Schlittenfahrt ins Paradies

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Weiße Schneeflocken überall! Blake weiß, was das heißt. Seine Ranch ist von der Außenwelt abgeschnitten. Er und die schöne Fotografin Hope McKinnon, die nur kurz bleiben wollte, sind ganz allein. Bald ist Weihnachten, und es gibt einen Mistelzweig, unter dem man sich küsst …


  • Erscheinungstag 30.11.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783745753721
  • Seitenanzahl 121
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Eisige Luft drang beißend durch Hope McKinnons modische Jacke, als sie aus dem Mietwagen stieg und die weitläufige Anlage der Bighorn-Ranch betrachtete. Es war Dezember in Kanada, genauer gesagt in der Provinz Alberta, doch Hope kam sich vor wie am Nordpol. Nach der sonnigen Hitze von Sydney, die sie vor einigen Stunden nur widerwillig verlassen hatte, traf sie die Kälte jetzt wie ein Schock.

Bibbernd zerrte sie ihren Koffer über den schneebedeckten Weg zur breiten Veranda. Von der Auffahrt aus hatte das Blockhaus wie ein romantisches Chalet gewirkt. Lichterketten glitzerten in den immergrünen Rankgewächsen, die den Eingang umrahmten. Sie verliehen dem mächtigen Gebäude im schwindenden Licht des frühen Nachmittags ein geradezu märchenhaftes Flair.

Doch als sie das dachte, hatte Hope noch mit voll aufgedrehter Heizung im Wagen gesessen. Nun zitterte sie vor Kälte. Das Wintermärchen verlor rasch seinen Reiz, als sie ihren schweren Koffer Stufe für Stufe auf die Veranda schleppte. Mit dem romantischen Zauber verschwand auch ihre gute Laune.

Missmutig drückte sie auf den Klingelknopf. Die Arme eng um den Körper geschlungen, wartete sie darauf, dass jemand öffnen würde. Ihre Beine in den Designerjeans fühlten sich schon ganz ausgekühlt an, und ihre Füße in den schicken Lederstiefeln begannen, taub zu werden.

Wäre sie doch nur nicht dem Wunsch ihrer Großmutter gefolgt, hier Fotos für einen Kerl namens Blake Nelson zu machen! Sie konnte sich Hunderte anderer Orte vorstellen, an denen sie jetzt lieber wäre als in der eisigen Kälte von Alberta.

Aber nun war sie hier, und sie fror, und als sich nach dem dritten Klingeln immer noch nichts im Haus rührte, ließ sie ihren Koffer an der Tür stehen und machte sich auf den Weg über den Hof zur großen Scheune. Licht schimmerte einladend aus einem Fenster. Vielleicht würde es drinnen sogar warm sein? Hope beschleunigte ihre Schritte.

Doch die Vorfreude auf ein wenig Schutz vor der Kälte verpuffte schlagartig, als sie auf einer unter dem Schnee versteckten Eisplatte ausrutschte und krachend auf ihrer Kehrseite landete.

„Au!“ Hope schrie auf, als ihr Steiß auf den gefrorenen Boden knallte. Vor Schmerz hielt sie den Atem an und schloss kurz die Augen.

Als sie wieder aufsah, starrte sie direkt auf ein Paar abgetragene Cowboystiefel, in denen zwei sehr lange, in derbe Jeans gekleidete Beine steckten. Verlegene Röte schoss ihr ins Gesicht. Fast hätte sie vor Peinlichkeit den Schmerz vergessen. Was für eine Art, einen ersten Eindruck zu machen!

„Sie müssen Hope sein“, wurde sie von einer warmen, tiefen Stimme begrüßt. „Lassen Sie mich Ihnen aufhelfen.“

Der angenehme Klang der dunklen Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Dieser Blake – wenn er es denn war – sah umwerfend aus. Groß und breitschultrig wirkte er wie das Idealbild eines Cowboys, komplett mit Schaffelljacke und dunkelbraunem Cowboyhut. Sein Atem erzeugte weiße Wölkchen in der Winterluft.

