The Wild Warriners - Skandale am Rande der feinen Gesellschaft (4-teilige Serie)

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MEIN SÜNDIGER HERZENSBRECHER
Nichts schmeckt so köstlich wie Jack Warriners Küsse! Dennoch darf Violet ihrer Sehnsucht nicht nachgeben, obwohl der verruchte Gentleman sie vor einer Zwangsehe gerettet hat. Denn ihre Familie hat ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt und Violet ist unsicher: Meint Jack es ernst mit ihr – oder ist er nur auf die Belohnung aus?

MEIN GEHEIMNISVOLLER KAVALIER
Die strahlendblauen Augen erinnern an einen schimmernden Bergsee, sein Mund verrät Sinnlichkeit und Entschlossenheit … Ja, seit die Pfarrerstochter Cassie den attraktiven Jamie Warriner kennt, sind ihre Träume höchst unzüchtig! Nur zu gerne würde sie sich ihm leidenschaftlich hingeben. Doch Jamie hat ein dunkles Geheimnis …

MEIN FEURIGER GENTLEMAN
Aufopferungsvoll pflegt die schüchterne Lady Bella Beaumont die Kranken im Dorf. Dafür muss sie eng mit Dr. Joe Warriner zusammenarbeiten, dem brillanten Landarzt mit den strahlendblauen Augen. Schon lange verzehrt Bella sich nach ihm – heimlich! Doch nur wenn sie sich Joe öffnet, kann er sie aus ihrer Einsamkeit erretten …

MEIN CHARMANTER CASANOVA
Um den notorischen Herzensbrecher Jacob Warriner sollte Felicity einen großen Bogen machen! Vor Männern wie ihm wurde in dem Kloster, in dem sie aufwuchs, immer streng gewarnt. Aber ausgerechnet dieser attraktive Abenteurer scheint entschlossen, der keuschen jungen Lehrerin viel mehr zu rauben als nur einen verruchten Kuss …


  • Erscheinungstag 13.05.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506960
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Virginia Heath

The Wild Warriners - Skandale am Rande der feinen Gesellschaft (4-teilige Serie)

Virginia Heath

HISTORICAL SAISON BAND 60

IMPRESSUM

HISTORICAL SAISON erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 60 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2017 by Susan Merritt
Originaltitel: „A Warriner To Protect Her“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Renate Körting

© 2017 by Susan Merritt
Originaltitel: „A Warriner To Rescue Her“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Renate Körting

Abbildungen: The Killion Group / Hot Damn Designs, RomanBabakin, NonChanon / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733737344

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

1. Dezember 1813
Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr achtzehn Stunden …

Schmerzhaft drückte sich ihr die dünne Kordel in die Handgelenke. Letty versuchte es nicht zu beachten und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Umgebung. Sie öffnete ein Auge zu einem schmalen Spalt und blinzelte durch die Wimpern. Der grauhaarige Kopf des Earl of Bainbridge hing locker zur Seite und bewegte sich ein wenig bei jeder Erschütterung der Kutsche. Seine Augen waren geschlossen, das Kinn hing schlaff nach unten. Erleichtert stellte sie fest, dass er endlich eingeschlafen war. Nun riskierte sie zum ersten Mal seit fast einer Stunde, die Augen ganz zu öffnen und vorsichtig den Kopf zu heben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Draußen war es stockfinster.

Ein gutes Zeichen.

Es bedeutete nämlich, dass sie durch menschenleeres Gebiet fuhren und meilenweit von jeder Siedlung entfernt waren. Nicht einmal Sterne konnte sie sehen, also war dieser Teil der Great North Road vermutlich von Bäumen gesäumt. Außerdem war die klapprige Kutsche von Lord Bainbridge mit großer Geschwindigkeit unterwegs, ein weiterer Hinweis darauf, dass sie weit entfernt waren vom nächsten Dorf oder einem Gasthaus. Bisher war es stets auf die gleiche Weise abgelaufen: Wenn sie sich einem Gasthof näherten, klopfte der Kutscher laut auf das Dach. Dann packte der Earl sie brutal und presste ihr zusätzlich eine knotige Hand auf den ohnehin geknebelten Mund. Mit der anderen hielt er ihr drohend ein Messer an die Kehle, bis man eilig die Pferde gewechselt hatte.

Nun schlief er, aber das Messer lag immer noch locker in der Hand auf seinem Schoß. Es würde nicht viel nutzen, wenn sie den Versuch wagte, es ihm zu entringen. Ihr wichtigstes Ziel war die Flucht. Bei ihrem letzten Versuch, sich zu wehren, hatte Bainbridge sie mit dem Handrücken so heftig auf die Wange geschlagen, dass ein blutiger Abdruck seines Siegelrings zurückgeblieben war. Nun war die Stelle neben dem Knebel geschwollen und tat weh. Sie hatte eine Ohnmacht vorgetäuscht, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen, und sich seitdem nicht mehr gerührt. Auch wenn sie sonst nicht viel damit gewonnen hatte, gab es ihr wenigstens Zeit zum Nachdenken.

So leise und vorsichtig wie möglich, setzte sie sich auf und rückte millimeterweise immer näher an die Tür heran. Wenn sie den Griff erreichte, konnte sie sich auf die Straße fallen lassen. Falls sie das überlebte, würde sich alles Weitere finden, denn einen Plan hatte sie nicht. Doch sie wollte lieber sterben, als nach Gretna Green weiterzufahren und dort Bainbridge zu heiraten.

Der Earl begann zu schnarchen. Das Geräusch war unregelmäßig, und er konnte jederzeit erwachen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Letty streckte die gefesselten Arme aus und warf sich verzweifelt gegen den Türgriff. Wie durch eine wunderbare Fügung gelang es ihr, die Tür zu öffnen, als die Kutsche sich gerade ein wenig zur Seite neigte. Plötzlich sprang die Tür krachend auf, und Letty wurde nach draußen geschleudert.

Unwillkürlich rollte sie sich zusammen, bevor sie aufschlug, um Kopf und Glieder zu schützen. Doch trotzdem war der Aufprall stark und schmerzvoll. Sie schnappte nach Luft und konnte vor Schmerz kaum etwas sehen. Scharfkantige Steine bohrten sich ihr in die Haut, als sie sich zur Seite rollte. Schmutziges Wasser rann ihr in die Nase und die geschlossenen Augen, die davon heftig brannten. Aus der Ferne hörte sie einen gedämpften Schrei aus der Kutsche, dann quietschten laut die Bremsen.

Sie erhob sich auf die Knie und zwang ihren geschundenen Körper, sich aufzurichten und zu bewegen. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in den Schutz der dunklen Bäume. Dann rannte sie los, ohne auf die Richtung zu achten. Solange sie sich von der Straße wegbewegte, war es ihr unwichtig, wohin sie lief. Sie achtete nicht auf die Zweige, die ihr die Kleider zerfetzten, und es war ihr gleichgültig, dass es im Wald immer dunkler und bedrohlicher aussah. Nichts war so schrecklich wie der Gedanke, von diesem entsetzlichen Mann wieder eingefangen zu werden.

Hinter sich hörte sie immer noch wütend klingende Stimmen, doch je weiter sie sich entfernte, desto leiser wurden sie. Ohne nachzudenken, hinkte sie immer weiter, bis ihr die Lungen brannten und die Muskeln so wehtaten, dass sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte.

Jack hätte besser direkt nach Hause gehen sollen. Rückblickend weiß man immer alles besser. Aber es führt dazu, dass man Dinge bereut, und Jack Warriner bereute bereits genug. Was machte es schon, dass er nun nass war bis auf die Haut und kalt bis ins Mark? Im Gasthof war es schön warm gewesen, das Ale hatte geschmeckt, und er war ausnahmsweise in netter Gesellschaft gewesen. Er hatte nur auf einen Drink bleiben wollen. Nur, um den Staub der Straße aus der Kehle zu spülen und für ein paar Minuten all die Pflichten zu vergessen, die auf ihm lasteten. Danach hatte er die letzten drei Meilen nach Hause reiten wollen. Doch aus einem Drink waren drei geworden, und aus drei wurden sechs. Dann hatte der Gastwirt den Whisky hervorgeholt und irgendjemand hatte plötzlich eine Fiedel in der Hand gehabt. Bevor er sich dessen bewusst geworden war, hatte er laut mit den übrigen Gästen gesungen, mit den Füßen gestampft, in die Hände geklatscht und sich wie ein Jüngling benommen, der nicht die Last der ganzen Welt auf den Schultern trägt.

Und nun musste er für diesen seltenen Augenblick der Schwäche bezahlen. Der Regen war ungewöhnlich stark, selbst für Dezember, aber um Jacks Elend noch zu vergrößern, wurden die dicken Regentropfen vom unerbittlichen Nordostwind fast horizontal auf ihn zu gepeitscht. Direkt in sein Gesicht. Außerdem kämpfte er noch mit den unvermeidlichen Nachwirkungen von zu viel Alkohol in zu kurzer Zeit.

Zum Glück war er nur noch eine halbe Meile von zu Hause entfernt. Bald würde er sicher in dem Haus sitzen, welches sein Geld zum Frühstück verspeiste. Es war eigentlich ein stattliches Anwesen, das zu seinem vornehmen Titel gehörte. Allerdings hing es ihm auch wie ein knarrender, undichter Mühlstein um den Hals. Es war der Ort, an dem all seine Hoffnungen und Träume gnadenlos unter den schweren Stiefeln der Verantwortung zertreten wurden. Von Jahr zu Jahr versank Jack immer tiefer in Schulden. Der bloße Gedanke daran lähmte ihn und verursachte ihm leichte Übelkeit.

Vielleicht lag es aber auch an zu viel Whisky und Ale. Jack wischte sich mit dem Ärmel das tropfnasse Gesicht ab. Beinahe wäre er aus dem Sattel gestürzt, als sein Pferd sich jäh aufbäumte. Er kämpfte noch damit, das Tier wieder unter Kontrolle zu bringen, als er plötzlich die Frau sah. Geisterhaft trat sie zwischen den Bäumen hervor. Ihre Haut schimmerte gespenstisch bleich im blassen Mondlicht, und die Augen erschienen ihm riesig in ihrem Gesicht. Sie starrte ihn wortlos an. Dann floh sie, wurde allerdings am Fortkommen gehindert durch die nassen Röcke und ihr auffälliges Hinken.

In seinem durch Alkohol benebelten Zustand brauchte Jack mehrere Sekunden, bis er begriff, was er außerdem noch gesehen hatte. Einen Knebel in ihrem Mund. Gefesselte Hände. Blankes Grauen im Blick.

Sie stolperte hinkend vor ihm her auf dem schmalen holperigen Weg, der zu seinem Haus führte. Offensichtlich hatte sie Angst um ihr Leben. Wenn man ihren Zustand bedachte, hatte sie wohl nicht unrecht damit. Endlich überwand Jack seine Trunkenheit so weit, dass er sein Pferd gezielt auf sie zu lenkte.

„Miss! Warten Sie! Ich will Ihnen nichts tun.“ Der Wind riss ihm die Worte aus dem Mund.

Als er bei ihr war, beugte sich Jack tief aus dem Sattel und fasste sie am Arm. Sie drehte sich um und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu befreien. Wie ein in die Enge gedrängtes kleines Tier suchte sie einen Ausweg.

„Ich will Ihnen nichts antun.“

Ihre Gegenwehr wurde schwächer, und er merkte, dass ihr die Kräfte schwanden. Es würde ihr nicht helfen, wenn er sie anschrie.

„Ich will Ihnen helfen“, sagte er ruhig und sah, dass sie die Augen zukniff bei seinen Worten. Zum Beweis für seine Aufrichtigkeit ließ er ihren Arm los und hielt die Hände hoch, als ergäbe er sich. Auf der Stelle versuchte sie zu entkommen, aber er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er hatte das Richtige getan, denn sie zögerte. Drehte sich um. Mit ihren großen Augen schaute sie ihn intensiv an. Sie schien tief in sein Inneres zu blicken, um herauszufinden, ob er vertrauenswürdig war. Dann verlor sie offenbar alle Kraft und Entschlossenheit und glitt zu Boden.

Gerade noch gelang es Jack, ihren Arm wieder zu ergreifen, bevor sie ganz zusammenbrach. Er musste seine gesamte, nicht unbeträchtliche Kraft aufwenden, um ihr lebloses Gewicht vor sich auf den Sattel zu ziehen. Er hielt sie schützend umfangen. Ihre feuchte Haut war eiskalt und er fragte sich, wie lange sie wohl schon hier draußen dem kalten Winterwetter ausgesetzt gewesen war. Sie fühlte sich so zerbrechlich in seinen Armen an. So kostbar.

Er versuchte, ihr den Knebel aus dem Mund zu ziehen, aber er schaffte es nicht. Vollgesogen mit Regenwasser hatte sich der Knoten noch fester zusammengezogen. Derjenige, der ihr das angetan hatte, war sehr brutal vorgegangen. Aus der Nähe sah Jack jetzt auch die Schwellungen in ihrem Gesicht. Ihre Lippe blutete und war geschwollen. Offenbar war sie misshandelt und gefesselt worden.

Sie war allein, nur mit einem beschmutzten und tropfnassen, ärmellosen Seidenkleid bekleidet, blindlings mitten in der Nacht einen einsamen Pfad entlanggestolpert. Also war sie wahrscheinlich auf der Flucht. Und das bedeutete, die Leute, die sie gefangen gehalten hatten, waren wahrscheinlich noch auf der Suche nach ihr. Diejenigen, die diese zerbrechliche Frau geschlagen und gefesselt hatten, würden vermutlich nicht so schnell aufgeben und vor nichts haltmachen, um sie wieder in die Hände zu bekommen. Wer auch immer sie war, sie brauchte seine Hilfe.

Ohne zu zögern, trieb Jack das Pferd zum Galopp an. Mit einer Hand hielt er die Zügel, mit der anderen drückte er seinen bewusstlosen Passagier an sich. Er beachtete den stechenden Wind und Regen in seinem Gesicht nicht mehr. Es war nur noch wichtig, sie nach Hause und in Sicherheit zu bringen. Markham Manor brauchte zwar dringend ein neues Dach, aber wenigstens hatten seine missliebigen Vorfahren so viel gesunden Menschenverstand gehabt, es mit einer zwanzig Fuß hohen Mauer und zwei ebenso hohen, tonnenschweren Toren zu versehen. Er hatte das Gefühl, dass die Warriners dies zum ersten Mal seit zweihundert Jahren brauchen könnten.

2. KAPITEL

Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr sechzehn Stunden …

Jack trug den schlaffen Körper in die Eingangshalle und rief mit lauter Stimme nach seinen Brüdern. Da sie gewohnt waren, auf seinen Befehlston sofort zu reagieren, erschienen sie nacheinander auf dem Treppenabsatz. Zuerst kam Joe, der Zweitjüngste, vier Jahre jünger als Jack. Ihn wollte er besonders dringend sehen, weil er medizinische Erfahrung hatte. Sein Bruder warf nur einen Blick auf die Frau. „Ich hole meine Sachen.“ Und er verschwand wieder.

Dann kam Jacob, der Jüngste, die Treppe hinunter. Seine dunklen Haare waren zerzaust, und er rieb sich verschlafen die Augen. Dicht hinter ihm folgte Jamie, sein nächstälterer Bruder. Beide Männer eilten sofort zu Jack, als sie das Bündel in seinen Armen sahen.

„Was zum Teufel …?“

Jacob blieb auf der untersten Stufe stehen und starrte erstaunt die Frau an. Dann folgte er seinem Bruder in den großen Saal, der ihnen trotz der hohen Decken als Wohnraum diente. Jack hatte sie bereits auf ein Sofa gelegt, als Jamie endlich hinkend ankam. Bis zu seiner Verwundung war er ein hervorragender Soldat gewesen. Er erfasste die Situation sofort.

„Wo hast du sie gefunden?“

„Sie tauchte einfach so mitten auf dem Weg auf. Da war sie aber noch bei Bewusstsein.“ Er war besorgt, weil sie schon seit zwanzig Minuten ohnmächtig war. Im trüben Lampenschein hatte ihre Haut unter all dem Schmutz eine graue Färbung angenommen. Das verhieß nichts Gutes.

„Irgendwelche Hinweise darauf, wer ihr das angetan hat?“, fragte Jamie.

Jack schüttelte den Kopf. „Aber draußen wütet noch der Sturm. Wahrscheinlich hätte ich auch eine Armee nicht gehört. Sichere das Haus!“

Jamie befolgte sofort Jacks Befehl und wandte sich an Jacob. „Hol mir den Säbel und die Pistolen aus meinem Schlafzimmer und besorge dir selbst auch etwas. Wir müssen die Tore schließen.“

Die beiden Brüder waren schon gegangen, als Joe mit seiner medizinischen Ausrüstung zurückkam. Obwohl sie kein Geld gehabt hatten, um ihn dieses Jahr wieder zurück zur Universität zu schicken, hatte Joe hartnäckig weiterstudiert. Er hatte die vage Hoffnung, eines Tages doch noch seine Ausbildung zum Arzt abschließen zu können. Das war seit frühester Kindheit sein Wunsch gewesen. Es gab nichts über den menschlichen Körper, was er nicht wusste. Jack durchschnitt und entfernte vorsichtig den Knebel und die Fessel an den Handgelenken der Frau, dann kniete sich Joe neben sie, um sie zu untersuchen.

„Sie ist stark unterkühlt, Jack! Wir müssen sie unbedingt aufwärmen.“ Joe wühlte in seiner Tasche, bis er eine Schere fand, und schnitt das Kleid der Frau vom Saum nach oben auf.

„Was machst du da?“, rief Jack, dem es irgendwie übertrieben vorkam, das arme Mädchen nun auch noch auszuziehen.

„Wir müssen sie aus den nassen Kleidern holen und abtrocknen, Jack, sonst können wir sie nicht aufwärmen. Hypothermie kann tödlich enden. Hol ein paar Decken.“

Dieses Mal tat Jack, was von ihm verlangt wurde. Sein jüngerer Bruder mochte sich ihm sonst in allen anderen Angelegenheiten unterordnen, aber in dieser Situation musste er Joe vertrauen. Nur er konnte der Fremden helfen. Außerdem hatte Jack nur sehr geringe medizinische Kenntnisse. Er hatte keine Ahnung, was Hyper-Was-auch-immer bedeutete. Doch er hielt es für moralisch verwerflich, daneben zu stehen, während man sie ihrer Kleidung entledigte. Joe hatte keine Zeit verschwendet und untersuchte sie bereits, als Jack zurückkam. Den Körper seiner Patientin hatte er sorgfältig mit einem Umhang bedeckt.

„Ich glaube, dass keine Knochen gebrochen sind, obwohl man es nicht mit Sicherheit sagen kann, solange sie noch bewusstlos ist. Sie hat Schnittverletzungen und Blutergüsse am ganzen Körper, siehst du?“

Jack reichte ihm die Decken und schaute sich die unbedeckten Arme und Unterschenkel des armen Mädchens an. Sein Bruder hatte recht. Verschmutzte Schnitt- und Schürfwunden bedeckten ihre bleiche Haut. „Sieh dir diese Prellungen an.“ Joe zeigte auf den linken Arm. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie ist irgendwo runtergestürzt und hart auf ihrer linken Seite gelandet. Wenn man die Größe und Färbung der Prellung betrachtet, ist es ein Wunder, dass ihr Arm und das Schlüsselbein bei dem Aufprall nicht zersplittert sind. Einige Wunden sind ziemlich tief. Auch der Riss in ihrer Lippe ist schlimm. Und ihre Handgelenke sind tief aufgescheuert von der Fessel. Es sind alles üble Wunden, und sie könnten sich entzünden. Sie muss stundenlang gefesselt gewesen sein. Ich muss erst einmal alles gründlich säubern.“

Jack war zum Krankenpfleger abgestiegen. Er holte einen Eimer heißen Wassers nach dem anderen, marschierte hin und her zwischen Küche und Saal und überließ es seinem Bruder, alles Notwendige zu tun, obwohl er sich dabei überflüssig fühlte. Nachdem Joe alle Schmutzschichten entfernt hatte, stellte er erstaunt fest, es sei ein Wunder, dass die Frau nicht stärker verletzt war. Doch sie hatte immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt, und ihre leichenblasse Farbe war auch noch nicht von ihr gewichen. Trotz der Hitze des prasselnden Feuers, und obwohl sie unter einem Haufen Decken lag, schien ihre Kerntemperatur nicht zu steigen. Ihre geschwollenen Lippen waren immer noch bläulich verfärbt, ihre Hände und Füße kalt wie Eis.

„Sie muss stundenlang draußen in der Kälte gewesen sein, Jack. Ich bin besorgt, dass sie tatsächlich Hypothermie hat. Sie atmet nur noch sehr flach, und ihr Puls geht sehr langsam.“

„Was kann ich tun?“ Es musste einen Weg geben. Die Vorstellung, sie könnte in dieser Nacht in seinem Hause sterben, war entsetzlich, nachdem er alles getan hatte, um sie zu retten. Er hatte das blanke Grauen in ihren Augen gesehen.

„Du kannst deine Körperwärme mit ihr teilen, Jack. In der Zwischenzeit versorge ich ihre anderen Verletzungen.“

„Meine Körperwärme teilen?“ Es hörte sich abwegig an, aber Joe hatte schon früher recht behalten. „Wie genau soll ich das tun?“

„Halte sie auf deinem Schoß wie ein Kind.“ Joe fasste vorsichtig unter ihre Achseln und entblößte ihren nackten Rücken. Sie wickelten die Decke um sie wie bei einem Baby, und Jack setzte sich so hin, dass er sie auf seinem Schoß halten konnte.

Es war gut und schön, wenn Joe ihm sagte, er solle sie wie ein Kind halten. Doch es war sehr offensichtlich, dass sie kein Kind mehr war. Sie war zu groß, darum bedeckte sein Bruder ihre Beine mit Decken, um sie anzuwärmen, während Jack ihre Arme rieb, um Wärme darin zu erzeugen. Ihr Rücken und Hinterteil waren so eisig, dass er die Kälte durch die Decken und seine Kleidung hindurch spürte. Wenn sie nicht geatmet hätte, hätte er glauben können, eine Tote im Arm zu halten. Schützend drückte er sie an sich und hielt sie fest, in der Hoffnung, dass sie die dringend benötigte Wärme aufnehmen würde. Er wiegte sie, sein Bruder trocknete ihr die nassen verfilzten Haare und wickelte ihr dann auch noch eine Decke um die Schultern.

