Wonach dein Herz sich sehnt

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Die Welt steht still, als sich ihre Hände berühren: Wortlos verspricht Wyatt Graysons kräftiger Händedruck Wärme, Geborgenheit und Leidenschaft für immer und ewig. Alles, was die junge Sozialarbeiterin Neily Pratt noch nie erlebt hat, wonach sie sich so sehnt. Und was unerfüllt bleiben muss! Denn Neily soll schließlich nur überprüfen, ob Wyatt sich gut um seine erkrankte Großmutter kümmert. Da ist jeder sehnsüchtige Blick in seine Augen ein Problem, jeder Kuss ein echter Interessenskonflikt. Und eine Liebesnacht könnte Neily glatt ihren Job kosten …


  • Erscheinungstag 04.04.2016
  • Bandnummer 10
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773380
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich gemacht hätte“, bedankte sich Neily Pratt bei dem Klempner Charlie, einem grauhaarigen Mann, den sie von klein auf kannte. Er war nur einer von vielen Freiwilligen, die ihr an diesem Sonntag geholfen hatten, das alte Hobbs-Haus wieder in einen bewohnbaren Zustand zu bringen.

Der große Backsteinbau auf dem Hügel am Ende der South- street in Northbridge, Montana, hatte lange leer gestanden. Doch vor einer Woche hatten aufmerksame Einwohner plötzlich Licht hinter den Fenstern gesehen, und aus dem Schornstein war Rauch aufgestiegen. Theresa Hobbs Grayson, die 75-jährige an Alzheimer erkrankte Eigentümerin des Hauses, hatte es irgendwie geschafft, ihrer Pflegerin die Autoschlüssel zu entwenden und ganz allein in ihre frühere Heimatstadt zu fahren. In Northbridge hatte sie das Auto vor der Eisdiele abgestellt, war den Rest des Weges zu Fuß gegangen und durch die nicht abgeschlossene Kellertür ins Haus gelangt.

Als die Polizei den Zusammenhang zwischen dem verlassenen Wagen und den Lebenszeichen im Haus feststellte und einen Kontrollbesuch machte, hatte sich Theresa in einem der Schlafzimmer im ersten Stock eingeschlossen. Sie weigerte sich hysterisch, den Raum zu verlassen, und wiederholte immer wieder, sie sei gekommen, um sich das zurückzuholen, was ihr genommen worden war.

Die Polizei hatte die Sozialbehörden eingeschaltet, die in Northbridge von der Sozialarbeiterin Neily Pratt vertreten wurden.

Und so war Neily kurzerhand zu Theresa in das alte Haus gezogen, um sich um sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie keine Dummheiten machte.

Als Neily die letzten Freiwilligen verabschiedet hatte, kam ihr Bruder Cam zu ihr. Er war einer der Polizisten, die die alte Dame bei der Überprüfung des Hauses in Aktion erlebt hatten.

„Kommst du hier so ganz allein zurecht?“, fragte er.

„Klar, kein Problem“, erwiderte Neily.

„Hat Theresa sich noch mal so aufgeführt wie letzte Woche?“, hakte er besorgt nach.

„Nein. Sie regt sich nur dann auf, wenn jemand sagt, sie müsse das Haus verlassen. Ansonsten ist sie absolut friedlich. Deshalb haben wir beschlossen, sie erst einmal hierzulassen, bis feststeht, wie es auf lange Sicht weitergehen soll.“

„Na ja, zumindest ist das Haus jetzt halbwegs bewohnbar. Der Abfluss in der Küche ist wieder frei, die zerbrochenen Fensterscheiben sind ausgetauscht, und die Heizung funktioniert auch wieder.“

„Ja, das ist wirklich toll. Unglaublich, wie viele Leute heute gekommen sind, um zu helfen. Jetzt brauche ich wenigstens keine Angst mehr zu haben, dass Theresa sich eine Lungenentzündung holt. Die Nächte sind doch noch ganz schön kalt, auch wenn es für April tagsüber recht warm ist.“

„Und die Sicherungen fliegen jetzt auch nicht mehr raus, wenn du die Steckdosen benutzt“, warf der Elektriker ein, der gerade aus dem Haus kam.