Mir ihren Fotografenaugen sah sie ihn bereits wie durch die Kameralinse – inszeniert als die personifizierte Ikone des Westens.

„Haben Sie sich den Kopf gestoßen?“ Er hielt ihr immer noch die Hand entgegen, und erst jetzt begriff Hope, dass sie ihn die ganze Zeit angestarrt hatte wie das achte Weltwunder.

„Oh, Entschuldigung“, stieß sie verlegen hervor. Dann griff sie nach seiner Hand und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. Ihre Verlegenheit versuchte sie zu überspielen, indem sie sich umständlich den Schnee von Hose und Jacke klopfte.

„Hier und da versteckt sich etwas Eis unter dem Schnee“, warnte er sie. „Ihre Stiefel sehen nicht so aus, als hätten Sie damit einen festen Stand. Ich hoffe, Sie haben noch anderes Schuhwerk mitgebracht.“

Bei seinem tadelnden Tonfall kam sich Hope vor wie eine Fünfjährige. Sie hob den Kopf und blickte zu ihm auf, während er missbilligend die hohen Absätze ihrer Stiefel musterte.

Sie war es nicht gewöhnt, zu anderen Menschen aufsehen zu müssen. Einschließlich ihrer Absätze war sie knapp eins achtzig groß, doch Blake Nelson überragte sie fast um Haupteslänge. In anderer Gesellschaft kam sie sich manchmal wie eine Riesin vor. Vor ihm fühlte sie sich angenehm weiblich. Jedenfalls solange sie nicht an den Schmerz in ihrer Kehrseite dachte, der sie wieder an ihren großartigen Auftritt erinnerte.

Der Cowboy wandte den Kopf, sodass er sie jetzt direkt ansah. Dadurch konnte Hope auch den Teil seines Gesichts erkennen, der bis dahin im Schatten der Hutkrempe verborgen gewesen war. Ihr Herz drohte zu stocken, und unwillkürlich schrie sie leise auf.

Mehrere Herzschläge lang sah sie sich wieder im Krankenhaus. Etwas ähnlich Entsetzliches hatte sie gesehen, als die Verbände vom Gesicht ihrer besten Freundin entfernt worden waren. Damals hatte sie sich ein Lächeln abgerungen, obwohl ihr zum Heulen zumute gewesen war. Sie hatte Julie versichert, dass alles gut werden würde, während ihr gleichzeitig vom Anblick des entstellten Gesichts fast übel geworden war. Das gleiche schreckliche Gefühl überkam sie jetzt. Dieser Cowboy war doch nicht so perfekt. Eine lange Narbe zog sich von seiner rechten Schläfe bis fast hinab zu seinem Kinn.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind so blass geworden.“ Die Worte klangen höflich, doch die Stimme war kalt. Er schien genau zu wissen, was in ihr vorging. Bestimmt erlebte er eine solche Reaktion nicht zum ersten Mal. Er konnte nicht ahnen, wie sehr sie die Erinnerung an Julie mitnahm, und im Moment fühlte sie sich nicht imstande, ihm ihre Reaktion zu erklären.

Es verging nicht ein Tag, an dem sie nicht Julies lächelndes Gesicht vor sich sah und die Lücke spürte, die ihr Tod hinterlassen hatte. Sechs Monate waren seit ihrer Beerdigung vergangen, doch noch immer konnte Hope den Anblick von Julies zerstörtem Körper nicht vergessen. Das Leben war so ungerecht! Julie war der einzige Mensch gewesen, dem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte. Julie hatte verstanden, wie sehr Hope unter ihrer Familie litt, und wie vergeblich sie dennoch hoffte, dass eines Tages alles wieder gut werden würde.

Doch dann hatte Julie sie verlassen, wie alle anderen es zuvor auch getan hatten.

Hope rang um Fassung und bemühte sich, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. „Ich bin Hope“, verkündete sie und versuchte, so normal wie möglich zu klingen. Es durfte keine Rolle spielen, dass dieser Mann verletzt und entstellt war. Wenn er doch nur nicht die Erinnerung an alles geweckt hätte, das sie so dringend vergessen wollte.

