Zwischen Pflicht und Sehnsucht

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Bezaubernd unkonventionell, lebenslustig und voller Esprit: Die junge Künstlerin Sophie Westby ist leider die Falsche zum Heiraten! Denn Charles Alden, Viscount Dayle, will eine möglichst langweilige Debütantin ehelichen. Nur so kann er die bösen Gerüchte zerstreuen, die seine politische Karriere gefährden. Aber je länger Sophie auf seinem Landsitz zu Gast ist, desto mehr begehrt Charles sie. Und als er ihr eines Nachts am See begegnet, ist der Moment der Entscheidung gekommen: Soll er ihr seine Liebe gestehen - oder seinem kühlen Verstand folgen und für immer schweigen?


  • Erscheinungstag 06.07.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767273
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Charles Alden, Viscount Dayle, ließ sich in seinen Lieblingssessel im Salon bei White’s sinken. Es war früh am Morgen, die Bediensteten des Klubs hatten die Markisen noch nicht heruntergelassen, und helles Sonnenlicht flutete durch die deckenhohen Fenster. Neben ihm befanden sich auf einem kleinen Tisch eine Kanne Kaffee, ein Teller mit Teegebäck und ein Stapel Zeitungen. Er schlug die „Times“ auf, biss genussvoll in das erste warme, butterzarte Stück Gebäck und seufzte aus tiefstem Herzen.

Er genoss den Frieden dieses Morgens, während er die erste Zeitung von vorne bis hinten durchlas. Unglücklicherweise war Frieden im Frühling 1817 in ganz England ein seltener Luxus, sogar für einen Viscount. Charles wurde gewahr, dass etwas nicht stimmte, als er aufblickte, die „Times“ beiseitelegte und nach der „Edinburgh Review“ griff.

Um ihn herum war es leer geworden. Der Salon, normalerweise immer voll, war entvölkert bis auf wenige Herren, die flüsternd in Gruppen beisammenstanden und größtmöglichen Abstand von ihm hielten. Einer der Männer bemerkte, dass Charles ihn ansah, bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und stolzierte, nach seinem Hut verlangend, hinaus. Eine ungute Vorahnung beschlich Charles. Er sah auf und blickte in das mitfühlende Gesicht eines Dieners, der ihm frischen Kaffee brachte.

„Und, Bartlett?“, fragte er ruhig. „Ich sehe Ihnen an, dass Sie besser informiert sind als ich. Erzählen Sie’s mir.“

Bartlett räusperte sich. „Ich war so frei, die heutige Ausgabe des ‚Oracle‘ zu Ihrer üblichen Lektüre hinzuzufügen, Mylord. Vielleicht möchten Sie einen Blick in den redaktionellen Teil werfen?“

„Der ‚Oracle‘?“ Das war wenig mehr als ein Skandalblatt. „Vielen Dank, Bartlett.“

Beklommen griff Charles nach der Zeitung und blätterte ein paar Seiten um, bis er auf das Thema stieß, das er suchte.

Liebling der Torys oder Wolf im Schafspelz?

Man sagt, ein geläuterter Frauenheld gäbe den besten Ehemann ab – aber was für einen Politiker gibt er ab?

Lord D. ist genau so ein Mann, ein Windhund erster Güte, jetzt bekehrt zum verantwortungsvollen englischen Peer. Wir fragen uns, ob er bloß zum Schein das Revier gewechselt hat, um nach frischer Beute zu suchen.

Lord D. wurde in letzter Zeit häufig in Gesellschaft der berüchtigten Lady A. gesehen. Dies ist vielleicht nicht weiter überraschend, wenn man seine frühere Vorliebe für Damen von zweifelhaftem Charakter bedenkt – und ihre bekannte Vorliebe für junge aufstrebende Mitglieder der Partei ihres Gatten. Was allerdings überrascht, ist die Tatsache, dass ein Mann, der für seinen Scharfsinn und seine Gewandtheit bekannt ist, sich in einer solchen Situation so plump anstellen konnte. Nur durch groben Dilettantismus seitens des Übeltäters konnte es gestern so weit kommen, dass Lord A., als er unerwartet nach Hause zurückkehrte, auf einen Gentleman traf, der das Haus überstürzt durch das Fenster von Lady A.s Schlafgemach verließ.

Berichten zufolge wurde die Dame in angemessener Weise bestraft und aufs Land verbannt. Doch was ist mit dem Herrn?

Man kann es nicht leugnen: Lord D. ist ein Mann mit vielen Talenten. Tatsächlich gibt es Gerüchte, dass er bald ein Spitzenamt übernehmen soll. Wir vom „Oracle“ fragen uns allerdings, ob die Torys diese Idee nicht noch einmal überdenken sollten. Sicherlich gibt es doch einen Kandidaten, der einen untadeligeren Charakter aufweisen kann. Denn wenn die Torys Lord D. nicht einmal ihre Frauen anvertrauen können, warum sollten sie ihm dann die Nation anvertrauen?

Eine Minute lang war Charles erstarrt vor Ärger. Verflucht, verdammt, verteufelt! Monate harter Arbeit. Zahllose aufreibende Stunden, die er damit verbracht hatte, eine sorgfältige Fassade zu konstruieren. Alles in einem einzigen Augenblick mit einem boshaften Federstreich zerstört.

Normale, alltägliche Geräusche drangen aus den Nachbarräumen herein: das Rascheln frisch gebügelter Zeitungen, das leise Klirren von Porzellan, das gedämpfte Murmeln von Männern, deren Leben nicht gerade eben völlig aus den Fugen geraten war. Charles saß reglos da und versuchte, die Katastrophe zu begreifen, die da über ihn hereingebrochen war.