„Wenn sie wach wäre, könnte ich ihr etwas zu trinken geben. Warme Milch oder Tee würden sie von innen erwärmen.“ Erschüttert fuhr Joe mit den Händen durch seine dichten schwarzen Haare. „Ich gehe kurz in die Küche. Vielleicht könnte ich versuchen, ihr mit dem Löffel etwas einzuflößen. Was meinst du?“

Jack zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was man noch tun konnte. Außerdem befand er sich unter dem Mädchen und konnte seinem Bruder schwerlich helfen. Dieser hilflose Zustand gefiel ihm gar nicht. Er hasste es, sich nutzlos zu fühlen. Normalerweise hatte er immer alles unter Kontrolle. Und nun konnte er nichts anderes tun, als sie in den Armen zu halten und ihr Gesicht nach Anzeichen abzusuchen, dass sie noch lebte. Während er darauf wartete, dass Joe aus der Küche kam, kehrten seine beiden anderen Brüder zurück. Sie sahen aus, als wären sie gerade in einem Hurrikan unterwegs gewesen.

„Nur ein Irrer ist bei diesem Wetter draußen!“, sagte Jamie und schüttelte den Regen ab. „Aber die Tore sind verriegelt und wir haben niemanden auf der Straße gesehen. Wenn jemand hier auftaucht, werden wir abstreiten, je von deiner geheimnisvollen Maid gehört zu haben, bevor wir nicht wissen, was zum Teufel eigentlich hier los ist. Wie geht es ihr?“ Er humpelte, offenbar unter Schmerzen, zum Sofa und schaute auf das stille Bündel in Jacks Armen.

„Joe hat sie, so gut wie unter diesen Umständen möglich, zusammengeflickt. Nun müssen wir sie aufwärmen.“

Jamies Kommentar war nicht sehr aufbauend. „Ich habe viele Männer sterben sehen, nachdem sie den Elementen ausgesetzt waren. Wenn sie aufhören zu zittern, muss man sich wirklich Sorgen machen. Zittert sie?“

Sie tat es nicht. Jack wollte nicht darüber nachdenken, was dies bedeutete. „Sie wird nicht sterben!“ Nicht, wenn er es verhindern konnte. „Joe holt gerade warme Milch.“ Als wäre Milch eine magische Medizin, von der bislang noch niemand gehört hatte, und die auf wunderbare Weise ein armes, halb erfrorenes Mädchen retten konnte. Sie war so still und so erschreckend bleich, dass sie aussah, als wäre ihre Haut aus Alabaster. Er musste an die Angst in ihren großen Augen denken, als sie ihm begegnet war. Hoffentlich waren diese schrecklichen Minuten nicht die letzten, an die sie sich erinnern würde. „Ich kenne nicht einmal ihren Namen.“

Jacob hatte bisher noch nichts gesagt. Nun ging er zu dem Haufen ihrer nassen Kleider auf dem Boden und begann sie zu durchsuchen.

„Sie war doch nicht in der Armee, du Trottel“, sagte Jamie abfällig. „Ich glaube nicht, dass Rang, Nachname und Nummer in ihren Unterröcken steht.“

„Du würdest staunen, was Ladys alles in den Unterröcken aufbewahren.“ Jacob schaute nicht auf. „Obwohl – um das zu wissen, müsstest du wissen, wie man Ladys bezaubert, Jamie, und das tust du nicht.“ Er hockte sich hin und wedelte triumphierend mit einem kleinen Stück bestickten Stoffes. „Ich hingegen bin sehr charmant. Sie heißt Letty.“ Er knüllte das feuchte Tuch zusammen und warf es Jamie an den Kopf. „So steht es auf ihrem Taschentuch.“

Jack streichelte ihr mit dem Zeigefinger sanft über die Wange und beschwor sie aufzuwachen. „Letty. Letty. Liebes, kannst du mich hören?“

Letty. Letty. Liebes, kannst du mich hören?

Sie erkannte die melodische Stimme nicht, aber sie klang beruhigend, obwohl sie einem Fremden gehörte. Es war nicht Bainbridge und auch nicht ihr Onkel. Das allein zählte. Letty versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihre Lider gehorchten ihr nicht. Sie war so unglaublich müde. So müde, dass sie keine Kraft hatte, Furcht zu empfinden. Etwas zog sie nach oben zu einem Ort, den sie erreichen wollte, aber etwas, jemand, hielt sie zurück und ließ nicht zu, dass sie davonschwebte. Sie war eingesponnen wie in einen Kokon, nicht eingekerkert. In Sicherheit.

Sie spürte, dass ihr etwas Warmes die Kehle hinabrann. Sie schmeckte es nicht. Starke Arme hielten sie. Mehr von der warmen Flüssigkeit. Letty. Versuche zu schlucken, Liebes. Liebes? Das klang schön. Noch nie hatte jemand sie so genannt. Wir müssen dich aufwärmen. Nun fiel ihr auf, dass ihr kalt war. So kalt, dass ihr ganzer Körper schmerzte. Nicht überraschend nach allem, was ihr zugestoßen war. Bainbridge. Die Kutsche. Der Wald.

Angst stieg in ihr auf. Hatten sie sie gefunden? Sie zwang sich, die Augen zu öffnen und blickte in tiefblaue Augen. Du bist in Sicherheit, Letty. Schöne Augen. Besorgt blickende Augen. Beruhigende Augen. Ich kümmere mich um dich, Liebes, das verspreche ich dir. Die tiefe melodische Stimme sprach ihr direkt ins Ohr. Sie seufzte. Mehr Kraft hatte sie nicht, und ihre Augenlider fielen wieder zu. Der quälende Knebel war weg. Und er hielt sie fest.

Es gab schlimmere Wege abzutreten.

3. KAPITEL

Noch ein Monat und ein Tag …

Letty hatte im Traum das Gefühl zu fallen. Mit einem Ruck wachte sie auf und brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Es war heller Tag. Zwei Paar sehr ähnlich aussehender Augen schauten auf sie herab. Sie bekam Angst und wollte schreien, aber es kam nur ein erstickt klingendes Wimmern aus ihrem Mund.

„Sch-sch …“, sagte das eine Augenpaar freundlich. „Alles in Ordnung. Sie sind hier in Sicherheit.“

Das Gesicht konnte sie nur unscharf erkennen. Dunkle Haare. Lächeln. Daneben stand ein Mann, der ihm auffallend ähnelte. Sie waren ganz sicher verwandt. Das gleiche dunkle Haar, die gleichen tiefblauen Augen, doch er sah sie offenbar missbilligend an. Diese Augen erkannte sie.

„Mein Bruder hat Sie draußen gefunden und gerettet“, sagte der lächelnde Mann und streichelte eine ihrer Hände. „Sie hatten hohes Fieber und viele Verletzungen, aber wie durch ein Wunder haben Sie sich schnell und gut erholt. Nun brauchen Sie nur noch Ruhe. Geben Sie Ihrem Körper Zeit zu heilen. In wenigen Tagen werden Sie wieder ganz gesund sein.“

Letty wollte sprechen, um zu fragen, wo sie war. Ihr Mund fühlte sich jedoch an, als wäre er mit Watte gefüllt, und sie konnte die Zunge nicht bewegen. Sie schaute zu dem stirnrunzelnden Mann, aber er schaute weiter mürrisch drein, bis der lächelnde Mann ihm einen Stoß in die Rippen gab. Nun schien er sich auch zum Lächeln zu zwingen, allerdings erreichte es nicht seine Augen. Letty wusste nicht recht, ob er mitleidig war oder ärgerlich.

„Warum sind Sie gefesselt im Wald herumgeirrt?“ Er schaute sie fragend an.

Doch ihre dumme Zunge gehorchte ihr immer noch nicht, und sie brachte nur ein unverständliches Gurgeln hervor.

„Lass sie in Ruhe, Jack. Du kannst das arme Mädchen verhören, wenn es ihr besser geht.“

Verhören? Waren diese Männer etwa auch ihre Feinde? Sie kannte keinen von beiden – doch das bedeutete nicht, dass sie nicht für einen ihrer Feinde arbeiteten.

„Hier, Letty, nehmen Sie diese Medizin. Sie wird Ihnen helfen zu schlafen.“

Sie konnte sich nicht wehren, als der Löffel ihr gegen die Lippen gedrückt wurde, aber sie erkannte den bitteren Geschmack der Flüssigkeit. Laudanum. Das hatte ihr Onkel ihr auch gewaltsam eingeflößt. Letty wehrte sich nach Kräften. Zu ihrem Erstaunen kam ihr der missmutige Mann zu Hilfe. Derjenige mit den wohlbekannten tiefblauen Augen.

„Lass es sein, Joe. Wenn sie es nicht will, solltest du sie nicht dazu zwingen“, sagte er im Befehlston.

Sofort zog sich der junge Mann zurück, aber er machte ein besorgtes Gesicht. „Ich will ihr nur die Schmerzen ersparen, Jack. Sie braucht Schlaf.“

Offenbar waren aber bereits genügend Tropfen der Flüssigkeit in ihre Blutbahn gelangt, denn plötzlich wurden ihr die Augenlider sehr schwer. Sie spürte wieder eine Hand auf ihrem Gesicht, und sie wusste sofort, wessen Hand es war. Sie mochte die Berührung dieses Mannes.

„Braves Mädchen. Schließe die Augen, Liebes. Alles kommt in Ordnung …“

Als die das nächste Mal erwachte, war es immer noch dunkel im Zimmer, aber sie konnte trotzdem ein wenig sehen. Allerdings war es immer noch ein Problem, die Augen zu öffnen. Das linke Lid wollte nicht aufgehen. Das Zimmer war ihr fremd, aber das Bett war warm und bequem. Und jeder Knochen im Leib tat ihr verteufelt weh.

Die einzige Beleuchtung im Raum kam von der einzelnen Kerze auf dem Nachtschränkchen und vom Mondlicht, das durch die vorhanglosen Fensterscheiben schien. Letty testete ihre Arme und stellte fest, dass sie sie wieder bewegen konnte. Doch deutliche Verletzungen an den Handgelenken bereiteten ihr noch Schmerzen. Mit der rechten Hand befühlte sie den linken Arm und stellte fest, dass sie einen Verband am Handgelenk trug und einen weiteren am Oberarm. Als sie sich aufsetzen wollte, begann sich alles um sie zu drehen und ihr Kopf schmerzte noch mehr.

Letty betastete ihr Gesicht und die geschwollene Lippe. Alles war noch druckempfindlich, obwohl die Verletzung von Bainbridges Siegelring inzwischen fast verheilt war. Also musste sie viele Stunden geschlafen haben. Oder sogar Tage? Sie ertastete eine Schwellung, die heiß war und wehtat und sich über ihre vordere Stirn und das linke Auge erstreckte. Das Lid fühlte sich dick an. Darum bekam sie also das Auge noch nicht auf. Sicher sah sie zum Fürchten aus. Ihre Haare waren voller Sand und getrocknetem Schlamm. Außerdem war sie unglaublich durstig.

Einige Minuten lang blieb sie ruhig liegen und überlegte, was sie nun tun sollte. Außerdem musste sie sich an die unbekannte Umgebung gewöhnen. Das Zimmer war karg eingerichtet. Ein schlichter Mahagonitisch stand an einer Wand und ein dazu passender großer Kleiderschrank an der Wand gegenüber. Der kleine Nachttisch und das Bett waren die einzigen anderen Möbelstücke. Die schweren Vorhänge an den bleiverglasten Fenstern waren geöffnet und ermöglichten ihr den Blick auf den Nachthimmel. Sie hörte stetiges Regenprasseln. Also hatte sich das grässliche Wetter noch nicht gebessert. Das Fenster war geschlossen, aber nicht vergittert oder verriegelt. Das war ein gutes Zeichen – es sei denn, sie war so hoch oben im Gebäude, dass eine Flucht aus dem Fenster ohnehin unmöglich war. Wände und Zimmerdecke machten den Eindruck, sehr alt zu sein.

Letty schaute sich im Zimmer nach weiteren Hinweisen um. Der Boden war von einem einzelnen großen Teppich bedeckt, der zwar alt, aber von guter Qualität zu sein schien. Es gab keine Bilder oder andere Kleinigkeiten, wodurch der Raum sehr unpersönlich aussah. Es war niemand da, der ihr hätte helfen können, die Zimmertür stand jedoch offen. Wenn man sie hier gefangen halten würde, hätte man sie wohl kaum unbewacht und bei offener Tür zurückgelassen. Vielleicht war sie ja doch endlich in Sicherheit?

Sehr langsam brachte Letty sich in eine aufrechte Position. Zwischendurch musste sie immer wieder eine Pause machen, um die Übelkeitswellen vorübergehen zu lassen. Ihre linke Schulter schmerzte stark, das Handgelenk ebenfalls, und auch der linke Fußknöchel war noch empfindlich. Doch davon abgesehen, hatte sie die Flucht bemerkenswert gut überstanden. Wenn sie den guten Arm ausstreckte, konnte sie den Rand des Bechers auf dem Nachtschränkchen erreichen. Mithilfe der Füße schob sie sich immer weiter nach vorn, bis sie mit Finger und Daumen den oberen Rand des Bechers zu fassen bekam. Doch ihre Kraft reichte nicht, um ihn festzuhalten, er entglitt ihr und landete krachend auf dem Holzboden, wo die kostbare Flüssigkeit auslief.

Plötzlich hörte sie Geräusche vom Boden an der anderen Bettseite her. Dann tauchte der Kopf eines Mannes auf. Er schaute sich offenbar leicht verwirrt um und strich sich dann mit einer Hand über das Gesicht und durch die zerzausten dunklen Haare. „Sie sind wach!“, sagte er mit verschlafen klingender Stimme.

„Entschuldigung“, krächzte sie. „Ich habe den Becher fallen gelassen.“ Letty erkannte in ihm keinen ihrer Entführer, aber er kam ihr irgendwie vertraut vor. Dann erinnerte sie sich an ihn als denjenigen, der seinen Komplizen davon abgehalten hatte, ihr Laudanum aufzudrängen.

„Ist schon in Ordnung.“ Etwas ungelenk stand er vom Boden auf und ging um das Bett herum. Er war groß und breitschultrig und mochte etwas älter sein als sie, aber nicht viel. Er goss ihren Becher wieder voll und setzte sich dann neben sie auf das Bett. Das Getränk gab er ihr vorsichtig in die gute Hand, wobei er seine warme Hand um ihre klammen Finger legte. Letty trank gierig alles aus. Sofort schenkte er ungefragt nach. „Es ist das Laudanum“, erklärte er rau. „Mein Bruder sagte mir, es würde Sie durstig machen.“

Sie wusste nicht, woher der Bruder das wusste, aber er hatte recht. Letty konnte sich nicht erinnern, jemals so durstig gewesen zu sein. Den zweiten Becher trank sie jedoch langsamer aus, weil sie sich von dem Mann beobachtet fühlte. Selbst in zerknitterter Kleidung war er sehr ansehnlich, doch ganz anders als die Männer des ton, die sie kannte. Seine Hände zeigten Spuren harter Arbeit.

„Ich heiße Jack Warriner, falls es Sie interessiert.“

Jack Warriner verbrachte sicher viel Zeit im Freien. Selbst im schwachen Licht der Kerze sah sie, dass seine Haut gebräunt war. Doch er sprach nicht wie ein einfacher Mann, seine Wortwahl war die eines Gentlemans. Das offene weiße Leinenhemd betonte seine breiten Schultern und starken Arme. Sein Hals würde in einem hohen Kragen, wie er zurzeit in der Gesellschaft in Mode war, sicher eingeengt aussehen. Doch welcher vermögende Gentleman würde neben dem Bett einer verletzten Fremden auf dem Boden schlafen? So eine beschwerliche Aufgabe würde jeder andere einem Bediensteten übertragen. Es sei denn, er war ihr Bewacher und wollte sie nur in Sicherheit wiegen …

Letty schaute ihn misstrauisch an, während sie die letzten Wassertropfen trank, und reichte ihm den Becher zurück.

„Noch etwas?“, fragte er und hob den irdenen Krug hoch, doch sie schüttelte vorsichtig den Kopf. „Sie haben uns einen tüchtigen Schrecken eingejagt, Letty.“ Woher wusste er, wie sie hieß? „Ich habe Sie auf der Straße aufgelesen, und danach fielen Sie in Ohnmacht, zweifellos aufgrund der vielen Verletzungen und der Kälte. Seit Sie hier sind, haben Sie tief geschlafen. Mein Bruder Joe befindet sich in der Ausbildung zum Arzt. Er hat ihre Verletzungen behandelt. Sie verdanken ihm vermutlich Ihr Leben.“ Seine Sprechweise war ruhig und sachlich. „Können Sie sich erinnern, was passiert ist? Warum Sie gefesselt und geknebelt allein durch den Wald irrten?“

Bevor sie seine Fragen beantwortete, brauchte sie erst selbst ein paar Antworten. Ihr Onkel war nicht dumm. Er würde eine ansehnliche Summe für ihre Ergreifung anbieten, denn seine eigene Zukunft hing davon ab, dass sie den widerlichen Bainbridge ehelichte. Und wenn der Earl sie fand … nun, sie wusste ja bereits, wie grausam er sein konnte. Sie gab vor, noch nachdenken zu müssen, und schüttelte dann wieder den Kopf. Die Bewegung löste eine neue Welle von Übelkeit aus.

Er bemerkte es und sagte: „Liegen Sie still und versuchen Sie, den Kopf nicht allzu viel zu bewegen.“

„Ich danke Ihnen, Sir. Sie sind sehr freundlich.“ Letty versuchte zu lächeln und hoffte, er würde nicht merken, wie misstrauisch sie war.

„Sie können mich Jack nennen“, sagte er und wedelte mit der Hand, „so wie alle anderen.“ Er zog ein wenig die Mundwinkel hoch – eine Abwechslung zu seiner ständig mürrischen Miene –, aber ein Lächeln war es noch nicht. Dann fragte er: „Möchten Sie noch etwas Medizin?“

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie das Laudanum nahm, würde sie wieder in Dunkelheit versinken und die Kontrolle verlieren. Außerdem – falls sie schnell von hier fliehen wollte, musste sie alle Sinne beisammenhaben. Und sie musste ihre Flucht planen.

„Können Sie mir verraten, wo ich bin, … Jack?“

Obwohl es eigentlich nicht schicklich war, setzte er sich wieder neben sie auf die Matratze und seufzte. „Sie sind in meinem Haus, in Markham Manor. Im tiefsten, dunkelsten, kältesten Nottinghamshire. Das nächste Dorf heißt Retford und ist drei Meilen entfernt von hier, aber wenn Sie in eine richtige Stadt wollen, müssten Sie nach Lincoln fahren.“ Also befand sie sich im Norden von England. Noch weit weg von Gretna Green. „Ich habe Sie etwa eine Meile von hier im Wald gefunden, völlig durchnässt und durchgefroren. Sie müssen einige Stunden lang dem Sturm ausgesetzt gewesen sein, bevor ich zufällig des Weges kam. Da ich nicht weiß, wo Sie herkamen, und niemand sich nach Ihnen erkundigt hat, können wir wohl davon ausgehen, dass diejenigen, die Sie gefesselt haben, Ihre Spur verloren haben. Mein Bruder Jamie hat vorsichtshalber alles verbarrikadiert, falls jemand Sie suchen kommt, und wechselt sich mit meinem jüngsten Bruder Jacob in der Bewachung ab. Sie sind hier also sicher.“

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund glaubte Letty ihm. Sie hatte es also geschafft! Sie war Bainbridge entkommen und versteckte sich nun in einem Haus. Ihre Erleichterung musste offensichtlich sein. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. Offenbar glaubte er ihre jämmerliche Behauptung nicht, dass sie sich an nichts erinnerte.

„Welcher Tag ist heute?“ Sie hatte noch eine Hoffnung, nämlich, dass inzwischen viel Zeit vergangen war.

„Mitternacht ist vorbei, also muss es Freitag sein.“

Letty riskierte noch ein vorsichtiges Kopfschütteln. Diese Information genügte ihr nicht, um die verbleibende Zeit abzuschätzen. „Welches Datum?“

Er schaute sie mit einem durchdringenden Bick an. Sie hatte das unbequeme Gefühl, er wisse, dass sie log. „Wie gesagt, Mitternacht ist vorbei, also müsste heute der vierte sein.“

„Ich verstehe.“

„Sie haben mich nicht nach dem Monat gefragt, also nehme ich an, Sie wissen doch noch etwas. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht an das Geschehene erinnern?“

Letty senkte den Blick. Dieser Mann hatte ihr bisher nichts als Freundlichkeit erwiesen, darum war es ihr unangenehm, ihn anzulügen. Doch sie hatte schließlich keine Garantie, dass er nicht von einem Lösegeld in Versuchung geführt werden könnte, darum blieb ihr keine Wahl.

„An den Unfall selbst kann ich mich nicht erinnern.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang es unglaubwürdig.

„Erinnern Sie sich an Ihre Familie, Letty? Kann ich jemanden über Ihre missliche Lage informieren?“

Letty wäre lieber gestorben, als ihm die Wahrheit zu gestehen. Wenn ihr Onkel von ihrem Aufenthaltsort erfuhr, war es aus mit ihr. Ihr Leben wäre dann vorbei, und zwar sehr bald, sollte das abscheuliche Komplott ihres Onkels mit dem Earl of Bainbridge in den nächsten paar Wochen umgesetzt werden. Koste es, was es wolle – sie musste bis dahin untertauchen. Sie schüttelte wieder den Kopf. „Leider nicht … Mir ist ganz schwindlig.“

Das stimmte zwar, aber sie hatte es nur gesagt, damit er sie nicht weiter ausfragte. Sie konnte nicht gut lügen. Ihre Eltern hatten es immer gemerkt, wenn sie es versuchte. Für den Fall, dass er in ihrem Blick lesen konnte, schloss Letty seufzend die Augen. Doch sie sah noch die Skepsis im intelligenten Blick seiner blauen Augen. „Vielleicht hilft es, wenn ich noch ein wenig schlafe“, murmelte sie und versuchte ihr Möglichstes, um nur erschöpft zu klingen. Sie spürte, dass er sich vom Bett neben ihr erhob.