„Blake“, stellte er sich mit unverändert kühler Stimme vor. „Ich nehme an, dass Sie hier draußen ganz schön frieren. Gehen wir doch lieber ins Haus.“

Auf dem Rückweg zum Haus war sich Hope ständig seiner stützenden Hand an ihrem Ellbogen bewusst. Angesichts ihres etwas unglücklichen Starts war es eine überraschend ritterliche Geste. Als er die Tür zum Haus aufstieß, musste Hope feststellen, dass sie gar nicht verschlossen gewesen war. Jetzt kam sie sich erst recht dumm vor.

Erleichtert atmete sie auf, als die Wärme des Hauses sie umfing. Sie konnte später darüber nachdenken, ob es eine gute Idee war, in seinem Haus zu übernachten. Im Augenblick war ihr nur wichtig, sich aufzuwärmen.

Blake führte sie mit ihrem Koffer in der Hand ins obere Stockwerk. „Ihr Zimmer ist bereits hergerichtet. Ich habe Sie auf der Westseite des Hauses untergebracht. Dort haben Sie einen schönen Blick auf die Berge, und die Morgensonne wird Sie nicht stören. Allerdings geht sie um diese Jahreszeit ohnehin nicht besonders früh auf.“

Er war schrecklich höflich und zuvorkommend, sodass Hope sich wegen ihrer Reaktion auf sein entstelltes Gesicht inzwischen doppelt schuldig fühlte. Einerseits war sie versucht, ihm alles zu erklären, andererseits war es vielleicht besser, nicht mehr daran zu denken.

„Vielen Dank“, erwiderte sie und bemühte sich, besonders freundlich zu klingen. „Ich bin im Moment einfach nur sehr müde von der langen Reise.“

Blake öffnete ihr eine der Türen. Seine Miene blieb verschlossen. Er schien noch nicht besänftigt zu sein. „Dann legen Sie sich einen Moment hin“, schlug er vor. „Ich habe noch genug in der Scheune zu erledigen.“

Die Vorstellung, sich kurz schlafen zu legen, war verführerisch. Aber wahrscheinlich wäre es klüger, noch ein wenig durchzuhalten. „Ich glaube, ich warte damit besser noch und versuche, mich an den Zeitunterschied zu gewöhnen.“

Ihr Entschluss geriet ins Wanken, als sie den Raum betrat. Das rustikale Äußere des Hauses setzte sich in diesem Zimmer fort. Die Wände bestanden aus roh behauenen Bohlen. An der Außenwand stand ein riesiges Bett, das aussah, als sei es mit der Axt aus Stämmen geschlagen worden. Darauf lag ein dickes Federbett mit einem prachtvollen Quilt darüber. Die Einrichtung entsprach nicht Hopes persönlichem Geschmack, aber alles zusammen wirkte stimmig und erstaunlich einladend.

Sie konnte es kaum erwarten, sich unter die wärmende Decke zu kuscheln. Dem Bett gegenüber entdeckte sie einen gasbetriebenen Kamin. Sie sah das flackernde Feuer schon vor sich, das im Nu den Raum erwärmen würde.

Blake stellte ihren Koffer ab, während sie ans Fenster trat und hinaussah. Meile um Meile erstreckten sich vor ihren Augen schneebedeckte Hügel, hinter denen die mächtigen Gipfel der Rocky Mountains aufragten. Trotz ihrer vielen Reisen als Fotografin hatte sie es noch nie hierher geschafft. Sie konnte sich vorstellen, wie eindrucksvoll der Blick an einem klaren, sonnigen Tag sein musste.

