Julia Bestseller Band 161

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WOGEN DER SEHNSUCHT von GREY, INDIA
Beim Ball auf Stowell Castle stürmt ein Fremder auf Lily zu und küsst sie - der Playboy Tristan Romero! Unfassbar gut fühlen sich seine Lippen an. Aber kann sie sich der Leidenschaft hingeben, ohne ihr Herz zu verlieren? Denn Tristan ist für seine kurzen Affären bekannt …

SAG NIEMALS NIE! von GREY, INDIA
Unglaublich! Nie hätte der Tycoon Angelo Emiliani gedacht, dass Anna sich weigern würde, ihm das Château zu verkaufen. Doch so leicht lässt sich Angelo nicht von seinem Ziel abbringen. Er lädt Anna auf seine Jacht ein, um sie mit verführerischen Mitteln umzustimmen!

SPIEL, KUSS & SIEG von GREY, INDIA
"Du willst das Trikot zurück? Dann musst du es gewinnen." Empört will Tamsin die Herausforderung von Alejandro D'Arienzo ablehnen. Sie soll den Milliardär beim Billard besiegen. Doch Nein zu sagen fiele ihr leichter, wäre ihr Schwarm von einst nicht umwerfender denn je!


  • Erscheinungstag 15.05.2015
  • Bandnummer 0161
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703103
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

India Grey

JULIA BESTSELLER BAND 161

INDIA GREY

Wogen der Sehnsucht

Was macht er da nur? In dem einen Moment sucht Tristan, Marqués von Montesa, nur Ruhe vor den Paparazzi. Und im nächsten reizt es ihn, das Model Lily inmitten des Maskenballs zu erobern. Eine Nacht lang will er seinem Leben entfliehen, in dem kein Platz für Liebe ist. Unerwartet bringen diese sinnlichen Stunden alles in Gefahr, wofür Tristan gekämpft hat …

Sag niemals nie!

Lady Roseanna Delafield bedeutet das Schloss Belle-Eden, das Erbe ihrer Mutter, unendlich viel. Und selbstverständlich möchte sie es für kein Geld der Welt einem skrupellosen, wenn auch verwegen attraktiven Investor wie Angelo Emiliani überlassen. Resolut beschließt sie, dem italienischen Charmeur als kämpferische Maklerin Anna Field die Stirn zu bieten …

Spiel, Kuss & Sieg

Er wollte sie aus seinem Gedächtnis streichen, doch nun steht sie vor ihm: Tamsin Calthorpe, die schöne Tochter seines Extrainers. Ausgerechnet auf einer Party in England trifft der argentinische Rugby-Star sie wieder – dort, wo er seinen verhängnisvollen Flirt mit ihr hatte. Allerdings kann er nicht vergessen, was sie ihm angetan hat und will sich rächen!

1. KAPITEL

Der Schatten des Hubschraubers fiel auf den dichten, weichen Rasen von Stowell Castle. Die Rotoren wirbelten die heiße Augustluft auf und ließen die Kronen der alten Bäume des Anwesens tanzen.

Tristan Romero de Losada Montalvo blickte hinunter. Unter ihm war die Party bereits in vollem Gange, und er konnte Kellner sehen, die Tabletts mit Champagner zwischen den Gruppen von sonderbar gekleideten Gästen auf dem sattgrünen Gras balancierten. Leidenschaftslos registrierte er, wie die Leute aufsahen, unter dem großen weißen Zelt hervortraten und die Augen mit der Hand gegen die sinkende Sonne beschatteten, um seine Ankunft zu beobachten.

Es würde das Fest des Jahres werden, weil Tom Montagues jährlicher Wohltätigkeits-Kostümball das immer war. Es war die Veranstaltung, für die die Hautevolee und der Geldadel aus ihren Häusern in Malibu Beach und ihren toskanischen Palazzi nach England zurückkehrten, um vierundzwanzig Stunden lang in der idyllischen Umgebung der Gärten von Stowell Castle im Überfluss zu schwelgen.

Es war auch das Fest, das Tristan Romero aus seiner etwa dreitausend Kilometer entfernten Hölle herausgerissen hatte, aus Gründen allerdings, die nichts mit Genuss oder Hedonismus zu tun hatten.

Er war wegen Tom hier.

Müde seufzend kreiste er mit dem Hubschrauber über der Wiese, sodass die Dächer der Festzelte flatterten und sich wie die Segel von Galeonen blähten. Tom Montague war der siebte Herzog von Cotebrook und einer der gütigsten und großzügigsten Menschen, die man sich vorstellen konnte; eine Kombination, die Tristan teilweise für gefährlich hielt – vor allem, was Frauen anging. Tom sah immer nur das Gute in den Menschen, selbst wenn es dem Rest der Menschheit verborgen blieb. Deshalb sind wir auch schon so lange befreundet, dachte Tristan säuerlich. Und deshalb fühlte er sich verpflichtet, zu kommen und sicherzustellen, dass das Mädchen, über das Tom während der vergangenen Wochen ununterbrochen geredet hatte, seiner tatsächlich würdig war.

Aber natürlich wäre es sowohl unehrlich als auch eine emotionale Bankrotterklärung gewesen, wenn Tristan versucht hätte, sich vorzumachen, das sei der einzige Grund für sein Kommen.

Letztlich war er hier, weil die Regenbogenpresse und die Paparazzi und die Klatschkolumnisten von ihm erwarteten, dass er hier sein würde. Es war Teil des Deals, den er eingegangen war, als er seine Seele dem Teufel verkaufte. Grimmig schwang er den Hubschrauber herum, folgte dem Flusslauf, der sich durch Stowell zog und seine nördliche Grenze bildete. Während er tiefer ging, suchten seine Augen die Bäume am Flussufer nach dem verräterischen Aufblitzen von Teleobjektiven ab, in deren Linsen sich das Sonnenlicht spiegelte.

Sie würden da sein, dessen war er sich sicher. Jene abgehärteten Vertreter der Paparazzi-Elite, die für ein gutes Foto einen Schritt weiter gingen als andere und die skrupellos genug waren, sich nicht zu fragen, ob das moralisch noch annehmbar war. Sie würden irgendwo dort unten sein, beobachten und abwarten.

Er hätte es beinahe als Beleidigung empfunden, wenn sie nicht gekommen wären. Viele Leute in einer ähnlichen Situation wie er beschwerten sich endlos über die Belagerung der Presse, aber in Tristans Augen begriffen sie nicht, worum es ging. Es war ein Spiel. Ein Spiel, für das Strategie und Können wichtig waren und nicht die Wahrheit. Und bei dem einen schon eine kleine Unachtsamkeit den Ruf kosten konnte. Tristan mochte die Paparazzi nicht, aber er unterschätzte sie auch keine Sekunde lang. Es war einfach eine Frage von benutzen und benutzt werden. Ob man der Manipulator war oder das Opfer.

Und Tristan Romero würde nie mehr das Opfer sein.

Unten auf dem Boden lief Lily Alexander nachdenklich an den vielen Menschen mit den spektakulären Kostümen vorbei. Der Champagner in dem Glas in ihrer Hand war ein besonders guter Jahrgang, das seidige Kleid im griechischen Stil, das sie trug, stammte von einem Designer, und die allermeisten Menschen, die sie kannte, hätten sehr viel dafür gegeben, in diesem Moment auch auf dem Rasen stehen zu können, den sie unter ihren nackten Füßen spürte.

Also warum hatte sie das Gefühl, dass etwas fehlte?

Es gab einen Spruch in der Modelbranche: ‚Es gibt drei Dinge, die Geld nicht kaufen kann: Liebe, Glück und eine Einladung zum jährlichen Kostümball auf Stowell.‘ Magisch war das Wort, das die Menschen mit sehnsüchtiger Andacht benutzten, um ihn zu beschreiben. Lily konnte sich sehr glücklich schätzen, heute Abend hier zu sein, wie sie sich schon zum ungefähr vierzigsten Mal selbst versicherte. Doch immer antwortete eine unzufriedene kleine Stimme in ihrem Kopf: Aber wo ist die Magie? Das Leben muss doch mehr zu bieten haben als das hier …

Ein Schatten fiel über die untergehende Sonne und verdunkelte den verschwenderisch schönen rosa-goldenen Abend. Während sie über die Wiese lief und Scarlet suchte, war sich Lily des Hämmerns hinter ihren Schläfen bewusst; ein gleichmäßiges, rhythmisches Pulsieren, wie ein zweiter Herzschlag, der ihre Unruhe nur zu verstärken schien.

In diesem Jahr waren Mythen und Legenden das Thema des Balls, und während die Sonne lange Schatten über den Rasen warf, standen in Seide gekleidete Mädchen mit schimmernden Elfenflügeln neben griechischen Göttern und Filmidolen. Mehrere große Festzelte waren an den Rändern des Rasens aufgebaut und ließen Platz in der Mitte, wo laut Scarlet später eine Truppe halb nackter Stuntreiterinnen auftreten würde.

Auf Einhörnern, wie es hieß.

Lily senkte den Kopf und seufzte, während eine warme Brise die Blätter an dem imposanten Rosskastanienbaum über ihr bewegte. Morgen um die gleiche Zeit würde sie schon eine halbe Erdumrundung entfernt sein, mitten im trockenen Herzen Afrikas, und das alles hier würde ihr noch mehr wie ein Traum vorkommen, wenn das überhaupt möglich war. Vielleicht war es normal, sich vor einer Reise, wie sie ihr bevorstand, so zu fühlen? Sie wagte sich aus den sicheren Grenzen ihres seichten, oberflächlichen Lebens in die Tiefen einer Welt, über die sie bis jetzt nur gelesen oder etwas in den Nachrichten gesehen hatte. Nervös zu sein war wahrscheinlich völlig verständlich. Außer dass nervös nicht wirklich das Gefühl beschrieb, das sie empfand …

Ruhelos.

Das Wort schoss ihr aus dem Nichts durch den Kopf und hallte in ihr wider, verstärkt durch das Hämmern, das die ganze Zeit über lauter wurde. Sie legte den Kopf in den Nacken, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass eine gewisse Spannung in der Abendluft lag; eine pulsierende Energie, die sie spürte und mit einem merkwürdigen Gefühl der Vorahnung erfüllte. Ein Hubschrauber kreiste über ihr in der Luft, und fasziniert beobachtete Lily, wie er wie ein dunkles, mächtiges Insekt vor dem aprikosenfarbenen Himmel seine Bahn zog.

Plötzlich zuckte sie zusammen, als das Handy, das sie fest umklammert hielt, in ihrer Hand schellte und den Bann brach. Sie meldete sich hastig, presste das Telefon fest an ihr Ohr, sodass der Direktor der Hilfsorganisation für afrikanische Kinder, für den sie arbeiten würde, das schrille Gelächter und die sporadisch aufbrandende, ohrenbetäubend laute Musik der Rockband, die sich gerade einspielte, nicht hören konnte.

„Ja, gut, danke, Jack. Ich denke, für morgen ist alles fertig …“

Der Lärm blieb und übertönte Jack Davidsons Stimme fast völlig, sodass Lily schnell über den Rasen von der Party fortlief, in der Hoffnung, irgendwo einen ruhigen Ort zum Telefonieren zu finden.