„Ich hole besser meinen Bruder, damit er Sie sich noch einmal anschaut. Sie sind sehr krank.“

„Es ist nicht nötig, ihn um diese späte Stunde zu wecken. Ich habe Ihnen und Ihrer Familie schon mehr als genug Unannehmlichkeiten bereitet. Ich glaube, ich schlafe lieber noch ein paar Stunden.“

Sie merkte, dass er zögerte. „Nun gut. Ich bin hier direkt neben Ihnen, falls Sie etwas brauchen“, sagte er barsch und vielleicht eine Spur vorwurfsvoll. Sie hörte, dass er seinen großen Körper wieder auf dem harten, unbequemen Boden ausstreckte, dann raschelte eine Decke.

Letty war außerordentlich dankbar, dass er sie in ihrem Zustand nicht allein ließ. Sie fühlte sich verletzbar, und seine Gegenwart wirkte seltsam beruhigend auf sie. „Es tut mir wirklich leid, so lästig zu sein“, fügte sie unbeholfen hinzu. Doch er machte keinen Versuch mehr, das Gespräch mit ihr fortzusetzen. Sie hörte, wie er sein Kissen aufklopfte und die Bettdecke über sich zog, bis er eine passende Schlafposition gefunden hatte.

Jack Warriner war nicht der höflichste Gentleman, aber Letty bewunderte seine Ehrlichkeit. Er wollte sie hier nicht haben, denn sie war eine große Belastung, aber er würde sie auch nicht wegschicken. Sie war hier vorübergehend in Sicherheit.

Weder ihr Onkel noch der ekelhafte Earl würden ihre Flucht auf die leichte Schulter nehmen. Sollte sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag erleben, wären beide Männer in einer schwierigen Lage. Letty kannte die Strafe für Entführung, erzwungene Eheschließung und anschließende Ermordung der Braut nicht, doch vermutlich würden die beiden es mit dem Leben büßen müssen, falls sie wegen dieser Verbrechen verurteilt würden. Daher würden sie Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie zu finden und zum Schweigen zu bringen – und zwar vor dem vierten Januar.

Letty brauchte einen Plan, aber dieses Mal einen richtigen. Sie musste sich verborgen halten, bis es für die Entführer zu spät war. Dann hatte sie die volle Verfügung über ihr Erbe. Und sie musste sich überlegen, was sie ihrem klugen Gastgeber erzählen sollte, denn ihre ungeschickten Entschuldigungen würde er ihr nicht ewig glauben. Konnte sie es riskieren, ihm die Wahrheit zu sagen? Bis sie mehr über die Situation und den Mann selbst wusste, war es gewiss klüger, still zu sein.

An ihrer Seite hörte sie die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge des Mannes. Er war bereits eingeschlafen. Bisher hatte Letty noch nie ihr Schlafzimmer mit einem Mann geteilt. Noch vor wenigen Wochen hätte diese skandalöse Tatsache ihren Ruf zerstört. Damals hatte sie sich sehr um ihren Ruf gesorgt – als wäre er das einzig Wichtige für sie. Natürlich hatte sie zu der Zeit nicht wissen können, dass ihr Leben und ihre Freiheit in Gefahr waren. Sie hatte geglaubt, ihren zukünftigen Gatten frei wählen zu können unter all den bereitwilligen Gentlemen, die sie auf jedem gesellschaftlichen Empfang umschwärmten. Ihr enormes Vermögen erlaubte ihr die freie Auswahl, darum hatte sie es nicht eilig gehabt, einen Ehemann zu wählen. Vor einigen Jahren, als sie noch jung und töricht gewesen war, hatte sie sogar eine Liste mit den Eigenschaften erstellt, die der geeignete Kandidat aufweisen musste. Er sollte attraktiv und klug sein, einen hohen Titel tragen, zu Pferd gut aussehen, gern ins Theater gehen und auch die Künste fördern. Alle Freundinnen sollten sie um ihn beneiden. Aber das Wichtigste war, dass er sie über alles lieben musste.

Sie hatte durchaus passende Gentlemen mit einigen dieser Eigenschaften kennengelernt, aber ihre letzte Bedingung war stets der Stolperstein gewesen. Nach mehreren Saisons waren ihre jugendlichen Hoffnungen nur noch sehr gedämpft, denn bisher hatte sie noch keinen Mann gefunden, von dessen Liebe sie wirklich überzeugt gewesen wäre. Sie hatte immer ihre Zweifel, ob es Letty, die Frau, war, die er liebte, oder nur Violet, die Tee-Erbin. Ihr ungeheures Vermögen war kein beruhigendes Polster, sondern eher eine Last. Gab es denn in ihrer Bekanntschaft überhaupt jemanden, der sie nur um ihrer selbst willen gernhatte? Oder war es nicht eher das viele Geld und all der Luxus, die sie anziehend machten?

Einen passenden Kandidaten gab es, der kurz vor einem Heiratsantrag stand – den wohlhabenden Duke of Wentworth. Doch auch seine Motive durchschaute Letty nicht ganz. Bis sie den vollen Durchblick hatte, würde sie sich nicht zu so etwas Endgültigem entschließen wie einer Heirat. Sie war noch jung, also wozu die Eile? Außerdem war sie seit einiger Zeit mit anderen Plänen beschäftigt. Sie wollte mit ihrem Vermögen etwas Gutes tun und ihrem leeren Leben einen Sinn geben – vielleicht ein Heim für Findelkinder eröffnen. Unglücklicherweise hatte sie die Gier ihres Onkels nach ihrem Geld nicht bedacht. Und leider war sie gesetzlich dazu verpflichtet, seinen Anordnungen Folge zu leisten, bis sie volljährig war.

Das würde sie in einem Monat endlich sein, plus oder minus wenige Stunden.

4. KAPITEL

Nur noch ein Monat …

Noch vor Tagesanbruch ließ sich Jack am Krankenbett von Joe ablösen. Auf dem harten Fußboden hatte er nicht länger schlafen können. Nicht, dass er jemals Zeit zum Ausschlafen hatte, aber selbst für seine Verhältnisse war es noch sehr früh. Seit zwei Tagen pflegte er nun schon diese geheimnisvolle Frau. Letzte Nacht war sie zum ersten Mal imstande gewesen zu sprechen, aber ihre ausweichenden Antworten auf seine Fragen hatten nicht aufrichtig geklungen. Man musste natürlich berücksichtigen, dass das arme Ding gefesselt, geknebelt und schwer misshandelt worden war, darum war es nicht verwunderlich, dass sie zögerte, sich ihm anzuvertrauen. Doch nun stand sie unter seiner Obhut. Er fand, er habe das Recht darauf zu erfahren, welche Art von Problemen sie in sein Haus geführt hatten.

Und sie würde hier für Probleme sorgen.

Das wusste er so sicher, wie er wusste, dass die Sonne jeden Morgen aufging, denn seit zehn Jahren waren Probleme seine ständigen Begleiter. Er kannte die Anzeichen zu genau, um sie zu ignorieren.

Er war nicht überrascht, dass Jamie bereits aufgestanden war und in der Küche saß. Seit sein Bruder von der Iberischen Halbinsel zurückgekehrt war, schien er nicht mehr viel zu schlafen und lächelte noch seltener als Jack. Beides machte ihm Sorgen, aber er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Jamie war schon immer verschlossen gewesen, aber seit seiner Heimkehr war kaum noch etwas aus ihm herauszubekommen.

„Ich dachte, ich reite mal ins Dorf und sehe zu, was ich über unseren Gast herausfinden kann.“ Nachdem er die Frau stundenlang in den Armen gehalten und zwei Nächte neben ihrem Bett geschlafen hatte, fühlte er sich verantwortlich für sie. Und seltsam fürsorglich. Offenbar wurde er auf seine alten Tage noch weich.

Jamie reichte ihm eine dampfende Tasse Tee und schaute ihn gedankenvoll an. „Gute Idee. Ich habe auch bereits daran gedacht. Aber man kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass das Mädchen in Gefahr ist, und wenn du dort Fragen stellst, könntest du in ein Wespennest stechen.“

„Ich bin doch kein Dummkopf.“

„Das habe ich auch nicht gesagt. Aber für deinen Feinsinn bist du auch nicht gerade bekannt. Ich begleite dich und zeige dir, wie man so etwas macht.“

Ohne darüber nachzudenken, blickte Jack das verwundete Bein seines Bruders an, aber er bereute es sofort, als er sah, wie wütend ihn das machte.

„Ich bin kein verdammter Krüppel, Jack! Ich kann immer noch reiten.“

Jack war nicht in der Stimmung, mit ihm zu streiten. Jeder Versuch brüderlicher Besorgnis würde Jamie nur noch mehr aufbringen.

„Dann gehe ich die Pferde satteln.“

Es war Markttag in Retford, und als sie eintrafen, herrschte schon reger Betrieb. Auf Jamies Vorschlag gingen sie in den Gasthof, um zu frühstücken und Informationen zu bekommen. Das war sinnvoll, denn wenn Fremde in der Gegend waren, würden sie vermutlich im Gasthof übernachten. Jack hätte selbst nicht daran gedacht, also war es gut, dass er Jamie mitgenommen hatte.

„Du brauchst nur zu essen und zuzuhören. Der Trick eines Kundschafters ist es, kein Interesse zu zeigen. Wenn wir etwas Interessantes hören, überlasse mir die weitere Sondierung.“

Jack war ein wenig gekränkt über diesen Mangel an Vertrauen in seine Fähigkeiten, aber er sagte nichts. Jamie wählte einen Tisch in der Mitte des Speiseraums und sie bestellten sich etwas zu essen. Dann verschwand sein Bruder für eine Weile, um sich anderswo umzuhören.

Da er nichts Besseres zu tun hatte, schaute Jack sich die übrigen Gäste näher an. Vielleicht fiel ihm etwas Verdächtiges auf. Da heute Markttag war, erkannte er kaum eins der Gesichter, und sie sahen für ihn alle verdächtig aus. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und hätte alle verhört – genau wie sein militärisch geschulter Bruder es befürchtet hatte. „Du bist nun mal so, großer Bruder“, hatte Jamie auf dem Weg hierher gesagt. „Du kennst es nicht anders, als dass du immer das Sagen hast.“ Jack mochte es nicht, wenn man ihm seine Charakterfehler vorhielt, aber wenn sein eigener Bruder es tat und womöglich recht hatte, störte es ihn noch mehr.

Jamie hatte sich an die Theke gesetzt und an den Gastwirt herangemacht. Da er erst kürzlich als Kriegsheld heimgekehrt war und außerdem zu der berüchtigten Familie gehörte, die am Waldrand hauste, schien der Wirt ganz erpicht darauf zu sein, sich mit Jamie zu unterhalten. Die Einheimischen liebten jeden Klatsch, und die Warriners lieferten ihnen seit Jahren eine Menge Gesprächsstoff. Jack beobachtete, dass der Mann seinem Bruder eine neugierige Frage nach der anderen stellte. Jamie ging damit auf seine übliche verdrießliche Art um, starrte in seinen Drink und schaute den Fragesteller nicht an. Für jeden Außenstehenden sah er aus wie ein Mann, der nichts anderes wollte, als alleingelassen zu werden, nicht wie jemand auf der Suche nach Informationen. Dieses Talent musste Jack widerwillig bewundern.

Einige Minuten später hinkte Jamie zurück zu ihrem Tisch. Er sprach so leise, dass Jack seine Ohren sehr anstrengen musste, um ihn zu verstehen.

„Ein paar Männer aus London sind hier. Ziemlich aggressive Leute, wie man hört, und der Wirt wäre froh, wenn sie bald abreisen würden. Sie sind hier an dem Morgen angekommen, nachdem du deine Lady gefunden hast. Alle waren nass bis auf die Haut trotz der feinen Kutschen, in denen sie ankamen. Die beiden Kutschen und die Hälfte der Leute reisten am nächsten Tag ab, nur drei Männer blieben zurück. Alle Zimmer laufen unter dem Namen Smith. Der Wirt sagt, sie stellen überall Fragen nach einer jungen Frau. Dem Vernehmen nach eine reiche Erbin.“ Jack zog die Brauen hoch. „Sie behaupten, sie sei entführt worden, und sie seien auf der Suche nach ihr. Heute sind sie noch nicht aufgetaucht. Bisher haben sie jeden Morgen das Gleiche getan. Sie stellen Fragen, essen und verschwinden für den Rest des Tages. Er weiß nicht, wohin, aber sie kehren immer sehr übel gelaunt zurück.“

Jamie warf ihm einen warnenden Blick zu, da ihr Frühstück gebracht wurde. Die Wirtin knallte ihnen unfreundlich das Essen auf den Tisch. Die Feindseligkeit gegenüber nicht nur einem, sondern gleich zwei Warriners so früh am Morgen, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Haben Sie schon bezahlt?“

Das verderbliche Erbe ihres Vaters haftete ihnen immer noch an. Der Bastard war bereits seit sieben Jahren tot, doch noch immer glaubten die Einheimischen, dass ein Warriner Schulden und nichts als Ärger machte. Jamie warf der Frau einen bösen Blick zu und wollte sie zurechtweisen, aber Jack mischte sich ein. „Ich habe vorne bereits gezahlt, Nelly. Wie immer.“ Er wollte die zerstörten Brücken zu den Einheimischen wieder aufbauen, das versuchte er seit Jahren. Obwohl die Beleidigungen schmerzten, konnte er die Leute irgendwie verstehen. Jahrhundertelang waren die Warriners ein übler Haufen gewesen, und es würde mehr als sieben Jahre brauchen, um den Schaden wiedergutzumachen, den seine Vorfahren angerichtet hatten. Erst in den letzten achtzehn Monaten war es Jack gelungen, überhaupt einige Pächter auf sein Land zu locken, aber diese hatten einen schlechten Ruf und waren nicht von hier. Nelly rümpfte die Nase und stolzierte davon.

„Vielleicht gehören sie zu Lettys Familie und suchen sie? Vielleicht wurde sie ja wirklich entführt.“ Als Jack daran dachte, wie verängstigt sie in der Nacht vor ihm davongelaufen war, fühlte er wieder diese seltsame Mischung aus dem Wunsch, sie zu beschützen, und Wut.

Jamie zuckte mit den Schultern. „Oder sie wollen, dass wir das annehmen. Sie werden ja es wohl kaum jemandem erzählen, wenn sie selbst die Entführer sind und ihre Geisel wiederfinden wollen, oder?“ Das war ein vernünftiges Argument. „Außerdem – wenn sie nichts zu verbergen haben, warum nennen sie sich dann Smith? Das ist sehr merkwürdig, Jack. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“

Jamies Bauchgefühl hatte ihm als Soldat die Haut mehr als einmal gerettet. Jack schloss sich seiner Meinung an. Schweigend aßen sie weiter, so konnten sie besser hören, worüber die anderen Gäste sprachen. Es waren hauptsächlich Händler, die hier Geschäfte machen wollten, und keiner erwähnte ein gefesseltes und geknebeltes Mädchen im Wald.

Sie hatten längst aufgegessen und wollten gerade aufbrechen, als drei vierschrötige Männer in die Gaststube traten und sich umschauten wie Falken auf der Suche nach Beute. Jamie nahm seinen leeren Becher und gab vor zu trinken. „Es geht los. Schätze, das sind sie.“

Die drei Männer teilten sich auf, gingen reihum zu den Gästen und begrüßten sie freundlich. Allmählich kamen sie ihrem Tisch immer näher.

„Denke daran, gib dich gelangweilt und halte den Mund.“

Jack warf seinem Bruder einen sarkastischen Blick zu. „Danke für dein Vertrauen, Jamie.“

„Hallo, Gentlemen, dürfte ich Sie für einen Moment stören?“ Der Mann zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen. Er war ein Ausbund an Höflichkeit. Jamie schaute ihn kaum an und zog nur die Schultern hoch. Jack tat es ihm gleich.

„Wohnen Sie hier in der Umgebung?“

„Was geht Sie das an?“, gab Jamie misstrauisch zurück.

„Nur eine freundliche Frage.“ Der Mann hatte eine aufrichtige Art zu sprechen, aber sein Aussehen machte einen ganz anderen Eindruck. Hinter seinen feinen Kleidern und dem schmierigen Lächeln steckte kein Gentleman, dessen war Jack sich ganz sicher. Er hatte zwar nicht Jamies Erfahrung als Spion, aber er erkannte einen Heuchler, wenn er ihn sah. Dieser Mann hatte riesige Fäuste und seine Nase schien auch schon mehrmals gebrochen worden zu sein. Eine dünne weiße Narbe zog sich über eine Wange. Dieser Mann sah gewalttätig aus. „Meine Freunde und ich sind auf der Suche nach jemandem. Einer jungen Lady.“ Der Mann lächelte sie vielsagend an. „Es gibt eine Belohnung.“

Jamie starrte in seinen leeren Becher, als wäre er nur daran interessiert, wie schnell er ihn wieder füllen konnte. „Eine Belohnung, sagen Sie?“ Es war eine Meisterleistung. Lockeres Desinteresse, das in dem Halunken Hoffnung erweckte, er könnte ihn mit einer Belohnung locken.

„So ist es. Sogar eine ziemlich hohe. Hundert Pfund für jeden, der zu ihrer sicheren Heimkehr beiträgt.“

Jamie pfiff leise, als wäre er beeindruckt. „Hundert Pfund. Das ist eine Menge Geld. Warum so viel?“ Er schaute beiläufig zu Jack, dann wandte er sich wieder zu ihrem Besucher. „Wird sie von der Krone gesucht?“

„Nein. So ist es nicht … Sie ist verschwunden.“

„Wir sind hier an der Straße nach Gretna Green. Hunderte junger Mädchen ‚verschwinden‘ hier jedes Jahr.“ Jamie zuckte wieder mit den Schultern, damit der andere Zeit hatte, seine Andeutung zu verstehen.

„Bedauerlicherweise müssen wir annehmen, dass die fragliche Lady nicht durchgebrannt ist, sondern entführt wurde. Ihre Familie will sie unbedingt zurückhaben.“

„Wenn sie entführt wurde – warum warten Sie nicht einfach auf die Lösegeldforderung und bezahlen?“ Jack machte wieder ein gelangweiltes Gesicht und schaute Jack belustigt an. „Wir sind keine Leute, die es mit einer Bande von Entführern aufnehmen können. Nicht einmal für hundert Pfund. Dafür ist uns unser Leben zu teuer.“

Der Mann nickte lächelnd. „Ich kann Sie verstehen, Gentlemen, aber die fragliche Lady ist ziemlich … einfallsreich. Falls … es ihr gelungen sein sollte zu entkommen, wäre das eine Erklärung dafür, warum es noch keine Lösegeldforderung gibt.“ Alarmglocken schrillten in Jacks Kopf, aber er blieb stumm „Ich möchte Sie nur bitten, sich nach ihr umzusehen. Sie ist von hoher Geburt und kennt sich in der Gegend nicht aus. Es gibt sicher viele Plätze, wo sie sich verstecken könnte. Wenn Sie einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort geben könnten, wäre ihre Familie sehr dankbar … Und für Sie, Gentlemen, könnte es auch gewinnbringend sein.“

Jack wollte nicht länger der stumme Kumpan sein. „Wie sieht sie denn aus … falls wir sie sehen?“ Er ignorierte den warnenden Blick seines Bruders.

„Sehr hübsch. Blonde Haare, grüne Augen, erst zwanzig Jahre alt. Ziemlich auffallendes kleines Ding. Ein wenig zu fantasievoll, wie viele junge Frauen es sind. Nach so einem schrecklichen Erlebnis kann man nicht wissen, in welchem Zustand ihr armer Verstand sein könnte …“ Der Mann schüttelte den Kopf, als wäre er aufrichtig besorgt. Jack sträubten sich die Haare im Nacken. „Ihre Familie möchte sie ohne Aufsehen zurückbekommen. Sie verstehen. Das Mädchen wäre ruiniert, wenn die Welt erfahren würde, was mit ihr geschehen ist. Wenn Sie etwas sehen oder hören, finden Sie mich hier im Gasthaus.“

„Und Ihr Name ist …?“

„Smith. Mr. John Smith.“

„Und wie heißt das Mädchen? Auch Smith?“

„Nein, Sir. Ich bin nur ein Angestellter der Familie. Sie heißt Violet.“

„Kein Nachname?“

Der Mann lächelte hinterhältig. „Richtig, Sir. Die Familie möchte einen Skandal vermeiden. Wenn ihre Entführung bekannt würde, wäre die junge Lady entehrt. Darum verstehen Sie gewiss, warum die Familie sie so schnell wie möglich wieder in ihren Schoß aufnehmen will.“

Jamie durchbohrte den Fremden beinahe mit seinem harten Blick. „Wenn hundert Pfund auf sie ausgesetzt sind, muss sie aus einer bekannten Familie stammen. Das ist sehr viel Geld für eine unbedeutende Lady. Also nehme ich an, die könnten mehr als nur hundert Pfund für ihre sichere Heimkehr erübrigen, finden Sie nicht?“

Der Mann stand auf. Sein Gesicht war zu einer kalten Maske erstarrt. „Darf ich Ihre Namen erfahren, Gentlemen?“ Sein eisiger Blick war misstrauisch, als er von einem zum anderen schaute.

Jack starrte arrogant zurück. „Warriner. Ich bin Jack und dies ist mein jüngerer Bruder Jamie.“

Eine Sekunde lang erkannte er, dass Jamie sich fragte, ob es klug war, dem Kerl ihre echten Namen zu verraten, aber dann sah er offenbar ein, dass es richtig war. Wenn sie Verdacht bei diesem Mann erregten, würde er ihre Geschichte überprüfen, und die meisten ihrer Nachbarn würden bereitwillig die „wilden Warriners“ unten am Fluss verraten.