„Wunderbar, tausend Dank.“

Nachdem er zu seinem Wagen gegangen war, wandte sich Neily wieder Cam zu. „Jedenfalls ist Theresa auf keinen Fall gewalttätig“, fuhr sie fort. „Sie hat starke Stimmungsschwankungen, und ihren wenigen lichten Momenten folgen lange Phasen der Verwirrung, aber sie ist für niemanden eine Gefahr. Ich verstehe allerdings immer noch nicht so ganz, wie sie es ganz allein bis hierher geschafft hat. Dafür muss sie geistig ziemlich lange besonders klar und wirklich entschlossen gewesen sein. Jetzt will sie die meiste Zeit oben im Schlafzimmer im Schaukelstuhl sitzen und niemanden sehen.“

„Da war sie heute wohl auch, oder?“

„Ja, sie wollte es so. Ich musste ihr versprechen, dass sie das Schlafzimmer nicht verlassen muss und niemand zu ihr reinkommt. Aber immerhin konnte ich sie überreden, Missys Gesellschaft zu akzeptieren – mir war nicht wohl dabei, sie den ganzen Tag im Schlafzimmer alleinzulassen. Als sie hörte, dass Missy erst sechzehn ist, war es in Ordnung für sie. Offenbar will sie nur niemandem begegnen, der sie von früher kennt. Keine Ahnung, warum ihr das so wichtig ist.“

„Hast du schon eine Idee, wieso sie aus Missoula weggelaufen ist?“

„Nicht wirklich. Es gibt keine Anzeichen für Misshandlungen oder Vernachlässigung. Theresa ist gut genährt und gekleidet und körperlich ihrem Alter entsprechend gesund. Wenn der geistige Verfall nicht wäre, wäre sie zu beneiden. Meine Kollegin in Missoula hat die Pflegerin und Theresas Enkel kontaktiert, und sie kommen so bald wie möglich her. Ich soll herausfinden, ob sie als Vormund geeignet sind oder ob es irgendwelche Vorbehalte gibt – indem ich mit Theresa spreche, soweit das möglich ist. Ich schaue mir an, wie die Pflegerin und der Enkel mit ihr umgehen und wie sie auf die beiden reagiert.“

„Meinst du denn, sie kann in ihrem Zustand überhaupt etwas dazu sagen?“

„Kommt ganz darauf an, in welcher Phase sie sich gerade befindet. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist auf jeden Fall gestört – sie vergisst immer wieder, wer ich bin, und nennt mich ständig Mikayla. Aber wenn ich sie frage, wer das ist, kann oder will sie darauf keine Antwort geben. Immerhin scheint sie diese Mikayla zu mögen.“

Neily unterbrach sich und deutete auf einen Geländewagen, der den Hügel heraufkam. „Wenn das wieder so ein nerviger Reporter ist, kriege ich die Krise“, stöhnte sie.

In Missoula hatte es in den lokalen Zeitungen und Rundfunksendern Suchmeldungen gegeben, und als Theresa in Northbridge wieder auftauchte, war die kleine Stadt von Reportern heimgesucht worden, die eine große Story witterten. Es kostete Neily viel Zeit, sie abzuwimmeln.

„Ich kümmere mich drum und werde sie los“, versprach

Cam. „Du solltest dir übrigens das Gesicht waschen, du bist ganz staubig und rußverschmiert.“

In diesem Moment kamen die letzten Helfer aus dem Haus, und Neily wischte sich nur schnell mit dem Ärmel übers Gesicht, bevor sie sich bei ihnen bedankte und sie verabschiedete.