Ruhig und ohne sich etwas anmerken zu lassen, trank er seinen Kaffee aus. Er würde niemandem den Eindruck vermitteln, er schäme sich für irgendetwas. Als er fertig war, stand er auf, klemmte sich den „Oracle“ unter den Arm, steckte Bartlett eine Goldmünze zu und verließ White’s.

Einen Moment lang blieb er, geblendet von der hellen Sonne und verstimmt über die Betriebsamkeit des Verkehrs, auf der Straße stehen. Dann brach er in lautes Gelächter aus. Für wen, in aller Welt, hielt er sich – für den Helden in einem Schauerroman? Sollten Blitze den Himmel zerreißen und einfache Sterbliche erzittern, weil Viscount Dayles politische Laufbahn in Scherben lag?

Wie zur Antwort auf diesen Gedanken zerzauste eine frische Brise sein Haar. Charles brach nach Mayfair auf. Für wen hielt er sich? Das war die Frage der Stunde – nein, des ganzen letzten Jahres.

Es gab nur eine Antwort darauf. Er war Viscount Dayle, eine sorgfältige Kopie seines älteren Bruders, dem der Titel eigentlich gebührte. Und Viscount Dayle war nichts ohne seine politische Karriere. Charles Alden, der leichtlebige, umtriebige Frauenheld, war tot. Er war in dem Moment gestorben, als jene fehlgeleitete Kugel ihm seinen Bruder genommen hatte, lag mit seinem Vater begraben, seit dieser von seiner Verzweiflung dahingerafft worden war. Es gab kein Zurück. Er musste nun die Stelle seines Bruders als Viscount Dayle einnehmen und hatte sich entsprechend zu verhalten.

Der Wind war ziemlich heftig geworden, als Charles sein Stadthaus in der Burton Street erreichte, und sich jagende Wolken verdunkelten den Himmel. Vielleicht wollte das Schicksal ihm doch noch den passenden Hintergrund für sein Drama bieten und hatte nur seinen Einsatz verpasst.

„Mylord“, keuchte sein Butler, der die Tür öffnete. „Verzeihen Sie, wir haben Sie nicht so früh zurückerwartet …“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen, Fisher.“ Charles ging zur Bibliothek. „Könnten Sie bitte meinen Bruder holen? Zerren Sie ihn von seinen Büchern weg, wenn es sein muss, aber sagen Sie ihm, ich brauche ihn jetzt. Und bringen Sie Kaffee.“

„Mylord!“, rief der Butler ihm hinterher. „Sie haben einen Besucher.“

„Um diese Zeit?“

Bevor der Butler Gelegenheit hatte zu antworten, flog die Tür zur Bibliothek auf.

„Dayle!“ Der Aufschrei hallte kalt durch die marmorne Eingangshalle. „Diesmal werden Sie für Ihre Niedertracht bezahlen! Benennen Sie Ihre Sekundanten!“

„Lord Avery, wie schön, dass Sie mich mit Ihrem Besuch beehren.“ Charles fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ich würde doch ein stärkeres Getränk bevorzugen, Fisher. Brandy. Also, Sir“, fuhr Charles beruhigend fort, während er den Mann zurück in den Raum geleitete, fort vor den neugierigen Augen der Dienerschaft, „dieses Gerede über Sekundanten ist wohl etwas überstürzt. Aber ich hätte nichts dagegen, den Gesetzesentwurf zur Armenfürsorge mit Ihnen zu besprechen, selbst zu dieser frühen Stunde.“

„Versuchen Sie nicht, mich abzulenken, Sie niederträchtiger Schürzenjäger! Ich weiß, was Sie mit meiner Frau getan haben, ganz London weiß es!“ Der ältere Mann war fast grau im Gesicht vor Erschöpfung und Empörung.

Charles führte ihn zu einem Stuhl. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass der alte Narr in seinem Arbeitszimmer zusammenbrach.

„Gar nichts wissen Sie. Das ist Unsinn. Ich habe im Clarendon diniert und dort fast die ganze Nacht im Gespräch verbracht. Sie werden keine Mühe haben, einen ganzen Raum voller Herren zu finden, die das bestätigen. Wir können jetzt sofort nach einem oder mehreren von ihnen schicken.“

„Ich weiß, was ich gesehen habe, Sie junger Windhund!“

„Ich weiß nicht, was Sie gesehen habe, Sir, aber ich weiß, dass ich es nicht war.“ Charles’ Ton wurde bestimmter.

„Halten Sie mich für einen Narren? Ich habe Sie beide mit eigenen Augen zusammen gesehen. Ganz London kennt doch Ihre tolldreisten Eskapaden.“

„Es hat mich nie mehr mit Ihrer Gattin verbunden als ein beiläufiges Gespräch in der Öffentlichkeit, Sir. Ich gebe zu, sie ist bezaubernd, aber welche Missstimmigkeiten auch immer zwischen Ihnen beiden herrschen mögen, sie haben nichts mit mir zu tun.“

Charles bemerkte erste Anzeichen von Unsicherheit im Gesicht des Mannes. Er bedauerte ihn, durfte ihn jedoch nicht noch weiter gehen lassen. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, und er fügte entschieden hinzu: „Wenn Sie es vorziehen, mir nicht zu glauben, werde ich tatsächlich darüber nachdenken, mir Sekundanten zu suchen.“

In diesem Moment traf Jack ein, aufgebracht und bereit, die Ehre seines Bruders zu verteidigen, doch die Kampfeslust hatte Lord Avery verlassen. Er verbarg den Kopf in den Händen, während Charles seinen Bruder begrüßte und der Brandy gebracht wurde. Lord Avery nahm ein Glas, kippte den Branntwein hinunter und hielt es dem Diener hin, um es erneut füllen zu lassen. Dann stand er auf.