„Nun, Mr. Warriner, die Familie wäre sicher offen für Verhandlungen.“

Jack lachte und schlug seinem Bruder herzhaft auf den Rücken. „Ich glaube, du und ich sollten uns auf die Jagd nach der Erbin machen, Jamie, was sagst du? Was könnten wir mit mindestens hundert Pfund anstellen, he?“

Jack lächelte scheinbar begeistert den abwartenden Mann an. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Die Warriners hätten hundert Pfund eigentlich sehr gut gebrauchen können. Wie gern hätte er Joe zumindest eine Zeitlang die medizinische Ausbildung bezahlt!

Doch schon der Wunsch nach dem Geld löste in ihm Schuldgefühle gegenüber Letty aus, obwohl er nicht wusste, warum es so war. Sie stellte im Grunde nur eine weitere Belastung für ihn dar. Aber offenbar hatte Jack eine Schwäche für Ladys in Not. „Wo haben Sie sie denn zuletzt gesehen, Mr. Smith?“

Sofort entspannte sich die Miene des Mannes, weil er annahm, sie überzeugt zu haben. „Wir vermuten, sie könnte in diesem Bereich der Great North Road entführt worden sein.“

„Sie vermuten es?“ Kopfschüttelnd schaute Jack seinen Bruder an und lachte verächtlich. „Wir würden also nur hinter einer Vermutung herjagen? Zehn Dörfer und hundert Quadratmeilen von Sherwood Forest müssten durchsucht werden!“ Mit einem gespielt mitleidigen Blick sah er den Mann an. „Ich glaube, mein Bruder und ich haben Wichtigeres mit unserer Zeit anzufangen, als nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen. Aber ich wünsche Ihnen viel Glück. Falls wir wie durch ein Wunder doch etwas erfahren, werden Sie der Erste sein, der es erfährt, Mr. Smith, das versichere ich Ihnen.“

5. KAPITEL

Immer noch ein Monat …

Der Arzt legte ihr sorgfältig den letzten sauberen Verband an, dann setzte er sich neben sie auf das Bett und lächelte sie an. „Es ist wirklich ein Wunder, dass Sie schon so gesund und munter sind. Als Jack Sie hierherbrachte, war ich überzeugt, dass Sie sterben würden, aber jetzt sind nur noch ein paar kleinere Verstauchungen und Schnittverletzungen übrig, die bald verheilen werden. Offenbar haben Sie eine gute körperliche Verfassung. Noch ein bis zwei Tage Ruhe, dann sind Sie so gut wie neu.“

Letty fühlte sich wirklich viel besser. Und sauberer. Auf ihre Bitte hin, hatte der jüngste Warriner, Jacob, ihr einen Eimer mit heißem Wasser, Seife und Handtücher gebracht, und sie hatte sich den Schmutz aus den Haaren waschen können. Nun saß sie aufrecht im Bett, ihr Magen war angenehm gefüllt, und sie war bekleidet mit einem sauberen Herrenhemd. Sie warf dem Arzt einen ihrer besten Violet-Blicke zu. Dafür war sie in der feinen Gesellschaft gefeiert worden. Hoffentlich verdarb ihre geschwollene Lippe nicht die Wirkung auf ihn. „Vielen Dank, Doktor. Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben.“

„Ich bin noch kein Doktor“, sagte er ein wenig betrübt, „aber vielleicht werde ich es eines Tages sein.“

Sie war erstaunt. „Ich war sicher, Sie seien ein richtiger Arzt, denn Sie haben ausgezeichnete medizinische Kenntnisse. Ohne Ihre Hilfe wäre ich zweifellos gestorben. Warum besorgen Sie sich nicht eine Lizenz und praktizieren als Arzt?“

Er stand auf und räumte die alten Verbände weg. „Ich studiere und lese ausgiebig, und sicher werde ich mich eines Tages qualifizieren können. Es waren aber nicht nur meine Bemühungen, die Ihnen das Leben gerettet haben. Ihr größter Dank gebührt eigentlich meinem Bruder Jack. Er war derjenige, der Sie hierhergebracht hat und seitdem kaum von Ihrer Seite gewichen ist. Nachts hat er ihr Fieber behandelt und Sie warmgehalten.“

Letty erinnerte sich, dass der älteste Warriner letzte Nacht neben ihr auf dem Boden geschlafen hatte. Offenbar hatte er also mehrere Nächte dort verbracht. „Dann werde ich auch ihm danken, Doktor Joe, sobald ich ihn wiedersehe.“

Jack war nicht mehr dagewesen, als sie heute Morgen erwachte. Letty war erleichtert darüber, denn Jack Warriner war scharfsinnig. Ob er wirklich so ein guter Mann war, wie seine beiden jüngeren Brüder behaupteten, würde sich noch herausstellen. Weder Jacob noch Joe Warriner waren bei ihren Antworten zurückhaltend gewesen, als sie sie mit unzähligen Fragen bombardiert hatte. Dank ihnen wusste Letty nunmehr mit Sicherheit, dass sie keine Gefangene in diesem Haus war. Jack Warriner hatte sie auf der Straße gefunden und mit nach Hause genommen. So hatte er ihr das Leben gerettet.

Zu Hause war ein vierhundert Jahre altes Herrenhaus, umgeben von dreißig Morgen Park und landwirtschaftlich genutzten Flächen, hauptsächlich Ackerland. Die Warriners bauten Weizen an und hielten Schafe, und sie bewegten sich nicht in denselben Kreisen wie Bainbridge und ihr zweifelhafter Onkel. Offenbar war nur der Zweitälteste, Jamie, jemals zu einem kurzen Besuch in London gewesen. Darum würde keiner von ihnen wissen, wer sie war.

Die Brüder arbeiteten selbst auf ihrem Land, außer Jamie, der erst kürzlich aus dem Krieg heimgekehrt war. Er musste sich immer noch von den Wunden erholen, die Napoleons Armee seinem Körper zugefügt hatte. Alle drei jüngeren Brüder hatten enormen Respekt vor Jack. Das sah man an ihren leuchtenden Augen, wenn sie ihn im Gespräch erwähnten. In allen wichtigen Angelegenheiten verließen sie sich auf ihn.

Die Warriners waren äußerst loyal zueinander und beschützten sich gegenseitig. So einen Familienzusammenhalt hatte Letty nie erfahren, obwohl sie sich immer danach gesehnt hatte. Sie liebten einander, das war ganz offensichtlich, und sie beneidete sie ein wenig dafür. Es musste schön sein zu wissen, dass immer jemand für dich da war, dir half oder dich tröstete in schwierigen Zeiten. Immer jemanden zu haben, zu dem man gehen konnte. Letty hatte niemanden mehr. Ihre Eltern waren viel zu früh gestorben – als sie siebzehn gewesen war. Sie hatte keinen Menschen mehr auf der Welt, der ihr nahestand, und niemand hatte wirklich Mitleid mit ihr. Schließlich war sie die Tee-Erbin. Als könnte das Geld ihr gebrochenes Herz heilen, ihre Einsamkeit beenden und die Welt wieder zu einem helleren Ort machen.

Sollte einem der Brüder etwas zustoßen, würden die übrigen Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um alles in Ordnung zu bringen, oder sie würden einander unterstützen in ihrer Trauer. Sie war seit Tagen aus Mayfair verschwunden, aber sie bezweifelte, dass irgendjemand sie vermisste. Einer ihrer sogenannten Freunde machte vielleicht auf einem Ball oder Nachmittagstee zu einem anderen eine Bemerkung über ihre Abwesenheit, mehr nicht. Sie hatte auch keine wirkliche Freundin, denn Letty wusste nicht, wie man eine Freundin fand. Nie hatte jemand vermutet, sie könnte jemanden brauchen. Sie besaß mehr Geld, als sie in ihrem ganzen Leben ausgeben konnte, und doch beneidete sie die Warriners.

Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass das Leben der Familie nicht einfach war – obwohl niemand etwas Dahingehendes auch nur angedeutet hätte. Sie vermutete, der Grund dafür, dass Joe sich noch nicht als Doktor qualifiziert hatte, war rein finanzieller Natur.

Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man Menschen in Geldnöten leicht für sich gewinnen konnte. Ihr Vater hatte des Öfteren von den Vorteilen gesprochen, wenn man „ein paar Hände schmieren“ konnte. In ein paar Wochen würde sie ganz einfach die Taschen aller vier Warriners mit Gold füllen, und ihre eigenen Reserven wären nicht einmal angekratzt.

Doch da sie dringend Geld brauchten, wäre es durchaus möglich, dass man sie bei passender Gelegenheit an Bainbridge verkaufte. Immerhin konnte der Earl sofort bezahlen, während Letty noch wochenlang warten musste, bis sie über ihr Geld verfügen konnte. Sie hatte bereits einen Termin mit ihrem Anwalt für den Tag ihres Geburtstags vereinbart. Dann würde sie die Papiere unterzeichnen, die ihr die langersehnte Unabhängigkeit brachten. An dem Tag wollte sie auch eine große Summe an die wohltätige Stiftung überweisen, die sie gründen wollte. Dann würde sie ein neues Leben beginnen, das einem nobleren Zweck diente als ihr bisheriges Luxusleben.

Ihr Onkel hatte grundsätzlich abgelehnt, dass sie Geld für gute Zwecke spendete. Sie durfte es nur für Kleider und Luxusartikel ausgeben, die sie nicht brauchte und schon lange nicht mehr wollte. Aber an jenem wundervollen Tag in einem Monat würde sie damit tun können, was ihr beliebte. Hoffentlich konnten die Warriners so lange warten.

Es störte sie, dass man die Bediensteten von ihr fernhielt. Wollten die Brüder ihre Anwesenheit hier geheim halten? Aus welchem Grund? Hatten sie finstere Absichten? War es zu Lettys Schutz oder zu ihrem eigenen? Ihr Hauptproblem war es, herauszufinden, ob sie der Familie vertrauen konnte.

Bis dahin war es wahrscheinlich am besten, einen Fluchtweg auszukundschaften. Sobald Joe draußen war, um ihr mehr Tee zu holen, schwang Letty die Beine über den Bettrand. Vorsichtig testete sie ihr Gewicht auf dem Bein mit dem lädierten Knöchel. Dann humpelte sie zu dem Fenster mit den bleigefassten Scheiben, um einen Blick nach draußen zu werfen.

Markham Manor lag im finstersten, feuchtesten und kältesten Teil von Nottinghamshire. Auf einer Seite wurde das Anwesen von dichtem Wald begrenzt. Die äußere Grenze verlief entlang des Flusses Idle. Also mussten Bainbridge und seine Häscher ein Boot nehmen und sich ihren Weg durch die Bäume bahnen, wenn sie nicht vom Osten her über die schmale unbefestigte Straße kamen, auf der ihr Retter sie gefunden hatte. Diese endete hier vor der Tür.

In der Ferne konnte Letty gerade noch die hohe Mauer ausmachen, die das Land der Warriners eingrenzte, wie sie nunmehr wusste. Sie wusste auch, dass die großen Tore geschlossen worden waren. Ein kleines Stück weiter, gut versteckt hinter dichten Rankgewächsen, befand sich ein kleineres Tor, eine geheime Fluchtmöglichkeit – das hatte Jack nebenbei erwähnt. Es klang sehr mittelalterlich und irgendwie romantisch. Die Warriners von früher mussten so etwas wohl gebraucht haben. Es gab Letty ein wenig Sicherheitsgefühl. Seit drei Tagen war sie nun schon hier, und bisher war noch kein Fremder aufgetaucht. Je mehr Zeit verging, so hoffte sie, umso weniger wahrscheinlich wurde es, dass doch noch jemand kam.

Gleich unter ihrem Fenster war ein gepflasterter Hof, auf dem sie einen großen eisernen Pumpenschwengel sah, daneben standen Eimer, die unordentlich übereinandergestapelt waren. Ihr Schlafzimmer musste folgerichtig gegenüber der Küche liegen, im hinteren Bereich des Hauses. Ein Sprung aus dem Fenster auf den Hof würde Verletzungen nach sich ziehen, aber vermutlich nicht tödlich enden. Neben dem Fenster befand sich ein Spalier, das dicke Zweige von Blauregen trug, die jetzt im Winter kahl waren. Wenn nötig, könnte sie sich daran langsam herablassen und dann in den Wald laufen.

Da sie jetzt wusste, dass die Umgebung sicher war, drehte Letty sich um und humpelte auf die Schlafzimmertür zu, um sich einen Überblick über den Grundriss des Hauses zu verschaffen. Plötzlich ging die Tür auf, und Jack Warriner trat ein.

Beide blieben wie angewurzelt stehen.

Sie hatte sein Hemd an. Das hätte ihn nicht weiter verwundern sollen, weil sein Bruder es ihr angezogen hatte, bevor sie sie in Jacks Schlafzimmer brachten. Nur dort war es einigermaßen wohnlich, während in allen anderen Räumen Schimmel die feuchten, rissigen Wände überzog. Ihr Anblick war für ihn schlichtweg überwältigend. Sie hatte Beine. Wunderschön geformte weibliche Beine, die von dem Hemd nur bis zur Mitte des Oberschenkels bedeckt wurden. Und das wundervollste goldene Haar, das Jack jemals gesehen hatte. Eine Fülle dichter Ringellocken fiel ihr über die Schultern, und kurze Löckchen rahmten ihr Gesicht ein. Die Worte erstarben ihm in der Kehle, seine Augenbrauen schossen nach oben, als er das schöne Geschöpf vor sich anstarrte.

Smaragdgrüne Augen blickten ihn erstaunt an, dann hockte sie sich hin und versuchte, ihre Schenkel mit den Armen zu bedecken. „Würden Sie sich bitte umdrehen!“, rief sie, und er kam wieder zu Sinnen.

„Ja, natürlich! Entschuldigung!“ Jack drehte sich rasch zur Tür – dankbar, dass er wieder zu Atem kommen konnte.

Eine Frau war in seinem Schlafzimmer.

Nachdem er ihre Beine gesehen hatte, konnte er an sie nicht mehr als Patientin denken. Seit seine Mutter vor zehn Jahren gestorben war, war keine Frau mehr in Markham Manor gewesen. Er konnte sich kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal die nackten Beine einer Frau gesehen hatte. Im Mai? Im letzten Frühling in Lincoln? Damals hatte er allerdings die Beine der Schankmagd nicht weiter beachtet. Er hatte noch vor der Dunkelheit heimfahren müssen und war mehr mit anderen Körperteilen der Frau beschäftigt gewesen. Vielleicht hätte er besser hinschauen sollen, denn sicher war ein Paar Beine wie das andere, oder? Woran lag es, dass er diese speziellen Beine so anziehend fand?

Er hörte, dass sie wieder ins Bett kletterte und dann das Rascheln der Decke, als sie sich damit zudeckte. „Sie können sich jetzt umdrehen, Mr. … Jack.“

Als er sie nun so sauber, aber verwuschelt im Bett sitzen sah, wurde alles noch schlimmer, und er merkte, dass seine Hose ungemütlich eng wurde. Diese Frau sah so verführerisch aus wie das Fenster einer Bäckerei, und … bei Gott … er wollte von ihr kosten. Doch er hatte keine Zeit zu vergeuden mit solch unerwarteten Gelüsten. Sie stand unter seinem Schutz, und er wusste, dass ihr Gefahr drohte.

„Wir müssen uns unterhalten … Violet.“

Ihre schönen Augen wurden ganz groß, als sie ihren richtigen Namen hörte, und nun wusste Jack ganz sicher, dass sie sparsam mit der Wahrheit umgegangen war. Doch er konnte ihr deswegen nicht böse sein, denn an ihrer Stelle hätte er vielleicht dasselbe getan.

„Im Dorf sind Fremde, die nach Ihnen suchen.“ Ein Ausdruck äußersten Schreckens erschien auf ihrem Gesicht. „Wir haben ihnen nicht gesagt, dass Sie hier sind. Ich hielt es für klüger, zuerst mit Ihnen zu sprechen, bevor ich etwas verrate.“

Erleichtert sank sie fast in sich zusammen. Bei dieser Bewegung fiel der offene Halskragen des viel zu großen Leinenhemdes zur Seite und entblößte ihre glatte, helle, weibliche Schulter. Jacks Lenden zogen sich wieder zusammen, und um es nicht zu zeigen, ließ er sich schwer auf der Matratze vor ihr nieder. „Es ist an der Zeit, dass Sie mir die Wahrheit sagen, finde ich. Sie nicht auch?“

Sie neigte zustimmend den Kopf. Die goldenen Locken neben ihrem Gesicht wippten. Er unterdrückte den Wunsch, eine davon zu berühren. Er hätte ihre Haare sehr gern gestreichelt, weil er wissen wollte, ob sie wirklich so seidig waren, wie sie aussahen. Sie knabberte unwohl an ihrer Unterlippe und lenkte so seinen Blick auch dorthin. Ihre Lippen waren rosig und prall und bereit für einen Kuss. Aus irgendeinem Grund spürte Jack das unerklärliche Verlangen, sie zu küssen. Er würde es natürlich nicht tun. Das arme Mädchen war sowieso schon verängstigt genug. Das Letzte, was sie brauchte, war seine ungezügelte und völlig unangebrachte Lust.

„Wie viele Männer?“

„Drei. Die übrigen sind weitergefahren, um Sie zu suchen, obwohl ich annehme, dass auch sie nicht weit entfernt sind. Es gibt nicht viele Dörfer in diesem Teil des Landes. Sie behaupteten, von Ihrer Familie beauftragt worden zu sein.“

Ihre Miene sah plötzlich hart aus. „Im Grunde genommen stimmt das.“

„Sie behaupteten auch, Sie seien entführt worden, obwohl ich annehme, dass Sie lieber nicht wieder zurückwollen …?“

Er sah mehrere Gefühle auf ihrem Gesicht miteinander ringen. Angst, Verwirrung und endlich Resignation. Sie schaute ihn äußerlich gelassen an. „War bei diesen Männern ein älterer Mann? Grauhaarig mit einem altmodischen Zopf?“

Jack schüttelte den Kopf. „Nein. Der Mann, mit dem ich sprach, nannte sich Mr. Smith. Er hatte eine lange Narbe auf der Wange.“

„Layton. Er heißt Layton. Er arbeitet für den Earl of Bainbridge.“ Sie setzte sich weiter zurück in die Kissen, zog die Knie vor die Brust und legte die Arme darum. Es schien eine unbewusste Geste zu sein. Wahrscheinlich wollte sie sich vor dem schützen, was diese Männer ihr antun wollten.

Es berührte ihn tief. Ein ursprüngliches und irgendwie sehr männliches Gefühl. Er wollte plötzlich Drachen für sie erschlagen – eine lächerliche Vorstellung, die aus dem Nichts kam und ihn fast überwältigte. Es war immer noch möglich, dass sie ihn anlog, doch es machte keinen Unterschied. Er hatte plötzlich den dringenden Wunsch, ihr tapferer Ritter und Held zu sein. Was war los mit ihm? Sonst war er nicht so überspannt. Solche Gefühle für eine Frau hatte Jack noch nie gehabt. Er mochte Frauen … aber immer auf eine bodenständige Art. Er war kein Romantiker. Obwohl das Gefühl wohl bereits in ihm geschlummert haben musste, wenn er sich plötzlich als ihren Helden sah.

Vielleicht lag es an ihrem goldenen Haar, denn er hatte schon immer eine Schwäche für Blondinen gehabt. Die Beine waren natürlich ein Bonus, und dann kam noch erschwerend hinzu, dass sie in seinem Bett lag … und ihn anblickte mit ihren schönen grünen Augen. Einige Augenblicke lang betrachtete sie ihn nachdenklich, dann seufzte sie.

„Letty ist mein wirklicher Name. Zumindest möchte ich am liebsten so genannt werden, weil meine Mutter mich als Kind immer so nannte. Aber eigentlich lautet mein voller Name Violet Dunston.“ Sie hielt kurz inne, als müsste der Name ihm etwas sagen, und als es nicht so war, schien sie ein wenig überrascht zu sein. „Meine Eltern starben vor einigen Jahren bei einem Kutschenunfall, und seitdem stehe ich unter der Vormundschaft des Bruders meines Vaters. Obwohl ich meinem Onkel nie sehr nahestand, hatte ich nie Grund zu der Annahme, dass er mir Böses wollte. Er zog in mein Haus, um seine Vormundschaftspflichten zu erfüllen, aber davon abgesehen, hatten wir wenig miteinander zu tun.

Vor wenigen Wochen stellte er mich dem Earl of Bainbridge vor, der alt genug ist, um mein Großvater zu sein, und offenbar den Wunsch geäußert hatte, mich zu heiraten. Wie nicht anders zu erwarten, war ich nicht angetan von dem Antrag und lehnte ihn ab. Bainbridge ist ein widerwärtiger Mann, der bereits zwei Ehefrauen unter die Erde gebracht hat, und man sagt von ihm, er sei ein furchtbarer Glücksspieler. Ich war erstaunt, dass mein Onkel einen solchen Antrag überhaupt in Erwägung zog. Dennoch setzte er mich gnadenlos unter Druck, den Mann zu heiraten. Weil er sein Freund sei, so ließ er mich glauben. Wir stritten immer wieder darüber, aber schließlich ließ mein Onkel in seinen Bemühungen nach. Ich nahm an, ich hätte ihn davon überzeugt, dass der Earl of Bainbridge der letzte Mann auf Erden ist, den ich jemals heiraten würde. Unglücklicherweise irrte ich mich.“

Schon der Gedanke an den Vertrauensbruch ihres Onkels machte sie wieder wütend. Die ganze Zeit hatte er ihr vorgemacht, nur das Beste für sie im Sinn zu haben … doch auch er hatte es nur auf ihr Vermögen abgesehen, so wie jeder andere Mann, der an ihre Tür klopfte.