„Ja, ich bin noch da …“, sagte sie laut. „Tut mir leid, die Leitung ist schlecht.“

Sie hielt den Kopf gesenkt und konzentrierte sich ganz auf die Stimme an ihrem Ohr. Jack ging noch einmal die Einzelheiten der Reise mit ihr durch, und die Worte ‚Waisenhaus‘ und ‚Versorgungsstation‘ schienen so gar nicht zu der luxuriösen Umgebung passen zu wollen, in der sie sich befand. Sie ging weiter, umrundete das Schloss und lief auf den offenen Platz dahinter. Sie hatte das üppige Grün der Parkanlage verlassen und überquerte jetzt eine struppige, vertrocknete Wiese hinter dem Gebäude. Die Geräusche der Party waren hier gedämpfter, aber dafür wurde der Lärm der Hubschrauberrotorblätter lauter, die eindringlich durch den warmen Nachmittag pulsierten und die schwere Luft aufwirbelten, bis Lily das Gefühl hatte, im Auge eines Sturms zu stehen.

Hoch über ihr lächelte Tristan Romero, während er sie beobachtete.

Ihm wurde klar, dass er sie nicht früher entdeckt hatte, weil ihr goldenes Haar und ihr gleichfarbiges Kleid sie fast perfekt mit dem trockenen, ausgeblichenen Gras des Feldes verschmelzen ließen. Sie sieht aus wie eine Erntegöttin, dachte er und spürte, wie Neugier ihn durchflutete, während er über ihr schwebte. Sie trug eine Art zierliche Krone aus goldenen Blättern auf dem Kopf, die ihr weizenblondes Haar jedoch nicht davon abhielt, im Wind der Rotorblätter zu wehen. Sie stand still und versuchte, gleichzeitig den Rock ihres Kleides, der sich unter ihr blähte, und ihr windzerzaustes Haar festzuhalten. Was jedoch durch die Tatsache erschwert wurde, dass sie mit einer Hand ein Handy an ihr Ohr und in der anderen ein Champagnerglas hielt.

Er landete direkt vor ihr und konnte nicht widerstehen, die Rotorblätter noch etwas länger als nötig laufen zu lassen, um den spektakulären Anblick ihrer unglaublich langen braunen Beine unter ihrem wehenden Kleid, das gegen ihren absolut unglaublichen Körper gepresst wurde, noch ein wenig zu genießen.

Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor, dachte er, als er sein Headset abnahm und aus der Kabine sprang. In der plötzlichen Windstille hatte sie ihr langes Haar zurückgeworfen, und als er auf sie zuging, konnte er endlich ihr Gesicht sehen. Er fragte sich, ob er schon einmal mit ihr geschlafen hatte.

Nein. An einen solchen Körper hätte er sich sicher erinnert. Sie war groß, aber da war eine ruhige Anmut in ihren Bewegungen, die ihm sagte, dass es eine unvergessliche Erfahrung sein würde, mit ihr ins Bett zu gehen. Tristan spürte, wie sich irgendwo tief unten in seinem erschöpften Körper Verlangen ausbreitete. Sie telefonierte immer noch, den Kopf gesenkt, und war ganz offensichtlich auf das Gespräch konzentriert, das sie führte. Als er näherkam, hörte er sie sagen: „Ja, ja, keine Sorge. Ich weiß, dass es wichtig ist, aber ich habe alles mitgeschrieben. Der Zettel mit den Einzelheiten liegt direkt vor mir.“

Eine wunderschöne Frau, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Wie faszinierend, dachte er, während sie ihr Gespräch beendete und zu ihm aufsah.

Er spürte einen leichten Stromschlag durch seinen Körper laufen, so als hätte er gerade einen elektrisch geladenen Draht berührt. Das kühle, klare Silbergrau ihrer Augen hob sich von den Goldtönen ihres Haares und ihrer Haut und ihres Kleides ab; es war die Farbe des Nebels, der frühmorgens über dem See hing.

„Acht Uhr dreißig“, sagte sie laut. Ihre Stimme klang ein bisschen atemlos, und sie blickte ihn direkt an, schien ihn aber gar nicht wirklich zu sehen. „Acht Uhr dreißig, Morgen früh, Heathrow, Terminal 1.“

Er lächelte und hob eine Augenbraue, während er weiter auf sie zuging. „Ich erinnere dich dran, wenn wir aufwachen“, sagte er trocken.

Es war ein Scherz. Eine beiläufige Bemerkung. Er hatte nicht einmal beabsichtigt, stehen zu bleiben, aber in dem Moment, in dem die Worte seine Lippen verließen, geschahen zwei Dinge.

Erstens hörte er es: das leise, zirpende Surren einer Kamerablende, und zweitens sah er, wie sich diese außergewöhnlich silbernen Augen verdunkelten.

Tristan Romero verfügte über viele Fähigkeiten. Ganz oben auf der Liste standen Frauen verführen und die Presse manipulieren. Er musste nicht einmal darüber nachdenken. Bevor sie ein einziges Wort des Protestes ausstoßen konnte, legte er seine Hand um ihre Hüfte und zog sie an sich.

Das Erste, was Lily an ihm auffiel, waren seine Augen.

Sein dunkles Haar reichte ihm bis fast in den perfekten Nacken, ein Dreitagebart betonte seine scharf geschnittenen Wangenknochen, und seine tief gebräunte, fast goldene Haut stand in krassem Gegensatz zu dem fast erschreckenden Blau seiner Augen. Lily konnte ihren Blick kaum lösen, während sie verzweifelt versuchte, die Anweisungen zu behalten, die man ihr gerade für das Treffen mit dem Rest der Afrika-Expedition morgen durchgegeben hatte, und sie spürte, wie ihre Kehle eng wurde, fast so, als hätte jemand ihr einen Strick darum gelegt und zugezogen. Fest.

Blau.

Ein Blau, in dem man sich treiben lassen konnte.

In dem man untergehen konnte.

Sie hatte laut gesprochen, weil sie wusste, dass alle Informationen, die sie gerade erhalten hatte, in der Gefahr schwebten, in ihrem Kopf zu verdampfen wie Wasser auf einem heißen Stein. Seine Antwort war offensichtlich ein Scherz gewesen, aber ihrem Körper schien die Pointe entgangen zu sein. Die Welt blieb stehen, und die Zeit verschwand in dem Strudel seiner blauen Augen, in dem sie hoffnungslos versank. Lily konnte nichts hören außer dem Hämmern ihres Herzschlages in ihren Ohren, nichts fühlen außer der Hitze auf der Oberfläche ihrer Haut, dem Prickeln, das sie tief unten in ihrem Becken spürte.

Und dann zog er sie an sich, und sie sank nicht mehr. Sie brannte. Sein Kuss war pure Magie. Fest, erfahren und schockierend sanft. Lily fühlte sich, als wäre die untergehende Sonne vom flammendurchzogenen Himmel gefallen und hätte die Welt in Brand gesetzt, und sie stand mitten in den leckenden Flammen und wollte auf keinen Fall gerettet werden. Sein Arm lag um ihre Hüfte, seine Hand ruhte auf ihrem Rücken. Lily spürte, wie sie sich ihm hilflos entgegenreckte, während ihre Hände – die immer noch ihr Handy und ihr Champagnerglas hielten – nutzlos herunterhingen. Ihre Lippen öffneten sich für ihn, und heiße Lust glitzerte und glühte in der Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Augen.

„Er ist da!“

Es war nur ein entfernter Ruf, aber plötzlich hob er den Kopf und zog sich ein Stück zurück. Er blickte sie mit seinen blauen Augen an, und für eine Sekunde sah Lily einen fast verzweifelten Ausdruck in ihnen. Doch dann war er wieder verschwunden, und der Mann ließ sie los.

Benommen drehte sie sich um. Tom und Scarlet kamen Hand in Hand über die Wiese auf sie zu, gefolgt von zahlreichen jungen Frauen, die wie Feen und Meerjungfrauen und Waldnymphen in schimmernde Seide und fließenden Chiffon gehüllt waren.

„Endlich!“, rief Tom, und auf seinem freundlichen Gesicht erschien ein breites Grinsen, während er auf den Mann zuging, der gerade wie ein Racheengel vom Himmel gefallen war und von dessen Kuss Lily beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Dem blassen, romantischen und sehr englischen Tom passte das St. George-Kostüm wie angegossen, und er wirkte rein und edel neben dem gefährlich attraktiven Fremden. „Wie ich sehe, hast du Lily schon kennengelernt“, sagte er lachend.

„Lily …“ Die unglaublich perfekten Lippen, die noch vor wenigen Augenblicken ihre liebkost hatten, hoben sich jetzt zu einem ironischen, spöttischen Lächeln, während die blauen Augen über sie glitten und den goldenen Lorbeerkranz und das Faltenkleid im griechischen Stil registrierten. „Das macht es einfacher. Ich war nicht sicher, ob Sie als Helena von Troja oder Erntegöttin Demeter gehen.“

Lily spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ich dachte eher an Helena von Troja …“, sagte sie verlegen und wich seinem Blick aus.

„Natürlich. Das Gesicht, das eintausend Produkte eingeführt hat. Sie sind das Mädchen aus der Parfümwerbung, nicht wahr?“

Lily nickte und sprang zurück wie ein erschrecktes Reh, als er nach ihrer Hand griff und sie langsam hob. Zuerst glaubte sie, er wolle ihre Hand küssen, doch er drehte sie mit der Handfläche nach oben. Sein Daumen strich über die dünne, von blauen Venen durchzogene Haut über ihrem Handgelenk. Dann beugte er den Kopf darüber und atmete ein.

„Immer wenn ich einen dieser Werbespots sehe, frage ich mich, ob das Parfüm so gut riecht, wie Sie es aussehen lassen“, sagte er nachdenklich. „Aber ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist.“

Seine Stimme schien in sie hineinzugreifen und Stellen in ihrem Körper zu streicheln, an denen sie noch niemals berührt worden war. Sein Englisch war perfekt, aber der spanische Akzent durchzog es wie Wein, der durch Wasser fließt. Lily musste sich zwingen, sich auf seine Worte zu konzentrieren. „Nicht heute Abend. Ich trage heute kein Parfüm.“

Oh Gott. Hatte sie das wirklich gesagt?

„Tatsächlich?“ Seine Lippen hoben sich zu einem Lächeln, das die Polkappen hätte schmelzen lassen, erreichte jedoch nicht diese kühlen blauen Augen. „Was für eine überaus reizvolle Vorstellung.“

Einen Herzschlag lang blickte er sie an, dann wandte er sich ab.

Und genau das ist seine Methode, dachte Lily, während Hitze und Erregung sie durchflossen, sie von innen aushöhlten und ihren logischen Verstand abschalteten. Wer immer er war, er konnte einen mit einer Hand an sich ziehen und einem mit der anderen die Tür vor der Nase zuschlagen. Es war nicht nett, aber, mein Gott, es war effektiv. Sie fühlte sich desorientiert, aus den Angeln gehoben von dem, was passiert war, als hätte er sie entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen und sie dann zurück in ihr normales Leben gestoßen.