„Ich werde Ihre Erklärung fürs Erste akzeptieren, Dayle, aber ich werde Ihre Behauptungen überprüfen, und wenn ich feststelle, dass Sie lügen, werde ich zurückkommen. Warum sollte Ihr Name in dieser Sache auftauchen, wenn Sie nicht darin verwickelt sind? Das ergibt keinen Sinn.“

„Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund.“

„Das ist nicht witzig! Meine Ehre und die meiner Gattin sind in den Schmutz gezogen worden!“, empörte sich Lord Avery. „Ich weiß, es gibt Parteimitglieder, die an Ihre Wandlung glauben. Der geläuterte Frauenheld.“ Er schnaubte. „Ich kenne Ihre Vergangenheit, und diese Angelegenheit passt genau zu Ihnen. Schamlos. Beleidigend. Unverzeihlich nenne ich das, und so mancher Tory wird mir da zustimmen, wenn ich mit Ihnen fertig bin.“

Das Echo der zuschlagenden Tür hallte hier drinnen nur leise wider. Charles wandte sich um und begann auf und ab zu gehen.

„Es tut mir leid, Charles.“ Jack sprach in leisem, vorsichtigem Tonfall. Charles nahm einen Schluck Brandy. Er ging hinüber zum Fenster und starrte in den strömenden Regen.

„Lass mich nicht im Dunkeln tappen! Ich versuche hier den hilfsbereiten Bruder zu spielen.“ Jack stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Er wird deine Geschichte überprüfen und herausfinden, dass sie wahr ist. Danach ist das Ganze nur noch eine Schmiererei in einem Skandalblatt. Ist das wirklich so schlimm?“

Charles starrte das Spiegelbild seines Bruders im Fenster an. „Es ist schlimm, und es hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können. Die Handelskammer sucht nach jemandem, der ein Komitee zum Thema landwirtschaftliche Notstandsgebiete leitet. Mein Name ist in diesem Zusammenhang gefallen. Das könnte mich auf den Weg nach ganz weit oben bringen.“ Er fuhr sich unsanft mit der Hand durchs Haar. „Ich habe hart gearbeitet und bin so weit gekommen. Sieh dich um, kleiner Bruder, dieses Land ist in einem erbärmlichen Zustand. Und ich bin endlich in einer Position, in der ich etwas dagegen tun kann … Ich könnte helfen.“

Er schlug mit der Faust in die Hand. „Und nun will jemand meine Vergangenheit gegen mich verwenden? Niemand wird mich ernst nehmen. Sie werden in mir einen dieser verwöhnten Müßiggänger sehen, der nur von seinem besten Stück gesteuert wird. Meine politische Karriere könnte beendet sein, bevor sie richtig begonnen hat.“

„Wäre das denn so furchtbar?“ Die Hand seines Bruders wog plötzlich schwer auf Charles’ Schulter. „Phillip ist tot. Du lebst. Vielleicht ist es Zeit, das alles hinter sich zu lassen. Du könntest dich wieder deinen eigenen Interessen widmen. Etwas Zeit mit Mutter auf Fordham verbringen.“

„Nein“, herrschte Charles ihn an. „Das kann ich nicht.“ Er starrte in sein Glas, doch natürlich fand er dort keine Antworten. Und keinen Trost, wie er aus Erfahrung wusste. Wie konnte er seinem jüngeren Bruder seine Verzweiflung begreiflich machen? „Ich brauche das. Und ich brauche dich, um mir aus dieser Misslichkeit herauszuhelfen.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann nahm Jack seine Hand weg und schenkte sich noch ein Glas ein. „Ist die Lage denn zu retten? Was hast du vor?“

„Ich nehme an, ich muss beweisen, dass ich mehr Anstand besitze“, antwortete Charles mit einem schiefen Grinsen.

„Wieso mehr?“ Jack lachte plötzlich, und die Spannung im Raum wurde etwas erträglicher. „Das warst nicht wirklich du, der da aus dem Fenster der alten Schachtel geklettert ist?“

„Guter Gott, nein! Ich bin bereit, so einiges im Namen der Politik zu opfern, aber das ginge doch zu weit. Ich glaube ohnehin, sie kokettiert nur mit uns Jungspunden, um ihren Gatten aufzurütteln, um seine Aufmerksamkeit von der Politik abzulenken und für sich zurückzugewinnen. Aber diesmal hat sie ganz offensichtlich den Bogen überspannt.“

Charles rieb sich die Stirn, während er nachdachte. „Immerhin muss ich zugeben, das war ein meisterhafter Streich. Wer auch immer dahintersteckt, er ist schlau. Er hat monatelange Arbeit zunichtegemacht. Und das alles ohne einen Hinweis auf seine Identität oder seine Ziele.“

„Irgendjemandem gefällt es nicht, dass du an Einfluss gewonnen hast. Wie spüren wir diesen Hundesohn auf?“

„Zuerst werde ich den ehrlosen Idioten finden, der den Artikel im ‚Oracle‘ verbrochen hat. Ob er will oder nicht, er wird mir seine Quellen nennen. Aber es wird nicht reichen herauszufinden, wer der Feigling ist, der dahintersteckt. Der Schaden ist bereits angerichtet.“ Er wandte sich wieder zum Fenster und starrte hinaus in das immer heftiger tobende Unwetter. „Ich werde ihnen allen einen besseren Gesprächsstoff liefern müssen.“

Jack verschluckte sich fast an seinem Brandy. „Besser als Sex und Skandale? Es gibt nichts, was die Londoner Gesellschaft mehr liebt.“

„Oh doch, kleiner Bruder.“

„Was?“, fragte Jack. Im selben Moment erhellte ein ungeheurer Blitz den Raum.