„In der fraglichen Nacht hatte ich mich gerade umgezogen, um auf einen Ball zu gehen, und wartete auf die Kutsche. Mein Onkel bat mich vorher noch um ein Gespräch und bot mir ein Glas Wein an, das ich dummerweise trank. Es war mit Laudanum versetzt. Als Bainbridge ankam, war ich kaum noch bei Bewusstsein, aber ich hörte trotzdem, worüber die beiden sprachen. Der Earl hatte ihm versprochen, ihm die Hälfte meines Vermögens zu geben für eine Heirat mit mir. Zahlbar, sobald Bainbridge den gesetzlichen Zugriff auf mein Vermögen haben würde. Es ist zurzeit noch in einem Fonds angelegt, bis ich volljährig bin. Ich wurde gefesselt und in eine Kutsche getragen, um nach Gretna Green zu fahren.

Als ich erwachte, waren wir unterwegs auf der Straße nach Norden. Ich sagte Bainbridge, dass kein Gericht der Welt eine erzwungene Eheschließung anerkennen würde. Ich drohte damit, die beiden verhaften zu lassen und vor Gericht zu bringen und dass ich Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um diese Scheinehe annullieren zu lassen, falls es doch dazu kam.“ Ihre Stimme schwankte, denn Letty konnte es selbst immer noch kaum glauben. „Er lachte und meinte, er habe nicht die Absicht, mich länger als nötig Fesseln tragen zu lassen. Nur so lange, bis er per Gesetz mein großartiges Vermögen in die Finger bekäme, und …“, ihre Stimme versagte fast, „… er sagte, wenn ich nicht nachgäbe und ihm weiter das Leben schwermachte, habe er keine andere Wahl. Ich würde Probleme haben, meine Eheschließung aus dem Grab annullieren zu lassen.“

Jack Warriner zog die dunklen Augenbrauen zusammen, während er zuhörte. Doch sie konnte nicht erraten, was er dachte. Der Ausdruck auf seinem sehr attraktiven Gesicht war undurchdringlich.

„Also sind Sie entführt worden?“

Letty nickte. „Ja. Allerdings mithilfe meiner eigenen Familie. Wenn sie mich finden, wird Bainbridge mich nach Gretna Green verschleppen. Und sobald wir verheiratet sind, steht ihm nach dem englischen Gesetz mein gesamtes Vermögen zu.“

„Und dann wird Ihr Onkel davon die Hälfte bekommen?“

„Mein Vater ließ ihn in seinem Testament leer ausgehen. Er setzte ihn lediglich als meinen Vormund ein und verlieh ihm als einem der Treuhänder eine gewisse Kontrolle über das Geld. Sobald ich einundzwanzig bin, fällt der Zugriff auf mein gesamtes Erbe an mich. Der Blutzoll dafür, dass er seine Nichte an Bainbridge verkaufte, ist offenbar angenehmer für meinen Onkel, als den Rest seines Lebens in Geldsorgen zu verbringen.“

Jack stand auf und durchbohrte sie fast mit dem wilden Blick seiner blauen Augen, der nichts über seine wirklichen Absichten verriet.

„Ich muss mit meinen Brüdern sprechen.“

Damit stürmte er zur Tür.

6. KAPITEL

Noch dreißig Tage und zwölf Stunden …

Violet Dunston?“, rief Jacob und machte ein entgeistertes Gesicht, als seine drei Brüder ihn verwundert anstarrten. „Ernsthaft? Lest ihr drei eigentlich nie die Zeitung?“

„Ich habe keine Zeit zum Lesen.“ Wenn Jack mit seinen nie endenden täglichen Pflichten fertig war, konnte er meistens kaum noch stehen, geschweige denn lesen.

„Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass Miss Dunston in der Zeitung erwähnt wird. Sie ist der Liebling der Gesellschaft. Die Tee-Erbin.

Jack verlor allmählich die Geduld. „Erspare uns dieses Theater, Jacob, weil offensichtlich keiner von uns weiß, wovon du eigentlich sprichst, und erlöse uns von unserer Unwissenheit.“

Jacob beugte sich über den zerkratzten Tisch nach vorn, als wollte er eine große Weisheit von sich geben. „Die Familie Dunston war ein sehr wichtiger Tee-Importeur. Und mit wichtig meine ich, dass sie damit Geld wie Heu verdienten, bevor der alte Dunston sein Geschäft für eine Riesensumme verkaufte. Ich glaube, er ist vor einigen Jahren gestorben. Violet ist die einzige Erbin des gesamten Vermögens. Mit allem, was dazugehört. Sie wird gerühmt für ihre Schönheit, und da ich sie nun gesehen habe, muss ich dem beipflichten.“ Der Ausdruck männlicher Selbstgefälligkeit erschien auf Jacobs und Joes Gesichtern. Jack empfand plötzlich einen kleinen Stich – Eifersucht etwa? –, aber er hielt den Mund. Seine Geschwister hatten Augen. Der Gedanke daran, dass seine Brüder Lettys herrliche Beine sehen könnten, störte ihn besonders. Er musste schnellstens passende Kleidung für sie finden. Irgendetwas Unförmiges, Weites, das ihre Formen verdeckte. Widerwillig widmete er seine Aufmerksamkeit wieder seinem jüngsten Bruder.

„Die Klatschspalten sind voller Spekulationen darüber, mit wem sie sich wohl vermählen wird. Alle reden darüber. Die Gentlemen in London sind angeblich wie verrückt hinter ihr her.“

Jamie war wie immer am wenigsten beeindruckt. In scharfem Ton sagte er: „Kein Wunder, wenn das Mädchen so unanständig reich ist. Ich denke, dass jeder – nicht nur ihr Onkel und der Earl of Bainbridge – das viele schöne Geld gern in die Hand bekäme. Sie könnte ein Gesicht haben wie ein Pferdehintern, und trotzdem würde jeder sie heiraten wollen.“

„Das ist wahr“, stimmte Jacob zu, „aber es sind nicht nur Glücksjäger hinter ihr her. Es sind auch einige reiche Peers dabei. Ich habe gelesen, dass sogar der berühmte Duke of Wentworth seinen Hut in den Ring geworfen hat. Er ist so reich wie Krösus und kann jede Lady haben, die er will. Sie ist auch berühmt für ihren Charme – man sagt, Miss Dunston sei ein Diamant erster Güte. Eine Unvergleichliche.“

Bei Letty standen also die begeisterten Bewerber Schlange – zahlungskräftige Bewerber. Wenn Jack noch einen Beweis gebraucht hätte, dass er den falschen Baum anbellte, dann hätte er ihn jetzt gehabt. Sie würde einem einfachen Warriner keinen zweiten Blick gönnen, außer wenn sie ihn zu ihrem Schutz brauchte. Sie stand so hoch über ihm, dass er eine Leiter brauchen würde, um sie zu erreichen. Eher zwanzig Leitern. Nicht, dass er sich Hoffnungen auf etwas anderes gemacht hätte, und seine Lust war eine ganz natürliche männliche Reaktion gewesen auf eine schöne Frau. Selbst in ihrem derzeitig lädierten und derangierten Zustand war Letty wirklich sehr schön. Seine unmittelbare physische Reaktion war daher ganz verständlich, und Jack war zu pragmatisch veranlagt, um enttäuscht zu sein. Er hatte schon zu viele Probleme, um bei einer Frau etwas anderes zu erwarten als das, was über das rein Körperliche hinausging. Schon seit seiner Geburt hatte er ein sehr starkes Verantwortungsgefühl. Daher kamen wahrscheinlich die Beschützergefühle ihr gegenüber. Sie war eine Jungfer in Nöten. Wegen seiner Mutter hatte er eine empfindliche Stelle, wenn es um so etwas ging. Er hatte Letty auf dem Weg zu seinem Haus gefunden. Und bis er sie sicher in ihr Haus in Mayfair zurückbringen konnte, stand sie unter seinem Schutz und war sein Problem, so wie seine Mutter es gewesen war.

„Wir werden sie so schnell wie möglich zu ihren Leuten in London bringen müssen, da ihr Leben in Gefahr ist. Es muss noch andere Angehörige geben, die sie beschützen können, während ihr Onkel und Bainbridge zur Rechenschaft gezogen werden.“

„Es ist noch zu früh, sie kann noch nicht reisen.“ Joe schüttelte resolut den Kopf. „Gestern hatte sie noch hohes Fieber. Sie braucht noch einige Tage, bis sie sich ausreichend erholt hat.“

„Ich hatte nicht vor, sie sofort auf Reisen zu schicken. Solange dieser Layton und seine Spießgesellen sich noch im Dorf aufhalten, würde das ihr Misstrauen wecken. Ich werde ihr Leben und unseres nicht durch vorschnelles Handeln in Gefahr bringen. Ich bringe sie zurück, wenn sich der Staub ein wenig gelegt hat.“ Obwohl Jack nicht wusste, wie er für diese unvorhergesehene Reise nach London bezahlen sollte, ohne seine Finanzen allzu sehr zu strapazieren. Doch eine Lösung würde sich gewiss finden lassen. Das gesparte Geld aus der letzten Ernte war schon für das Blei ausgegeben worden, das sie zum Ausbessern des schadhaften Daches im Ostflügel gebraucht hatten. Jeder weitere Penny war schon verplant. Vermutlich konnten sie unterwegs in einem Gasthof übernachten, und auf dem Rückweg würde er gewiss eine ruhige Scheune finden …

„Du solltest aber nicht allein fahren. Das ist zu gefährlich. Ich begleite dich“, verkündete Jamie. Niemand wagte es, seinen geschwächten Zustand zu erwähnen, der eine anstrengende Fahrt eigentlich nicht zuließ. Das hatte er jedoch bereits selbst bedacht. „Ich bin zwar nutzlos zu Fuß, aber ich kann mich noch aufrecht auf einem Pferd halten und schießen, wenn nötig.“ Und keiner sprach über das seltsame Waffen-Arsenal, das ihr Bruder in seinem Zimmer hortete. Jacob wusste außerdem, dass der ehemalige Soldat mit einem Messer unter dem Kopfkissen schlief. „Weiß denn einer von euch, wie man seine Spuren verwischt oder sich etwas zu essen besorgt?“ Er schaute in die Gesichter seiner Brüder und zuckte selbstzufrieden mit den Schultern. „Das dachte ich mir.“

Wie immer, hatte Jamie einen wichtigen Punkt erwähnt. Trotz seiner körperlichen Einschränkungen, wäre er ein nützlicher Begleiter. Ganz besonders, falls die Männer des Earl of Bainbridge beschlossen, sie zu verfolgen. „Nun gut. Dann ist alles geregelt.“ Jack zeigte auf Joe und Jacob. „Ihr beiden bleibt hier und überzeugt die Schurken, dass alle Warriners da sind, wo sie hingehören, sollte jemand nach uns fragen. Noch hat Layton nichts, was uns mit der Frau in Verbindung bringen könnte, und dabei würde ich es auch gern belassen. Jamie und ich bringen sie zurück nach London.“

„Das werden Sie ganz bestimmt nicht tun!“

Letty war zunehmend unruhig geworden, während sie darauf gewartet hatte, dass Jack Warriner zurückkam und sie über ihr Schicksal unterrichtete. Darum hatte sie sich in eine Decke gehüllt und war die knarrende Holztreppe hinabgehumpelt und in die Richtung gegangen, aus der sie männliche Stimmen hörte. Nun sah es so aus, als wäre sie genau im richtigen Moment gekommen. „Ich kann vor dem vierten Januar nicht nach London zurückkehren!“

Jack stand auf und sah sie mit einem stechenden Blick an. „Ihre Familie wird wissen, wie man Sie am besten schützen kann.“

„Meines Wissens besteht meine gesamte Familie nur aus dem einen verräterischen Onkel. Wenn Sie mich zu ihm bringen, unterschreiben Sie damit mein Todesurteil. Ich bin sehr bekannt, und es gibt genügend Leute, die mich für eine Belohnung auf der Stelle verraten und verkaufen würden.“

„Es muss doch wohl jemanden geben, an den Sie sich wenden können?“ Er blickte sie an, als wäre sie ziemlich dumm. Sein überheblicher Ton ärgerte sie.

„Ich glaube, Sir, ich würde es wissen, wenn ich noch andere lebende Verwandte hätte. Oder glauben Sie, ich hätte sie einfach irgendwo verlegt?“ In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, aber sie achtete nicht darauf. „Momentan würde ich mich am liebsten verstecken. Nur ein paar Tage, in denen ich mir überlege, was ich danach tun werde. Könnte ich so lange vielleicht hierbleiben?“ Ohne nachzudenken, warf sie einen Blick durch den kärglichen Raum und lächelte freundlich. „Ich kann auch bezahlen, falls Sie Geld brauchen.“

Die drei jüngeren Warriners schauten sich vielsagend an. Joe zuckte zusammen, Jamie schüttelte den Kopf und Jacob schloss einfach die Augen.

„Ich brauche Ihr verdammtes Geld nicht, Frau!“ Aufgebracht trat Jack auf sie zu. „Wir sind keine Hungerleider, Miss Dunston, und ich verbitte mir diese Andeutung. Solange Sie hier sind, sind Sie unser Gast, und damit ist die Sache erledigt. Sie so schnell wie möglich sicher nach Hause zu bringen, ist das einzig Richtige. Ich kann nicht glauben, dass es in London niemanden geben soll, der um Sie besorgt ist und ein besserer Beschützer wäre als ich. Es muss doch jemanden geben – einen Cousin oder eine gute Freundin vielleicht?“

Sie musste es ihm verständlich machen. „Der Earl of Bainbridge und mein Onkel werden einen Weg finden, mich zum Schweigen zu bringen, wenn sie vermuten, ich könnte noch leben. Ich kenne ihren ruchlosen Plan, erinnern Sie sich? Die beiden dürften inzwischen um ihr Leben fürchten. Verstehen Sie denn nicht? Verzweifelte Menschen greifen zu verzweifelten Mitteln. Wenn ich reise, selbst mitten in der Nacht, ist mein Leben in Gefahr.“ Die Strapazen der letzten Tage hatten sie geschwächt. Letty drückte die Knie durch, damit die Beine nicht unter ihr nachgaben, und stellte sich in stolzer Haltung vor diesen überheblichen Mann, der dachte, er wüsste alles besser. „Sie haben doch selbst gesehen, wozu die beiden fähig sind. Nicht nur mein Leben wäre in Gefahr, Ihres ebenso!“

„Dann ist es beschlossene Sache. Sie bleiben diesen Monat hier“, entschied Jack.

Einen ganzen Monat? Hier? „Wenn ich mich ganz erholt habe, suche ich Zuflucht bei den örtlichen Behörden. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass Sie und Ihre Brüder sich dieser Gefahr aussetzen.“

„Ich schätze die Behörden in Nottingham nicht besonders. Wenn sie erfahren, dass Sie hier bei der Warriner-Familie sind, wird man Sie nicht mit der Aufmerksamkeit behandeln, die Ihre Umstände erfordern. Ich glaube, ich kann Sie und meine Brüder einen Monat lang gegen jede Bedrohung beschützen, Miss Dunston.“ Letty wollte ihn unterbrechen, aber er hielt sie mit einer Geste zurück. „Ich habe mich entschieden, mein Entschluss steht fest. Bis ich Sie nach London zurückbringen und die dortigen Behörden über Ihre Situation informieren kann, bin ich für Sie verantwortlich, und Sie müssen sich meinen Regeln unterwerfen.“

„Aber Sie sind vier Männer, Mr. Warriner! Vier Männer – und ich bin nur eine Frau.“ Letty hatte vernünftig klingen wollen, aber ihre Worte kamen viel zu schrill heraus. Sie hatte vorgehabt, ein paar Tage hierzubleiben, nicht mehrere Wochen. Wenn man sie je hier entdeckte, wäre ihr guter Ruf für immer dahin.

„Aber hier sind Sie sicherer, als Sie es draußen wären!“

Ein wichtiger Gesichtspunkt. Sie dachte an die hohen Mauern und die isolierte Lage. Niemand wusste, dass sie hier war. Es war im Prinzip eine gute Idee, aber sie musste vorsichtig sein. „Nur unter der Bedingung, dass ich Ihnen Ihre Ausgaben vergüten darf.“ Ihr Geld würde ihr die Oberhand über diesen herrischen Mann geben, den sie kaum kannte.

Jacks zornige Miene sprach Bände. „Das steht außer Frage.“

Letty schüttelte trotzig den Kopf, aber davon wurde ihr so schwindlig, dass sie sich am Türrahmen festhalten musste. „Ich will nicht in Ihrer Schuld stehen, Sir. Sie haben schon so viel für mich getan, und ich kann es mir leisten.“

Die drei sitzenden Warriners schauten betreten ihre Fußspitzen an. Offenbar hatte sie wieder das Falsche gesagt, denn Jack kam abermals drohend auf sie zu.

„Ich will kein Geld für eine gute Tat, Madam. Als Herr dieses Hauses trage ich die Verantwortung für Ihre Sicherheit. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, glaube ich wirklich, dass ich das am besten tun kann, indem ich Sie hier verstecke. Sie kehren erst dann nach London zurück, wenn ich es als sicher genug erachte. Es ist entschieden.“

Sie musste ihren ganzen Stolz aufbringen, um nicht in zornige Tränen auszubrechen. „Entschieden? Habe ich nicht über meine Zukunft mitzubestimmen?“ Diese Vorstellung war mehr als lächerlich. Doch er schaute ungerührt zurück, seine stahlblauen Augen zeigten kein Gefühl.

„Ich bin kein Kind mehr, Mr. Warriner, und auch keine Sache. Ich kann sehr gut für mich selbst sorgen. Sie haben nicht das Recht, mir etwas zu befehlen.“

Er zog die dunklen Brauen über den blauen Augen zusammen. Letty beschloss, dass jetzt der richtige Moment für ihren Abgang gekommen war. Die Zimmerwände hatten zu schwanken begonnen und neigten sich gefährlich, als sie sich umdrehte, um wieder nach oben zu gehen. Zwei Schritte schaffte sie, dann wölbte sich ihr der Boden entgegen. Ihre Knie gaben nach, und sie sank auf dem Boden zusammen. Ärgerlicherweise fing ausgerechnet Jack sie auf und hob sie auf seine starken Arme, als wäre sie leicht wie eine Feder. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck eines missverstandenen Vaters.

„Joe?“

„Sie ist immer noch geschwächt von der erlittenen Tortur – sie hätte noch nicht aufstehen dürfen. Kein Wunder, dass sie in Ohnmacht gefallen ist.“

Jack würdigte seinen Bruder keiner Antwort, sondern wandte sich nur um und trug Letty rasch zur Treppe. Sie fand es befremdlich, so nah an seinem Körper gehalten zu werden. Seltsamerweise war es nicht unangenehm. Sie fühlte sich beschützt und törichterweise sogar beeindruckt von seiner Stärke und dem sehr männlichen Körper. Und sein Geruch war sündhaft gut. Es war ein würziger, frischer und männlicher Duft, den Letty tief einatmete, während sie ihr Gesicht an seinen Hals drückte „Sie können mich loslassen. Ich schaffe es jetzt allein.“ Sie wollte sich nicht an ihn drücken. Er war ihr viel zu … herrschsüchtig und unnachgiebig.

Seine ärgerlich schönen blauen Augen waren für einen Augenblick auf sie gerichtet. „Wir wollen doch nicht, dass Sie wieder ohnmächtig werden, Letty, oder?“ Der bloße Gedanke schien ihn zu belustigen, was sie natürlich wütend machte.

„Ich bin keine Frau, die zu Ohnmachten neigt, Mr. Warriner. Das könnte Ihnen jeder sagen, der mich kennt.“ Obwohl von den Menschen, die sie wirklich kannten, keiner mehr am Leben war. Ihre Eltern vor allem. Alle anderen sahen nur das, was sie sehen wollten. „Wenn ich nicht stundenlang im Regen durch einen eiskalten Wald hätte laufen müssen, nachdem ich gefesselt, geknebelt und entführt worden war, wäre es auch heute nicht passiert.“

Er schaute offenbar gelangweilt geradeaus und betrat die Treppe.

„Sind Sie zu stolz, um mich für Ihre Dienste bezahlen zu lassen?“

Schweigen.

Jetzt war der richtige Zeitpunkt, wieder die selbstbewusste Violet Dunston herauszukehren. Immer, wenn sie gegen eine Wand redete – und Jack Warriner war eindeutig eine große, breite Wand –, dann war es Violet bisher immer gelungen, sie mit ihrem Charme leise einzureißen. Sie konnte sich von diesem sturen Mann nicht einen ganzen Monat lang herumkommandieren lassen.

Letty legte ihm eine Hand sanft auf sein Herz, feuchtete die Lippen an, um sie glänzen zu lassen, und sah ihn durch die Wimpern an. Das fanden die Männer entzückend, wie sie wusste. „Vielleicht könnte ich Ihrem Bruder das Medizinstudium finanzieren, Jack?“ Zusätzlich blinzelte sie ein wenig, damit er sehen konnte, wie lang und schön diese Wimpern waren. „Sie würden mir doch gewiss erlauben, aus Dankbarkeit diese kleine Sache zu tun.“ Damit würde sie seine äußerst störende männliche Überlegenheit in Schach halten.

Er sah sie an, und sie war sicher, dass sie unter den Fingern seinen Herzschlag schneller werden fühlte. Doch dann verhärtete sich seine Miene und er zog die Augenbrauen abweisend zusammen. Vielleicht hatte sie die Situation doch ganz falsch eingeschätzt …

„Mag sein, dass meine Brüder sich darin überbieten, Ihnen Ihren Willen zu lassen, Letty. Ich bin auch sicher, dass Sie gewohnt sind, sich in allem durchzusetzen mit Ihrer vielgerühmten Schönheit und den Bergen von Geld. Aber Ihr Schmollmündchen und Ihre süßen Worte werden mich nicht umstimmen. Sie können hierbleiben, solange ich bereit bin, Sie zu beschützen, aber wenn ich entscheide, dass es für Sie sicher ist, nach London zurückzukehren, dann werden Sie gehen. In der Zwischenzeit, Miss Dunston, werden Sie tun, was ich sage, weil ich der Herr dieses Hauses bin, und daran sollten Sie immer denken. Auch wenn Sie mit Ihren hübschen Wimpern flattern, werde ich meine Meinung nicht ändern.“

7. KAPITEL

Noch achtundzwanzig Tage, plus oder minus einige Stunden …

Letty schaute ein wenig verzweifelt in die Truhe voller altmodischer Damenkleidung. Die schweren Brokatstoffe und steifen Röcke in etwas annähernd Tragbares zu verwandeln, würde viele Stunden dauern, obwohl sie mit der Nadel sehr geschickt umgehen konnte. Sie hatte Jacob zum Dachboden geschickt, um ihr etwas zum Anziehen zu suchen, damit sie nicht mehr Jacks Hemden tragen musste. Etwas Besseres hatte er nicht gefunden. Mit erstaunlicher Weitsicht hatte der jüngste Warriner auch den alten Nähkorb seiner Mutter mitgebracht. Da es ihr mittlerweile besser ging, würde sie wenigstens etwas zu tun haben, wenn sie diese Kleider änderte. Joe hatte ihr eigentlich einen weiteren Tag Bettruhe verordnet, aber die brauchte sie wirklich nicht mehr.