Als sie gegangen waren, kam Cam zurück – mit zwei Besuchern im Schlepptau, die beim Anblick des Hauses entsetzt schienen.

„Keine Reporter“, erklärte Cam. „Das hier ist Theresas Enkel, Wyatt Grayson, und dies ihre Pflegerin, Mary Pat Gord- man.“

Na toll, und ich sehe aus wie Aschenputtel, schoss es Neily durch den Kopf.

Normalerweise zeigte sie sich bei der Arbeit nicht in staubigen, alten Jeans und ausgefransten Sweatshirts, und auch die schulterlangen, schokoladenbraunen Haare trug sie sonst nicht in einem unordentlichen Pferdeschwanz.

Umso schlimmer war es, dass Theresas Enkel nicht nur in ihrem Alter war, sondern auch noch umwerfend aussah.

Das spielte zwar unter den gegebenen Umständen keine Rolle, trotzdem fühlte sich Neily im Nachteil.

Allerdings konnte sie im Moment absolut nichts daran ändern, also tat sie so, als wäre alles ganz normal und sagte in geschäftsmäßig-freundlichem Ton: „Hallo, ich bin Neily Pratt, die zuständige Sozialarbeiterin für Theresas Fall.“

Wyatt Grayson kam auf sie zu. Er war groß, hatte breite Schultern und wirkte auf angenehme Weise selbstsicher. Seine Khakihosen und das blaue Freizeithemd saßen perfekt, und seine Statur verriet, dass er regelmäßig trainierte.

Dann sah er Neily zum ersten Mal direkt an und zuckte bei ihrem Anblick merklich zurück.

Sehe ich so schlimm aus? dachte sie erschrocken.

Laut sagte sie: „Entschuldigen Sie meine Aufmachung. Wir haben heute das Haus geputzt. Der Dreck war jahrzehntealt.“

Doch Wyatt Grayson schüttelte wie betäubt den Kopf. „Nein, nein, das ist es nicht. Sie sehen nur jemandem ähnlich …“

„Vielleicht einer gewissen Mikayla?“, riet Neily. „Theresa nennt mich nämlich ständig so.“

„Mikayla“, wiederholte Wyatt Grayson erschüttert. „Genau.“

Kein Wunder, dass Theresa sie ständig mit ihr verwechselte.

Doch Theresas Enkel schien ihr auch nicht erläutern zu wollen, wer Mikayla war. Stattdessen streckte er ihr die Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Pratt.“

„Nennen Sie mich Neily“, bat sie und erwiderte die Geste.

Normalerweise machte sie sich über das Händeschütteln keine Gedanken – schließlich hatte sie jeden Tag mit vielen Menschen zu tun. Doch diesmal war etwas anders. Als Wyatt Grayson ihre Hand umschloss, schien die Zeit kurz stehen zu bleiben, und Neily wurde sich jedes kleinen Details bewusst. Wie warm und stark seine Hand, wie selbstbewusst kräftig und gleichzeitig rücksichtsvoll sein Händedruck war. Wie angenehm sich der Hautkontakt anfühlte …

Sehr seltsam.

Weil solche Gedanken keinen Platz bei ihrer beruflichen Aufgabe hier hatten, entzog Neily dem Mann schnell wieder ihre Hand. Doch Wyatt Grayson betrachtete sie weiterhin nachdenklich aus seinen silbergrauen Augen.

„Ich muss wieder in die Polizeistation“, warf Cam ein. „Meine Schicht fängt gleich an. Wenn du mich nicht mehr brauchst.“

„Nein danke, du hast mir heute schon so viel geholfen“, sagte sie, obwohl ihr Wyatt Graysons Blick langsam etwas unheimlich wurde. Zum Glück wandte er sich endlich ab, um sich von Cam zu verabschieden.