In dem kurzen Moment der Stille, der folgte, antwortete Charles: „Heirat.“

Seinem Bruder blieb der Mund offen stehen. Donner erschütterte den Himmel.

„Heirat? Mit wem?“, brachte Jack hervor.

„Mit der selbstgefälligsten Dame, die du in diesem Misthaufen, der sich ‚feine Gesellschaft‘ schimpft, auftreiben kannst, denke ich.“ Charles hob die Schultern. „Wie es scheint, kann ich mich nur auf eine Weise von den Exzessen meiner Vergangenheit reinwaschen: indem ich dafür sorge, dass meine Zukunft langweilig wird. Ich weiß auch nicht … stell eine Liste auf. Nur die Prüdesten und Korrektesten kommen in Frage. Ich heirate die, die an erster Stelle landet.“

Donner hallte erneut durch das Haus. Die Fenster klirrten in ihren Rahmen. Hinter ihnen löste sich das Porträt ihres Vaters aus seiner Verankerung, krachte auf den Kaminsims und kippte mit dem Gesicht nach unten vors Feuer.

2. KAPITEL
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Mit federndem Schritt, die Zeichenmappe unter den Arm geklemmt, schritt Sophie Westby so schwungvoll durch Cheapside, dass ihr Dienstmädchen Mühe hatte, Schritt zu halten. Ein böiger Wind fegte mit dem Verkehr um die Wette durch die Straßen, ließ ihre Röcke flattern und zerrte an der Schleife, die ihre Haube festhielt. Sophie hob das Kinn, atmete die stechende Luft tief ein und lächelte entzückt. London mochte schmutzig, stinkig und überraschend farblos sein, aber es war auch ein riesiger, überschäumender Kessel voller Leben.

Nach ruhigen Jahren auf dem Lande begann es in ihrem eigenen Leben mit einem Mal zu brodeln. Raumgestaltung war schon immer ihre Leidenschaft gewesen, und um ihrer liebsten Freundin Emily Lowder zu helfen, sich von ihrer ungewöhnlich schweren Entbindung zu erholen, hatte sie vorgeschlagen, gemeinsam das Kinderzimmer einzurichten. Sie hatten so viel Spaß gehabt, und Emily war von dem Ergebnis so bezaubert gewesen, dass sie Sophie auf der Stelle für die Umgestaltung ihrer dunklen, voll gestopften Salons engagiert hatte. Die neu eingerichteten Zimmer waren anlässlich der Geburtstagsfeier des kleinen Edward Lowder präsentiert worden und bei den Gästen sehr gut angekommen.

Sogar Viscountess Dayle, die vornehmste Dame der Gegend, war äußerst beeindruckt gewesen. Ihre Ladyschaft hatte ein prüfendes Auge auf die neu eingerichteten Zimmer sowie auf deren Gestalterin geworfen, und dann hatten sich die Ereignisse überschlagen: Lady Dayle hatte sie für die Saison in die Stadt eingeladen – und ihr ein riesiges Einrichtungsvorhaben in Aussicht gestellt.

Bevor Sophie wusste, wie ihr geschah, fand sie sich fern von ihrem Heimatort Blackford Chase, einquartiert im Londoner Wohnsitz der Lowders, und wurde auf einmal von allen Seiten ermutigt, ernsthaft ihrer gestalterischen Arbeit nachzugehen. Und war völlig begeistert darüber.

Vielleicht legte sie etwas zu viel Begeisterung an den Tag, sonst hätte sie sich bestimmt nicht entschlossen, ihre Kutsche zu verlassen, die im Gewirr der Fahrzeuge stecken geblieben war. Ohne auf den Protest ihres Dienstmädchens zu hören, hatte Sophie den Kutscher instruiert, wo er sie abholen sollte, und war zu Fuß weitergegangen. Und sie bereute es nicht. Beim Laufen fühlte sie sich viel mehr als Teil der Stadt und weniger als Beobachter.

„Zeitungen! Der ‚Augur‘!“ Der Zeitungsjunge mit dem schweren Sack voller Gazetten auf der Schulter war vielleicht zehn Jahre alt. Seine Hände waren mit Druckerschwärze verschmiert, sein Gesicht hingegen war sorgfältig gewaschen, und seine Augen weckten in Sophie spontan den Wunsch, ihn zu zeichnen. Eine alte Seele lächelte sie aus diesem jungen Gesicht hoffnungsvoll an.