Sie wandte sich um und rieb sich die kalten Hände. „Vielen Dank, Mr Nelson …“

„Einfach Blake“, korrigierte er sie. „Wir haben es hier draußen nicht so mit Förmlichkeiten.“

„Blake also“, lenkte sie ein. Sie war sich nicht sicher, wie es ihr gefallen würde, wenn er sie während ihres Aufenthaltes Hope nannte statt Miss McKinnon. Gewöhnlich hielt sie die Menschen lieber auf Distanz. „Ist es nicht ein eigenartiges Gefühl für Sie, eine Fremde in Ihrem Haus zu haben?“

Ihre Frage schien ihn zu erstaunen. „Ach, ihr Stadtmenschen“, sagte er. „Wir sehen das nicht so eng. Betrachten Sie es als die Gastfreundschaft des Westens.“

Die Worte mochten freundlich gemeint sein, doch in Hopes Ohren klangen sie wie höfliche Phrasen. Na toll! Er fühlte sich also in ihrer Anwesenheit genauso unwohl wie sie sich in seiner. Sie hätte sich dem Wunsch ihrer Großmutter widersetzen sollen. Aber das hatte sie noch nie geschafft.

Ob sie ihm erklären sollte, dass sie nicht immer schon ein Stadtmensch gewesen war? Als Kind hatte sie viel Zeit auf Bäumen verbracht, war in Seen und Flüssen geschwommen und hatte sich bei Fahrradstürzen aufgeschrammte Knie geholt. Das alles in einer kleinen Stadt, in der man an jedermanns Tür klopfen und ein Glas Wasser erbitten konnte. Oder ein Pflaster für die Schrammen. Die Erinnerungen versetzten ihr einen kleinen Stich. Es war keine ideale Kindheit gewesen, doch an vieles dachte sie gern. Vor allem an die Zeit in Beckett’s Run mit ihrer Großmutter – mit Gram. Beckett’s Rum war alles andere als eine Großstadt.

Doch statt ihm davon zu erzählen, lächelte sie ihn nur höflich an und schwieg.

Blake zuckte mit den Schultern. „Nach dem, was mir Ihre Großmutter am Telefon erzählt hat, habe ich mit Ihrem Besuch kein Problem. Wirklich nicht.“

Hope runzelte die Stirn. Was meinte er damit? Der einzige Grund für ihre Anwesenheit war, dass sie professionelle Fotos machen sollte. Sie rief sich ihr letztes Gespräch mit Gram in Erinnerung. Fotos und …

Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihr breit. „Fotos und Entspannung“, hatte Gram gesagt. Eine Auszeit von ihrer Arbeit. Unter einem Dach mit einem ledigen Mann …

Versuchte Gram sich etwa als Kupplerin? Hope verwarf den Gedanken sofort wieder. Lächerlich! Sie war so übermüdet, dass sie Gespenster sah. „Ich weiß nicht, was sie Ihnen erzählt hat. Warum klären Sie mich nicht einfach auf?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete sie mit einem Blick, unter dem sie sich vorkam wie unter einem Vergrößerungsglas. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie sehen aus, als würden Sie vor Müdigkeit gleich umfallen. Über alles Weitere können wir später sprechen. Ruhen Sie sich erst einmal aus. Ich habe draußen in der Scheune zu tun, aber ich setze Ihnen in der Küche einen Kaffee auf, bevor ich gehe.“

Er ließ seinen Blick langsam hinunter zu ihren Stiefeln wandern. Hope kam sich vor, als stünde sie einem strengen Lehrer gegenüber.

„An Ihrer Stelle würde ich Hose und Schuhe wechseln. Der Schnee hat zu schmelzen begonnen, und Sie werden sich gleich sehr unbehaglich fühlen.“

Sie sah an sich herab und entdeckte eine kleine Wasserlache unter ihren Stiefeln. Sie hätte sie gleich nach dem Betreten des Hauses ausziehen sollen. Wahrscheinlich war jetzt wirklich kein guter Moment, um den Zweck und die Hintergründe ihres Aufenthalts zu besprechen. Das musste warten.

„Kaffee wäre prima, vielen Dank“, nahm sie deshalb sein Angebot an, ohne weiter nachzufragen, wie sie ihre Arbeit hier angehen sollte.

Blake wandte sich zum Gehen, doch dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. Seine rechte Wange war ihr zugewandt, sodass sie seine große Narbe in ihrer ganzen Hässlichkeit sehen konnte. Es kostete sie Mühe, seinem Blick standzuhalten.

