähe zu wissen. Ich trat von dem blassen Teppich der Treppe auf die milchig polierten Fliesen des Flures. Wir hatten Monate damit verbracht, den Ordner zu füllen, den ich sicher im Küchenschrank aufbewahrte. Die Akte, die von der Familie zeugte, die wir einem der tausend bedürftigen Kinder bieten konnten, die auf ein neues Zuhause warteten. Jedes Detail unseres Lebens befand sich darin, einschließlich einer Kopie des Adoptionsreports, den Anna über uns zusammengestellt hatte. Dieser Bericht war das Ergebnis von unzähligen Untersuchungen, Befragungen von Freunden und Familienmitgliedern, Diagrammen unseres Unterstützernetzwerks, Einkommen, medizinischer Hintergrund, und er würde nicht hierbleiben. Sadie wusste das vermutlich sowieso schon alles – leises Geflüster in den Kissen, während ich zu Hause saß, ahnungslos und dumm. Das kam jetzt alles zu mir zurück.

Draußen ertönte eine Hupe, als ich in unsere schicke weiße Küche ging. Ich stellte die Tasche an den Weinkühlschrank und ging mit steifen Schritten zum letzten Schrank am Ende der Arbeitsplatte.

Ich riss die schmale, hohe Tür auf. Sie öffnete sich nur ein kleines Stück, bevor sie gegen meine Finger schlug und sich widersetzte; ich fluchte vor Schmerz.

Ich hatte mich immer noch nicht an die Türsicherungen gewöhnt, die dazu gedacht waren, kleine neugierige Hände davon abzuhalten, sich auf verbotenes Terrain zu begeben. Ein höllisches Stechen flammte an dem Finger auf, an dem ich mir den Nagel abgerissen hatte. Das Blut tropfte bereits fröhlich herunter, und der Schmerz schien sich von meiner Hand direkt in mein Herz zu brennen. Ich hob die Hand, um mir die Wunde genauer anzuschauen. Es war nur ein abgerissener Fingernagel, doch es blutete, als hätte ich mir eine Arterie verletzt. Pathetisch ließ ich mich gegen den Schrank fallen und sank langsam auf den kühlen Fliesenboden. Irgendetwas war verletzt worden, aber es war nichts, was ich mit einem Druckverband heilen konnte. Beim Anblick des dummen blutenden Fingers verengte sich meine Brust. Jeder Muskel in meinem Körper schien vor Schmerz schreien zu wollen, und so blieb ich da, auf diesem Küchenboden sitzen, während das Taxi weiter draußen wartete.

4. KAPITEL

Die Wände meines alten Zimmers waren nicht mehr magentafarben. Meine Mum hatte das unkonventionelle Dekor meiner Jugendzeit durch eine unaufdringliche Tapete mit creme- und mintfarbenen Streifen ersetzt. Meine einst so geliebten Batikvorhänge waren gekräuselten Seidenstores in ihrer Lieblingsfarbe Salbeigrün gewichen, die besser zu dem Haus aus den Dreißigerjahren passten, das mein Dad uns hinterlassen hatte. In der letzten Woche, die ich mich hier vor meinem Leben versteckt hatte, war ich wieder fünfzehn gewesen.

„Süße? Kommst du runter? Sie werden bald hier sein.“ Ich hörte auf, die abstrakten Muster an der Zimmerdecke zu betrachten, und rollte mich auf meinem Kissen herum. Das Klappern von Pfannen und Töpfen drang nach oben.

Mums Sonntagslunch war, soweit es meinen Bruder betraf, ein Ritual. Seitdem Lauren vor zwei Monaten ihr zweites Kind auf die Welt gebracht hatte, versuchte Guy, Mum zu überreden, außerdem einmal die Woche ein Curry für sie zu kochen. Er hatte sich beschwert, dass das Abendessen mit einem frechen Vierjährigen schon chaotisch genug wäre, und jetzt, wo das Baby da war, neigte Lauren zu einfacheren Mahlzeiten, die weniger Abwasch bedeuteten. Mum hatte abgewinkt und ihm erklärt, dass er dankbar sein sollte, weil Lauren immer noch für ihn kochte, nachdem sie ihm zwei gesunde Kinder geboren hatte.