„Zeitung, Miss? Sie kostet nur sechs Pence und ist voll mit den neuesten gesellschaftlichen Ereignissen.“ Er bemerkte zwei feine junge Damen, die aus einem Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite traten, und schwenkte seine Zeitung in der Luft, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Zeitungen! Der ‚Augur‘! Mehr aufregende Geschichten über den verruchten Lord Dayle!“

Er hätte keinen verlockenderen Köder auslegen können. Auf der Stelle kaufte Sophie eine Ausgabe und wandte sich ihrem Dienstmädchen zu, das ihr aus dem Personal des Lowderschen Stadtwohnsitzes zugeteilt worden war. „Würdest du das bitte in deiner Tasche verstauen, bis wir zu Hause sind, Nell?“

Das Mädchen sah verwirrt aus. Sophie lächelte es an. „Du kannst sie haben, sobald ich damit fertig bin.“

Tratsch war den Dienstboten fast so viel wert wie Gold, und Sophie wusste, dass sie eine Verbündete gewonnen hatte, als Nell die Zeitung mit schalkhaft leuchtenden Augen einsteckte. Sie fasste ihre Zeichenmappe fester und widmete sich wieder voll der anstehenden Aufgabe: den Laden eines besonders renommierten Tuchhändlers zu erreichen.

Das Schicksal war ihr endlich gewogen, und sie war entschlossen, das Beste daraus zu machen. Das war ein Grund, warum ihr die heutige Besorgung so am Herzen lag. Obwohl sie noch keine Ahnung hatte, was für ein Projekt Lady Dayle plante, wollte sie sie beeindrucken. Themenwelten, aufeinander abgestimmte Farbpaletten und einiges weitere konnte sie schon im Voraus planen und später individuell anpassen. Wenn die Zeit gekommen war, würde sie eine Vielfalt an Ideen und Auswahlmöglichkeiten zu bieten haben, anhand derer sie schnell den Geschmack der Viscountess näher ergründen konnte. Und nach Abschluss des Projekts würde Lady Dayle stolz auf sie sein, das schwor sie sich.

Das schuldete sie der Dame, die so freundlich und großzügig zu ihr war. Tatsächlich hat Lady Dayle keine Ahnung, wie viel ihre Freundlichkeit mir bedeutet, dachte Sophie. Denn sie konnte nicht wissen, dass sie sie durch die Einladung nach London der Erfüllung zweier ihrer Herzenswünsche näher gebracht hatte.

Zum einen waren das natürlich die unglaublichen Chancen, die sich ihr durch ein Projekt in London bieten würden. Wenn ihre Inneneinrichtungen in der gehobenen Gesellschaft gut ankamen, wäre so viel gewonnen!

Zum anderen, und eigentlich noch wichtiger, würde sie dank Lady Dayle möglicherweise Charles wiedersehen. Ihr Herz machte bei dem Gedanken einen Sprung.

Sie fragte sich, ob die Viscountess von ihrer Beziehung wusste – aber vielleicht war „Beziehung“ das falsche Wort. Eher „Freundschaft“, vermutlich, denn er war wirklich ihr Freund gewesen. Ihr Gefährte, ihr Vertrauter, der Ritter ihrer Jugend.

Neugier zauberte ein verstohlenes Lächeln auf ihr Gesicht, als sie an die Zeitung in Nells Tasche dachte. Wie gern sie die Berichte über seine Untaten las. In den letzten Jahren hatte sie seinen ruchlosen Werdegang mit derselben schelmischen Freude verfolgt, die sie empfunden hatte, wenn er ihr von seinen Schuljungenstreichen erzählte. Sie konnte es kaum erwarten, ihm jede skandalöse Einzelheit zu entlocken. Das war ihr liebster Tagtraum: sie beide, wieder vereint, wie sie zusammen lachten und Pläne schmiedeten, genau wie früher. Beflügelt schritt sie schneller aus.

„Miss!“, keuchte es hinter ihr. „Ist es noch sehr weit, Miss?“ Nell klang außer Atem.

„Nicht viel weiter, glaube ich.“

Um Nells willen ging Sophie langsamer und beschloss, sich nicht von der fernen Vergangenheit oder der unsicheren Zukunft ablenken zu lassen und sich voll auf die gegenwärtige Aufgabe zu konzentrieren.

Das war leichter als erwartet, denn Cheapside bot mit seiner Vielfalt an Geschäften und Handwerkern aller erdenklichen Sorten ein Potpourri für die Sinne. Sophie rümpfte die Nase, als sie die heiße Luft vor der Silberschmiede einatmete, und noch mal, als sie den derben Geruch der frischen Farben der Tuchmacher roch. Sie bestaunte im Vorübergehen das Schaufenster eines Graveurs, blieb aber erst stehen, als sie das entzückende Geschäft eines Teehändlers entdeckte.

Der Laden hatte wohl einst über ein Bogenfenster verfügt, das umgebaut worden war, um einer bezaubernden kleinen Laube Platz zu bieten. Wie in einer Miniaturausgabe eines Pariser Kaffeehauses stand dort ein kleiner Tisch, an dem vermutlich Kunden sitzen und neue exotische Teesorten probieren konnten. Die Sitzgelegenheiten waren es, die Sophies Aufmerksamkeit so fesselten.

„Nell, sieh dir nur diese Stühle an. Wenn ich mich nicht irre, sind das Originale aus dem 17. Jahrhundert, und sie stehen einfach so hier auf der Straße!“ Sie strich liebevoll über eine Lehne. „Oh, Nell, du musst meine Zeichenmappe halten, damit ich mir diesen Klauenfuß näher ansehen kann.“

Später hätte Sophie nicht genau sagen können, was genau schiefgegangen war. Vielleicht war die Schließe schon locker gewesen, oder vielleicht hatte sie sie selbst versehentlich gelöst. Wie auch immer, sie reichte Nell geistesabwesend ihre Zeichenmappe, und im nächsten Moment klappte sie auf, und alle ihre Entwürfe wurden von einem Windstoß hoch in die Luft getragen.