Jetzt hatte sie Gelegenheit, sich zu revanchieren, ohne dass er es merkte. Wyatt Graysons dunkelblondes Haar hatte sonnengebleichte Strähnen, und er trug es an den Seiten kurz und oben etwas länger, was ihm ein jungenhaftes, verwegenes Aussehen gab. Seine Nase war lang und gerade, die Lippen etwas schmal, was aber dadurch ausgeglichen wurde, dass die Mundwinkel leicht nach oben gebogen waren. So schien er immer ein wenig zu lächeln, was ihn sehr sympathisch machte.

Mit seinen klar ausgeprägten Gesichtszügen, den hohen

Wangenknochen und dem markanten Kinn hätte er problemlos als Fotomodell arbeiten können. Dazu kamen noch seine beeindruckenden grauen Augen, die je nach Lichteinfall mal silbern und mal blau schimmerten.

Allerdings spielte all das im Moment überhaupt keine Rolle. Wie er aussah – und dass Neily ihn unglaublich attraktiv fand – durfte auf keinen Fall ihre Arbeit beeinflussen. Und die bestand nun einmal darin, ganz objektiv herauszufinden, ob er sich als Theresas Vormund eignete.

„Wollen wir nicht reingehen?“, schlug Neily vor, nachdem Cam sich verabschiedet hatte.

„Wie geht es meiner Großmutter? Ist sie okay? Die Sozialarbeiterin in Missoula meinte, dass ihr kleiner Ausflug ihr nicht geschadet hätte. Aber sie ist mental nicht stabil und ja auch nicht mehr die Jüngste. Kaum zu glauben, dass sie es allein im Auto hierher geschafft hat. Meine Geschwister und ich können es immer noch nicht richtig fassen.“

Dass er sich offenbar wirklich Sorgen machte, nahm Neily als gutes Zeichen. Sie führte ihn und die Pflegerin, eine ältere, etwas stämmige Frau, ins Haus.

„Ich habe Theresa ja vorher nicht gekannt, aber meiner Auffassung nach ist sie für ihren Zustand in guter Verfassung“, erwiderte sie. „Die Autofahrt hat ihr meiner Meinung nach auch nicht geschadet.“

„Ich muss mich entschuldigen, dass keiner von uns sofort kommen konnte“, sagte er. „Die Behörden haben mich am Donnerstag verständigt, da war meine Schwester gerade in Mexiko, weil in einer unserer Fabriken dort ein Feuer ausgebrochen war. Sie wollte sofort zurückkommen, aber das war ein Notfall, und wir brauchten jemanden vor Ort. Und mein Bruder befand sich zu der Zeit in Kanada – jemand, der die Suchmeldungen gelesen hatte, wollte wohl an der Sache verdienen und hatte aus Quebec eine Lösegeldforderung geschickt. Wir mussten das ernst nehmen, und deshalb ist mein Bruder nach Kanada gefahren, um dort mit der örtlichen Polizei zusammenzuarbeiten.“

Bei der Erinnerung daran schüttelte er seufzend den Kopf.

„Ich war also allein in Missoula, und als Mary Pat und ich endlich erfahren haben, wo Gram steckt, hat uns das Sozialamt mit so vielen Fragen und Formularen überschüttet, dass wir nicht sofort wegkonnten. Ich hatte schon fast den Eindruck, die wollten uns aufhalten. Es war der reine Albtraum.“

„Das tut mir leid.“

Sie verriet ihm nicht, wie recht er hatte: Das Sozialamt in Missoula hatte ihn und die Pflegerin unter nichtigen Vorwänden dortbehalten, bis man relativ sicher sein konnte, dass Theresa durch einen Kontakt mit ihnen keinen Schaden erleiden würde.

„Nachdem die Polizei Ihre Großmutter hier gefunden hatte, wurde ich sofort zu ihrer Betreuung gerufen, sodass sie in der Zwischenzeit gut versorgt war“, beruhigte Neily ihn.