Lily war sich bewusst, dass Scarlet verzweifelt versuchte, ihr ein Zeichen zu geben, aber dann zog Tom sie nach vorn und sagte mit gespielter Förmlichkeit: „Scarlet, ich möchte dir Tristan Romero de Losada Montalvo vorstellen. Er ist der Marqués von Montesa und mein ältester Freund.“

Lilys Herz zog sich so heftig zusammen, als hätte jemand versucht, sie mit einem Stromstoß wiederzubeleben.

Tristan Romero de Losada Montalvo?

Oh Gott. Wie hatte sie ihn nicht erkennen können?

Doch die Wahrheit war, dass keines der körnigen Teleobjektivfotos in der Klatschpresse oder irgendeine der Nahaufnahmen vom roten Teppich in den Hochglanzmagazinen sie auf die Wirkung hätte vorbereiten können, die der Marqués von Montesa in seiner bronzefarbenen Schönheit auf sie haben würde, als er vor ihr stand.

Nachdem sie die Vorstellung hinter sich gebracht hatten, kam Scarlet zu Lily, hakte sich bei ihr ein und zog sie ein Stück von den anderen fort in Richtung Schloss.

Lily war immer noch fassungslos. „Toms bester Freund ist Tristan Romero de Losada? Aus der superaristokratischen spanischen Bankerfamilie?“

Scarlet sah sie amüsiert an. „Genau. Sie sind schon länger befreundet als wir, weil sie schon als kleine Jungs zusammen in irgendeinem trostlosen Internat gehockt haben.“

In Lilys Kopf drehte sich alles. Sein unglaublicher Kuss, den sie immer noch auf ihren Lippen spüren konnte, mischte sich mit Entsetzen und Scham, dass sie sich so einfach hatte überrumpeln lassen. „Aber Tom ist so nett“, sagte sie verwirrt, „und er ist … er ist … verrucht.“

„Lil-y!“, meinte Scarlet tadelnd. „Du müsstest doch besser als die meisten wissen, dass man nicht alles glauben darf, was in den Zeitungen steht – und dass da nie die ganze Geschichte erzählt wird. Tom lässt nichts auf ihn kommen – offenbar hat Tristan ihm bei mehr als einer Gelegenheit treu zur Seite gestanden, als er in der Schule schikaniert wurde. Wie auch immer“, sagte sie und sah Lily mit einem spekulativen Blick an, „wie kommt es, dass du so viel über ihn zu wissen scheinst? Für jemanden, der lieber Nietzsche im Original als die Klatschspalten liest, bist du erstaunlich gut informiert.“

„Diesen Mann kennt doch jeder“, murmelte Lily düster, während sie zum Schloss zurückgingen. „Dafür muss man die Klatschblätter gar nicht lesen. In den seriösen Zeitungen und der Finanzpresse taucht der Name Romero genauso oft auf.“ Die meisten Reporter schwankten zwischen Ablehnung und Bewunderung, wenn es um die atemberaubende Rücksichtslosigkeit ging, mit der die Romero-Bank alle wirtschaftlichen Krisen der modernen Zeit überstanden hatte und einer der wichtigsten Player auf dem globalen Finanzmarkt geblieben war. Außerdem konnte niemand leugnen, dass die Romero-Familie zu den reichsten und mächtigsten der Welt gehörte.

„Und überhaupt“, erwiderte Lily und merkte, dass sie dabei gegen ihren Willen wie ein trotziges Kind klang, „als was geht er denn eigentlich? Als James Bond? Der ist wohl kaum ein Mythos oder eine Legende.“

„Darling, er geht als gar nichts. Er ist der Einzige, für den Tom eine Ausnahme beim Kostümzwang macht. Er kommt als er selbst – als der legendäre europäische Playboy und mystische Sexgott. Er wird irgendeine Party auf einer Jacht vor Marbella oder das Bett irgendeiner wahnsinnig schönen Frau in einem Château an der Loire verlassen haben, um auf direktem Weg hierherzukommen.“ Sie lachte, unterdrückte es jedoch schnell und beugte sich näher zu Lily hinüber. „Und er hat es wohl ziemlich eilig gehabt, würde ich sagen. Sieh dir sein Hemd an. Es ist falsch geknöpft.“

Lily sah sich um, und ihre Augen wanderten automatisch zu seiner Brust. Scarlet hatte recht. Unter dem dunklen, leicht zerknitterten Jackett seines perfekt geschnittenen Anzugs steckte sein weißes Hemd nicht in der Hose. Der Kragen stand offen und saß schief, sodass ein Stück tiefgoldene Haut und sein breites Schlüsselbein zu sehen waren.

Sie war nicht sicher, was schlimmer war: die Wut, die in ihr aufstieg, weil der Kuss, der sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, etwas Beiläufiges, Wahlloses für diesen Mann gewesen war, der eben erst dem Bett einer anderen Frau entstiegen zu sein schien.

Oder das schmerzhafte Verlangen und das beschämende Wissen, dass es ihr egal war. Dass sie ihn unbedingt noch einmal küssen wollte.

„Alles okay?“, fragte Tom leise. Sie waren über das Feld zurückgegangen und näherten sich jetzt dem Zelt, in dem sich die Bar befand.

Tristan nickte knapp. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich kam einfach nicht weg.“

„Kein Problem. Für mich jedenfalls nicht, obwohl deine zahlreichen weiblichen Verehrerinnen schon langsam unruhig wurden. Ich wusste schon keine Antwort mehr auf die Frage, wo du eigentlich seist.“

„Offiziell auf einer Hausparty in St. Tropez.“

Tom warf ihm ein schnelles Lächeln zu. „Das muss eine ziemlich wilde Party gewesen sein. Vielleicht knöpfst du besser dein Hemd richtig zu, alter Freund, bevor es jemand anderes versucht.“

Tristan sah mit einem düsteren Gesichtsausdruck an sich herunter. Er war so müde gewesen, als er sich nach der Landung auf einem nahe gelegenen Flughafen hastig umzog, dass er kaum hatte geradeaus gucken können. Nicht gerade die idealen Voraussetzungen, um sich für das anzukleiden, was stets als der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres bezeichnet wurde. Musik, die aus einem der Zelte auf die Wiese drang, pulsierte durch die Luft, eine hartnäckige Erinnerung daran, dass noch eine schlaflose Nacht vor ihm lag.

„Das ist also die offizielle Version“, meinte Tom nüchtern. „Und wo warst du wirklich?“

„In Khazakismir“, erwiderte Tristan leise. Er blickte geradeaus und knöpfte sein Hemd richtig zu, während sie über den Rasen auf die Zeltbar zugingen.

Tom zuckte bei dem Namen zusammen. „Ich hatte gehofft, dass du das nicht sagen würdest. Es dringen kaum Nachrichten aus diesem Gebiet bis zu uns, aber ich schätze, die Lage ist ziemlich ernst?“

Der Name der kleinen Provinz in einer abgelegenen Gegend Osteuropas war durch einen mehr als zehn Jahre andauernden Krieg, an dessen ursprünglichen Anlass sich niemand mehr erinnern konnte, zum Synonym für Verzweiflung und Gewalt geworden. Die Macht ruhte in den blutbefleckten Händen eines korrupten Militärregimes und einiger Drogenbarone, die jedes Zeichen von Widerstand in der Bevölkerung sofort und rücksichtslos erstickten.

Letzte Woche erst war die Nachricht durchgesickert, dass man ein ganzes Dorf abgeschlachtet hatte.

„Das kann man so sagen.“ Eine Tür ins Tristans Gehirn schwang auf und ließ einen Augenblick lang Bilder in seinen Kopf strömen, bevor er sie wieder aus seinem Gedächtnis verbannte. „Einer unserer Fahrer ist von den neuen Entwicklungen betroffen. Seine ganze Familie wurde umgebracht – alle außer seiner schwangeren Schwester.“ Sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. „Wie es scheint, waren die Militärs ganz wild darauf, die brandneuen Waffen auszuprobieren, über die sie dank der großzügigen Kredite der Romero-Bank verfügen.“

Tom blieb am Zelteingang stehen und legte Tristan die Hand auf den Arm.

„Bist du in Ordnung?“

„Ja“, erwiderte er knapp. „Du kennst mich. An der humanitären Hilfe bin ich nicht beteiligt. Ich bin nur da und kümmere mich um die praktischen Dinge. Stelle das Gleichgewicht wieder her.“

Er sah Tom nicht an, während er sprach, sondern blickte stattdessen über seine Schulter in die Ferne, wo der See und der Turm, der in der Mitte auf einer Insel lag, in Nebel getaucht waren. Ein Muskel zuckte auf seiner Wange.

„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte Tom leise.

Tristan warf ihm ein kurzes, ironisches Lächeln zu, während sie in das Zelt traten. „Ich bin schon länger nirgends mehr gesehen worden, deshalb wäre es gut, wenn ich der Presse mal wieder etwas zum Fraß vorwerfen könnte. Sollten sie mich irgendwie mit den Aktivitäten dort drüben in Verbindung bringen, wäre das ein sicherheitstechnischer Albtraum.“

Tom lächelte ununterbrochen, während er sich den Weg zur Bar bahnte, und nickte seinen Gästen freundlich zu. Leise sagte er: „Das lässt sich leicht arrangieren. Such dir einfach eine Prominente und zeig ihr öffentlich deine Zuneigung, dann verwandeln sich ganz sicher auch die zahmen Fotografen, die hier sind, in hirnlose Wilde, die die Bilder bis Montag an jedes Hochglanzmagazin und jedes Klatschblatt verkaufen.“ Er nahm zwei Gläser von dem Tablett auf der Bar und gab Tristan eines davon. „Cheers, alter Freund. Also – wer wird es diesmal werden?“

„Lily.“ Tristan sah, wie Toms offenes Lächeln schwand.

„Nein. Auf keinen Fall. Das ist keine gute Idee.“

„Warum nicht? Sie ist prominent.“ Und schön, daran bestand kein Zweifel. Selbst müde und erschöpft fühlte sich Tristan von ihr angezogen, was ihn überrascht hatte. Es war allerdings mehr als das. Als sie da drüben in seinen Armen gelegen und er in ihre leicht schräg stehenden silbergrauen Augen geblickt hatte, da hatte er sich fast gefühlt wie …

Ein Mensch?

„Und sie ist außerdem Scarlets beste Freundin“, erklärte Tom streng. „Wenn du sie unglücklich machst – und sehen wir den Tatsachen ins Auge, das wirst du tun –, dann machst du damit auch mich unglücklich.“

„Warum sollte ich sie unglücklich machen?“ Tristan trank den Champagner in einem Zug aus. „Sie ist ein Model, Tom; sie bekommt etwas Glitzerndes und Teures von Cartier und jede Menge Publicity, und ich befriedige die Presse, die mich so gerne als nutzlosen Playboy darstellt, und lenke sie so von der Spur ab. Dann sind alle glücklich.“

Tom sah besorgt aus. „Ich glaube nicht, dass Lily so ist.“

„Du bist zu nett, Tom, mein Freund“, erwiderte Tristan grimmig und nahm sich ein weiteres Glas. „Sie sind alle so.“

2. KAPITEL

Als es dämmerte, legte sich eine Art Zauber über alles. Papierlaternen leuchteten blass in den Bäumen, und die funkelnden Sterne am violetten Himmel sahen aus, als wären sie nur zur Freude der Gäste dort angebracht worden.