„Danke, Jacob. Das kann ich sicher alles gut gebrauchen. Ich habe bisher noch keine Zofe. Da es mir jetzt besser geht – könnte ich bitte eine bekommen?“

„Eine Zofe? Für Sie ganz allein?“

„Ja. Eine Frau, die geschickt mit der Nadel umgeht und mich auch frisieren kann. Und würden Sie der Köchin bitte sagen, das Essen etwas abwechslungsreicher zu gestalten? Der Braten schmeckt immer sehr gut, aber mir fehlt eine Soße dazu. Und das gekochte Gemüse ist immer sehr fade.“

Jacob begann breit zu grinsen. „Ich habe keine Befugnis bezüglich der Angestellten, Letty, oder was das Menü angeht. Sie fragen da besser Jack. Er organisiert hier alles.“ Seine Augen funkelten. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie benötigen?“

„Eine Tasse Tee wäre nett, Jacob. In einer halben Stunde? Und ob Sie wohl auch etwas Kuchen dazu bringen könnten?“

„Ich will sehen, was ich tun kann, Letty.“

Als sie wieder allein war, fand Letty die Stille in ihrem einsamen Zimmer ziemlich bedrückend. Sie war inzwischen mehr als gelangweilt im Bett. Sicher hatte Jack sie ins Bett verbannt, um sie aus dem Weg zu haben.

Ihre einzige Gesellschaft waren hin und wieder Joe oder Jacob Warriner. Sie kamen immer nur kurz, wenn sie nicht anderweitig beschäftigt waren. Sie brachten ihr Tee oder Bücher oder was sie sonst noch wünschte, aber diese Besuche fanden selten und in großen Abständen statt. Mit dem mürrischen Jamie hatte sie bislang noch nichts zu tun gehabt, und den Herrscher des Hauses hatte sie nur noch von Weitem gesehen, seit er sie ohne viel Federlesens vor zwei Tagen auf dem Bett abgeladen hatte, nachdem ihr Versuch fehlgeschlagen war, ihn sich gefügig zu machen.

Es war ziemlich peinlich gewesen, dass er ihren Annäherungsversuch gleich durchschaut hatte. Gewöhnlich umschwirrten die Männer Letty, um ihr jeden Gefallen zu tun, ohne dass sie dafür zu den Waffen einer Frau greifen musste. Sie brauchte nur einen scheuen Blick auf jemanden zu werfen und mit den Wimpern zu flattern, und schon bemühte sich selbst ein hartgesottener Gentleman um ihre Gunst. Jack hatte sich jedoch ablehnend verhalten, und sie war sich wie eine Närrin vorgekommen. Plötzlich war ihr Pulsschlag in die Höhe geschossen, obwohl sie versucht hatte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

In Jacks Armen zu liegen, war sehr aufregend gewesen. Sie hatte sich beschützt gefühlt, zerbrechlich und – trotz seines grimmigen Gesichtsausdrucks – wie etwas Besonderes. Das war ärgerlich, weil sie fest entschlossen war, unabhängig zu sein. Doch als sie Jacks feste, warme Brust berührt hatte, war es fast berauschend gewesen für sie. So eine Reaktion auf einen Mann hatte Letty noch nie erlebt. Sie hatte plötzlich den Wunsch verspürt, ihm die Arme um den Hals zu legen, um zu erfahren, ob das so wundervoll war, wie sie es sich vorstellte. Sie hatte sich ganz dicht an ihn schmiegen und von seinen herrlich muskulösen Armen umfangen lassen wollen. Und sich ohne Scham in den Tiefen seiner schönen blauen Augen verlieren …

Schluss damit, Letty! Sie überließ sich leider nur zu gern ihrer Fantasie und törichten Tagträumen. Doch das war absolut lächerlich, wenn es in diesen Gedanken um einen Mann ging, der sie nur als weitere Belastung empfand und den ihre weiblichen Reize nicht interessierten. Jack Warriner war nicht der Typ von Gentleman, den sie sonst bevorzugte. Ja, er war attraktiv – und ja, er war wundervoll kräftig gebaut und gut anzuschauen. Aber er war auch ein sturer, dominanter und unbeugsamer Mann!

Letty musste aufhören, ihre Fantasie ständig zu ihm schweifen zu lassen. Eigentlich wusste sie doch schon lange, welchen Typ von Mann sie bevorzugte – einen ganz anderen als Jack Warriner. Eher jemanden wie den Duke of Wentworth zum Beispiel. Einen echten Gentleman, der selbst ein großes Vermögen hatte. Sein Titel war auch ganz nett. Doch er war ein Sammler schöner Dinge und wollte immer und in allem das Beste haben. Letty konnte den Gedanken nicht von sich weisen, dass er hauptsächlich deshalb an ihr interessiert war, weil man sie in der Gesellschaft als Unvergleichliche titulierte. Wer auch immer ihr zukünftiger Gatte war – er musste sie über alles lieben.

Jack war ein attraktiver, aber selbstherrlicher Bauer, für den sie nichts weiter war als eine unwillkommene Bürde. Sie wollte einen Mann, der sie anhimmelte, nicht in ihre Schranken verwies … oder? Obwohl … Plötzlich dachte sie, es sei doch eigentlich ganz erfrischend, dass er ihr nicht sogleich verfallen war. Sie respektierte seine Charakterstärke, auch wenn sie seine tyrannische Haltung ablehnte. Er faszinierte sie. Zum ersten Mal war sie jemandem begegnet, der völlig unbeeindruckt davon war, dass sie eine reiche Erbin war. Jede Erwähnung ihres Geldes erregte sogar seinen Unmut. Und er sah wirklich sehr, sehr gut aus. Seine Augen … zum Dahinsinken. Und seine Muskeln waren so … so …

Sie musste schnellstens aus diesem langweiligen Zimmer entkommen, sonst würde sie noch komplett verrückt werden. Über Jack Warriners Vorzüge als möglicher Verehrer auch nur nachzudenken …! Er hatte drei ebenso gut aussehende Brüder, von denen zwei ihr altermäßig näherstanden und sehr charmant waren. Wenn sie eine Vorliebe für einen der Warriner-Brüder entwickeln sollte, dann doch wohl besser für den begabten und freundlichen Arzt Joe oder den verschmitzten Jacob, der so gern flirtete. Eigentlich war jeder Warriner besser als Jack.

Seufzend ging sie zu dem großen Kleiderschrank und durchsuchte ihn nach etwas Tragbarem, damit sie endlich dieses Zimmer verlassen konnte. Leider fand sie nichts als weite Hemden, einfache Westen und Kniehosen. Sie schaute sich an, wie groß diese waren, und probierte eine weiche Hirschlederhose an. Sie war viel zu weit in der Taille, aber sonst passte sie einigermaßen. Im Nähkorb fand sie eine Rolle roten Bandes und schnitt sich zwei Stücke ab. Das eine wand sie sich um die Taille, um die Hose zu befestigen, mit dem anderen band sie ihre widerspenstigen Haare zurück. Unter den gegebenen Umständen konnte sie nicht mehr tun. Sie hatte Joe die Bitte ausrichten lassen, man möge für sie ein wenig Putz kaufen. Doch als Antwort war vom Gebieter nur ein kurzes „Sie sind wohl verrückt, Frau“ gekommen.

Nach einigem Nachdenken musste sie zugeben, dass der älteste Warriner zwar ein ziemlicher Plagegeist war, aber durchaus recht hatte. Wenn man für ein Haus, das nur von Männern bewohnt wurde, irgendwelche weiblichen Dinge kaufte, würde das Verdacht erregen. Nun fühlte sie sich wie ein verzogenes, selbstsüchtiges Ding und die Sorte Frau, die sie sonst verachtete.

Aber sie konnte es doch schaffen, oder? Und nutzlos war sie auch nicht. Sie trennte die Ärmel von einem der altmodischen Kleider ab und breitete die Stoffstücke auf dem Boden aus, um sie neu zuzuschneiden.

Jack warf in der Halle seinen nassen langen Mantel ab und eilte nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Nach seinem Ausflug ins Dorf war er sehr beunruhigt. Die Belohnung war von großzügigen hundert auf fürstliche fünfhundert Pfund erhöht worden, und das ganze Dorf war in heller Aufregung. Mehrere Gruppen von Einheimischen zogen auf der Suche durch den Wald und die angrenzenden Gebiete. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand den Weg zu seinem Haus fand.

Obwohl es Jack sehr gegen den Strich ging, sie einen ganzen Monat hier zu verstecken, stand es völlig außer Frage, Letty nun fortzuschicken. Und so gern er es vermieden hätte, noch mehr Zeit in der Gesellschaft der kleinen Hexe zu verbringen, musste er sie von der drohenden Gefahr unterrichten. Bei dieser Gelegenheit wollte er ihr auch einige wichtige Grenzen setzen. Letty Dunston machte seine beiden jüngeren Brüder verrückt mit ihren Forderungen.

Nein, das stimmte so nicht ganz. Seine Brüder sprangen nur zu gern treppauf und – ab, um ihre Wünsche zu erfüllen. Dadurch hatten sie jedoch weniger Zeit für ihre üblichen Pflichten, und Jack musste gezwungenermaßen einspringen. Erst gestern hatte Jacob eigentlich Holz für das Feuer hacken sollen und war stattdessen ins Dorf geeilt, weil Prinzessin Violet Kekse haben wollte.

Kekse! Von Keksen wurde weder das Haus warm noch die Schafe satt. Und offenbar brauchte die Frau ständig Tee, doch wenn man ihr eine volle Kanne brachte, trank sie immer nur eine Tasse. Tee war teuer, Kekse auch, denn die bekamen sie nur in der Dorfbäckerei, weil keiner der Warriners sie backen konnte.

Jack ging der Verführerin lieber aus dem Weg. Dies war das einzig richtige Wort für sie. Jedes Mal, wenn er sie ansah, geriet er in Versuchung. Der Mund wurde ihm trocken, sein Blut geriet in Wallung und er wurde hart. Als er sie nach oben getragen hatte, war ihm sehr wohl aufgefallen, wie ihre schmale Taille sich zu den Hüften hin rundete und wie weich ihr Busen ohne Korsett sich an seinen Körper schmiegte. Letty in sein Schlafzimmer zu tragen, wäre unter anderen Umständen sehr reizvoll gewesen.

Diese Frau war sich ihrer Wirkung auf das männliche Geschlecht sehr bewusst. Wie schamlos sie ihm auf dem Weg nach oben mit den Fingern über die Brust gestreichelt hatte … Sie hatte versucht, ihn zu kontrollieren, und leider hatte sein Körper ihn im Stich gelassen, indem er sofort auf ihre Berührung reagierte. Noch schlimmer war für Jack, dass Bilder von ihr in seine Träume eindrangen und seinen Schlaf störten. Auch seine Arbeit litt darunter. Den ganzen Morgen über hatte Jack an nichts anderes als an diese verflixte Frau denken müssen, und nur ein Bruchteil dieser Gedanken hatte mit ihrer Sicherheit zu tun gehabt. Diese Haare. Diese wunderschönen grünen Augen und – Gott helfe ihm – ihre Beine!

Argwöhnisch schaute er auf die geöffnete Schlafzimmertür. Nun konnte er ihr nicht mehr ausweichen. Sie würden über die Situation reden, und er musste aufhören, ständig an sie zu denken. Jack trat entschlossen ein – und blieb sofort wieder wie angewurzelt stehen.

Diese verdammte Frau würde ihn noch umbringen!

Zuerst waren es ihre zarten, entblößten Schultern gewesen, die ihn verrückt gemacht hatten, dann das geöffnete Haar und die langen Beine, und nun sah er ihr fantastisches Hinterteil in all seiner runden, weiblichen Pracht vor sich. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kniete sie auf dem Boden, statt im Bett zu liegen. Seine Vorstellungskraft konnte mühelos ihre faszinierenden Körperteile Stück für Stück zusammensetzen. Nun würde er noch intensiver an die Teile denken, die er noch nicht gesehen hatte. Und wenn er sich nicht irrte, steckte ihr verführerisches Hinterteil momentan in seiner Hose.

„Ähm.“

Sie drehte den Kopf mit dem goldenen Haar bei seinem Hüsteln zu ihm um und lächelte ihn mit dem Mund voller Stecknadeln an. Ihre Wangen waren auf sehr anziehende Weise leicht gerötet. Er fragte sich, ob das wohl echt war oder ob sie es bloß wieder als weibliches Mittel zu seiner Täuschung einsetzte.

„Ich muss mit Ihnen sprechen.“ Jack blieb steif an der Tür stehen, weil er nicht wusste, ob er eintreten sollte oder nicht. Eigentlich war es ja sein Zimmer, doch solange sie es besetzt hielt, kam es ihm nicht richtig vor, einfach so hereinzuplatzen.

Er schaute ihr zu, wie sie vorsichtig die Nadeln wieder in das alte Nadelkissen seiner Mutter steckte und dann aufstand. „Sprechen Sie, ich bin ganz Ohr.“ Das war sie nicht. Sie war ganz Haare, Beine und Kurven, aber darüber wollte er nicht mit ihr diskutieren. Plötzlich sah das Bett viel größer aus als sonst.

„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Mr. Layton die Belohnung für Sie erhöht hat.“ Jack sah einen Anflug von Angst über ihr Gesicht huschen. Bestürzt stellte er fest, dass sie offenbar vermutete, er habe sie für den höheren Preis jetzt doch verhökert. Als wäre er eine niedrige und unmoralische Kreatur, die so etwas in Erwägung ziehen würde! „Ich brauche Mr. Laytons fünfhundert Pfund nicht, Letty.“ An die zahlreichen dringenden Dinge, die er mit fünfhundert Pfund kaufen könnte, wollte er lieber nicht denken. „Ich verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit.“ Er überging die Tatsache, dass sein Vater das Geld ohne zu zögern eingesteckt hätte, so wie alle seine verstorbenen Vorfahren. Ein moralischer Warriner war eine völlig neue und unerhörte Abnormität. Die Welt war noch nicht bereit dafür, obwohl er bereits seit zehn Jahren versuchte, die Vergangenheit ungeschehen zu machen.

„Ich habe nicht andeuten wollen, dass Sie mich ausliefern wollen, falls Sie das meinen. Ich finde aber, Sie haben eine schlechte Meinung von mir, Jack, und ich weiß ich nicht, womit ich das verdient habe.“

Sie war wirklich verärgert, das konnte er sehen. Ihre Augen schienen noch grüner zu sein, und sie hatte ärgerlich die Brauen zusammengezogen. Nun fühlte Jack sich schlecht wegen seiner unfreundlichen Unterstellungen. Letty wusste nichts von dem schlechten Ruf der Warriners, und er konnte wohl kaum seine ungezügelte Lust als Grund für seine Verstimmung anführen. „Ich entschuldige mich, Letty. Es ist nur so, dass dank meiner Vorfahren jedermann die Warriners für eine Geißel der Menschheit hält. Dieser Ruf wird uns wohl für alle Zeiten anhaften. Es macht mich immer wieder wütend – aber in Ihrem Fall ist es unangebracht.“

Sie lächelte ihn strahlend an. Es war ein echtes Lächeln, das ihre herrlichen Augen leuchten ließ. Ihr Gesicht war nicht mehr nur schön, sondern sah geradezu überirdisch perfekt aus. Für einen Moment war er wie betäubt. „Dann vergebe ich Ihnen, Jack. Vielleicht sollten wir dieses Gespräch von vorne beginnen?“

Oder vielleicht sollte er der Versuchung nachgeben und einfach zu ihr gehen und sie küssen? Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme belegt. „Wegen der höheren Belohnung müssen wir wohl mit Besuchern rechnen, die auch hier nach Ihnen suchen werden. Ich habe meinen Brüdern aufgetragen, die Tore wieder zu öffnen. Aber keine Angst, Letty, nachts werden sie wieder geschlossen. Tagsüber würde es jedoch Verdacht erregen, wenn sie verschlossen wären. Sollte irgendjemand kommen, werde ich mich kooperativ erweisen, sie hereinlassen und mir anhören, was sie zu sagen haben. Während dieser Zeit werden Sie sich jedoch – unter Umständen über längere Zeit – verstecken müssen.“ Das wunderschöne Lächeln verschwand.

„Ich muss also in diesem Zimmer bleiben.“ Letty war dankbar für seinen Schutz, aber wenn sie stundenlang in diesem Zimmer ausharren musste, ohne mit jemandem sprechen zu können, würde sie verrückt werden.

„Nur wenn jemand kommt. Wir werden alle vier abwechselnd oben an der Straße arbeiten. Sollte einer von uns jemanden sehen, würde derjenige die übrigen sofort informieren. Dann müssten Sie wieder nach oben schleichen.“ Er blickte sie ernst an. „Nur für den Fall, dass jemand gewaltsam den Weg über diese Treppe sucht, muss ich Ihnen etwas zeigen.“ Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

Sie gingen ein kleines Stück die Treppe hinab. Vor einem Porträt an der Wand blieb er stehen. Darauf war unzweifelhaft ein Warriner abgebildet – rabenschwarzes Haar, ein attraktives Gesicht, auffallend blaue Augen. „Das ist Sir Hugo Warriner, ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse, wie die meisten meiner Vorfahren. Er ließ die hohe Mauer um unser Haus errichten, als er sich am Komplott der schottischen Königin Mary Stuart gegen Queen Elizabeth beteiligte. Glücklicherweise wurde seine Verwicklung in diesen Hochverrat nie aufgedeckt. Sonst gäbe es mich heute nicht. Der alte Hugo war ein schlauer Bursche, der auch das hier einbauen ließ.“

Fasziniert sah Letty zu, wie er eine Geheimtür in der Eichenvertäfelung öffnete und hineinschaute. „Ein Priesterloch? In dem sich Priester vor Verfolgung schützten?“

„Mehr ein Hugo-Loch.“ Jack grinste so schurkisch wie sein unliebsamer Vorfahr und zeigte seine perfekten weißen Zähne. Irgendwie passte das unverschämte Lächeln sehr gut zu ihm. Plötzlich sah Letty ganz kurz den jungen Mann, den er sonst vor ihr und dem Rest der Welt verbarg.

Wenn Jack Warriner lächelte, war er sogar noch attraktiver, wenn überhaupt möglich, und vom Blitzen seiner tiefblauen Augen wurde ihr so schwindlig wie sonst von Champagner. „Ich bezweifle, dass er ehrenhaft genug war, einen wirklichen Flüchtling aufzunehmen, aber im Laufe der Zeit hat dieser kleine Raum etlichen Warriners als Versteck gedient. Meine Vorfahren hatten ein großes Geschick darin, immer auf der falschen Seite zu stehen. Die Geschichte wimmelt von ruchlosen Warriners. Bisher habe ich noch keinen guten gefunden … aber ich habe noch Hoffnung.“

Letty lachte, wie es an dieser Stelle angebracht war. „Nun, Sie und Ihre Brüder sind gute Männer, darum nehme ich an, dass die Familie sich gebessert hat. Ihr Vater wäre sicher stolz zu wissen, was aus Ihnen allen geworden ist.“

Seine Miene verdüsterte sich kurz. „Das bezweifle ich … Aber ich bin vom Thema abgeschweift. Sollten Sie sich irgendwann bedroht fühlen, Letty, dann verstecken Sie sich hier. Es ist von innen verschließbar. Sie dürfen nicht aufmachen, bis einer von uns Ihnen sagt, dass die Luft rein ist.“ Er schloss die Vertäfelung und blieb steif neben ihr stehen. Er sah Sir Hugos Bild an, nicht sie. „Ich werde Sie immer beschützen, Letty.“

„Ich danke Ihnen, Jack.“ Nach allem, was er bereits für sie getan hatte, konnte sie mit einfachen Worten ihre Dankbarkeit nicht angemessen ausdrücken. Ganz plötzlich war sie gerührt von seiner Freundlichkeit. Ohne nachzudenken, legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Jetzt werde ich sicher besser schlafen.“ Sie sah, wie sein Blick auf ihre Hand fiel.

Der seltsam intime Augenblick war rasch vorüber. Jack nickte nur und ging mit gemessenen Schritten zur Treppe.

8. KAPITEL

Noch fünfundzwanzig Tage …

Als Letty erwachte, beschloss sie, sich nicht mehr wie eine Kranke behandeln zu lassen. Heute würde sie mit den Brüdern frühstücken, ob sie wollten oder nicht, und sie wollte auch das Haus erkunden. Sie war erst einmal unten gewesen, als ihr Schädel noch gebrummt und sie deswegen kaum etwas wahrgenommen hatte. Sie wusste gar nicht, wie es im restlichen Markham Manor aussah. Draußen war es noch dunkel, und bisher war niemand gekommen, um sie zu bedienen. Sie wusch sich mit dem eiskalten Wasser auf dem Nachtschränkchen, dann zog sie die Kniehose und ein frisches Hemd an und band ihre widerspenstigen Haare mit dem roten Band zusammen. Dann tappte sie aus dem Schlafzimmer hinaus und stieg die knarrende Holztreppe hinab.

Die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, aber die Dienstboten hatten keine Kerzen angezündet, um den dunklen Flur zu beleuchten. Auch im Halbdunkel war deutlich zu erkennen, dass es nicht sehr sauber war. Es war zwar nicht richtig schmutzig oder besonders unordentlich, aber alles wirkte vernachlässigt.