„Ich komme“, rief ich und trat auf den Flur hinaus. Der Morgen war ziemlich ruhig gewesen. Mum hatte sich in ihren letzten Kampf zugunsten des Women’s Institute und des Wohls der Allgemeinheit gestürzt. Meinen Widerwillen, über James und meine schwindenden Hoffnungen bezüglich einer Adoption zu reden, hatte sie als Aufforderung verstanden, die Unterhaltung an sich zu reißen. Das Gemeindezentrum von Earleswicke sollte demnächst dem Erdboden gleichgemacht werden, weil die Gemeinde fand, dass es mehr Sinn hätte, das Gelände zu verkaufen anstatt viel Geld für eine Renovierung auszugeben. Ich war der gleichen Meinung. Das Gemeindezentrum hatte schon nach Feuchtigkeit und Vernachlässigung gerochen, als Mum mich noch zu den Pfadfinderinnen dorthin geschleppt hatte. Damals war ich acht gewesen, und meines Wissens hatte das Gebäude seitdem keinen Pinsel mehr gesehen. Ohne Zweifel würde ich die ganze Geschichte noch einmal hören, sobald Guy und Lauren da waren. Ich würde die Gelegenheit nutzen, um mit Samuel zu kuscheln und mich über Dinosaurier und alles, was kreucht und fleucht, auf den neuesten Stand zu bringen. Mum hatte ihnen für letztes Wochenende abgesagt. Ein paar besorgte Worte von einem wohlmeinenden Taxifahrer reichten, und sie hatte den Notstand ausgerufen und mir eine Woche Ruhe verschrieben, damit ich meine Wunden lecken konnte. Und jeden Tag wurde ich von ihr ausgiebig bekocht.

Der würzige Duft von Roastbeef wehte die Treppe herauf. Das war Mums Art, Katastrophen zu überwinden – als wenn Essen das heilen könnte, was zerbrochen war. Sie hatte sich wie manisch ins Kochen gestürzt, als Dad uns verlassen hatte. Alle seine Lieblingsgerichte, wochenlang, jeden Abend, nur für den Fall, dass er plötzlich wieder zur Tür hereinkäme. Was er nie getan hatte.

„Alles okay, Liebes?“ Sie trug ein Tablett mit Tee durch den Wintergarten, als ich durch die Küche auf sie zuging. Im Wintergarten war es kühler als in der Küche. Der Rattansessel knarrte wie ein Schiffswrack, als ich mich setzte. „Wie geht es dir heute?“

Draußen schien der Garten sich am morgendlichen Frost festzuhalten, als hätte der Rasen akzeptiert, dass die Sonne ihn verlassen hatte, und gäbe sich nun auf stoische Weise mit dem Eis zufrieden. „Gut. Danke. Das Essen riecht lecker.“ Ich lächelte.

Mum nickte zustimmend, während sie etwas Milch in jede Tasse gab. Ihr Haar wurde im Herbst immer rötlich, doch bis dahin würde es beinahe genauso dunkel bleiben wie meines. Nur ein paar feine graue Strähnen zeigten sich da, wo sie ihre Locken mit einer Klammer über einem Ohr zurückgesteckt hatte. Wie durch ein Wunder hatte ich es geschafft, nicht ihre wilden Locken zu erben, obwohl mir jetzt auffiel, wie jung sie dadurch immer noch aussah.

„Ein gutes Essen wird dich stärken, Süße. Morgen wird der Tag nicht leicht, aber ich denke, du tust das Richtige.“

Der Gedanke an einen Showdown am Montagmorgen mit Marcy und Dana als die Dompteurinnen des Büroklatsches bereitete mir Magenschmerzen. Ich war alle Gründe für und gegen eine Rückkehr ins Büro mehrmals durchgegangen, hatte versucht, einen Weg zu finden, um es zu vermeiden. Tatsache war jedoch: Wenn ich jetzt einfach ginge, hätte ich keine Ahnung, wie ich die plötzliche Veränderung meiner Lebensumstände Anna erklären sollte.

„Sie sollte die Firma verlassen“, erklärte Mum und rührte energisch ihren Tee um.

Ich hätte nie gedacht, dass James so etwas tun würde. Er hatte mich angefleht, ihm eine Chance zu geben, die Sache wieder einzurenken, das Geschehene ungeschehen zu machen. Ich hatte zugehört, als Phil mir die Woche über beigestanden und sich lang und breit über den miesen Charakter untreuer Männer ausgelassen hatte, aber hinter der ätzenden Bitterkeit und dem Schmerz, die in meinem Inneren brodelten, war etwas, das verzweifelt wollte, dass James alles wieder in Ordnung brachte. Aber wir mussten uns nach dem Terminkalender des Jugendamts richten und hatten keine Zeit, in unsere angeschlagene Beziehung einzutauchen und sanft das wieder zusammenzufügen, was zerbrochen war.