„Trotzdem, ich möchte nicht, dass sie einen falschen Eindruck von uns bekommen. Wir haben uns alle große Sorgen um Gram gemacht und wären sofort gekommen, wenn wir gekonnt hätten.“

Neily führte die beiden ins Wohnzimmer, wo sich Wyatt Grayson beunruhigt umsah.

„Wo ist Gram?“, fragte er.

„Ich schlage vor, dass Sie und Ms. Gordman …“

„Mary Pat“, warf die Pflegerin ein.

„… dass Sie und Mary Pat sich schon mal setzen. Ich werde versuchen, Theresa nach unten zu holen, um Sie zu begrüßen. Sie war den ganzen Tag in ihrem Schlafzimmer, und ich fände es gut, wenn Sie von sich aus herauskommt“, erklärte Neily.

Weder Theresas Enkel noch die Pflegerin nahmen Platz. Offenbar waren sie zu besorgt, um es sich bequem zu machen – ein weiteres gutes Zeichen. Neily entschuldigte sich und ging in den zweiten Stock, wo sie leise an die Schlafzimmertür klopfte und dann eintrat, ohne eine Antwort abzuwarten. Meist war Theresa zu tief in ihrer eigenen Welt versunken, um ein Klopfen überhaupt zu hören, und Missy war bereits vor einer halben Stunde gegangen.

Wie erwartet saß die alte Dame im Schaukelstuhl und wiegte sich leicht vor und zurück. Dabei starrte sie vor sich hin ins Leere. Theresa Hobbs Grayson war mit ihren eins fünfzig noch einen Kopf kleiner als Neily, dafür aber rundlicher. Das graue, relativ volle Haar trug sie in einem modischen Kurzhaarschnitt. Auch ihre Augen waren grau – von ihr hatte Wyatt Grayson die Augenfarbe wohl geerbt –, aber sie wirkten stumpf und längst nicht so lebendig wie seine.

„Theresa?“, fragte Neily leise, als die alte Dame überhaupt nicht auf ihr Kommen reagierte.

„Mikayla?“ Endlich hob Theresa den Kopf.

„Nein. Ich bin Neily, erinnern Sie sich?“

„Ja, Neily. Das mache ich immer falsch, oder?“

„Ihr Enkel Wyatt ist unten im Wohnzimmer“, erzählte Neily beiläufig, achtete dabei jedoch genau auf Theresas Reaktion.

Die Nachricht schien die alte Dame ehrlich zu freuen. Ihr Blick klärte sich ein wenig, sie hob den Kopf und richtete sich im Stuhl auf. Ein weiteres gutes Zeichen.

„Mein Wyatt?“, fragte sie glücklich.

„Und Mary Pat.“

„Mary Pat auch?“ Sie klang geradezu fröhlich, doch das währte nur einen Moment. Misstrauisch fuhr sie fort: „Sie sind aber nicht gekommen, um mich mitzunehmen, oder? Ich kann nicht weg von hier. Ich will nicht. Erst will ich wiederhaben, was mir gehört!“

„Ich weiß. Nein, Ihr Enkel und Mary Pat wollen Sie nicht von hier wegbringen. Im Gegenteil, sie werden für eine Weile mit Ihnen hier wohnen.“

„Wirklich?“

Nun war sie wieder erfreut und hoffnungsvoll, was Neily ebenfalls als positiv auffiel.