Als sie langsam den Flur entlangging, sah sie noch mehr Beweise für die Nachlässigkeit der Dienerschaft. Die Holzvertäfelung hätte dringend gewachst werden müssen, die Teppiche hätten ausgeklopft, die Böden poliert werden müssen. Die schönen Bleiglasfenster bekämen gewiss einen schönen Glanz, wenn man sie mit Essigwasser behandeln würde. Bisher war ihr noch keiner der faulen Diener begegnet, was erstaunlich war. In ihrem Haus in Mayfair führte sie ein strenges Regiment. Ihre Bediensteten arbeiteten ab sechs Uhr morgens.

Auch wenn sie in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts nicht viele Möglichkeiten hatte, um sich bei den Brüdern erkenntlich zu zeigen, konnte sie vielleicht die Dienstboten beaufsichtigen und das Haus auf Vordermann bringen. Und wenn sie erst ihr Vermögen in die Hände bekam, würde sie neue Möbel kaufen und jedem der Brüder ein besonderes Geschenk machen … Sie blieb stehen und seufzte. Damit musste sie unbedingt aufhören. Wenn sie um ihrer selbst willen beliebt sein wollte, dann musste sie aufhören, sich Zuneigung erkaufen zu wollen.

Joe und Jacob mochten sie, zumindest hatte sie den Eindruck. Was Jamie dachte, wusste sie nicht, aber es war ihr auch nicht so wichtig. Doch sie wollte, dass Jack sie gernhatte, da er ihr Retter war. Vielleicht waren diese Gefühle ja ganz normal. Bisher war von ihm jedoch kaum etwas außer Befehlen oder strengen Blicken gekommen. Die meiste Zeit vermittelte er ihr den Eindruck, dass sie ihm eigentlich lästig war.

Soweit sie es beurteilen konnte, war Markham Manor ein bezauberndes altes Haus, das es nicht verdient hatte, so vernachlässigt zu werden. Im Erdgeschoss spannten sich hohe Gewölbedecken, und die alten Eichenpaneele verliehen dem ganzen Haus ein würdevolles Aussehen, das Letty gut gefiel. Wenn man gründlich saubermachte und mehrere Kerzen und frische Blumen aufstellte, würde es gewiss entzückend aussehen.

Letty stieß eine der geschlossenen Türen auf, die sich rechts und links in dem langen Korridor befanden. Erstaunt stellte sie fest, dass in dem Raum alles abgedeckt war. Bei den nächsten beiden Zimmern war es ebenso. Warum waren so viele Räume abgeschlossen, obwohl doch vier Brüder hier wohnten? Hinter der letzten Tür befand sich ein Speiseraum, in dem ein langer Esstisch stand. Die Staubschicht auf dem Mahagoni ließ vermuten, dass dieses Zimmer schon lange keine gemeinsame Mahlzeit mehr erlebt hatte. Kopfschüttelnd schloss sie die Tür und ging weiter. Schließlich stand sie vor der riesigen Flügeltür, die zu dem eindrucksvollen großen Wohnraum führte, den sie bei ihrem bisher einzigen Ausflug nach unten gesehen hatte. In dem größten gemauerten Kamin, den Letty je gesehen hatte, loderte ein gewaltiges Feuer, das den Raum in ein behagliches warmes Licht tauchte. Mindestens vier Personen hätten in dem Kamin aufrecht stehen können.

Dieser Raum sah bewohnt aus, auch wenn momentan niemand hier war. Die wohlige Wärme lockte sie hinein. Es war deutlich, dass die vier Männer hier wohnten, und man konnte genau sehen, wo jeder seinen Platz hatte. Neben einem bequemen Sessel in der Nähe der Tür sah Letty einen großen Stapel Bücher, darauf lag eine Brille aus Drahtgestell. Ein dicker Wälzer lag aufgeschlagen auf dem Sessel: Über den Aufbau des menschlichen Körpers von Andreas Vesalius. Also war dies Joes Platz. Gegenüber waren etliche Londoner Zeitungen auf dem Boden vor einem Brokatsofa verstreut. Wie sie wusste, interessierte sich Jacob für Gesellschaftsnachrichten, also musste dies sein Platz sein.

Näher am Feuer befand sich ein weiterer Sessel, davor eine große Fußbank. Auf dem Tischchen daneben reihten sich einige Medizinflaschen auf, die höchstwahrscheinlich Schmerzmittel für den verdrießlichen Jamie enthielten. Erstaunlicherweise stand daneben eine Staffelei. Sie trat näher und betrachtete verblüfft das halbfertige Bild darauf. Von einem zurückhaltenden Mann mit militärischer Vergangenheit hätte sie dieses schöne Aquarell eines Gartens mit blühenden Rosen zuletzt erwartet. Anscheinend hatte Jamie eine verborgene romantische Ader. Erstaunlich.

Gegenüber ragte ein massiver Sessel empor, der von allen am schäbigsten aussah. Jacks Platz. Die uralt aussehende Polsterung war dort eingedrückt, wo er gewöhnlich saß. Sie konnte sich Jack sehr gut darin vorstellen, obwohl sie bezweifelte, dass er viel Zeit in Ruhe verbrachte, denn neben dem Sessel waren etliche Bücher aufgestapelt: Wirtschaftskladden, Bücher über Tierhaltung, Ackerbau und eine Broschüre über Die richtige Bearbeitung von Lehmböden. Es sagte eine Menge über seinen Charakter aus – und über die vielen Belastungen, die er zu tragen hatte. Obwohl er sich so patriarchalisch gab, schätzte Letty sein Alter auf unter dreißig Jahre. Dieses Haus, das Anwesen und die Verantwortung für seine Brüder – das alles war eine beträchtliche Last für einen so jungen Mann. Doch er schulterte sie mühelos, so mühelos, wie er sie in seinen starken Armen die Treppe hinaufgetragen hatte.

Sie berührte mit den Fingerspitzen die Rückenlehne seines Sessels und erspähte dabei ein weiteres Buch zwischen Lehne und Sitzfläche. Neugierig zog sie es aus seinem Versteck. Sie erkannte es sofort. Ein Sommernachtstraum war eins ihrer liebsten Theaterstücke. Jack hatte einen guten Geschmack, sowie eine gute Portion Humor in Bezug auf seine Vorfahren. Diese zwei Dinge mochte sie an ihm. Eigentlich waren es sogar drei Dinge, wenn sie seine starken Arme mitzählte.

Letty knurrte der Magen. Eigentlich war sie ja heruntergekommen, weil sie frühstücken wollte. Also steckte sie das schmale Büchlein in sein Versteck zurück. Sie fühlte sich Jack Warriner nun mehr verbunden als zuvor, denn sie hatten Gemeinsamkeiten, auch wenn es nur Kleinigkeiten waren. Zum Beispiel die Vorliebe für das Theater. Es wäre nett, ihn näher kennenzulernen – den wahren Mann, den sie vor ein paar Tagen kurz gesehen hatte, nicht den gebieterischen Herrn des Hauses. Den Mann, der so frech grinsen konnte und doch seine zahlreichen Pflichten sehr ernst nahm. Letty fühlte sich zu dieser Version von Jack besonders hingezogen.

Als sie wieder im Korridor war, hörte sie lachende Männerstimmen, ging dem Geräusch nach und fand so die Küche. Alle vier Brüder saßen dort um einen großen Eichentisch herum und gingen so vertraut miteinander um, wie Letty es in ihrer eigenen Familie nie erlebt hatte. Ihre Eltern waren zurückhaltend gewesen. Da die Brüder sie nicht bemerkten, blieb sie erst einmal stehen und hörte zu. Sie fand es großartig, wie sie sich gegenseitig neckten, ohne es einander übelzunehmen. Sie brauchte nicht lange, um zu verstehen, worum es ging. Jacob hatte eine neue Eroberung gemacht. Eine Bauerstochter. Seine Brüder machten Scherze darüber, ob ihr Vater ihn wohl mit der Mistgabel verjagen würde, wenn er davon wüsste. Doch der jüngste Warriners nahm die Hänselei gelassen auf und wirkte sehr stolz auf seinen Erfolg bei dem Mädchen.

Jack erblickte sie zuerst und rief sofort seine Brüder zur Ordnung. „Eine Lady ist hier.“ Vier Paar blaue Augen schauten zur Tür, Jack und Joe erhoben sich höflich.

„Ich glaube nicht, dass Sie schon auf sein sollten, Letty“, sagte Joe mit seinem üblichen besorgten Gesichtsausdruck. „Fühlen Sie sich schwindlig oder benommen?“

„Es geht mir ausgezeichnet, Dr. Joe, obwohl ich oben in dem Zimmer beinahe eingegangen wäre vor Langeweile.“ Rasch ging Letty auf den Tisch zu, bevor jemand sie daran hindern konnte, und zog sich den einzigen freien Stuhl hervor. Sofort sprang Jack auf und rückte ihn für sie zurecht. Noch ein Punkt zu seinen Gunsten. Er hatte er die Manieren eines Gentlemans. „Ich habe gehofft, mit Ihnen gemeinsam frühstücken zu können. Sie haben hoffentlich nichts gegen meine Gesellschaft?“

„Ich wäre entzückt, wenn ich ein hübsches Gesicht hier am Tisch sehen würde, nicht nur diese hässlichen Visagen.“ Jacob lächelte sie breit an. „Hätten Sie gern Tee, Letty?“ Sie nickte glücklich, weil sie bleiben durfte. Zu ihrem Erstaunen schenkte Jacob den Tee ein. Kein Diener war in der Nähe. Joe ging zur Feuerstelle und holte von dort einen zugedeckten Teller, den er vor sie hinstellte. Schwungvoll nahm er die silberne Glocke ab, aber enttäuscht sah sie darauf noch mehr gebratenen Speck und verschrumpelte Spiegeleier.

„Ist alles in Ordnung?“ Bekümmert schaute er sie an.

„Könnten Sie wohl bitte Ihre Köchin fragen, ob ich heute Morgen etwas anderes bekommen könnte? Bisher hatte ich jeden Morgen gebratenen Speck, den ich nicht besonders mag. Vielleicht ein paar Würstchen oder etwas Rührei?“

Es folgte ein Moment angespannten Schweigens, dann sagte Jamie mürrisch zu Jack: „Ich mache für sie aber nichts anderes.“

Jacob grinste seinen Bruder an. „Weil du gar nichts anderes machen kannst, Jamie. Ich hingegen kann gut mit der Pfanne umgehen.“ Er wollte aufstehen, aber Jack hielt ihn mit der Hand zurück.

„Wir essen das, was es in diesem Haus gibt, Letty, und wir sind alle dankbar dafür.“

Die vier Männer schauten angestrengt auf ihre Teller, als wäre damit die Diskussion erledigt. Letty überlegte, ob sie schlafende Hunde wecken sollte, und sie entschied sich dafür. Der jüngste Warriner fand es offenbar einfacher selbst mitzuhelfen, als die Bediensteten zur Ordnung zu rufen. Vermutlich eröffnete sich hier für sie eine Möglichkeit, ihren Beitrag zu leisten.

„Es braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Von vier Männern erwartet man nicht, dass sie gut mit unwilligen Dienern umgehen können. In dieser Hinsicht habe ich viel Erfahrung.“ Wenn jemand das Personal von Markham Manor zur Räson bringen konnte, dann war sie es. „Ich könnte doch vielleicht die Hausdiener beaufsichtigen, solange ich hier bin. Es wäre keine Mühe. Vielleicht würde sich damit die Qualität der Mahlzeiten verbessern.“

Um ihre Aussage zu unterstreichen, nahm sie die silberne Abdeckhaube und setzte sie wieder auf ihren Teller. „Es ist ein sehr trauriges Zeichen, wenn die Diener zu nachlässig sind, um das Frühstück zu servieren. Wir sind dankbar – also wirklich! Wo ist denn hier die Auswahl? Es gibt ja nicht einmal Marmelade auf diesem Tisch! Wie kann man zivilisiert frühstücken, wenn kein Kompott da ist?“ Letty stand auf und hob den anstößigen Teller hoch. „Wo finde ich die Köchin?“ Sie würde sofort mit den Verbesserungen in Markham Manor beginnen „Und wenn ich schon einmal dabei bin, möchte ich auch gern ein Wörtchen mit Ihrer Haushälterin reden. Die Hausarbeit wird hier stark vernachlässigt. Die Mägde sollten wissen, dass sie auch die Nischen und Ecken abstauben müssen, und es muss genau kontrolliert werden, ob es auch gut gemacht wird.“

Aufmunternd lächelte sie die offensichtlich verblüfften Gentlemen an. Ihr plötzlicher Entschluss schien ihnen nicht zu behagen. Joe und Jacob wechselten einen Blick und starrten dann betreten ihre leeren Teller an, Jack biss sichtlich die Zähne zusammen. Jamie Warriner erhob sich langsam und verschränkte offenkundig verärgert die Arme über der Brust.

„Ich bin hier die unwillige Köchin. Und auch die nachlässige Haushälterin.“

Das hatte Letty nicht erwartet. „Ist das Ihr Ernst?“ Sie schaute sich in der Runde um. Nur Jack blickte zurück, aber sie konnte nicht erkennen, welches heftige Gefühl hinter seinen blauen Augen brodelte. Verärgerung? Scham? Stolz? Vielleicht alles zusammen? Sie schaute ihn flehend an. „Haben Sie momentan Schwierigkeiten, Personal einzustellen?“

Auch diese Frage kam nicht gut an. Jacobs unsicheres Kichern durchschnitt die Stille wie ein Messer. Fragend wandte sich Letty ihm zu, und nun begann auch er schuldbewusst dreinzublicken. Der Schuft hatte ihr gesagt, über Personalfragen solle sie mit Jack sprechen. Das war eine Falle gewesen, und sie war wie ein verwöhnter Tölpel hineingetappt. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie soeben Jack Warriner aufs Gröbste beleidigt hatte. Unentschuldbar beleidigt hatte, wenn das stimmte, was sie vermutete.

Jacobs schuldbewusstes Lächeln verschwand unter ihrem scharfen Blick, und er errötete beschämt. „Es liegt nicht daran, dass wir Schwierigkeiten haben, Personal einzustellen, Letty. Wir haben eher Schwierigkeiten, dafür zu bezahlen … autsch!“ Er fuhr zusammen, als Joes Ellbogen ihn hart in die Rippen traf, und er keine Luft mehr bekam.

Allmählich dämmerte es ihr. Ihr Ausbruch war nicht nur dumm und unhöflich gewesen, sondern gefühllos. Unverzeihlich grausam. „Es gibt gar keine Diener in Markham Manor, verstehe ich das richtig?“

Jack stand auf. Er war offensichtlich sehr aufgebracht und sprach noch strenger und kälter als je zuvor.

„Ich bin sicher, in London haben Sie beflissene Diener, die jeden Ihrer Wünsche erfüllen, Prinzessin Violet. Hier müssen wir für unser Essen arbeiten. Da Sie ja nun nicht mehr bettlägerig sind, ist es an der Zeit, dass Sie nicht mehr bei uns schmarotzen, sondern für Ihren Unterhalt arbeiten. Sie haben ja bereits festgestellt, wie sehr die Hausarbeit hier vernachlässigt worden ist. Es ist schwierig für uns, die Zeit zum Abstauben jedes Winkels zu finden, denn wir arbeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern. Daher gehören diese vernachlässigten Ecken und Winkel jetzt Ihnen, Miss Dunston. Ich freue mich schon darauf, Ihre Arbeit anschließend zu kontrollieren.“

Er ging hinaus und schlug die Tür so krachend zu, dass die Wände der Küche bebten.

9. KAPITEL

Noch vierundzwanzig Tage und vierzehn Stunden …

Jack hatte schon immer heftig auf jede Demütigung reagiert, doch diese war schlimmer als alles, was er je erlebt hatte. Als Letty ihre Absicht verkündet hatte, seine Köchin und Haushälterin wegen Unfähigkeit maßregeln zu wollen, hätte er sich am liebsten in einer Ecke zusammengerollt, um vor Scham zu sterben. Es war schlimm genug zuzusehen, wie das eigene Heim langsam zerfiel, aber so etwas von der schönsten Frau seines Lebens vorgehalten zu bekommen, war noch etwas ganz anderes. Und es war besonders unangenehm, weil er sich die ganze Nacht lustvoll nach ihr verzehrt hatte. Wieder einmal.

Da Letty nicht von den Einheimischen beeinflusst worden war, hatte er im Stillen gehofft, sie würde ihn und seine Brüder als anständige, zivilisierte Menschen ansehen. Doch sein Stolz würde Jack niemals erlauben, ihr zu zeigen, wie sehr ihre gedankenlosen Worte ihn verletzt hatten.

Selbst jetzt noch, nach einem langen Arbeitstag in strömendem Regen, schmerzte es ihn. Der Herr von Markham Manor sollte sich eigentlich Gesinde leisten können. Er konnte sie nicht dafür tadeln, dass er keine Diener hatte, obwohl er doch ein Haus mit fünfzehn Schlafzimmern besaß. Von denen allerdings leider nur vier bewohnbar waren. Woher sollte Letty wissen, dass der letzte Bedienstete sie schon verlassen hatte, noch bevor sein Vater sich zu Tode trank? Verständlicherweise hatten die Diener kein Verständnis dafür gehabt, dass der Earl of Markham lieber Brandy kaufte, als ihnen ihre Löhne auszuzahlen. Der Brandy war dem Mann auch wichtiger gewesen als das Schicksal seiner vier mutterlosen Söhne. Jacks Mutter hatte den Tod vorgezogen, statt sie alle aufwachsen zu sehen, und er hatte aus Pflichtgefühl die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister übernommen, denn er hatte die Familie nicht auch noch im Stich lassen können.

Als der selbstsüchtige alte Bastard endlich den Löffel abgab, hinterließ er seinen Söhnen nichts als Felder voller Unkraut, einen riesigen Schuldenberg bei jedem Kaufmann von hier bis nach Nottingham und den Ruf, ganz unten angekommen und wenig besser als Ungeziefer zu sein. Überall war die Meinung verbreitet, dass die Mitglieder dieser Familie in Geschäften unehrlich waren, Frauen schändeten und ihre eigene Großmutter verkaufen würden, wenn es ihnen etwas einbrachte. Viele Leute erinnerten sich noch daran, dass sein Vater in London diesem Ruf nur allzu gerecht wurde. Dort hatte er eine Erbin auf skandalöse Weise kompromittiert und zur Ehe gezwungen. Heute noch hatten die Einheimischen diese Meinung. Niemand traute einem Warriner über den Weg.

Noch weniger Respekt hatte man für den Titel des Earl of Markham. Sein Vater hatte seine Stellung ausgenutzt, um damit seine Laster zu rechtfertigen, und nun war der Titel so abgewertet, dass Jack ihn noch nie verwendet hatte. Er hatte ihn zusammen mit den drückenden Schulden und dem verfallenden Haus geerbt. Jack hoffte, dass irgendwann im Laufe der Zeit ein wenig Gras über die alten Geschichten wachsen würde. Nun waren sieben mühselige Jahre vergangen, aber sie standen immer noch nicht viel besser da. Die alten Wunden waren zu tief, egal wie hart er daran arbeitete, den Ruf seiner Familie zu verbessern.

Natürlich half es auch nicht, dass sie alle ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Jedermann dachte vermutlich, dass die Ähnlichkeit nicht nur äußerlich war und dass die Geschichte sich wiederholen würde. Die Dorfbewohner waren so misstrauisch, dass kein Ladenbesitzer ihnen je einen Kredit einräumen würde. Sie mussten immer alles sofort und in bar bezahlen. Diener? Dieser Witz ging leider auf ihn.

Ächzend holte er einen frischen Heuballen und lud ihn sich auf die Schultern, um ihn zu den wenigen Kühen in der anderen Scheune zu tragen. Es wäre sehr angenehm gewesen, ein paar Helfer zu haben, denn der Hof erholte sich ganz allmählich und forderte immer mehr seiner Zeit. Vor zwei Jahren hatte er jeden Tag zehn Stunden gearbeitet, nun waren es eher vierzehn, fast ohne Pause. Ob Sommer oder Winter – die tägliche Arbeit blieb gleich für ihn und jeden seiner Brüder.

Die Kühe, Pferde und Hühner mussten bei diesem Wetter zweimal am Tag gefüttert werden. Die Schafe suchten sich ihr Futter selbst auf den Weiden, aber wegen des schweren Lehmbodens musste man ständig auf sie aufpassen. Die dummen Tiere blieben immer wieder im Schlamm stecken und saßen in den überfluteten Bereichen in Flussnähe fest. Außerdem waren sie stets von Füchsen bedroht. Aber die Lämmer waren von guter Qualität und erzielten einen ordentlichen Preis bei dem Fleischer in Lincoln, mit dem Jack eine Handelsbeziehung aufgebaut hatte. Er bekam zwar etwas weniger als den marktüblichen Preis wegen des Risikos, mit einem Warriner Geschäfte zu machen, aber es war immerhin ein Anfang. Es war wirklich sehr schade, dass niemand in seiner näheren Umgebung mit ihm geschäftlich zu tun haben wollte. Der lange Weg in die größere Stadt kostete ihn hin und zurück einen ganzen Tag, den er eigentlich anders hätte nutzen können, aber als Bittsteller hatte man keine Wahl. Auch mit der Wolle verdienten sie ein wenig Geld, obwohl es nur ein Bruchteil von dem war, was sie eigentlich wert war.

Trotz aller Arbeit und der dürftigen Einnahmen war Jack insgeheim stolz auf das, was er erreicht hatte. In sieben Jahren war es ihm gelungen, ohne Hilfe von außerhalb aus unfruchtbarem Brachland gutes Ackerland zu machen. Im Alleingang hatte er zwei der verfallenen Bauernhäuser instand gesetzt und verpachtet. Zugegebenermaßen für einen lächerlich niedrigen Betrag, aber es machte ihm Freude, sich allmählich aus den Schulden seines Vaters herauszuarbeiten. Wenn jetzt noch die Getreidepreise anstiegen, würde er sogar einen kleinen Gewinn machen können. Falls das Dach seines Hauses noch eine Weile hielt und er die Zeit fand, auch die übrigen Pächterhäuser zu renovieren, konnte er Joe die Akademie bezahlen und vielleicht Jacob zur Universität schicken. Dann könnte er möglicherweise auch einen oder zwei Leute einstellen. Aber das war alles noch Zukunftsmusik, und er wagte kaum zu hoffen.

