Julia Bestseller Band 172

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NUR EIN KUSS? von JORDAN, PENNY
Auf einem Geburtstagsfest kommt Harriet dem Gutsbesitzer Rigg Matthews näher, auf dessen Land sie ein zauberhaftes Cottage bewohnt. Fasziniert lässt sie sich von ihm küssen und glaubt, dass er wie sie fühlt. Doch dann meldet er sich nicht. Hat er nur mit ihr gespielt?

SO ZART, SO SÜß, SO HEIß GEKÜSST von JORDAN, PENNY
… fühlt sich Jodi im Traum von einem sexy Fremden. Wirklich nur im Traum? Als sie die Augen aufschlägt, steht der Fremde vor ihr: Leo Jefferson, der Unternehmer, in dessen Suite sie eingedrungen ist, um zu verhindern, dass er die einzige Fabrik ihrer Kleinstadt schließt!

SÜßE UNSCHULD von JORDAN, PENNY
Eine Zweckehe war geplant, um ihre Familienvilla zu retten - aber plötzlich ist es für Rosy so viel mehr: Die junge Anwältin hat sich in ihren Mann George verliebt. Doch wie soll sie ihn erobern? Er ist so erfahren, und sie weiß eigentlich gar nicht, wie man verführt …


  • Erscheinungstag 18.03.2016
  • Bandnummer 0172
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707293
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Jordan

JULIA BESTSELLER BAND 172

1. KAPITEL

Es ist längst dunkel, wenn ich im Dorf ankomme, und das ist meine eigene Schuld, dachte Harriet und verzog das Gesicht.

Sie war später aus London weggefahren, als sie vorgehabt hatte. Und dann hatte sie am Nachmittag auch noch in einer Autobahnraststätte einen Tee getrunken. Jetzt brach die Dämmerung herein, und sie brauchte mindestens noch eine halbe Stunde, bis sie das Dorf und ihr neues Zuhause erreicht hatte.

„Du bist verrückt!“, hatte Harriets Schwester Louise ausgerufen, als sie ihr erzählt hatte, dass sie umziehen würde. „Willst du wirklich aus London wegziehen und in einem abgelegenen Dorf nahe der schottischen Grenze leben?“, hatte Louise gefragt. Harriet hatte deutlich gespürt, wie entsetzt ihre Schwester gewesen war.

Bei dem Gedanken an ihre Schwester fühlte Harriet sich unbehaglich. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich um Louise, die vier Jahre jünger war, gekümmert. Harriet war damals zweiundzwanzig gewesen und hatte keine Sekunde gezögert, ihre Zukunftspläne aufzugeben und in London eine Stelle anzunehmen. Sie hatte davon geträumt, eine Zeit lang im Ausland als Lehrerin zu arbeiten. Stattdessen versuchte sie, Louise ein Zuhause zu geben.

Es war schwierig, mit Louise zurechtzukommen, sie war sehr rebellisch und eigensinnig. Einige Monate nach dem Tod ihrer Eltern kaufte Harriet von ihrem Erbteil für sich und ihre Schwester in London ein kleines Haus. Louise hingegen verkündete, sie wolle Model werden und ihr Erbe für die Ausbildung verwenden und auch dafür, sich die Welt anzusehen.

Louise war eine schöne junge Frau. Dennoch war Harriet überzeugt, ihre Schwester wolle nur Model werden, weil sie das vermeintlich glamouröse Leben reizte. Sie glaubte nicht, dass Louise genug Zielstrebigkeit und Charakterstärke besaß, um den Konkurrenzkampf auszuhalten und sich durchzusetzen. Deshalb redete sie ihr ins Gewissen und bemühte sich, sie umzustimmen.

Aber Louise wollte nicht auf sie hören. Sie wurde zornig, packte ihre Sachen und verschwand. Trotz intensiver Suche blieb sie sechs Monate unauffindbar. Harriet war sehr beunruhigt und hatte Schuldgefühle, weil sie ihrer Meinung nach versagt hatte.

Dann fing sie an, ihr Leben neu zu ordnen, und kam etwas zur Ruhe. Sie fand sich an der großen Gesamtschule, an der sie Englisch unterrichtete, immer besser zurecht und freundete sich mit Paul Thorby, einem Kollegen, an. Plötzlich tauchte Louise völlig überraschend und wie selbstverständlich wieder auf. Sie erklärte, sie habe in Italien gelebt und dort als Model gearbeitet.

Es tat ihr offenbar nicht leid, dass Harriet ihretwegen sechs Monate lang in Angst und Unruhe gelebt hatte. Sie redete nur über sich selbst und ihre Pläne. Und Harriet war so erleichtert über ihre Rückkehr, dass sie ihr keine Vorwürfe machte.