Was Lily nicht überrascht hätte. Nichts schien unmöglich an diesem Abend.

Zuerst liefen Kellner herum und boten kühle grüne Cocktails an, die nach Melone und Champagner schmeckten. Dann ritten als Baum- und Waldnymphen verkleidete Mädchen unter den im Schatten liegenden Bäumen hervor, auf weißen Pferden, die zarte, gedrehte Hörner auf der Stirn trugen. Zu den eindringlichen Klängen eines ganzen Orchesters, das eine umwerfend schöne Frau mit einer elektrischen Geige anführte, hatten sie Pirouetten gedreht und die Pferde auf die Hinterhand steigen lassen, bis Lily nicht mehr sicher war, ob sie nicht träumte. Einmal während der beeindruckenden Parade der Einhörner sah sie kurz Tristan, der mit halb aufgeknöpftem Hemd auf der anderen Seite des Festplatzes stand, den Arm um eine bekannte, als Pocahontas verkleidete Hollywood-Schauspielerin geschlungen. Ein Schock durchzuckte sie wie ein kleiner, heftiger Stromschlag, als sich ihre Blicke für einen Augenblick begegneten.

Als sie das nächste Mal hinsah, war er verschwunden.

Schließlich endete die Vorführung, und die Einhörner verschmolzen wieder mit den Schatten unter den Bäumen. Lily drehte sich um und wollte Scarlet etwas sagen, aber ihre Freundin war ein Stück weiter gegangen und stand jetzt bei Tom. Er hatte einen Arm um ihre Hüfte geschlungen, und während Lily zusah, zog er Scarlet an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Lily spürte einen schmerzhaften Stich tief in ihrer Brust und wandte sich ab.

Sie und Scarlet waren lange ein Team gewesen. Ihre gesamte Schulzeit auf der ziemlich rauen Gesamtschule in Brighton hatten sie gemeinsam verbracht – zusammengeschweißt durch die Tatsache, dass sie beide groß und dünn waren und deshalb gehänselt wurden. Bis zu dem Tag, an dem die Agentin Maggie Mason sie bei einem Einkaufsbummel in The Lanes entdeckte und sie nach London zu einem Casting bei einer Modelagentur einlud. Lily war eigentlich fest entschlossen gewesen, zu studieren, und hatte Maggies Karte nur Scarlet zuliebe entgegengenommen. Aber sie waren nun mal die beiden Hälften eines Ganzen – völlig verschieden zwar, aber doch immer zusammen.

Was auch, wie Lily sich eindringlich erinnerte, der Grund ist, warum du dich so für Scarlet freust. Tom war wunderbar, und wenn sie an all die ungeeigneten Männer dachte, in die ihre Freundin sich hätte verlieben können …

Tristan Romero de Losada Montalvo zum Beispiel.

Die Violinistin spielte jetzt ein langsames Solo, eine leise, traurige Melodie, die über die nebligen Felder und die sanften Hügel hallte, die das Schloss umgaben. Noch ein Pferd galoppierte in den Kreis, diesmal mit einem fantastischen Paar Flügel am Sattel. Ein entzücktes Murmeln lief durch die Menge, das sich schnell in einen überraschten Ausruf verwandelte, als die spärlich bekleidete junge Reiterin den Deckel des Korbes öffnete, den sie trug.

Federn waren zu sehen, man hörte Flügel schlagen, und dann flog ein Schwarm weißer Tauben in den Himmel. In dem dunkelvioletten Licht waren ihre Flügel beinahe durchscheinend. Für einen Moment hingen sie scheinbar bewegungslos in der Luft, so als wüssten sie nicht, was sie mit ihrer unerwarteten Freiheit tun sollten, und aus den Augenwinkeln sah Lily jemanden aus der Menge treten. Sie drehte den Kopf, und wurde gerade noch Zeuge, wie der Mann in dem Robin Hood-Kostüm seinen Bogen hob und einen Pfeil abschoss.

Ein machohaftes Gejohle erklang aus der Gruppe um ihn herum, während eine der Tauben hilflos flatternd an Höhe verlor. Lily konnte den Pfeil sehen, der seitlich in dem Vogel steckte und ihn nach unten zu ziehen schien. Wie durch ein Wunder fiel er jedoch nicht auf die Erde, sondern fing sich ab und flog dann mit merkwürdig schiefen Flügelschlägen auf den See zu.

Lily kochte vor Wut. Die Showeinlage war vorbei, und die Menge bewegte sich auf die nächste Unterhaltung zu, aber Lily begann die zum Wasser abfallende Wiese hinunterzulaufen. Das Gras war kühl und feucht unter ihren nackten Füßen, und als sie näher an den See kam, wurde der Boden weicher. Mit wild klopfendem Herzen bahnte sie sich den Weg durch das dichte Unterholz und sah sich um, blickte über die glasklare Wasseroberfläche auf die Insel in der Mitte.

Die verfallenen Mauern eines Wehrturms zeichneten sich dunkel vor dem schwachen Violett des Himmels ab. In der Stille konnte sie das aufgeregte Schlagen von Flügeln hören. Tauben stiegen von der Ruine auf, und Lily strengte ihre Augen an, um in der Dunkelheit erkennen zu können, ob die verletzte dabei war. Aber es war unmöglich, irgendetwas klar auszumachen.

Frustriert und verzweifelt wollte sie gerade wieder umdrehen, als sie einen kleinen Holzsteg bemerkte, der zur Insel hinüberführte. Er war schmal, und die Bretter wirkten alt und glatt, aber als Lily hinlief, stellte sie fest, dass er stabil gebaut war. Obwohl der Abend warm war, fröstelte sie, als sie auf die dunkle Insel trat. Die Musik und das Gelächter der Party schollen zwar entfernt über den See herüber, doch hier war alles tintenschwarz und substanzlos; graue Schemen, die miteinander verschmolzen, bis man nicht mehr sagen konnte, was wirklich war und was ein Schatten. Die Luft roch nach Rosen, und in der indigofarbenen Dämmerung konnte Lily ihre blassen Blüten um die schmale Tür des Turmes herum stehen sehen.

Ihr Herz hämmerte so wild gegen ihre Rippen, dass Lily spürte, wie es ihren ganzen Körper zum Zittern brachte. Zögernd und fast hoffend, dass die Tür verschlossen sein würde, legte sie die Hand gegen das verwitterte Holz.

Die Tür sprang auf, ohne dass sie überhaupt drücken musste, und Lily keuchte panisch auf, als unvermittelt eine Gestalt im Türrahmen erschien, deren weißes Hemd sich in dem trüben Licht gespenstisch hell abzeichnete. Sie sprang zurück und presste die Hand vor den Mund, um ihre Angst nicht herauszuschreien, als der Mann nach ihr griff und sie an sich zog.

„Helena von Troja.“ Seine Stimme war sehr tief, sehr wütend und sehr spanisch. Er schüttelte sie leicht. „Du bist mir gefolgt, nehme ich an?“

Lily Herz hüpfte ihr beinahe aus der Brust, aber die Arroganz seiner Worte drang durch ihre schockierte Benommenheit. „Nein! Ich bin gekommen, weil ich nach einem Vogel suche … einer verletzten Taube. Irgendein … Idiot mit Pfeil und Bogen hat auf sie geschossen, als sie freigelassen wurden, und sie flog in diese Richtung. Ich wusste nicht, dass Sie hier sind …“ Sie hielt plötzlich inne, als ihr voller Entsetzen die wahrscheinlichste Erklärung dafür einfiel, warum Tristan Romero während einer rauschenden Party auf eine abgeschiedene Insel flüchtete. Hastig machte sie einen Schritt zurück. „Tut mir leid. Ich gehe.“

Er griff nach ihrem Handgelenk. „Nein. Lassen Sie sich von mir nicht von Ihrer mildtätigen Mission abhalten“, sagte er gedehnt. „Auf dem Dach ist ein Taubenschlag. Gehen Sie rauf und suchen Sie dort nach Ihrem verletzten Vogel.“

Sie zögerte und dachte an die Pocahontas-Frau. „Sind Sie allein hier?“

„Ja.“ Verglichen mit seinem weißen Hemd wirkte seine Haut sehr dunkel, und es war unmöglich, sein Gesicht genau zu erkennen. Aber als er lachte, klang seine Stimme nicht fröhlich. „Ich nehme an, Tom hat Sie vor mir gewarnt. Vielleicht möchten Sie lieber mit einer Anstandsdame wiederkommen?“

Seine Finger lagen noch immer um ihr Handgelenk, und Lily konnte fühlen, wie ihr hämmernder Puls gegen seinen Daumen schlug. „Seien Sie nicht albern“, sagte sie in dem tapferen Versuch, höhnisch zu klingen. „Ich wollte nur bei nichts stören, das ist alles. Wenn Sie mir jetzt zeigen könnten, wo ich langgehen muss?“

Er ließ sie los und trat zurück in den Schatten. „Oben am Ende der Treppe.“

Im Turm war die Luft kühl und feucht. Eine Steintreppe wand sich nach oben, und Lilys nackte Füße machten kein Geräusch auf den eiskalten Stufen, während sie hinaufstiegen. Die Treppe öffnete sich auf halber Höhe zu einem kleinen Absatz, wo durch eine schmale Schießscharte weiches Licht auf eine geschlossene Tür fiel. Lily blieb vor der Tür stehen, aber Tristan ging an ihr vorbei eine weitere gewundene Treppe hinauf.

Oben schob er noch eine Tür auf und blieb stehen, um sie zuerst durchzulassen. Lily trat hinaus, wandte sich langsam nach allen Seiten um und stieß dann ehrfürchtig die Luft aus.

Von unten sah es so aus, als wäre der Turm mit seinen zerbrochenen, unebenen Steinwänden halb verfallen, aber jetzt konnte sie erkennen, dass das eine absichtliche Täuschung war. Die Plattform, auf der sie jetzt stand, war von glatten Steinfliesen bedeckt, und überall an der Innenseite der dicken Steinwände, die von außen so baufällig aussahen, befanden sich versteckte Simse, auf denen Vögel nisten konnten. Aber das beeindruckte sie gar nicht. Es war der Ausblick, der ihr den Atem nahm. Über den niedrigsten Teil der Mauer konnte sie im Dämmerlicht die Bäume sehen, die weit hinten am Ufer des Sees standen. Vorne am Turm war die Mauer höher, aber ein schmales Bogenfenster im gotischen Stil erlaubte einen Ausblick über den See auf die Gärten und das Schloss und die Felder dahinter, ohne dass man selbst gesehen werden konnte. Lily ging hinüber zu dem Fenster.

„Das ist unglaublich. Ich dachte, das hier wäre eine Ruine, eine leere Hülle.“

„Den Eindruck soll es auch machen“, erwiderte Tristan, der an der Tür stand. „Der Turm wurde von einem von Toms erfinderischen Vorfahren gebaut und sollte dekorativ, aber funktionslos wirken. Tatsächlich war es eine unglaublich geschickt getarnte Spielhölle. Das hier war der Ausguck für die Wache, sodass jeder, der sich näherte, gesehen wurde, bevor er auch nur die Chance hatte, seinen Fuß über die Schwelle zu setzen.“

Er stieß sich vom Türrahmen ab, und während er langsam auf sie zukam, fühlte Lily sich plötzlich ganz leicht und atemlos. In dem diesigen Halbdunkel waren seine Augen dunkelblau und sein Gesicht ernst, und sie spürte wieder diese müde Verzweiflung, die sie schon vorher einmal kurz an ihm entdeckt hatte. Plötzlich war es ihr unmöglich, diesen unfassbar attraktiven Mann, der Traurigkeit wie einen unsichtbaren Umhang trug, mit dem genusssüchtigen Playboy in Einklang zu bringen, dessen freizügiger Lebensstil die Regenbogenpresse so faszinierte.