„Ist es in Ordnung für Sie, wenn die beiden hierbleiben? Auch wenn ich nicht mehr hier bin?“

„Oh ja. Die beiden werden mir helfen, das weiß ich. Sie werden mir helfen, zurückzubekommen, was mir gehört. Mein Wyatt kümmert sich um alles, und Mary Pat kümmert sich um mich. Sie sind wirklich sehr gut zu mir, die beiden Lieben.“

„Möchten Sie runterkommen und ihnen Hallo sagen?“

„Aber es sind nur Wyatt und Mary Pat dort, sonst niemand, oder?“

„Nein, alle anderen sind weg. Und das Haus sieht viel besser aus – Sie sollten sich anschauen, was wir heute alles geschafft haben.“

„Ja, ich möchte Wyatt und Mary Pat sehen.“

„Dann kommen Sie mit runter.“

Leichtfüßig stand Theresa aus dem Schaukelstuhl auf und folgte Neily die Treppe hinunter. Als sie ihren Enkel und die Pflegerin im Wohnzimmer sah, eilte sie sogar an Neily vorbei und umarmte die beiden stürmisch wie ein Kind nach einer langen Trennung von seinen Eltern. Ganz offensichtlich hatte sie weder vor Wyatt noch vor Mary Pat Angst. Das bestätigte, was die Sozialarbeiterin in Missoula gesagt hatte. Es war in Ordnung, Theresa in der Obhut der beiden zu belassen, wenn auch unter Neilys Aufsicht.

„Ach, meine Lieben, ich bin so froh euch zu sehen!“, rief Theresa immer wieder. „Aber Wyatt, wo sind Mikayla und das Baby? Hast du sie nicht mitgebracht? Ich habe das Baby immer noch nicht gesehen!“

Interessiert beobachtete Neily, wie sich Wyatt Graysons Gesichtsausdruck veränderte, bevor er sagte: „Mikayla und das Baby sind gestorben, Gram. Erinnerst du dich nicht?“

Entsetzt presste Theresa die Hände auf die Wangen. „Oh, das tut mir so leid! Ich habe es wieder vergessen. Es tut mir leid, Wyatt, so leid.“

„Mir auch. Aber es ist okay. Wir sind sehr froh, dass wir dich gefunden haben. Du hast uns alle ganz schön erschreckt.“

„Ich musste hierher zurück“, flüsterte Theresa, als verriete sie ein Geheimnis. „Hier bin ich zur Welt gekommen, weißt du“, fügte sie mit einer das Haus umfassenden Geste hinzu.

„Wir wussten nur, dass du in einer Kleinstadt bei Billings geboren bist“, antwortete Wyatt. „Mehr hast du uns nie erzählt. Wir hatten keine Ahnung, dass es Northbridge ist oder dass du hier noch ein Haus besitzt.“

„Ein Rechtsanwalt kümmert sich drum, er bezahlt auch einen Verwalter, glaube ich, der ab und zu nach dem Rechten sieht. Das hat dein Großvater vor langer, langer Zeit so eingerichtet, und seitdem lief das immer automatisch. Aber ich musste jetzt hierher zurückkommen. Ich musste einfach!“

Von einem Moment auf den anderen klang ihre Stimme erregt und verzweifelt.

„Ist schon in Ordnung, Gram. Wir sind nur froh, dass es dir gut: geht.“

„Gut. Es geht mir gut. Aber ich bin ein schlechter Mensch. Das wisst ihr nicht, aber ich bin schlecht. Es geht mir gut …“

Neily hatte diesen Übergang von lichten Momenten in Verwirrung in den letzten Tagen öfter beobachtet. Mitten im Satz schlichen sich Dinge ein, die keinen Sinn ergaben, und Theresa glitt zurück in ihre eigene Welt. Wenn man sie dann drängte, regte sie sich nur auf, gab aber keine Antworten.

Auch ihr Enkel schien das zu wissen, denn er stellte keine Fragen mehr.