Kurz stand Sophie in Panik erstarrt da und sah nur zu, wie ihre unersetzlichen Skizzen sich über die verkehrsreiche Straße verteilten. Dann schritt sie zur Tat. Sie schickte Nell, um die Blätter auf dem Weg hinter ihnen einzusammeln. Sie selbst verfolgte den größten Teil der Papiere, die vor ihnen aufgewirbelt worden waren. Dabei war sie sich bewusst, was für einen Anblick sie bieten musste: Sie rannte, bückte sich, sprang sogar in die Luft, um ein Blatt zu erreichen, das sich auf die Spitze eines eisernen Zauns gespießt hatte, doch das war ihr egal. Diese Entwürfe waren ihre Hoffnung für die Zukunft; sie konnte sie ebenso wenig aufgeben, wie sie einfach so still nach Blackford Chase hätte zurückkehren können.

Endlich, nach vielen Anstrengungen, war nur noch ein einzelnes Blatt übrig. Es lieferte ihr eine fröhliche Verfolgungsjagd und tanzte immer knapp außerhalb ihrer Reichweite. Jedes Mal, wenn sie es gerade erreicht hatte, wurde es wieder von einer boshaften Böe fortgetragen. Sophie schmerzte der Rücken, und ihr Kleid wurde von Minute zu Minute schmutziger, aber sie weigerte sich aufzugeben.

Und schließlich war das Glück ihr hold. Direkt vor ihr trat ein Gentleman aus einer Druckerei und verstellte so dem aufsässigen Ding den Weg. Es wurde von einem seiner glänzenden Reitstiefel gestoppt.

Mit einem triumphierenden Freudenschrei stürzte sich Sophie darauf und schnappte sich das Blatt. Gute Güte, dachte sie, als sie ihr eigenes verzerrtes Grinsen erblickte, man kann sich ja wirklich in den Stiefeln eines Gentleman spiegeln.

„Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“ Die Stimme über ihr triefte vor Sarkasmus. „Jetzt kann ich diesen Tag offiziell als den schlimmsten, den ich je erdulden musste, bezeichnen. Mein Kammerdiener wird mich nun ebenso beschimpfen, wie ganz London es schon tut.“

Sophie kämpfte ein Grinsen nieder, während sie sich langsam aufrichtete und ihr Blick den für sie ungewohnten – und ungewöhnlich erfreulichen – Weg den gut gebauten Gentleman hinaufwanderte. Ein vermögender Gentleman, nach der Qualität seiner Kniehosen – sandfarben – und seines Gehrocks – natürlich blau – zu urteilen, und dann war da sein missmutiges Gesicht …

Charles!

Der Schock war so groß, dass sie taumelte und beinahe einknickte. Blitzartig schlang sich ein starker Arm um ihre Taille. Sophie blickte noch einmal in sein Gesicht. Er war es wirklich. Sein Antlitz war nicht ganz dasselbe, aus dem gut aussehenden Jugendlichen war ein attraktiver Mann geworden. Auch seine Augen waren verändert, sie starrten kalt und hart auf sie herab, und doch war es unleugbar und ohne jeden Zweifel ihr Charles Alden.

Trotz der Peinlichkeit dieser Situation war Sophie so froh, ihn zu sehen, dass sie ihn einfach nur anstrahlte. Die ganze freudige Erwartung, von der sie erfüllt gewesen war, strömte aus ihr heraus, und sie wusste, dass ihr Gesicht vor Glück leuchtete.

Dieses Gefühl teilte er offenbar nicht. Stattdessen ließ er sie so plötzlich los, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Doch Sophie lächelte nur noch breiter. Er erkannte sie nicht! Oh, Himmel, was für einen Spaß sie sich mit ihm machen konnte!

„Ich weiß nicht, worüber Sie so vergnügt sind. Das war das schlimmste Beispiel undamenhafter Unverfrorenheit, das ich je erlebt habe, und noch dazu auf offener Straße.“ Er maß sie mit einem strengen Blick. „Sie sehen wie eine Dame aus, aber das scheint auch schon alles zu sein. Wo ist Ihre Begleitung?“

„Mein Dienstmädchen wird jeden Moment hier sein“, entgegnete sie geistesabwesend. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Kein Wunder, dass er einen solchen Ruf als Frauenheld hatte; er war fast unverschämt attraktiv geworden. Jede Wette, dass sich ihm die Frauen reihenweise zu Füßen warfen.

„Ich bitte Sie, hören Sie auf, so teuflisch zu lächeln“, befahl er. „Wenn Sie einen Grund dafür brauchen, schamloses Ding, sehen Sie sich nur meine Stiefel an!“

Gehorsam setzte sie einen ernsteren Gesichtsausdruck auf. „Bitte, vergeben Sie mir, Sir.“ Sie glättete die Kreidezeichnung, die tatsächlich die Hochglanzpolitur seiner Reitstiefel beschmutzt hatte. „Ich versichere Ihnen, für gewöhnlich benehme ich mich nicht so unbesonnen. Aber ich musste meine Papiere wiederbekommen, verstehen Sie?“

„Nein, ich verstehe nicht.“ Plötzlich hielt er inne, und sein Gesichtsausdruck erstarrte. „Sie sind nicht zufällig eine Reporterin?“

„Nein, Sir, ich …“ Er ließ sie nicht ausreden.