Und nun erdreistete sich diese vermaledeite Tee-Erbin, ihn zu kritisieren. Vielleicht hätte er doch ihr Geld annehmen sollen. Zweifellos hätte er das Geld dieser Frau sehr gut gebrauchen können, aber sein Stolz hätte ihm niemals erlaubt, ein Almosen anzunehmen. Denn das wäre es gewesen – ein Almosen. Wenn er ein anständiges Heim gehabt hätte statt dieses heruntergekommenen Hauses, und wenn er Gesinde beschäftigt hätte, wie es einem Earl eigentlich zustand, hätte sie ihm niemals so ein unsinniges Angebot gemacht. Doch die bezaubernde Letty Dunston bot ihm aus Gutmütigkeit Geld. Auch ihre Kommentare zu dem miserablen Essen und dem schlechten Zustand der Winkel und Ecken waren auf die gleiche, demütigende Weise gut gemeint gewesen.

Jack hatte noch nie um Hilfe gebeten und würde es auch nie tun. Er rackerte sich lieber ab und litt, aber er bezahlte seine Schulden und konnte erhobenen Hauptes seinen Kritikern gegenübertreten. Selbst wenn es ihn umbrachte – wovon er letztendlich ausging –, hätte er am Ende den Ruf und das Schicksal seiner Familie verbessert, und daran konnten auch die unverschämten Meinungen wohlmeinender Erbinnen nichts ändern. Sie hatte bestimmt noch keinen einzigen Tag in ihrem verwöhnten Leben wirklich gearbeitet, also woher nahm sie das Recht, ihn zu verurteilen?

Und warum kümmerte es ihn überhaupt, was diese Frau von ihm dachte? Er kannte sie doch kaum, trotz seiner unerklärlichen Gefühle für sie. Im besten Fall war ihre Bekanntschaft vorübergehend. Sobald es sicher für sie war, würde sie fröhlich in ihr perfektes Leben zurückkehren und wieder der Liebling der Gesellschaft sein.

Es mochte sein, dass es ihrer Aufmerksamkeit entgangen war – aber er tat ihr einen großen Gefallen. Wenn sein bescheidenes Heim nicht gut genug war für das Prinzesschen, sollte sie doch woanders hingehen. Zu den Leuten, die besser zu ihr passten oder gern ihr Geld nehmen würden. Doch er wusste, dass es momentan außer ihm und seinen Brüdern niemanden gab, der ihr Sicherheit bieten konnte. Also musste sie wohl oder übel in seinem Haus bleiben bis zum vermaledeiten vierten Januar. Dann konnte er endlich aufhören, jede Minute jedes verdammten Tages über diese kleine Hexe nachzudenken und sich zu schämen für das Bild, das er in ihren Augen abgab.

Letty war erschöpft, aber sie empfand große Befriedigung, als sie sich kritisch im großen Saal umschaute. Der schöne Raum mit den Gewölbedecken sah nun richtig anheimelnd aus dank ihrer Bemühungen, und sie freute sich darauf, alles vorzuzeigen.

Leider war niemand da, dem sie es hätte zeigen können. Sie hatte den ganzen Tag allein hier verbracht. Nachdem sie den Hausherrn beim Frühstück so unverzeihlich beleidigt hatte, widerrief Joe die Anweisung Jacks und meinte, der Befehl sei nur dem aufbrausenden Temperament seines Bruders geschuldet gewesen. Er wollte, dass sie den Rest des Tages in ihrem Schlafzimmer verbrachte. Jacob entschuldigte sich bei ihr für das Unheil, das er angerichtet hatte, und riet ihr das Gleiche.

„Jack hat nun mal ein aufbrausendes Temperament“, meinte er schulterzuckend. „Doch es ist immer schnell vorbei.“

Dann zogen die beiden jüngsten Warriners sich ihre schweren Mäntel an und verließen das Haus, um an ihre Arbeit zu gehen. Jamie blieb allein mit ihr zurück. Der schweigsamste Warriner ging schweigend zu einem Wandschrank und holte Eimer, Mopp und Besen heraus. Dann hatte er sich seinen Mantel angezogen und war den anderen hinterhergegangen.

Vermutlich dachten alle, sie sei dieser Aufgabe nicht gewachsen. Man hielt sie für eine verwöhnte Erbin, die keinerlei Berührung mit dem wahren Leben hatte. Das war sie sicher bis vor wenigen Wochen gewesen. Doch in ihr steckte mehr, als alle vermuteten. Wenn sie ihren Entführern entkommen konnte, würde es doch wohl möglich sein, dieses Haus zu putzen.

Und das hatte sie getan. Zuerst langsam, doch als sie einmal den Bogen heraushatte, war sie nicht mehr aufzuhalten. Sie brauchte eine Weile, um den angemessenen Umgang mit Putzmitteln, Besen und Lappen zu lernen, doch dann schrubbte, fegte und polierte sie, bis ihr die Arme und der Rücken schmerzten. Bald gab es kein Stäubchen mehr in irgendeiner Ecke. Den alten Perserteppich hatte sie ausgeklopft, die Fenster zum Glänzen gebracht und den Kerzenleuchter poliert. Sie lächelte erfreut über die Veränderung und fühlte sich ein wenig besser.

Als der Raum sauber war, begann Letty damit, ihn umzugestalten, damit alles ein wenig freundlicher aussah. Sie hatte unter den Abdeckungen in den angrenzenden Zimmern noch andere passende Möbel und Zierrat gefunden. Nun lagen weiche Decken und Kissen auf den abgenutzten Lieblingssesseln der Brüder, und sie hatte einen weiteren Sessel für sich danebengestellt, außerdem eine kleine Fußbank und einige zusätzliche Kerzenleuchter. Sie fand, dass es eine große Verbesserung gegenüber dem früheren Zustand darstellte. Es fehlte nur ein schöner Blumenstrauß, doch wo sollte sie den hervorzaubern? Aber vielleicht genügten auch ein paar Stechpalmenzweige?

Oben in der Truhe mit den alten Kleidern fand sie ein Paar feste Schuhe. Sie warf sich einen schweren Umhang über, der an einem Haken in der Küche hing, und verließ das Haus durch die Hintertür, bewaffnet mit einer großen Schere. Die kalte Luft und sogar der Regen waren erfrischend, nachdem sie so lange im Haus hatte bleiben müssen.

Stechpalmen im Halbdunkel des frühen Abends zu finden, erwies sich als schwieriger als erwartet, und sie musste sich weiter vom Haus entfernen, als sie vorhatte. Als sie endlich einen Strauch gefunden hatte, schnitt sie ein paar Zweige ab. Plötzlich nahm sie in einiger Entfernung eine Bewegung wahr.

Zuerst erschrak sie und versteckte sich hinter dem Busch, doch nach einer Weile war sie fast sicher, dass es Jack war. Letty schuldete ihm eine Entschuldigung, und nun bot sich ihr die Möglichkeit, unter vier Augen und ohne Zuhörer mit ihm zu sprechen.

Jack stieß mit dem Fuß die Scheunentür auf und setzte den Heuballen ab, um ihn bei den Pferden zu verteilen. Er hörte sie erst hinter seinem Rücken, als es zu spät war.

„Hallo, Jack.“

Beim Klang ihrer Stimme erstarrte er, aber er drehte sich nicht um. Wenn er sie ansähe, würde das Verlangen in ihm aufflackern, doch er schämte sich immer noch wegen ihrer Vorwürfe. „Sie sollten nicht draußen sein“, sagte er nur.

„Es wird schon dunkel, niemand kann mich sehen. Ich wollte mich für meine Worte von vorhin entschuldigen.“

„Das ist nicht nötig. Es war wohl nur ein Missverständnis.“ Er wollte kein Mitleid. Lieber gab er vor, es wäre nichts geschehen. Jack füllte die Wassertröge auf und hoffte, sie würde fortgehen und den dummen Vorfall nicht mehr erwähnen. Sie stellte sich jedoch neben ihn.

„Es war wirklich ein Missverständnis, aber das entschuldigt nicht meine Gedankenlosigkeit. Ich habe Sie ohne böse Absicht beleidigt und fühle mich jetzt furchtbar, falls das ein Trost für Sie ist.“ Das war es nicht. „Sie müssen mich für sehr verwöhnt halten.“ So war es. „Nach allem, was Sie für mich getan haben, schäme ich mich von Herzen.“

Jack hatte wirklich nicht vor sie anzusehen, aber seine Augen gehorchten seinem Willen nicht. Letty sah wirklich sehr beschämt aus. Sie hielt den Kopf gesenkt, ließ die zarten Schultern hängen und machte ein betrübtes Gesicht. Gegen seinen Willen zerriss es ihm das Herz. „Es macht wirklich nichts, Letty, ich bin darüber hinweg.“ Und nun log er auch noch, damit sie sich besser fühlte.

„Ich möchte es wiedergutmachen.“

Unbewusst knirschte er mit den Zähnen. „Zum letzten Mal, Letty, ich will Ihr Geld nicht.“

„Das weiß ich doch. Ich werde Sie auch nicht noch einmal beleidigen, indem ich es Ihnen anbiete. Aber ich kann mich auf andere Weise nützlich machen. Mit den Ecken und Nischen habe ich schon begonnen.“ Ihr schöner Mund verzog sich zu einem unsicheren Lächeln. „Obwohl ich erst ein Zimmer geschafft habe.“

Jack fühlte sich plötzlich schuldbewusst. „Ich habe nicht ernsthaft gemeint, dass Sie putzen sollen.“ So sehr sollte sie sich nun auch nicht erniedrigen nach allem, was sie durchgemacht hatte. Sie war ja nicht schuld an dem Durcheinander, sondern er.

„Ehrlich gesagt, hat es mir sogar Spaß gemacht. So konnte ich etwas Sinnvolles tun. Sie haben ja keine Ahnung, wie unglaublich langweilig es ist, das Bett zu hüten.“

Sie lächelte ihn so offen an, dass er sich ein wenig wohler in seiner Haut fühlte. Da sie sich bemühte, alles wieder in Ordnung zu bringen, wollte er ihr entgegenkommen. „Irgendwann werde ich es einmal ausprobieren. Mir gefällt die Vorstellung, einen ganzen Tag lang einmal nichts zu tun.“

„So spricht ein Mann, der immer alles selbst machen will und nicht gelernt hat, eine Arbeit abzugeben. Ich habe den Eindruck, dass Sie viel mehr tun als nur ihren Anteil, Jack.“ Sie schaute sich in der Scheune um und zeigte auf den Heuballen. „Ich könnte Ihnen doch helfen. Sie sind schneller fertig, wenn wir es gemeinsam tun.“

Die treffende Einschätzung seines Charakters, gefolgt von dem Hilfsangebot, war erstaunlich. Natürlich lehnte er ab, doch Letty lächelte nur und achtete nicht auf ihn. Sie stellte ihre Laterne und die frisch geschnittenen Zweige ab und zog große Büschel aus dem Heuballen, bevor er noch seinen Satz beendet hatte. Doch er warnte sie: „Kommen Sie dem hinteren Ende der Tiere nicht zu nahe. Pferde können ziemlich … unberechenbar sein.“

Sie lachte, aber nicht glockenhell, wie er es von einer wohlerzogenen jungen Lady erwartet hätte, sondern tief aus der Kehle heraus. Sie schnaubte sogar ein wenig. Es klang ziemlich unfein. Gott helfe ihm.

„Wie elegant Sie das ausdrücken, Jack. Aber ich bin an unberechenbare Tiere gewöhnt. Mein Pferd hat überhaupt keine Manieren. Es ist vollkommen eigensinnig.“ Sie teilte das Heu so selbstverständlich aus, als würde sie regelmäßig Tiere füttern.

„Sie können reiten?“

„Wie ein Teufelsbraten, wie man sagt. Ich habe gern schnelle und furchterregende Pferde, so wie diesen feinen Kerl.“ Sie streichelte das Maul von Jamies temperamentvollem schwarzen Hengst.

„Satan lässt sich nicht gern streicheln“, sagte Jack rasch.

Letty lächelte und ignorierte die Warnung. Das Pferd schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Es stupste seinen großen Kopf sogar gegen ihre Handfläche, als wollte es mit ihr flirten. „Du armer Kerl“, sagte sie sanft, „warum hast du denn so einen schrecklichen Namen? Du bist doch ein ganz Süßer, nicht wahr, Satan?“

Nach Jacks Erfahrung war Satan alles andere als das. „Gewöhnlich ist Jamie der Einzige, der sich ihm nähern darf, und auch den toleriert er nur. Jamie hat ihn von der Iberischen Halbinsel mitgebracht. Weil der Hengst so schwer zu bändigen ist, nannte er ihn Satan, doch trotz allem hat Jamie ihn behalten.“

„Ich kann es ihm nicht verdenken. Du bist so ein Hübscher, Satan, nicht wahr?“ Zu Jacks Erstaunen küsste sie das Pferd auf die Nasenspitze, bevor sie zurücktrat. Wie traurig, wenn ein Mann eifersüchtig war auf ein Pferd. „Ich wette, er ist sehr schnell.“

„Das ist er. Eigentlich sogar gefährlich schnell. Jacob wollte auf ihm reiten, als Jamie gerade angekommen war, und Satan hat ihn in den Graben geworfen. Danach haben wir das Pferd stundenlang nicht gesehen, aber am Ende kehrte es in den Stall zurück, als wäre nichts geschehen.“

„Ob Jamie mich wohl darauf reiten lässt?“

„Ich glaube, das hängt nicht von Jamie ab. Satan kann sehr wählerisch sein. Er ist die Art von Pferd, die nur einen Reiter akzeptiert. Ich bezweifle, dass er Ausnahmen macht, nicht einmal für einen Teufelsbraten.“

„Meine Mutter tadelte mich oft dafür, dass ich leichtsinnig und unbekümmert ritt, und danach tadelte sie meinen Vater, weil er mich unterstützte.“ Ihr schönes Gesicht verdüsterte sich.

„Also standen Sie Ihren Eltern nahe?“ Das war ihm fremd. Er hatte seinen Eltern nie nahegestanden. Weder Vater noch Mutter hatten mit ihrem Nachwuchs viel zu tun haben wollen.

„Oh ja. Wir waren immer nur zu dritt, bis sie von mir gingen. Ich vermisse sie so sehr.“

Da sie davon angefangen hatte, machte es ihr hoffentlich nichts aus, noch mehr zu erzählen. „Sie sagten, sie starben bei einem Unfall – wie alt waren Sie da?“ Er stellte den Wassereimer in dem gleichen Moment zurück, als sie sich das letzte Heu von den Händen streifte.

„Siebzehn“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Viel zu früh, um elternlos zu sein. Vor allem ohne Mutter. Aber wahrscheinlich wissen Sie, wie das ist. Jacob sprach davon, dass Sie alle noch Kinder waren, als Ihre Mutter starb.“

„Er war sieben, ich war vierzehn.“ Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sehr zu trauern, denn seine Brüder hatten Schutz vor dem Gürtel ihres Vaters gebraucht. So wie seine Mutter Schutz gebraucht hatte vor den Fäusten ihres betrunkenen Ehemannes. Aber nie hatte sie sich Jack gegenüber dankbar gezeigt, dass er sie beschützt hatte, oder danach seine Verletzungen versorgt.

„Also waren Sie noch jünger als ich. Wie ist sie gestorben?“

Nach etlichen Jahren als Ehefrau eines Warriners war sie von ihrer Familie und der guten Gesellschaft entfremdet gewesen. Die strenge Isolation und ständige Geldnot hatten sie zum Äußersten getrieben. „Selbstmord. Sie hat sich im Fluss ertränkt.“ Der Fluss führte zu der Zeit sehr viel Wasser und war sehr wild nach einer Woche Sturm. Sie war einfach hineingesprungen, ohne zurückzuschauen, weil sie um das Leben trauerte, das sie verloren hatte und niemals wieder haben konnte.

Jack hatte ihr nie ganz verziehen, dass sie sie im Stich gelassen hatte. Er und seine Brüder hatten sie geliebt, obwohl ihre Mutter sie kaum hatte anschauen können, ohne in ihnen das Abbild ihres verhassten Ehemanns zu sehen. Des Mannes, der sie kompromittiert hatte, um sie wegen ihrer Mitgift zu heiraten. Sie wurde mit ihm aus London vertrieben aufgrund seiner immensen Schulden. Niemand wusste, was mit der Mitgift geschehen war, aber das Geld konnte nicht für einen vernünftigen Zweck ausgegeben worden sein. Letty schaute ihn teilnahmsvoll an. „Und bevor Sie danach fragen – mein Vater folgte ihr sieben Jahre später unter die Erde. Er hing an der Flasche.“ Warum erzählte er ihr das? Obwohl es wahrlich kein Geheimnis war, denn sich zu betrinken, war das Einzige, was sein Vater gut gekonnt hatte. Aus irgendeinem Grund wollte Jack es ihr erzählen, weil es sie aufrichtig zu interessieren schien.

Letty sah ihn lange an. Sie legte den Kopf zur Seite und dachte offenbar über das nach, was er ihr fast unabsichtlich gestanden hatte. Er erwartete Abscheu oder Verurteilung, aber er sah nichts als Wärme in ihrem Gesicht. „Oh, Jack“, sagte sie schließlich seufzend. „Jetzt verstehe ich, warum Ihre Brüder alle zu Ihnen aufschauen. Sie mussten so viele Jahre lang für sie Mutter und Vater sein. Und auch noch das Anwesen leiten. Was für eine Bürde!“ Sie streichelte ihm fast liebevoll über den Arm. Er spürte die Berührung am ganzen Körper. „Sie können stolz auf sich sein, denn Sie haben das großartig gemacht. Ihre drei Brüder sind gute Männer.“

Ein Kompliment oder eine mitfühlende Berührung hatte er nicht erwartet, sonst hätte er eine passende Antwort parat gehabt. Doch jetzt war er ihr so dankbar, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Noch nie hatte jemand Sympathie für einen Warriner gehabt. Er vermied ihren Blick und wechselte das Thema.

„Warum haben Sie eigentlich Stechpalmen geschnitten? Ist es nicht noch zu früh für Weihnachtsgirlanden?“

Sie schüttelte den Kopf. Eine feuchte Haarlocke fiel ihr bezaubernd in die Stirn, als sie ihn anlächelte. „Ich wollte den Wohnraum ein wenig hübscher gestalten – für euch alle. Vielleicht lächelt dann sogar Jamie einmal.“

Wieder hüpfte die verführerische Locke. Ohne nachzudenken, strich Jack sie ihr aus dem Gesicht. Dabei streiften seine Finger ihre seidenweiche Wange, und Letty schaute ihn lächelnd an. Und schon wieder kamen ihm Worte über die Lippen, über die er vorher nicht nachgedacht hatte.

„Man weiß nicht so genau, was Jamie eigentlich denkt. Seit seiner Rückkehr beunruhigt es mich, dass er so in sich gekehrt ist. Ich wüsste gern, wie ich das ändern könnte.“ Schon wieder vertraute er ihr Gedanken an, die nicht einmal seine Familie kannte. Letty Dunston tat seltsame Dinge mit seinem Herzen.

„Wahrscheinlich kann man es nicht so einfach ändern. Vielleicht braucht Jamie noch Zeit, um seine Kriegserlebnisse zu verarbeiten, und kann es selbst nicht erklären. Geben Sie ihm Zeit, sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zu erholen. Irgendwann heilt jedes Leid.“

„Möglich. Aber es fällt mir schwer, einfach danebenzustehen und zuzusehen.“

„Warum? Weil Sie sonst immer derjenige sind, der alles im Griff hat?“

„Vermutlich.“

Er spielte immer noch mit dem Löckchen hinter ihrem Ohr. Plötzlich fiel ihm selbst auf, dass er sie anschmachtete wie ein vernarrter Idiot. An solche Blicke war sie sicher gewöhnt, aber für ihn war es das erste Mal. Sofort zog er die Hand fort, als hätte er sich verbrannt, und wandte sich rasch wieder seiner Arbeit zu. Er hatte wirklich nicht das Recht, sie auf diese Weise zu berühren, egal, wie einfach es war, ihr vertrauliche Dinge zu erzählen. Doch er musste unbedingt den Wunsch überwinden, sie noch einmal zu berühren. Das Mädchen bereitete ihm schon genug Schwierigkeiten, weitere konnte er erst recht nicht gebrauchen. Die Tage, bis sie in ihr prächtiges Leben und zu dem feinen Duke zurückkehren würde, waren gezählt. Es würde sie nicht beeindrucken, dass er sich unglaublich stark zu ihr hingezogen fühlte.

Er löschte die Lichter in der Scheune und drehte sich zu ihr um, aber er bereute es sofort. Das warme Licht der Laterne in ihrer Hand ließ sie wie ein überirdisch schönes Wesen erscheinen. Wieder einmal verschlug es ihm den Atem, und er wusste nicht, wie er gegen die überwältigende Welle des Begehrens ankommen sollte. Er war hingerissen von ihr. Es bereitete ihm fast körperliche Schmerzen, ihre Schönheit zu sehen.

„Das Abendessen ist sicher bald fertig“, sagte er abrupt. Es war ein großer Fehler, hier mit ihr allein im Dunkeln zu stehen. Er musste sich zusammennehmen, sonst würde sie merken, wie sehr er sie mochte. Dann würde er ihr womöglich sein Herz ausschütten, und das durfte nicht sein. Denn dann würde sie ihn bemitleiden als armen Schlucker, und er würde jämmerlich dastehen. Es war besser, sie hielt sich für eine Belastung als für eine Versuchung. „Wir sollten gehen.“

Jack verließ die Scheune zuerst und hielt ihr das Tor auf. Der Regen war stärker geworden. Dann gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, während er sich das Gehirn nach irgendeinem unverfänglichem Gesprächsthema zermarterte. Er wollte nicht wie ein unzivilisierter Kerl aussehen.

Autor

Virginia Heath
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