„Anna hat ein Roastbeef angesetzt. Wir können nachher gemeinsam essen.“

Anna? Hope atmete erleichtert auf. Vielleicht würden sie doch nicht allein im Haus bleiben. Vielleicht hatte sich Gram geirrt, und Blake war verheiratet oder hatte eine Freundin.

Das war eine sehr willkommene Nachricht, denn obwohl Hope natürlich im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte, verspürte sie ein leichtes Unbehagen bei dem Gedanken, ganz allein mit Blake Nelson unter einem Dach zu sein.

„Ist Anna Ihre Frau?“

Blake schmunzelte. „Das wird sie zum Lachen bringen“, stellte er fest. „Anna arbeitet halbtags als Haushälterin für mich. Sie werden sie morgen kennenlernen.“ Er trat zurück und tippte mit den Fingern an die breite Krempe seines Hutes. Die galante Geste überraschte Hope. „Fühlen Sie sich wie zu Hause. In ein paar Stunden bin ich zurück.“ Das Lächeln verschwand aus seiner Miene, und sofort schien sein Gesicht nur noch aus Kanten zu bestehen. Er schloss die Tür hinter sich, gleich darauf hörte sie seine schweren Schritte auf der Treppe, dann das Knallen der Eingangstür.

Aufatmend setzte sich Hope auf die Bettkante und zog die Stiefel aus. Er hatte recht. Es wurde Zeit, dass sie sich ein wenig ausruhte. Die nächsten Tage konnten anstrengend werden.

2. KAPITEL

Blake öffnete das Tor und holte die Pferde von der Koppel. Eines nach dem anderen trotteten sie in ihre Boxen, wo Wasser und frisches Heu auf sie warteten. Draußen braute sich ein Sturm zusammen. Blake hatte sein ganzes Leben hier am Fuß der Rockies verbracht und im Laufe der Jahre ein Gefühl für die Wetterumschwünge entwickelt. Die dunklen Wolken, die den Tag verdüsterten, brachten Schnee mit sich. So nah an den Bergen konnte es ungemütlich werden. Nur gut, dass Hope McKinnon rechtzeitig angekommen war.

Der Gedanke an den Gast in seinem Haus ließ ihn die Stirn runzeln. Seine Großmutter hatte das Ganze eingefädelt, und zu allem Überfluss hatte ihn dann auch noch Hopes Großmutter persönlich angerufen. Er hatte dem Besuch aus einem einzigen Grund zugestimmt: Mary hatte versprochen, dass Hope professionelle Fotos für seine Website und für Flyer machen würde.

Er wusste das Angebot zu schätzen, denn das Geld war immer knapp, und er versuchte, jeden eingenommenen Cent wieder in die Anlage zu investieren. Die Bighorn-Ranch für therapeutisches Reiten musste professioneller präsentiert werden, und das ließ sich nicht mit ein paar Schnappschüssen erreichen oder mit einer Website, die er selbst nach einer Vorlage zusammengebastelt hatte. Er kannte seine Stärken. Die Arbeit am Computer gehörte nicht dazu.

Zu guter Letzt hatte ihre Großmutter angedeutet, dass Hope dringend eine Auszeit brauche und dass seine Ranch mit dem therapeutischen Anspruch genau der richtige Ort dafür sei.

Diesen Teil des Gesprächs hätte er lieber überhört. Er arbeitete nicht mit Erwachsenen. Es war schon lästig genug, eine Fremde im Haus zu haben. Er hätte sie natürlich abweisen und in ein Hotel in der nächsten Stadt schicken können, doch dann hätte er sich von seiner Mutter einen Vortrag über Gastfreundschaft anhören dürfen. Also hatte er sich damit abgefunden und Anna gebeten, das Gästezimmer herzurichten.