Mit einer plötzlichen Bewegung hatte er ihr geschickt das Papier aus der Hand geschnappt, bevor Sophie protestieren konnte. „Bitte, erleuchten Sie mich: Was ist es, das Sie dazu gebracht hat, sich so unmöglich zu gebärden?“

Auch Sophie sah genauer hin und stellte fest, dass es sich um die Zeichnung einer Chaiselongue handelte, die sie speziell für seine Mutter entworfen hatte, komplett mit einer passenden Farbpalette und Bemerkungen zu Stoffen und Mustern.

„Möbel“, bemerkte Charles mit einem verächtlichen Schnauben.

„Inneneinrichtung“, korrigierte sie ihn, nahm ihm das Blatt ebenso geschickt wieder ab und steckte es zu den anderen.

„Ich bitte Sie untertänigst um Vergebung“, spottete er übertrieben affektiert. Einen Moment lang erinnerte er sie frappierend an sein jüngeres Selbst. Und doch war da etwas, das sie davon abhielt, völlig dahinzuschmelzen. Sie hatte diesen spöttischen Tonfall schon oft gehört, aber nie mit so einem harten Unterton. Er nahm sie nicht ernst, wie gewöhnlich, das jedoch auf eine wenig freundliche Art und Weise.

Sie fixierte ihn. „Nein, ich glaube, ich werde Ihnen nicht vergeben“, antwortete sie.

In gespieltem Entsetzen riss er die Augen auf. „Soll das meinem Stolz den Todesstoß versetzen? Verzagt wirft sich der Gentleman zu Boden und fleht um Gnade? Sie haben zu viele Romane gelesen, meine Teuerste. Es gibt eine Menge Dinge auf dieser Welt, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, und für einige davon lohnt es sich sogar, sich zum Narren zu machen. Aber lassen Sie mich Ihnen versichern, Möbel gehören keineswegs dazu.“

Sophie hob eine Augenbraue, genau in der arroganten Art, die er selbst ihr beigebracht hatte. „Vielleicht nicht für Sie, Sir, aber wir befinden uns in ganz unterschiedlichen Situationen. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was mich beschäftigt. Mir sind sie überaus wichtig.“

„Wichtig, natürlich“, entgegnete er mit zunehmendem Sarkasmus. „Sie werden mir verzeihen, wenn ich Inneneinrichtung nicht die gleiche Bedeutung beimesse wie zum Beispiel der Not der englischen Bauern.“

„Und Sie werden mir verzeihen, dass ich ihr mehr Bedeutung beimesse als dem Glanz Ihrer Stiefel.“

Aus der Fassung gebracht, hielt Charles inne. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann drückte er sich seinen Kastorhut auf den Kopf. „Das gestehe ich Ihnen zu.“ Mit einem Mal ließ er die Schultern hängen. Er riss sich den Hut wieder herunter und neigte den Kopf. „Was, in aller Welt, tue ich da?“ Als er Sophie wieder ansah, war es, als wäre eine Schicht aus Eis von ihm abgefallen. „Hören Sie, ich muss mich entschuldigen.“ Er fuhr sich durchs Haar und schenkte ihr ein angedeutetes Grinsen, das zugleich linkisch und unheimlich vertraut wirkte.

„Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, junge Damen auf der Straße auszuschelten, aber andererseits ist mein Leben schon nicht mehr gewöhnlich, seit – nun, seit einer Ewigkeit. Es ist so lange her, dass ich eine normale Unterhaltung geführt habe, ich erinnere mich kaum, wie das geht.“

Die undefinierbare Anziehungskraft, die von ihm ausging, hatte ihre Intensität verdoppelt. Sophie konnte sich nicht dazu bringen zu antworten. Da war er endlich, dieser warme Blick: die Augen ihres Charles’.

Er schien ihre Reglosigkeit nicht zu bemerken. „Gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen.“

Rasch ging er ihr zur Hand und hatte ihre Entwürfe schnell geordnet und die Zeichenmappe sicher verschlossen. Nachdem sie sich bedankt hatte, folgte ein peinliches Schweigen. Sophie versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen. Jetzt musste sie sich entweder verabschieden oder ihm ihre Identität enthüllen.

Er sprach weiter, bevor sie sich entscheiden konnte. „Sie scheinen eine Menge Ideen zu haben. Es muss sich um ein sehr großes Projekt handeln, an dem Sie arbeiten.“

Sophie errötete. Wie sollte sie darauf antworten? Sie hätte ihm von vornherein sagen sollen, wer sie war. „Ja, das glaube ich zumindest. Die Wahrheit ist, ich weiß es noch nicht so genau.“

Er bewegte sich unruhig, und fast konnte sie seine Rastlosigkeit mit Händen greifen. Aber sie war nicht bereit, ihn schon gehen zu lassen, noch war sie sich sicher, ob sie ihm seine Grobheit verziehen hatte. Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln und hob eine Augenbraue. „Wenn keine normalen, was für welche denn dann?“

Er war verwirrt. „Verzeihung?“

„Unterhaltungen. Sie sagten, Sie seien normale nicht mehr gewöhnt. Ich wüsste zu gern, was für Unterhaltungen Sie gewöhnlich führen.“

„Oh.“ Er hielt inne, und sie erwartete fast, dass er nicht antworten und dieses unangemessene Tête-à-tête beenden würde. Stattdessen sah er sich vorsichtig um und schenkte ihr ein verruchtes Grinsen. „Möchten Sie die Wahrheit hören oder eine angemessene, höfliche Antwort?“