„Sie haben recht.“

Lily keuchte leise auf und fragte sich, ob er wohl soeben ihre Gedanken erraten hatte, doch dann hob er eine Hand und deutete auf einen Sims an der Wand hinter ihr.

„Die verletzte Taube“, sagte er tonlos. „Sie ist hier.“

„Oh …“ Sie runzelte die Stirn und hockte sich hin. Ihr langes Haar verdeckte dabei die Röte, die ihr in die Wangen geschossen war.

Die Taube drückte sich ganz ans Ende des Nistplatzes. Ihr Flügel stand in einem merkwürdigen Winkel ab, und die Federn waren an der Stelle, wo der Flügel mit dem Körper verwachsen war, blutrot. „Armes Ding …“, lockte Lily leise. „Armes, armes Ding …“

Tristan spürte, wie ihm unerwartet die Kehle eng wurde. In ihrer Stimme schwang eine Zärtlichkeit mit, die an seinen eisenharten Abwehrmauern vorbeidrängte und ihn direkt in sein geschundenes, verstörtes Herz traf.

Normalerweise schlich er mit der Gewandtheit eines Straßenkaters zwischen seinen verschiedenen Leben hin und her und schlug die Tür zwischen den beiden Hälften seiner Welt immer fest hinter sich zu. Aber heute Abend – dios –, heute fiel es ihm schwer, das alles hinter sich zu lassen. Die lärmende Ausgelassenheit der Party brannte auf seinen angeschlagenen Nerven wie Salz auf einer offenen Wunde. Deshalb hatte er weggehen müssen. Aber das hier …

Dieses sanfte Mitgefühl war fast schlimmer. Weil er ihm viel schwerer widerstehen konnte.

„Ich glaube, ihr Flügel ist gebrochen“, sagte Lily leise. „Was können wir tun?“

Tristan blickte hinüber auf den Rasen zu den funkelnden Lichtern des Festes. „Nichts“, sagte er und hörte die Härte in seiner Stimme. „Wenn das der Fall ist, dann wäre es das Beste, ihr Leiden schnell zu beenden und sie zu töten.“

„Nein!“, widersprach Lily sofort leidenschaftlich. Sie stand auf, stellte sich zwischen ihn und die Taube, fast so, als habe sie Angst, dass er sich den Vogel greifen und ihm vor ihren Augen den Hals umdrehen könnte.

„Das können Sie nicht. Das würden Sie …“

„Warum nicht?“, sagte er brutal, als Bilder von dem Ort, an dem er noch vor Kurzem gewesen war, mit scharfer, greller Beharrlichkeit in seinem Kopf aufblitzten. Das war doch nur ein Vogel, meine Güte. Ein verletzter Vogel; es war schade, aber keine Tragödie. „Warum sein Leiden nicht beenden?“

„Weil Sie nicht einfach so Gott spielen dürfen“, erwiderte sie leise. „Niemand von uns darf das.“

Im letzten Licht des sich neigenden Tages sah sie unnahbar und auf eine mystische Weise schön aus. Nicht von dieser Welt. Was wusste sie vom Leiden? Er konnte seinen Herzschlag in seinen Ohren dröhnen hören, aber ihre Worte drangen zu ihm durch, explodierten in seinem Kopf. Nein? wollte er sagen. Wer soll es dann tun? Es ist nicht die Macht, die Menschen Gott spielen lässt, sondern die Verzweiflung.

Er wandte sich abrupt ab und ging zurück zur Tür, die zur Treppe führte. „Es geht nicht darum, ob wir das Recht dazu haben“, sagte er niedergeschlagen. „Es geht darum, ob wir den Mut haben.“

„Warten Sie!“

Auf dem kleinen Absatz auf der Treppenmitte blieb er stehen. Er lehnte sich gegen die geschlossene Tür in seinem Rücken und sah, wie sich das blaue Zwielicht verdunkelte, als sie die zweite Tür oben an der Treppe wieder schloss und zu ihm herunterkam. Kopfschüttelnd stieg sie die letzten Stufen herunter.

„Ich habe ihn nicht“, sagte sie mit leiser Stimme. „Ich habe nicht den Mut, sie zu töten. Was sollen wir machen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Manchmal muss man einfach akzeptieren, dass es nichts gibt, was man tun kann.“

„Aber das ist …“

„Das Leben“, sagte er ausdruckslos. „Das ist …“

Doch er beendete seinen Satz nicht, weil die Dämmerung in diesem Moment von zwei lauten Explosionen zerrissen wurde, die eine Kette von albtraumhaften Bildern in ihm detonieren ließen und sofort Adrenalin durch seine Adern pumpten. Er sah Lily heftig zusammenzucken. Ihr Kopf fuhr zum Fenster herum, und ihre Augen weiteten sich erschrocken. Er handelte nur noch instinktiv. Ohne nachzudenken, griff er nach ihr und zog sie an seinen Körper, gegen sein wild hämmerndes Herz, während er mit der Schulter die Tür in seinem Rücken aufdrückte und sie in das dahinter liegende Zimmer zog.

Im nächsten Moment wurde der Himmel hinter den beiden großen, gewölbten gotischen Fenstern von einem glitzernden Sternenregen erhellt.

Feuerwerk. Es war ein Feuerwerk. Keine Bomben und Granaten. Erleichterung durchflutete ihn, einen Herzschlag später gefolgt von einem anderen Gefühl, weniger willkommen, aber genauso machtvoll, als er sich bewusst wurde, dass sich Lilys unter dem Seidenkleid verborgenen Brüste gegen seine Brust pressten. Während eine weitere Salve von Explosionen den Himmel durchzuckte, rückte sie von ihm ab und lachte unsicher.

Und dann blickte sie sich in dem sechseckigen Zimmer mit den blassgrauen Wänden, den gewölbten Fenstern und dem Bett mit den geschnitzten Pfosten in der Mitte um, und plötzlich lachte sie nicht mehr.

„Ihrs?“, flüsterte sie.

Er nickte kurz. Über die Jahre hatte er Tom mehr Geld geliehen, als sie beide noch nachhalten konnten oder wollten. Der Turm war der symbolische Gewinn seiner Investitionen. „Hier komme ich her, wenn ich allein sein will.“

Sie sahen sich an, und die Zeit schien stillzustehen. Lilys volle Lippen waren geöffnet, ihr Atem ging schnell, und in ihren grauen Augen spiegelten sich die schimmernden Farben des Feuerwerks, das über ihnen explodierte. Dann blinzelte sie und wandte den Blick ab.

„Oh, ich verstehe, tut mir leid – ich gehe.“

Sie wandte sich zur Tür, doch bevor sie sie erreichte, schlug Tristan sie zu und lehnte sich mit den Schultern dagegen.

„Aber heute Abend will ich nicht allein sein.“

3. KAPITEL

Adrenalin rauschte durch Tristans Adern und ließ sein Herz schnell und beinahe schmerzhaft schlagen. Es vibrierte durch seinen ganzen Körper, während draußen das Feuerwerk weiterging – eine unerwünschte Erinnerung an die Dinge, die er so dringend vergessen wollte.

In dem schummrigen Licht wirkte Lilys leuchtende Schönheit beinahe überirdisch. Sie sah ihm immer noch in die Augen, und er spürte, wie sich die Panik in ihm zurückzog, weggewaschen wurde von der warmen, betäubenden Flut des Verlangens. Er konnte keinen rationalen Gedanken mehr festhalten, sie rannen ihm wie Sand durch die Finger. Einen Moment lang kämpfte er dagegen an, versuchte sich in der Welt der Vernunft zu verankern. Doch dann kam Lily auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand, und er konnte die Schatten sehen, die ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen, und den Lufthauch des geflüsterten Seufzens auf seiner Haut spüren, als sie zitternd ausatmete.

„Ich will auch nicht allein sein“, sagte sie mit leiser Stimme. „Aber ich möchte auch nicht auf die Party zurück.“

Langsam, fast widerstrebend streckte er die Hand aus und berührte die schimmernde Kurve ihrer nackten Schulter mit den Fingerspitzen. Er fühlte, wie sie unter seiner Berührung leicht zusammenzuckte, als hätte er sie verbrannt, und Verlangen durchzuckte ihn wie ein Schock.

Sehr langsam beugte er den Kopf, legte die Lippen an ihre Schulter und atmete ein. „Magst du keine Partys?“

„Ich mag keine Menschenansammlungen. Ich bin lieber …“, sie keuchte zitternd auf, als sein Mund ihre Schulter berührte, „… allein. Ich werde nicht gerne angesehen.“

„Dann hast du definitiv den falschen Beruf“, meinte Tristan belustigt.

„Wem sagst du das.“

In ihrer Stimme schwang ein so sehnsüchtiger Schmerz mit, dass er ihr Kinn anhob und ihr ins Gesicht sah. Für einen flüchtigen Moment erkannte er Trostlosigkeit darin, aber dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, kam ihm mit geöffneten Lippen entgegen und küsste ihn, und die Fragen, die sich in seinem Kopf geformt hatten, schmolzen wie Schnee im Sommer.

Er wollte es ohnehin nicht wissen. Er wollte nicht mit ihr reden, Herrgott noch mal. Das hier war rein körperlich.

Es ging nicht um Gefühle.

Es ging niemals um Gefühle.

Ihre Hände legten sich um sein Gesicht, ihre Finger glitten in sein Haar und zogen ihn zu ihr, drängend, fordernd. Er spürte einen Hunger in ihr, der seinem glich. Das Seidenkleid hing lose von ihren Schultern, und er wusste, dass er nur die schmalen Träger zur Seite schieben musste, damit es zu Boden fiel. Aber er zwang sich zu warten und sein wildes Verlangen zu zügeln.

Schließlich war er vor allem deswegen gekommen. Tom und die Presse waren nur bequeme Ausreden.

Das hier war seine Rettung, sein reinigendes Feuer. Hier konnte er sich verlieren und die Bilder der letzten Woche aus seinem Kopf löschen, die ihn verfolgten, wann immer er die Augen schloss. Es spielte keine Rolle, wessen Körper er liebkoste, wessen Lippen er küsste. Es bedeutete nichts. Es war nur ein Mittel zum Zweck.

Ein Weg, sich an die Freuden des Lebendigseins zu erinnern, an die Freuden des Fleisches.

Ein Weg, um zu vergessen.

Lily löste sich von ihm und holte tief Luft, versuchte sich gegen die anschwellende Flut von purem Verlangen zu stemmen, die sie von den Füßen zu reißen drohte. Doch in dem schnell schwindenden Licht schien es ihr unmöglich, die Realität festzuhalten. Tristans Hände lagen auf ihren Schultern, seine Daumen unter ihrem Kinn, die sie davon abhielten, den Kopf zu senken und seinem Blick auszuweichen. Im blauvioletten Dämmerlicht wirkten seinen Augen so tief und dunkel wie die karibische See.