Theresa wirkte wieder wie ein kleines Kind, als sie zu Mary Pat ging, sich an ihren Arm hängte und sagte: „Ich möchte jetzt ins Bett gehen. Liest du mir was vor, bis ich einschlafe?“

Die Pflegerin tätschelte Theresas Arm, zog sie enger an sich und sagte: „Ich habe das Buch mitgebracht, das wir letzte Woche gelesen haben.“

„Aber du hast nicht ohne mich weitergelesen, oder?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Ich bringe Ihren Koffer rein, Mary Pat“, sagte Wyatt. Dann an seine Großmutter gerichtet: „Danach komme ich gleich rauf und sage dir gute Nacht.“

„Ja, gleich“, wiederholte Theresa und ließ sich von Mary Pat nach oben führen.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Wyatt, als die beiden außer Hörweite waren. „Wohnen wir hier alle zusammen?“

Als Neily sich ihm zuwandte, fiel ihr wieder ein, dass sie immer noch schmutzig, ungekämmt und rußverschmiert war. Zu schade, dass sich solche Dinge nicht wie durch ein Wunder von selbst regelten, nur weil man es sich wünschte.

„Nein, jetzt wo Sie hier sind, schlafe ich wieder zu Hause. Ich überlasse die Betreuung Ihnen und Mary Pat.“

„Dann haben wir diese Hürde schon mal genommen?“, fragte er mit einem selbstironischen Lächeln, das ihn noch attraktiver machte.

Bevor Neily etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Ich weiß, dass in einem Fall, wo das Sozialamt eingeschaltet wird, die Pflegepersonen zwangsläufig überprüft werden. Darüber bin ich nicht gerade begeistert, aber wir haben auch nichts zu verbergen. Sie machen schließlich nur Ihren Job. Und wir wollen alle dasselbe, nämlich das Beste für meine Großmutter.“

Seine Einstellung machte ihre Aufgabe leichter, was sie zu schätzen wusste.

„Ja, das wollen wir wirklich alle.“

„Und im Moment ist es das Beste, wenn wir in Northbridge bleiben?“

„Theresa hat sich ziemlich angestrengt, hierher zu kommen.“

„Das stimmt. Normalerweise ist es fast unmöglich, sie dazu zu bringen, das Haus zu verlassen, und schon gar nicht ohne Begleitung. Sie war schon seit Jahren nicht mehr allein draußen. Und Auto gefahren ist sie auch schon ewig nicht mehr. Unglaublich, dass sie noch wusste, wie es geht. Wir sind so froh, dass ihr nichts passiert ist.“

„Ja, sie hatte Glück. Und offenbar ist es ihr sehr wichtig hierzubleiben. Ich habe mit der Sozialarbeiterin in Missoula und dem örtlichen Arzt gesprochen, und sie meinen beide, es wäre besser für sie, wenn wir sie im Moment nicht zwingen, das Haus zu verlassen.“

„Das ist kein Problem für uns. Wenn es sie glücklich macht, werden wir es ermöglichen.“

„Gut.“

„Aber Sie bleiben nicht hier?“, fragte er.

„Nein, aber ich besuche Sie jeden Tag, bis wir eine dauerhafte Lösung gefunden haben.“

„In Ordnung. Möchten Sie mich jetzt noch etwas fragen?“

Wer Mikayla war und wie sie und das Baby gestorben sind.

Doch da das nicht unmittelbar Theresa betraf, verkniff sich Neily die Frage und sagte stattdessen: „Es ist schon ganz schön spät. Sie möchten wahrscheinlich Ihre Sachen auspacken, und ich freue mich wirklich auf eine Dusche, nachdem wir heute den ganzen Tag das Haus geschrubbt haben. Was ich mit Ihnen besprechen muss, kann auch bis morgen warten.“

„Wer ist wir?“, fragte er. „Ich habe noch mitbekommen, wie eine Menge Leute den Hügel herunterkamen. Haben die alle beim Putzen geholfen?“

„Ja, Nachbarn und Freunde. Und ein paar Handwerker. Sie haben alle mit angefasst.“

„Kann ich sie dafür bezahlen?“

„So wird das in Northbridge nicht gehandhabt. Die Leute hier helfen sich untereinander unentgeltlich, wenn es die Situation erfordert.“