„Und sollte James die Firma auch verlassen, Mum?“, fragte ich.

Sie tippte mit dem Löffel gegen den Rand ihrer Tasse und ignorierte meinen versteckten Vorwurf wegen ihrer einseitigen Schuldzuweisung. „Weißt du, Liebes, James hat etwas Furchtbares getan. Aber das macht ihn nicht zu einem schrecklichen Menschen.“

Ich sah zu, wie sie die heißen Getränke vor uns hinstellte, dann wandte ich den Blick ab und schaute in den Garten. Ein Rotkehlchen landete auf dem Rasen und fing an, im Gras zu picken. Vielleicht war ich ja der schreckliche Mensch. Vielleicht hatte ich ja James von mir gestoßen, ihn vernachlässigt. Für viel länger, als es gesund war, hatte es kaum Zeit für etwas anderes gegeben als Arbeit und alles, was mit der Adoption zu tun hatte.

Mum hob ihre Tasse an und pustete. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. „Er hat heute Morgen wieder angerufen.“ Ich fuhr fort, den entschlossenen kleinen Vogel zu beobachten. James hatte die ganze Woche über angerufen, hatte Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen, sich entschuldigt, darum gebeten, mit mir zu sprechen, angeboten, einen Teil seines Jahresurlaubs zu nehmen, als ob das meine Rückkehr in die Firma weniger demütigend machen würde. „Er hat gesagt, er muss mit dir reden, bevor du ins Büro zurückkehrst, Süße.“ Ich hatte James’ Angebot nicht angenommen, aber er ging immer noch davon aus, dass ich zu Cyan zurückkehren würde. Ich hasste es, dass ich so berechenbar war.

„Mum, bitte nicht, ich bin noch nicht bereit, mit ihm zu reden.“

„Du kannst ihm nicht für immer aus dem Weg gehen. Du musst mit ihm reden, bevor die Sozialarbeiterin Wind von all dem bekommt. Wirst du ihn nicht morgen im Büro sowieso sehen?“

Ein unglücklicher Wurm erregte die Aufmerksamkeit des Rotkehlchens, das auf einmal von einem harmlosen Weihnachts-symbol zum erbarmungslosen Jäger wurde. Ich war noch nie ein großer Vogelfreund gewesen, für meinen Geschmack waren sie mir zu knopfäugig und hatten zu scharfe Schnäbel. „Montags ist er immer auf den Baustellen unterwegs. Deshalb ist es für mich einfacher, morgen zurückzukehren, während er nicht da ist.“ Und so lange ich noch einen Job habe. Und falls ich nicht vorher den Mut verlöre, was mehr als wahrscheinlich war.

Mum rückte die Brille auf ihrem Kopf zurecht. „Ich glaube ja, dass du das Richtige tust. Ich weiß, er hat dich verletzt, Liebling, aber wenn ihr beide es ernst damit meint, eure Beziehung zu retten, dann müsst ihr zusammenarbeiten. Kinder brauchen Stabilität, und diese Situation ist alles andere als stabil. Du musst sehr vorsichtig sein, dass du nicht alles gefährdest, was du in den letzten Monaten erreicht hast … und das nur wegen einer … Unüberlegtheit.“

Unüberlegtheit. So konnte man es auch nennen.

„So einfach ist das nicht, Mum. Es war nicht einfach nur ein Ausrutscher.“

Mum trank einen Schluck Tee. „James hätte nicht mit dem Mädchen herummachen dürfen, Amy. Aber Männer … Sie verheddern sich, verlieren ihren Weg. Manchmal können sie einfach nicht widerstehen, Liebling.“

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Parallelen zwischen James und meinem Vater ziehen würde. Ich atmete tief ein und ergab mich ins Unvermeidliche. „Das ist genau der Punkt, Mum. Und ob sie widerstehen könnten, wenn sie wollten. Es ist eine Wahl, die sie treffen.“

„Nein, nicht immer, Amy. Manchmal geraten sie einfach nur in eine unerwartete Situation, und bevor sie es merken, sind sie sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich wollen.“

Ich fragte mich, ob sie, nachdem sie sich das selber so lange eingeredet hatte, irgendwie die grundlegenden Prinzipien des Betrugs aus ihrem Gehirn gelöscht hatte. Achtzehn Jahre, und sie wollte immer noch nicht wahrhaben, dass Dads Weggang seine ureigene Entscheidung gewesen war.