„Ich muss dich warnen“, sagte er rau, „wir werden nur diese eine Nacht miteinander verbringen. Keine Beziehung, keine Verpflichtungen, kein Sie-lebten-glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage. Willst du es unter diesen Umständen immer noch tun?“

Seine Ehrlichkeit nahm ihr für einen Moment den Atem. Keine Versprechen, keine Lügen. Irgendwo tief in ihrem Innern spürte sie einen schmerzhaften, enttäuschten Stich, aber er wurde gedämpft von der schwindelerregenden Lust, die wie eine Droge durch ihren Körper pulsierte. Morgen früh würde sie nach Afrika fahren – in eine andere Welt, würde ihrem Leben eine neue Richtung geben. Dieser Abend war etwas Besonderes; eine Brücke zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben. Es gab keine Regeln, nur das, was der Moment ihr befahl: das Morgen zu vergessen und sich selbst eine Erinnerung zu schenken.

„Ja“, flüsterte sie und schob die Hände unter seinen Hemdkragen. „Nur heute Nacht.“

Draußen erhellte eine weitere Explosion den Himmel mit einem rosa Sternenregen, und sie spürte, wie er leicht zusammenzuckte. Vorsichtig knöpfte sie sein Hemd auf. Da war nichts Hektisches an ihren Bewegungen, obwohl ihre Hände ein bisschen zitterten von der Anstrengung, sie ruhig zu halten und dieses mächtige Verlangen zu kontrollieren, das sich in ihr aufbaute. Er stand ganz still, während sie zärtlich mit den Fingerrücken über den Streifen seiner muskulösen Brust strich, den sein aufgeknöpftes Hemd enthüllte, und der einzige Beweis für seine Erregung war sein schneller Herzschlag.

Ihre Hände bewegten sich nach unten, strichen über die Schnalle seines Gürtels.

Nicht ganz der einzige Beweis … Sie spürte, wie sein ganzer Körper sich anspannte, als sie mit der Handfläche seine harte Männlichkeit berührte, die sich gegen den Stoff der Hose spannte. Eine Sekunde lang ließ er den Kopf zurückfallen, so als habe er Schmerzen, aber dann schien er sich wieder zu fangen, und als seine Hände nach ihren Schultern griffen, konnte Lily nicht sagen, ob er sich wieder kontrollieren konnte oder ob er diesen Versuch gerade aufgegeben hatte.

Das Bett war im mystisch blauen Zwielicht genauso blass und kühl wie die mondbeschienene Landschaft. Tristans Hände glitten ihre Arme herunter und ließen einen Schauer über ihren Rücken laufen, und dann nahm er seine Hände in ihre und zog sie an sich. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen nicht mehr. Sterne, noch heller als diejenigen, die den Himmel draußen erhellten, tanzten golden und glitzernd in ihrem Kopf, als er sehr sanft einen Träger ihres Kleides über ihre Schulter schob und mit dem Finger einen prickelnden Kreis über ihre Haut zog.

Lily biss sich auf die Lippe, um sich davon abzuhalten, in der Stille, die sie umgab, laut aufzustöhnen. Mit quälender Langsamkeit wandte sich Tristan der anderen Schulter zu. Im schwindenden Licht lag ein konzentrierter Ausdruck auf seinem Gesicht, der Feuerzungen über ihre Nervenenden rasen ließ und ihr Innerstes in Flammen setzte. Mit einer Sorgfalt, die fast abstrakt war, nahm er den Seidenträger zwischen seine Finger und hielt ihn für eine Sekunde fest, bevor er ihn von ihrer Schulter schob.

Das Kleid glitt zu Boden wie ein fallender Vorhang, und Lily stand vor ihm, nackt abgesehen von einem schmalen Seidenslip.

Sie ist fast zu schön, dachte Tristan mit einem Anflug von Verzweiflung. Zu perfekt.

Während sie dort stand und der stille Abend sich wie ein blauer Schleier über ihren unglaublich schlanken Körper legte und den Blätterkranz in ihrem Haar versilberte, sah sie aus wie eine ferne und unnahbare Gestalt aus der klassischen Mythologie. Er legte die Hände vorsichtig um ihre Hüften und strich mit den Daumen aufwärts zu ihren kleinen, exquisiten Brüsten.

„Selene …“, murmelte er, und sie hob ruckartig den Kopf. Ein erschrockener und verletzter Ausdruck trat in ihre Augen, aber er fühlte das Zittern, das sie durchlief, als er mit den Handflächen über die harten Brustspitzen strich.

„Nein!“, sagte sie mit heiserer, angestrengter Stimme. „Das ist nicht mein Name. Ich bin Lily …“

Tristan lachte leise. Ihre unangebrachte Unsicherheit rührte ihn. Als ob irgendjemand ihren Namen vergessen könnte. „Das weiß ich.“ Er beugte den Kopf, legte die Lippen auf die blasse Haut unter ihrem Schlüsselbein und bewegte sich ohne Hast weiter nach unten. „Vorhin dachte ich, du wärst eine goldene Demeter, aber jetzt siehst du aus wie Selene, die Göttin des Mondes.“

Sie schloss die Augen und verbarg ihr schüchternes Lächeln hinter ihrem seidigen Haar. „Erzähl mir von ihr.“

„Sie verliebte sich in einen Sterblichen – einen hübschen Schäferjungen namens Endymion –, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, jemals von ihm getrennt zu sein.“ Tristans Mund schwebte für eine Sekunde über ihrer aufgerichteten Brustspitze, und die Wärme seines Atems strich über die zitternde, dunkle Haut, bis er spürte, wie sein eigenes Verlangen an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung stieß. „Also bat sie Zeus, ihn ewig schlafen zu lassen, sodass er niemals sterben und niemals älter werden würde. Jede Nacht ging sie hin und legte sich zu ihm.“

Er richtete sich auf und sah sie an. Ihre Augen strahlten vor unverhohlener Begierde, aber Lachen schimmerte in den Tiefen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn wieder küsste.

„Du scheinst dich mit Göttinnen ziemlich gut auszukennen“, sagte sie leise an seinem Mund. „Entweder hast du Freunde an sehr hoher Stelle, oder du hast Altphilologie studiert.“

Er löste sich hastig von ihr und senkte den Kopf, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. „Weder noch“, sagte er tonlos. „Ich habe angefangen, Altphilologie zu studieren.“

„Du hast das Studium aufgegeben?“

„Ja. Ich verließ die Universität.“ Seine Stimme war leise, aber die Bitterkeit darin war nicht zu überhören. Schnell presste er den Mund wieder an ihre duftende Haut und verdrängte die Gedanken an das Leben, das er hätte führen sollen. Er hörte sie aufstöhnen, als er mit der Zungenspitze über das rosige Rund um ihre Brustspitze strich, und spürte, wie ein Zittern durch ihren ganzen Körper lief, als er sie in den Mund nahm, daran saugte, sie küsste und sich selbst dabei vergaß.

Ihre Arme schlangen sich fester um seinen Hals, ihr Atem in seinem Ohr war ein sanfter Sirenengesang des Verlangens. Das vertraute Zimmer, sein Zufluchtsort, sein privates Refugium, verschwamm vor seinen Augen, während das Blut in seinem Kopf in einem primitiven, instinktiven Rhythmus rauschte, der alles übertönte außer dem Wunder ihrer kühlen, weichen Haut an seiner Zunge.

Alle Vernunft verließ ihn. Sein Verstand – erschöpft, verbraucht, zynisch – hörte einfach auf zu arbeiten, und sein Körper und seine Gefühle übernahmen die Kontrolle. Ihre Hände lagen auf seinem Gürtel, öffneten schnell und geschickt die Schnalle, schoben dann seine Hose und Unterhose runter, und sie sanken zusammen aufs Bett, ohne ihren Kuss zu unterbrechen, den Körper des anderen hungrig streichelnd und erforschend. Vage nahm Tristan wahr, dass sein Hemd immer noch offen über seinen Schultern hing, aber er war nicht mehr in der Lage, es auszuziehen.

Er war zu überhaupt nichts mehr in der Lage. Der Schrecken der letzten paar Tage, der ständige aufreibende Stress, das nicht nachlassende Entsetzen, das an den harten Mauern gerüttelt hatte, die er um seinen Verstand gezogen hatte – das alles war plötzlich verschwunden, wurde hineingesogen in den Strudel des körperlichen Verlangens und existierte endlich nicht mehr. Es war, als wäre ein Instinkt aktiviert worden, der endlich dieses unerträgliche Bedürfnis, zu denken und zu planen und die Kontrolle nicht zu verlieren außer Kraft setzte.

Spürte sie das, als sie ihn sanft auf das mondbeschienene Bett zurückdrängte und sich auf ihn setzte? Ihre makellose Haut schien jetzt geisterhaft weiß, intensivierte das Schimmern ihrer Augen und das Rot ihrer vor Lust geschürzten Lippen, während sie den Kopf senkte und an seinen Schenkeln herunterglitt, ihren feuchten Mund öffnete und …

Die Außenwelt hörte auf zu existieren. Selbst die maschinengewehrartigen Salven des Feuerwerks wurden zu einem entfernten Knistern. Es gab nichts als das Gefühl ihrer weichen Lippen auf seinem brennenden, harten Schaft, das federleichte Streicheln ihres Haares auf seiner Haut, während sie sich über ihn beugte.

Dios … dios mio …

Er stand am Rande des Vergessens, musste sich mit den Fingernägeln festkrallen, um nicht die Beherrschung zu verlieren, aber er würde sich nicht erlauben, sich gehen zu lassen und die geheime Dunkelheit seiner Erlösung allein zu erleben. Tristan setzte sich auf, glitt mit den Händen in ihr Haar und hob ihren Kopf.

„Jetzt bin ich dran.“

Als Lily seinem Blick in den blauen Schatten des Zimmers begegnete, spürte sie, wie sich feuchte Wärme zwischen ihren Schenkeln sammelte. Obwohl sein Gesicht angespannt und hart wirkte, brannte in seinen Augen dunkles Verlangen. Wortlos ließ sie es zu, dass er sie an sich zog, sodass sie sich auf dem mondüberfluteten Bett gegenübersaßen. Eine seiner Hände war immer noch in ihrem Haar, und seine starken Finger massierten langsam ihre Kopfhaut, sandten kleine elektrische Impulse durch ihren gesamten Körper. Die andere lag an seiner Seite, während er sie ansah.

Er sah sie einfach nur an …

Lily Alexander war es gewöhnt, dass man sie ansah. Es war ihr Job. Ihr Leben. Es hatte viele Gefühle in ihr ausgelöst … sie war verärgert gewesen, müde, es war ihr unangenehm gewesen, und sie hatte die Leute dafür verachtet … aber noch nie war es gewesen wie jetzt. Niemals hatte sie sich so gefühlt, als würde sie von innen verbrennen, als würde sich Feuer aus ihrem Becken in ihre Mitte ausbreiten, während eine Flut süßen Verlangens sie überspülte. Ihr Körper war das Werkzeug für einen Beruf, den sie niemals gewollt hatte, und im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, ihn auf eine leidenschaftslose Weise zu akzeptieren, als wäre er etwas Unpersönliches. Aber jetzt erweckte dieser Mann ihn zum Leben. Verwandelte ihn von einer erfolgreichen ästhetischen Komposition aus Knochen, Muskeln und Gliedmaßen in ein fein abgestimmtes Netzwerk aus kribbelnden Nervenenden, Hitze und pulsierendem Blut. Indem Tristan ihn eroberte, gab er ihn ihr zurück.