Sophie hob das Kinn. „Ausschließlich die Wahrheit, bitte, Sir.“

„Na gut. Die Wahrheit ist, meine Unterhaltungen waren die meiste Zeit meines Lebens eher derb und unflätig. Mehr wie das Röhren junger Hirsche in der Brunft und das Blöken bereitwilliger Ricken als wirkliche menschliche Verständigung …“

Sophie unterbrach ihn mit einem Seufzer. „Ich weiß, Sie haben mich gewarnt. Vermutlich sollte ich Sie ohrfeigen und höchst empört davonstolzieren. Zum Glück bin ich nicht so zart besaitet.“ Sie lächelte. „Bitte, fahren Sie fort.“

Er hob die Schultern. „Jetzt führe ich politische Unterhaltungen. Lang, beharrlich, gelegentlich eintönig, aber am Ende ergiebig und lohnenswert. Beide Arten haben, wie ich finde, ihre Nachteile und ihre Vorzüge.“ Nun leuchteten seine Augen wieder schalkhaft. Er senkte die Stimme. „Aber ich möchte Ihnen ein kleines Geheimnis anvertrauen. Manchmal, besonders wenn es um einen hohen Einsatz geht, sind politische Debatten primitiven Paarungsritualen bemerkenswert ähnlich. Es beginnt mit etwas höflichem Gegurre, gefolgt von der Zurschaustellung der eigenen Überlegenheit, und dann einem wilden Gedrängel, wenn sich Paarungen bilden. Gelegentlich gibt es Temperamentsausbrüche und rohe Gewalt. Am Ende bekommt der Sieger die Beute, und am nächsten Tag fangen wir alle ungemein höflich wieder von vorne an.“

Sophie lachte. „Faszinierend. Das gibt einem eine ganz neue Perspektive auf das Parlament, nicht wahr?“

„Die hilft mir, viele sehr lange Tage im Oberhaus zu überstehen.“

„Jetzt wünschte ich tatsächlich, ich wäre Reporterin. Stellen Sie sich vor, was für Geschichten ich schreiben könnte: ‚Wildes Westminster. Das geheime Leben des Parlaments.‘ Jede Zeitung in London würde sich um mich reißen. Leider liegen meine Talente in einer ganz anderen Richtung.“

Charles musterte die Zeichenmappe und dann sein Gegenüber. Unvermittelt erfasste sie brennende Hitze dort, wo sie seinen Blick zu spüren glaubte. „Ich hoffe, Sie nehmen keinen Anstoß, wenn ich Ihnen sage, dass Sie die Stadt allein schon durch Ihre Anwesenheit verschönern.“

Bevor sie sich so weit gefasst hatte, um antworten zu können, verzerrte sich sein Gesicht plötzlich zu einer Maske der Bestürzung. Sophie folgte seinem Blick. Eine elegante Kutsche fuhr an ihnen vorbei. Durch deren Fenster starrten sie zwei Damen mehr als unverhohlen an. Eine der beiden verrenkte sich gar fast den Hals, um sich nach ihnen umzusehen, als das Fahrzeug sich entfernte.

„Ach, zur Hölle“, flüsterte er, bevor er sich wieder ihr zuwandte. „So erfrischend das Gespräch mit Ihnen auch war, kann ich mir momentan leider nicht noch mehr Tratsch leisten. Und noch weniger möchte ich Ihren Ruf mit meiner verderbten Anwesenheit kompromittieren.“ Er deutete eine knappe Verbeugung an. „Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrem Unterfangen.“

Ihre Erwiderung war ein ebenso knapper Knicks. „Natürlich, ich verstehe, Sir.“ Sie sah zu, wie er sich zum Gehen wandte, und rief ihm dann hinterher. „Gehen Sie, los, retten Sie die Welt. Ich begnüge mich damit, sie zu verschönern.“

Er warf ihr über die Schulter einen missbilligenden Blick zu. „Unwürdig, meine Teuerste. Und das, gerade als ich glaubte, in Ihnen einen ebenbürtigen Gegner gefunden zu haben.“

Amüsiert sah Sophie ihm nach. Lass ihn ruhig vorläufig das letzte Wort haben, dachte sie. Oh, wie würde sie ihre nächste Begegnung genießen.

Jemand hinter ihr schnappte leise nach Luft. Als sie sich umwandte, stand Nell vor ihr, reichte ihr ein Bündel Papiere und fuhr sich über die Stirn. „Wer war der Gentleman, mit dem Sie gesprochen haben, Miss? Er sah ein wenig verärgert aus.“

„Das, liebe Nell, war kein anderer als der verruchte Lord Dayle.“

„Nein!“, rief das Dienstmädchen, mehr neugierig als schockiert.

„Doch. Obwohl ich ihn als meinen Ritter in strahlender Rüstung in besserer Erinnerung hatte.“

Nell hatte heute Morgen schon zu viel mitgemacht, um diskret zu bleiben. „Na, dann hat die Rüstung aber den einen oder anderen Kratzer abbekommen.“

Autor

Deb Marlowe
Deb Marlowe wuchs im Bundesstaat Pennsylvania auf und hatte stets ihre Nase in einem Buch. Glücklicherweise hatte sie genug Liebesromane gelesen, um ihren eigenen Helden auf einer Halloween Party am College zu erkennen.
Sie heirateten, zogen nach North Carolina und bekamen zwei Söhne.
Die meiste Zeit verbringt Deb Marlowe an ihrem...
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