Allerdings hatte Blake nicht mit einer großen, eleganten Blondine gerechnet. Sie war genau der Typ, der ihn während seiner Schulzeit höllisch eingeschüchtert hatte. Diese Mädchen trugen stets die besten Klamotten, gingen mit den coolen Typen aus und blickten hochnäsig auf Kerle wie ihn herunter. So hatte er sie auf den ersten Blick eingeordnet, als er sie auf ihren hochhackigen Stiefelchen durch den Schnee rutschen sah.

Dann hatte sie ihm ins Gesicht gesehen.

Er kannte diesen Blick. Entsetzen. Abscheu. Mit den Jahren hatte er gelernt, nachsichtig mit seinen Mitmenschen zu sein. Er wusste, wie sehr seine Narbe ihn entstellte. Die Reaktionen waren nur das … Reaktionen. Die Menschen wünschten ein ebenmäßiges Gesicht zu sehen, und seines war alles andere als das. Er trug niemandem die schockierte Reaktion eines Augenblicks nach. Warum machte ihn dann diese Hope McKinnon so zornig?

Vielleicht, weil sie so heftig reagiert hatte. Das war mehr gewesen als nur das übliche Abwenden. Sie war bleich geworden, hatte plötzlich fast unsicher auf den Beinen gewirkt. Damit hatte sie seinen Stolz verletzt. In Gedanken hörte er gleich wieder die Spottgesänge aus seiner Schulzeit. Der Film The Beauty and the Beast war einige Zeit vor seinem Unfall in den Kinos gelaufen, und alle Mädchen in der Schule kannten noch die Texte der Songs. Sie verspotteten ihn damit, wenn die Lehrer gerade nicht hinhörten.

Inzwischen war genügend Zeit verstrichen, um die Erinnerung an diese schrecklichen Momente in seinem Leben verblassen zu lassen. Gewöhnlich dachte er nicht einmal mehr daran.

Doch heute war es anders. Diese Frau hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Sie war mit ihrer hochnäsigen Art in sein Leben getreten und ließ ihn spüren, dass sie viel lieber woanders wäre. Nur die ihm anerzogene Gastfreundschaft und das Versprechen an seine Großmutter hatten ihn davon abgehalten, ihr mit den Worten zu antworten, die ihm schon auf der Zunge gelegen hatten.

Blake schloss den Riegel der letzten Pferdebox, der mit einem lauten Knirschen einrastete. Bevor er den Stall verließ, machte er noch einen Abstecher in den Lagerraum. Kürzlich hatte er einen alten, aber noch intakten Schlitten von einem Rancher aus der Nähe von Nanton erworben. Die alte Farbe hatte er bereits abgeschliffen und die Kufen erneuert, und jetzt wartete das Ding darauf, frisch lackiert zu werden.

Blake hatte lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Wenn er fertig war, wollte er den Kindern aus seinem Projekt mit dem Schlitten zu Erinnerungen verhelfen, wie er sie aus seiner eigenen Kindheit kannte. Die Art Erinnerungen, die mit heißem Kakao, süßen Keksen und einem Besuch des Weihnachtsmanns verbunden waren.

Wie gewöhnlich half ihm die Arbeit im Stall dabei, seine Gedanken zu sortieren. Es war zu früh, sich ein Urteil über die elegante Frau aus der Stadt zu erlauben. Er bemühte sich auf seiner Ranch zwar um Kinder mit sichtbaren Behinderungen, aber ihm war sehr bewusst, dass nicht alle Probleme mit bloßem Auge zu erkennen waren. Er wollte die Menschen lehren, hinter die Narben anderer zu schauen. Es verging kein Tag, an dem er nicht an Brad dachte und die gemeinsamen Pläne, die nun nicht mehr zu verwirklichen waren. Diese Gedanken waren die treibende Kraft hinter seinem therapeutischen Reitstall.

Vielleicht schuldete er Hope den gleichen Respekt. Sonst wäre er genauso engstirnig wie die Leute, die sich im Laufe der Jahre von ihm abgewandt hatten. Also, dachte er, während er das Licht im Stall löschte und die Tür hinter sich schloss, werde ich meinen ersten Eindruck von Hope McKinnon beiseiteschieben und ihr eine zweite Chance geben.