Seine Finger kreisten um ihren Nabel und ließen die angespannte Haut ihres Bauches erzittern, während Schockwellen der Erwartung in ihre Mitte schossen, und dann legte er seine Hand in einer Geste, die intimer war als alles andere zuvor, flach auf ihren Bauch.

Ein paar Herzschläge lang rührten sie sich nicht. Lily fragte sich entfernt, ob er spüren konnte, wie ihr Bauch sich unter seiner Hand vor Begehren zusammenzog. Die Wärme seiner Berührung durchströmte ihren Körper, und Lily war sich bewusst, dass sie sich trotz des Sturmes der Erregung, der in ihr tobte, auch merkwürdig ruhig fühlte, als ob der Sturm, der so lange in ihr getobt hatte, sich plötzlich gelegt hätte.

Sie fühlte sich geschätzt.

Und dann war der Moment vorbei, und eine neue Welle der Lust traf sie, als er einen Finger unter den seidigen Rand ihres Slips schob und ihn über ihre Hüften zog. Ihr Kopf fiel nach hinten, sodass er ihn mit seiner Hand halten musste, während seine andere sich nach unten auf das pulsierende Zentrum ihrer Lust zubewegte. Sie spürte, wie sie sich für ihn öffnete, als seine geschickten Finger sie ohne Hast streichelten und liebkosten, immer näherkamen, bis sie das Warten nicht länger ertragen konnte und ihm in einer wortlosen Bitte um Erlösung ihre Hüften entgegenhob.

Mit einer federleichten Bewegung seiner Fingerspitzen strich er über die kleine Knospe ihrer Lust und hielt sie fest, als sie mit einem Schauer der Erregung darauf reagierte.

„Bitte, Tristan …“, flehte sie. „Ich kann nicht mehr warten …“

Ihre Hände lagen auf seinen Schultern, als suchte sie Halt. Sie fühlte sich, als würde sie auseinanderbrechen, sich auflösen, als brauchte sie ihn, um sich zusammenzuhalten. Kaum wahrnehmbar schüttelte er den Kopf.

„Wir können nicht.“

Seine Stimme war hart und klang scharf, und als er es sagte, umarmte er sie fester, so als hätte er die Welle des Schocks und der Enttäuschung geahnt, die sie bei seinen Worten durchfuhren.

Ihr Kopf schoss hoch, und sie sog mit einem scharfen Zischen die Luft ein. „Warum? Warum nicht?“

„Verhütung. Ich habe nichts.“

Ihre Anspannung ließ augenblicklich nach. „Aber d-das ist okay, es ist in Ordnung“, stammelte sie, weil sie vor Erleichterung kaum sprechen konnte. Sie lehnte sich an ihn und murmelte an seinem Hals, während sie die Linie seines Kinns küsste: „Ich nehme die Pille … und ich bin gesund … es ist sicher.“

Er lachte rau auf. „Aber du weißt nicht, ob ich gesund bin.“

Seine Worte ließen sie innehalten, und sie löste sich von ihm, um ihm ins Gesicht zu sehen. Im Dämmerlicht lagen seine Augen im Schatten, und es war unmöglich, den Ausdruck darin zu lesen. Ihr Blick glitt langsam über sein Gesicht. Der Mondschein verwandelte seine Haut in Marmor und betonte seine perfekt geformten Wangenknochen, das deutliche Grübchen im Kinn.

Sie schüttelte den Kopf, für einen Moment geblendet von seiner Schönheit, und suchte nach den richtigen Worten.

„Nein“, sagte sie schließlich und strich mit der Hand in einer Mischung aus Zärtlichkeit und Ehrfurcht über seine Wange. „Aber ich vertraue dir. Ich tue, was du sagst. Wenn wir aufhören müssen, dann …“

Ihre Hand lag jetzt auf seiner Brust, und sie war sich seines ruhigen, starken Herzschlags unter ihrer Handfläche bewusst.

„Nein.“ Er bewegte kaum die Lippen, als er es sagte. „Wir müssen nicht aufhören. Es ist sicher.“

Ein berauschendes Gefühl breitete sich in Lily aus und schickte kleine Explosionen des Verlangens über ihre Nervenbahnen. Ein tiefes Aufstöhnen der Erleichterung und der Sehnsucht löste sich von ihren Lippen, bevor Tristan sie wieder in Besitz nahm, und dann war ihr Kopf nur noch angefüllt von dem herben Duft seiner Haut und dem Champagnergeschmack seines Mundes. Seine Hände umfassten ihre Hüften und zogen sie zu ihm, während ihre Finger sich in seine muskulösen Schultern gruben.

Er drang mit einem kräftigen Stoß in sie ein, und Lily hätte am liebsten vor Freude aufgeschrien. Ekstase ließ sie erzittern, und das Verlangen benebelte ihre Sinne so sehr, dass sie nicht mehr denken konnte, nur noch fühlen. Ihr ganzer Körper sang vor Glück und machte sie anschmiegsam und hilflos. Aber Tristans Arme hielten sie ganz fest. Sanft legte er sie auf die kühlen Laken, küsste ihre Brüste, ihren Hals und schließlich ihre geöffneten, schwer atmenden Lippen, als der Rhythmus ihrer Körper schneller wurde und sie ihre Beine um seine Hüften schlang.

Lilys triumphierender Aufschrei der Erlösung durchbrach den stillen Abend im gleichen Moment, in dem die letzten Feuerwerksraketen über dem See explodierten. Sie lagen beieinander, schnell und schwer atmend, während der Schweiß auf ihren Körpern trocknete und rosa-goldene Sterne durch die nachtblaue Dunkelheit Räder schlugen.

Es hatte in der Nacht geregnet.

Lily war aus dem zerwühlten Bett aufgestanden und zum Fenster gegangen und hatte auf eine kühle Welt aus Silber und Grün geblickt. Der Regen fiel in Strömen und zerbrach die glasklare Oberfläche des Sees.

Als sie jetzt, mehr als vierundzwanzig Stunden später, aus dem Fenster des Jeeps sah, mit dem sie über die trockene afrikanische Ebene fuhr, konnte sie beinahe nicht glauben, dass sie das alles wirklich erlebt hatte. Dass sie sich diese üppige Kühle nicht nur eingebildet hatte; dass sie nicht nur geträumt hatte, wie sie sich davon abwandte und zurück zum Bett ging, wo Tristan lag, den Arm über ihre Seite des Bettes gelegt.

Dass sie sich den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht nur eingebildet hatte.

Er hatte aufgeschrien, während sie ihn beobachtete, ein bitterer Aufschrei der Wut oder des Schmerzes, und ohne nachzudenken war Lily wieder unter die Decke geschlüpft und hatte seinen schönen Kopf an sich gezogen, ihn gestreichelt und tröstende, bedeutungslose, instinktive Worte in sein Haar gemurmelt, bis der Raum in der grauen Dämmerung wieder zu erkennen gewesen war und sie spürte, wie sein Körper sich endlich wieder entspannte.

Dann war sie leise wieder aufgestanden, hatte ihr Seidenkleid angezogen und war aus dem Zimmer geschlüpft und die Treppe hinuntergelaufen. Er hatte sie nicht an ihren Flug erinnert, wie er ihr scherzhaft versprochen hatte. Er war nicht einmal aufgewacht, um sie zu verabschieden.

Der Jeep hielt am Camp. Die Hitze war bereits fast unerträglich und die Luft erfüllt von dem Staub, den ihr Fahrzeugkonvoi aufgewirbelt hatte. Lily stieg mit steifen Gliedern aus und fragte sich, ob sie stark genug war für das, was vor ihr lag.

Sie senkte den Kopf, schloss eine Sekunde lang die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Sie war gestern Morgen stark genug gewesen, den Turm zu verlassen.

Wenn sie das geschafft hatte, dann schaffte sie alles.

4. KAPITEL

London, sechs Wochen später.

„Herzlichen Glückwunsch, Miss Alexander.“

Lily blickte verständnislos in das lächelnde Gesicht des Arztes. Sie war hergekommen, um eine Erklärung dafür zu finden, warum sie sich so schlecht fühlte, seitdem sie während ihrer etwas mehr als einen Monat zurückliegenden Afrikareise an einer Magen-Darm-Grippe erkrankt war. Aber Dr. Lee blickte sie an, als habe sie gerade den Lottojackpot geknackt, anstatt sich mit einer tropischen Krankheit angesteckt.

Sie runzelte die Stirn. „Dann haben Sie schon die Ergebnisse der Bluttests?“

„Die habe ich in der Tat. Ich kann Ihnen jetzt bestätigen, dass sie keine Malaria, kein Gelbfieber, keine Hepatitis …“, er ließ die dünnen gelben Blätter des Laborberichts einen nach dem anderen auf den Schreibtisch fallen, während er die Testergebnisse durchging, „… keinen Typhus, keine Tollwut und keine Diphterie haben.“

Lily wurde schwer ums Herz.

Es war nicht so, dass sie irgendeine gemeine tropische Krankheit haben wollte, aber wenn sie gewusst hätte, was sie ständig so bleiern müde sein ließ und warum sie diesen metallischen Geschmack im Mund hatte, durch den alles nach Eisen schmeckte, dann hätte sie vielleicht etwas dagegen tun können. Etwas einnehmen können, wodurch es wegging, damit sie nachts wieder schlafen konnte, anstatt wach zu liegen, verschwitzt und atemlos, und gegen die Übelkeit anzukämpfen, die ihr die Kehle hinaufstieg. Damit sie vielleicht nicht mehr an jene andere Nacht denken musste. Und an Tristan Romero.

Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren. Das war noch eine Sache, die in letzter Zeit unmöglich war, aber mit viel Mühe gelang es ihr, ihren Geist zurückzuholen aus seinem inzwischen vertrauten Zufluchtsort in einem dämmrigen Turm, auf einem mondbeschienenen Bett …

Sie musste das hinter sich lassen. Vergessen.

„Es tut mir leid, ich verstehe nicht. Wenn alle diese Tests negativ waren, was ist dann …?“

„Na ja, nicht alle Tests hatten ein negatives Ergebnis. Einer war ziemlich eindeutig positiv.“ Dr. Lee faltete die Hände auf dem Tisch und strahlte sie an. „Sie sind schwanger, Miss Alexander. Herzlichen Glückwunsch.“

Die Wände schienen auf Lily zuzustürzen und den sonnigen Septembersonnenschein draußen auszusperren. Die Luft in Dr. Lees elegantem Behandlungszimmer war plötzlich zu stickig zum Atmen. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich und eine lärmende, hallende Leere hinterließ, die ein paar Sekunden später von der entfernten Stimme Dr. Lees gefüllt wurde. Sie war sich bewusst, dass seine Hand auf ihrem Hinterkopf lag.