Mum schaute in den Garten hinaus. Ich sah auf die Teetasse, die dampfend zwischen uns stand. Es fühlte sich irgendwie aufdringlich an, nach draußen zu gucken, während sie das auch tat. Sie seufzte und richtete unsicher ihren Blick auf mich. „Ich will nicht unsensibel sein, Amy. Ich weiß, wie sehr dich das alles schmerzen muss. Wirklich. Aber du und James, ihr habt schon so viel gemeinsam durchgemacht. Erlebnisse, die euch zusammengeschweißt haben. Er hat doch nicht den Eindruck vermittelt, dass er eine Beziehung mit dieser Frau haben will, oder?“ Ich durchsuchte den Garten nach etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte. Die Antwort auf ihre Frage war Nein. Nein, das hatte er nicht. In jeder seiner Nachrichten, die er mir in den letzten sieben Tagen hinterlassen hatte, hatte James gesagt, dass er mich liebt. Er liebte mich, und es tat ihm leid.

Mum wartete immer noch. Ich schüttelte als Antwort den Kopf.

„James weiß, wie kompliziert es manchmal sein kann, Amy. Hör ihn an, hör, was er zu sagen hat. Das Leben ist nicht immer ein Spaziergang, Süße. Es ist kompliziert und chaotisch und manchmal schlicht herzzerreißend. Aber ihr müsst weitermachen.“

„Und? Soll ich einfach vergessen, was er getan hat?“

„Nein, nicht vergessen. James hat etwas Falsches getan, aber er gibt sich Mühe. Zählt das nicht auch?“

Ja, es zählte. Mum war nie mit einem anderen Mann ausgegangen; sie hatte darauf gewartet, dass mein Vater auch nur einen Anflug von dem Bedauern zeigte, das James in der letzten Woche gezeigt hatte. Es wäre gemein, ihr zu sagen, dass es nicht zählte. Ich wusste nur nicht, ob es reichte.

„Ich kann das mit der Party nicht durchziehen, Mum. Es tut mir leid. Selbst wenn wir wieder miteinander reden würden, ertrüge ich es nicht, vor unseren Freunden und unserer Familie zu stehen und … so zu tun, als wäre alles in Ordnung.“

„Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest, Amy. Viele Menschen lernen, diese Art der Last zu tragen. In Beziehungen geht es darum, die Unzulänglichkeiten des anderen zu akzeptieren. Und Gott weiß, dass wir alle welche haben.“ Dagegen konnte ich nichts sagen. „Unzulänglichkeiten“ war eine milde Umschreibung dessen, was James an mir akzeptiert hatte.

„Die Feier war eine nette Idee, Mum, aber es war deine Idee. Ich wollte nie so ein Gewese um die Adoption machen. Ich wollte nur die …“ Ich konnte das Wort nicht aussprechen; es steckte wie ein rostiger Draht in meiner Kehle. Ich musste darüber hinwegkommen, oder ich würde keinen einzigen Tag bei Cyan überleben. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, aber meine Gedanken verloren sich schon wieder. Ich schaute nach draußen, hoffte, dass eine Veränderung meiner Position das Unausweichliche verlangsamen würde, aber das Kribbeln hinter meinen Augen war bereits da.

„Ach, Süße! Nicht weinen! Du bist zäh, das weiß ich.“ Mum beugte sich vor und begann, tröstend mein Knie zu streicheln. Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht zäh. Ich konnte weder einen abgerissenen Fingernagel noch ein falsches Wort zur falschen Zeit überleben.

„Das bin ich nicht, Mum. Guy ist zäh, aber nicht ich.“ Ich konnte mich nicht erinnern, meinen Bruder jemals weinen gesehen zu haben, nicht einmal nach der Katastrophe, als er meinen Vater und Petra in flagranti erwischt hatte. Guy hatte uns drei zusammengehalten, bis Mum endlich erkannte, dass wir nicht länger Dads Lieblingsgerichte essen mussten.

„Ach, Amy, du bist zäher, als du denkst.“ Sie griff nach meiner Hand und umfing sie, so wie sie es immer getan hatte, wenn ich Probleme mit nach Hause gebracht habe.

„Was soll ich nur tun, Mum?“, fragte ich ruhig, während ich versuchte, mich zusammenzureißen. Sie strich mit ihrem Daumen in kleinen Kreisen über meinen Handrücken.

„Nun, zuerst einmal musst du herausfinden, was in deinem Leben im Moment am wichtigsten ist, Liebling.“

„Ich weiß, was am wichtigsten ist. Dieser Teil hat sich in den letzten fünf Jahren nicht verändert.“

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