Im Haus war es still. Vermutlich war Hope doch eingeschlafen. Sie hatte todmüde gewirkt, als er sie in ihrem Zimmer allein gelassen hatte. Aus der Küche drang der verführerische Duft von Braten mit Knoblauch und Kräutern, der seinen Magen zum Knurren brachte. Sollte er seinen Gast zum Essen wecken oder ihr eine Portion beiseitestellen?

Doch als Blake die Küche betrat, fand er Hope bereits am Tisch sitzend vor. Ihr Laptop stand geöffnet vor ihr, und sie blickte angestrengt auf den Bildschirm. Auf ihrer Nasenspitze saß eine modische Lesebrille, die mehr ein Accessoire zu sein schien als ein Hilfsmittel zum Lesen.

„Doch nicht eingeschlafen?“, fragte er.

Beim Klang seiner Stimme schrak sie auf. „Ach du liebe Güte!“

„Haben Sie mich nicht hereinkommen hören?“

„Bei der Arbeit blende ich gewöhnlich alles andere aus“, erklärte sie und schob sich eine verirrte Haarlocke hinter das Ohr. „Tut mir leid.“

„Arbeit?“

„Natürlich. In jedem Bild gibt es kleine Fehler, die ich nachbearbeiten muss. Hier, sehen Sie“, sagte sie und drehte den Laptop ein wenig herum, sodass er den Bildschirm besser sehen konnte.

Er trat näher und blickte ihr über die Schulter. Das Bild zeigte ein weibliches Model in einem weißen Mantel. Die Frau hielt einen roten Schirm in der Hand; das Haar wehte ihr kunstvoll arrangiert ums Gesicht.

„Sieht gut aus“, sagte er. Eigentlich fand er es ein bisschen steril und leblos. Zu viel Weiß für seinen Geschmack, und das Mädchen sah aus, als würde die erste Brise sie mitsamt ihrem Schirm davonwehen. Sie schien in einer Art Würfel zu stehen … Doch wozu brauchte sie dann einen Schirm?

„Hier sehen Sie das Original.“ Sie brachte ein anderes Foto auf den Bildschirm und stellte beide nebeneinander. „Sehen Sie?“ Sie strahlte ihn erwartungsvoll an.

Blake verglich angestrengt die beiden Fotografien. Ehrlich gesagt konnte er keinen Unterschied entdecken. „Sie scheinen wahrhaftig ein Profi zu sein“, kommentierte er und trat zurück.

Sie runzelte die Stirn. „Sehen sie denn nicht? Hier.“ Sie deutete auf das Kinn des Mädchens. „Diese Linie ist jetzt völlig anders. Und dieser Fleck?“

Er musste wieder nähertreten, um zu sehen, was sie ihm zeigen wollte.

„In diesem Bild ist er verschwunden. Ich habe alles ein wenig aufgehellt, weil die Belichtung nicht ganz stimmte. Jetzt sieht es schon ganz gut aus. Es ist nahezu perfekt.“

„Und Perfektion ist wichtig?“

Sie sah ihn an, als sei ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. „Natürlich“, rief sie aus. „Ich versuche immer, die perfekte Aufnahme zu machen. Das ist meine Aufgabe als Fotografin. Die wahre Perfektion habe ich noch nicht gefunden, aber das werde ich eines Tages.“ Ihre Miene verriet Entschlossenheit. „Das geht heutzutage mit der digitalen Fotografie viel besser als früher.“

Perfektion . Seine Laune verdüsterte sich. Wenn sie nach Perfektion suchte, war sie hier am falschen Platz. „Na ja, ich habe eigentlich immer nur Schnappschüsse gemacht.“ Er trat an den Herd und nahm den Deckel vom Topf. Der Duft, der daraus hochstieg, war wie eine Offenbarung. Das war Perfektion! Niemand kochte so fantastisch wie Anna.

„Wir können bald essen. Ich muss nur noch die Soße machen“, erklärte er und nahm eine große Porzellanplatte aus dem Schrank.