Überrascht hob er die Augenbrauen. „Das finde ich toll.“

„Ja, es ist eine der schönen Seiten, wenn man in einer Kleinstadt wohnt.“

Dann fiel ihr auf, dass sie ihm ein wenig zu intensiv in die Augen blickte, und sie sagte schnell: „Ich hole nur eben meine Tasche aus dem Hobbyraum.“

„Sie haben im Hobbyraum geschlafen? Das Haus scheint doch ziemlich groß zu sein. Gibt es oben nicht noch mehr Schlafzimmer?“

„Doch, fünf. Aber ich hatte Angst, Theresa könnte sich nachts rausschleichen, wenn ich oben schlafe. Hier unten hätte ich sie gehört, wenn sie die Treppe herunterkommt. Allerdings habe ich auch nicht sehr fest geschlafen“, fügte sie mit einem müden Lächeln hinzu.

„Das tut mir leid. Ich hätte wirklich beim Sozialamt darauf drängen sollen, schneller herkommen zu können.“

„Das ist schon in Ordnung. Jetzt sind Sie ja da. Und wenn ich erst einmal geduscht und eine Nacht in meinem eigenen Bett geschlafen habe, bin ich sofort wieder fit.“

Wieso hatte sie das Gefühl zu flirten, wenn sie mit diesem Mann über ihr Bett sprach? Neily hatte keine Ahnung, warum sie so stark auf ihn reagierte. Wahrscheinlich war sie einfach übermüdet und deshalb für die Ausstrahlung fremder, attraktiver Männer empfänglicher als sonst.

Sie überreichte Wyatt ihre Visitenkarte und erhielt von ihm seine Handynummer. Als er sie über den Flur zum Hobbyraum begleitete, beschrieb sie ihm kurz das Haus.

„Heute Nacht hätte ich sowieso mehr Schlaf bekommen“, sagte sie. „Einer der Handwerker hat Riegel an der Haustür und der Hintertür angebracht, die sich nur mit einem Schlüssel öffnen lassen. Auch alle Fenster haben jetzt Schlösser. Jetzt kann Theresa sich nicht mehr heimlich davonstehlen, und wir werden alle ruhiger schlafen.“

Neily reichte ihm den Schlüsselbund. „Jedenfalls solange sie die Schlüssel nicht in die Finger bekommt.“

„Ich möchte aber wenigstens das Material bezahlen, das die Handwerker verwendet haben“, bot Wyatt an.

„Das ist nett. Ich werde es weitergeben.“

„Sagen Sie ihnen auch, wie dankbar ich für ihre Hilfe bin …“

„Mach ich.“

Neily öffnete die Eingangstür.

„Ich hole nur eben unsere Koffer und schließe uns drei dann sicher ein“, sagte Wyatt, als er ihr nach draußen folgte.

Sein eigener Wagen war das einzige Auto weit und breit.

„Wo haben Sie geparkt?“, fragte er.

„Ich bin zu Fuß hier.“

„Dann fahre ich Sie natürlich nach Hause.“

„Danke, aber es ist nicht weit, und Sie wollten doch noch Ihrer Großmutter gute Nacht sagen.“

Außerdem freute sich Neily auf den Spaziergang in der kühlen Nachtluft. Da bekam sie vielleicht einen klaren Kopf und wurde die seltsamen Gedanken los, die ihr bei dem Anblick dieses Mannes durch den Kopf schossen.

„Ich komme dann morgen wieder“, sagte sie. „Aber wenn Sie noch irgendetwas brauchen oder Fragen haben, rufen Sie mich jederzeit an. Auch mitten in der Nacht.“

„Danke.“

Als sie bei seinem Wagen angekommen waren, öffnete Wy- att den Kofferraum, während Neily den Hügel hinunterging. Es gab keinen bestimmten Grund dafür, doch nach einer Weile drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Er war gerade dabei, das Gepäck auszuladen, und obwohl die Koffer schwer aussahen, hob er sie mühelos aus dem Kofferraum.

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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