„Genau … lassen Sie den Kopf einfach unten, genau so, gutes Mädchen. Diese Art von Reaktion ist nicht ungewöhnlich … Ihre Hormone … Nichts, worüber Sie sich sorgen müssten. Warten Sie einen Moment, dann fühlen sie sich wieder so frisch wie Gras nach dem Regen …“

Regen.

Die Erinnerung an den See in Stowell in dem nebligen Licht vor Anbruch der Dämmerung stieg aus der Dunkelheit in Lilys Kopf auf; der Regen fiel in schimmernden silbernen Strömen auf das matt glänzende Grau der Landschaft. Sie erinnerte sich an seinen musikalischen Klang, dieses zeitlose, beruhigende Schlaflied, während sie Tristan festgehalten und die Spannung aus seinem schlafenden Körper gestrichen hatte und die ganze Zeit heimlich und unbemerkt dieses … kleine Wunder in ihrem Körper gewachsen war.

„So. Wieder besser?“

Sie setzte sich auf, atmete tief ein und nickte. „Ja. Tut mir leid. Der Schock …“

Dr. Lees Gesicht war mitfühlend, besorgt. „Es war nicht geplant?“

„N-nein“, stammelte sie. „Ich verstehe das nicht. Ich nehme doch die Pille.“

„Nun ja, die Antibabypille wirkt ziemlich gut, aber nichts bietet eine hundertprozentige Garantie, nicht schwanger zu werden, fürchte ich. Durch den Magen-Darm-Infekt, den Sie sich in Afrika geholt haben, könnte die Pille nicht richtig gewirkt haben, wenn das kurz nach dem …“ Er räusperte sich und ließ den Satz taktvollerweise unbeendet.

Stumm nickte Lily.

„In diesem Fall würde mir das sagen, dass die Schwangerschaft noch nicht weit fortgeschritten ist“, sagte er sanft. „Ihnen stehen viele Optionen offen, wissen Sie.“

Lily stand unsicher auf und stützte sich auf die Lehne des Stuhls, als die Bedeutung seiner Worte in ihr benebeltes Gehirn drang.

Optionen.

„Denken Sie darüber nach“, sagte Dr. Lee mit professioneller Neutralität. „Besprechen Sie es mit Ihrem Partner, und teilen Sie mir Ihre Entscheidung mit.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Partner. Er ist … Er würde nicht …“ Mit offenem Mund hielt sie inne, während sie versuchte, das Fehlen von Tristan Romero in ihrem Leben so zu erklären, dass sie nicht wie ein billiges Flittchen wirkte. Ich kenne ihn kaum … Ich kenne seine Telefonnummer nicht, und er hat sehr deutlich gemacht, dass er nie wieder etwas von mir hören will … Es sollte Sex ohne Konsequenzen sein. Ein One-Night-Stand.

Oh Gott, vielleicht bin ich ein billiges Flittchen, dachte Lily entsetzt. Sie erinnerte sich an die Begierde, mit der sie Tristan auf das mondbeschienene Bett geschoben und ihn in den Mund genommen hatte; erinnerte sich an die Verzweiflung, die sie wie ein Blitz durchzuckt hatte, als er sagte, dass sie nicht weitergehen durften, dass sie nichts zur Verhütung hätten, und wie sie ihm fast flehend versichert hatte, dass es sicher war.

„Das hier hat nichts mit ihm zu tun.“ Ihre Knöchel traten weiß unter ihrer Haut hervor, während sie sich an die Stuhllehne klammerte. „Es ist nicht seine Schuld, und er trägt auch keine Verantwortung.“

Dr. Lees Augenbrauen hoben sich. „Miss Alexander …“

„Es ist meins. Mein Fehler, meine Verantwortung. Mein Baby.“ Die Worte klangen fremd und ungewohnt, aber als Lily sie aussprach, überkam sie dasselbe merkwürdige, unlogische Gefühl des Friedens, das sie in der Nacht im Turm in Tristans Armen empfunden hatte. Es lief wie ein kleiner Meteoritenschauer durch ihren ganzen Körper. Sie hob das Kinn und begegnete dem besorgten Blick des Arztes mit einem entschlossenen Lächeln. „Es ist mein Baby. Und ich behalte es.“

„Ein Anruf für Sie, Señor Romero.“

Tristan blickte verärgert von seinem Computerbildschirm auf. „Bianca, ich sagte doch, dass ich nicht gestört werden will.“

Lo siento, Señor, aber es ist Señor Montague. Ich dachte, Sie möchten vielleicht mit ihm sprechen.“

Tristan nickte abrupt, während er nach dem Telefon griff.

„Sí. Gracias.“

Er schwang auf seinem Stuhl herum, sodass er aus dem Fenster auf die Placa St. Jaume und die sonnenbeschienene Fassade des Rathauses blicken konnte. Die Banco Romero de Castelan war eine der ältesten und etabliertesten in Spanien, und die Zentrale lag in einem großen und prestigeträchtigen Gebäude im Herzen Barcelonas. Es war schön, aber erdrückend. Die Sonne war über den Platz gewandert, sodass die hohen Räume mit ihren hallenden Marmorböden ab Mittag im Schatten lagen. Das war jedoch nicht der einzige Grund, warum Tristan immer kalt war, wenn er sich hier aufhalten musste.

„Tom.“

„Endlich. Du bist unglaublich schwer zu erreichen“, knurrte Tom freundschaftlich. „Warst du gerade dabei, dich mit einer unschuldigen Buchhalterin zu vergnügen, oder so etwas? Deine Sekretärin hat sich ganz schön geziert, mich durchzustellen.“

„Du liest zu viele Klatschkolumnen“, erwiderte Tristan beleidigt. „Ich arbeite. Ob du es glaubst oder nicht, Banken führen sich nicht von allein. Bianca hatte strikte Anweisungen, keine Anrufe durchzustellen und keine Besucher durchzulassen, deshalb weiß ich nicht, wie du sie dazu überreden konntest.“

„Das nennt man Charme, alter Kumpel. Das ist das, was diejenigen von uns anwenden müssen, die eine Frau nicht nur ansehen müssen, um sie ins Bett zu kriegen. Welche ist Bianca? Die Dunkelhaarige mit dem Ausschnitt, in dem man sich verlaufen kann?“

Tristan grinste zögernd. „Nein. Rothaarig, sieht aus wie Sophia Loren, obwohl das angesichts der Tatsache, dass du bald ein verheirateter Mann sein wirst, keine Rolle spielen dürfte.“ Sein Lächeln wurde ein wenig steifer, als er sagte: „Wie geht es denn der liebreizenden Braut?“

„Oh, du weißt schon; sie ist schön und sexy … und redet plötzlich nur noch von Blumenschmuck und Brautjungfernkleidern. Ich sage dir, das ist eine völlig neue Welt. In meinen dunkleren Momenten habe ich mich schon bei dem Gedanken erwischt, dass deine unverbindlichen One-Night-Stands vielleicht doch etwas für sich haben.“

„Endlich siehst du es ein“, sagte Tristan trocken. „Du kannst es dir immer noch anders überlegen, weißt du?“

Tom lachte. „Nein, es ist zu spät. Viel zu spät. Ich bin Kräften ausgeliefert, die jenseits meiner Kontrolle liegen – genauer gesagt, Scarlet und meiner Mutter. Meine Mutter hat beschlossen, dass wir eine Verlobungsparty geben müssen, und als Trauzeuge musst du, fürchte ich, daran teilnehmen. Deshalb rufe ich an – hast du am letzten Samstag im September Zeit? Scarlet glaubt, dass der Schock für ihre Familie geringer ist, wenn sie meine bei einem kleinen Dinner in Stowell kennenlernt.“

Tristan blickte auf seinen Blackberry. Dort waren bereits zwei Partys in Madrid und Lissabon, ein Geschäftsessen in Mailand und eine Einladung von Freunden zu einem Wochenendtrip auf eine Insel eingetragen.

„Was, wenn ich Nein sage?“

„Dann feiern wir die Verlobung im Oktober.“ Tom klang völlig gleichgültig. Tristan lehnte sich in seinem Stuhl zurück, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und unterdrückte ein Seufzen, als ihm klar wurde, dass er aus dieser Nummer nicht so einfach herauskommen würde, obwohl er merkte, dass er das sehr wohl gern täte. Warum auch immer …

„Ich versuche es“, sagte er knapp. „Aber eines meiner Projekte befindet sich gerade an einem schwierigen Punkt. Du weißt, wie es ist. Ich kann nichts versprechen.“

„Nein. Natürlich nicht. Das kannst du nie.“ Über die vielen Meilen hinweg hörte Tristan die leise Resignation in Toms Stimme. „Du bist ohne Zweifel der amtierende Weltmeister im Nichts-versprechen-und-nichts-zusagen-Können. Aber trag den Termin ein und versuche, da zu sein, falls nichts Wichtigeres dazwischenkommt.“

„Ich melde mich wieder bei dir“, versprach Tristan. Er beendete den Anruf, stand auf und starrte für einen Moment auf das Telefon in seiner Hand, während Toms Worte in seinem Kopf nachhallten.

Natürlich war jedes davon wahr.

Er fluchte, schlug mit der Faust auf das polierte Holz seines Schreibtisches, von dem aus Generationen von Romeros ihr Bankenimperium geleitet, ihren Namen ausgenutzt und ihre Macht und ihr Vermögen konsolidiert hatten, ganz egal, wer auf dem Weg dorthin vernichtet wurde. Und er war genauso kalt und rücksichtslos wie alle anderen. Er hatte sich niemals gestattet, das zu vergessen oder etwas anderes zu glauben, egal, wie viel Wiedergutmachung er auch leistete. In dem blauen Blut in seinen Adern flossen die Sünde und die Korruption seiner Vorfahren. Seines Vaters. Er unterschied sich nur darin von ihnen, dass er ehrlich war.

Ehrlich.

Ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass er nicht mehr zu retten war. Ehrlich genug, um zu wissen, dass er besser allein blieb.

Er lachte bitter auf. Okay, wenn er schon so unerschütterlich ehrlich war, dann konnte er sich genauso gut eingestehen, was der wahre Grund dafür war, dass er nicht auf Toms Party gehen wollte. In Stowell. Weil sie dort sein würde, dachte er voller Selbstverachtung.

Lily Alexander.

Die Frau, deren Haut nach Mandeln duftete und die sich wie Samt anfühlte.

Die Frau, die ihn in einem Netz gefangen hielt und sich auf eine Weise an seinen Abwehrmauern vorbeigedrängt hatte, wie es ihm noch nie zuvor passiert war.

Und wie es auch nie wieder passieren wird, dachte er. Was spielte es für eine Rolle, ob sie dort war oder nicht? Er würde sie genauso behandeln wie jede andere Frau, mit der er geschlafen und die er zurückgelassen hatte. Mit distanzierter Höflichkeit. Und dann würde er wieder gehen.

Autor

India Grey
India Grey liebte schon als kleines Mädchen romantische Liebesgeschichten. Mit 13 Jahren schrieb sie deshalb das erste Mal an den englischen Verlag Mills & Boon, um die Writer's Guidelines anzufordern. Wie einen Schatz hütete sie diese in den nächsten zehn Jahren, begann zu studieren … und nahm sich jedes Jahr...
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