Gekonnt legte er das Fleisch in die Mitte und drapierte Kartoffeln und Gemüse aus dem Topf darum herum. Dann deckte er das Ganze mit Alufolie ab und machte sich daran, aus dem Bratenfond eine kräftige Soße zuzubereiten.

Hope hatte sich erstaunlich verändert, stellte er dabei im Stillen fest. Sie hatte nicht nur ihre nassen Kleider gegen trockene eingetauscht. Auch die Müdigkeit war aus ihrem Blick verschwunden, und sie wirkte voll neuer Energie. Es kam Blake vor, als steckten zwei verschiedene Menschen in ihr. Welcher mochte wohl die wirkliche Hope McKinnon sein?

„Mr Nelson?“

Er hielt inne. „Wir hatten uns auf Blake geeinigt, erinnern Sie sich?“

„Ich wollte …“ Sie zögerte. „Ich wollte mich für vorhin entschuldigen. Ich fürchte, wir haben unsere Bekanntschaft auf dem falschen Fuß begonnen. Ich war schrecklich müde, wissen Sie …“

Sie sah ihn hoffnungsvoll an. Es überraschte ihn, und zugleich war er froh darüber. Er wusste, dass sie nicht genug geschlafen hatte, und so deutete er ihre Worte als Versuch, die verkrampfte Stimmung zu entspannen. Es war wohl besser, die Entschuldigung jetzt anzunehmen, wenn er bedachte, dass sie die nächsten Tage miteinander verbringen mussten.

„Warum sind Sie wieder aufgestanden?“, fragte er deshalb freundlich. „Als ich Sie vorhin verließ, sahen Sie aus, als könnten Sie jeden Moment umkippen.“ Er drehte sich zu ihr um und sah sie in Erwartung einer Antwort an.

Sie lächelte. „Ihr Kaffee. Der ist richtig gut.“

„Die Sorte heißt Kicking Horse und kommt aus einem Ort ein paar Stunden in dieser Richtung.“ Er deutete vage nach Westen.

„Oh. Er ist wirklich köstlich. Außerdem war ich so frei, mich in der Küche umzusehen und habe dabei ein paar Zimtkekse gefunden. Koffein und Zucker haben mich wieder aufgemöbelt.“

„Gut zu wissen.“ Blake wandte sich erneut dem Herd zu.

„Kann ich helfen?“

„Sie können den Tisch decken, wenn Sie mögen.“ Er rührte im Soßentopf und versuchte nicht daran zu denken, wie nett ihre Stimme klang. „Teller finden Sie rechts neben der Spüle. Gläser im Hängeschrank darüber.“

Während Hope den Tisch deckte, rührte er Stärke in die kochende Soße, bis sie dick und sämig war. „Was sind das für Aufnahmen, an denen Sie gerade arbeiten?“

„Ach, nur ein paar Fotos, die ich letzte Woche für ein Modemagazin gemacht habe. Ich wollte lieber nicht so früh schlafen, damit ich mich besser dem hiesigen Tagesrhythmus anpassen kann. Die Arbeit hält mich wach.“

„Sie haben Arbeit in Ihren Urlaub mitgebracht?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist eigentlich kein Urlaub. Ich bin hier, um Aufnahmen für Ihr Marketing zu machen, oder?“

„Und um ein wenig zu entspannen. Ihre Großmutter sagte, dass Sie das dringend nötig hätten.“

Hope verharrte mit Messer und Gabel in der Hand. „Was genau hat Gram eigentlich gesagt? Sie erwähnen jetzt schon zum zweiten Mal, dass mein Aufenthalt hier gut für mich sein soll.“

Autor

Donna Alward

Als zweifache Mutter ist Donna Alward davon überzeugt, den besten Job der Welt zu haben: Eine Kombination einer „Stay-at-home-mom“ (einer Vollzeit – Mutter) und einem Romanautor. Als begeisterte Leserin seit ihrer Kindheit, hat Donna Alward schon immer ihre eigenen Geschichten im Kopf gehabt. Sie machte ihren Abschluss in Englischer Literatur...

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