Sie würde einen reichen Italiener heiraten, den sie in Turin kennengelernt hätte, erzählte Louise. Gedankenlos und leichtfertig fügte sie hinzu, sie sei nur nach London gekommen, um ihr Brautkleid zu kaufen.

Als Harriet erfuhr, dass ihre Schwester Guido, wie der junge Mann hieß, erst sechs Wochen kannte, bat sie sie, mit der Hochzeit noch etwas zu warten. Natürlich wusste Louise alles besser und schlug Harriets Warnungen in den Wind.

Vier Wochen später heirateten Louise und Guido in Turin. Harriet gefiel ihr Schwager. Sie bezweifelte jedoch, dass Louise es schaffte, sich an das neue Leben in Guidos großer Familie zu gewöhnen.

Paul Thorby erinnerte Harriet daran, dass ihre Schwester erwachsen sei und gut auf sich selbst aufpassen könne. Er war ein netter Mensch, aber ungemein pedantisch. Er wurde leicht ungeduldig, wenn man ihm nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Geschwister hatte er keine, und als er Harriet mit nach Hause nahm, um sie seiner Mutter vorzustellen, wurde sie mutlos. Ihr war sogleich klar gewesen, dass sie mit Sarah Thorby nicht zurechtkommen würde.

Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Harriet damals etwas unzufrieden mit ihrem Leben gewesen. Was war aus ihren Träumen geworden, durch die Welt zu reisen, ehe sie sesshaft wurde und sich um ihre Karriere kümmerte?

Nachdem Louise geheiratet hatte, gab es keinen Grund mehr, weshalb sie sich ihre Träume nicht endlich erfüllen sollte. Harriet brauchte auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen und nahm sich vor, am Ende des Schuljahrs über ihre Zukunft nachzudenken.

Sechs Monate hatte sie gebraucht, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, sich von Paul zu trennen. Sie beschloss, ihm klarzumachen, dass sie sich noch nicht binden wollte und gern noch andere Länder kennenlernen würde. Doch plötzlich kam Louise nach Hause zurück. Die Ehe war gescheitert, und sie wollte sich von Guido scheiden lassen.

Harriet war bestürzt und versuchte, ihre Schwester zu überreden, zu ihrem Mann zurückzukehren. Aber Louise blieb hart und reichte die Scheidung ein. Und wie selbstverständlich zog sie wieder bei Harriet ein. Als Guido hinter Louise herkam und mit ihr sprechen wollte, schloss sie sich im Schlafzimmer ein und weigerte sich, ihn zu sehen. Sie überließ es Harriet, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Er beschwerte sich sehr über seine Frau. Daraus schloss Harriet, dass er Louise nicht mehr liebte und die Ehe wirklich gescheitert war. Guido kehrte schließlich nach Turin zurück.

Paul mochte Louise nicht und erwartete von Harriet, dass sie ihre Schwester aufforderte, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Aber dazu war Harriet viel zu gutmütig. Außerdem ging es Louise gesundheitlich nicht gut. Ihr war oft übel, sie wirkte ziemlich erschöpft und schien keine Energie mehr zu haben.

Als Teenager hatte Harriet ihre Schwester manchmal um ihre Schönheit beneidet. Louise hatte das volle goldblonde Haar, die feine helle Haut und die blauen Augen ihrer Großmutter väterlicherseits geerbt. Harriet hingegen sah eher aus wie ihre Mutter. Sie war zierlich und nicht so groß wie Louise. Ihre Augen waren jedoch genauso tiefblau wie Louises’ und bildeten einen interessanten Kontrast zu dem dunklen Haar mit dem rötlichen Schimmer.

Dass sie auf Männer nicht so anziehend wirkte wie Louise, war Harriet egal. Von Natur aus war sie eher zurückhaltend und etwas scheu. Deshalb war sie als Teenager und während des Studiums auf die Annäherungsversuche der jungen Männer und Kommilitonen nicht eingegangen.

Dann hatte sie Paul kennengelernt. Ihre Beziehung war weder aufregend noch leidenschaftlich. Harriet träumte noch immer davon, dass vielleicht eines Tages ein Mann auftauchte, der all die Gefühle in ihr weckte, die sie bei Paul nicht empfand. Deshalb wollte sie nicht mit ihm schlafen.

Sie überlegte, wie sie Louise beibringen sollte, dass sie das Haus verkaufen und für unbestimmte Zeit ins Ausland gehen wollte. Doch plötzlich eröffnete Louise ihr, sie sei schwanger. Dennoch war sie nicht bereit, die Scheidungsklage zurückziehen oder Guido zu informieren.

Harriet riet ihr, sich die ganze Sache noch einmal zu überlegen. Aber Louise reagierte geradezu hysterisch und wohnte natürlich immer noch bei Harriet, als die Zwillinge geboren wurden. Sie machte schließlich ihrer Schwester klar, dass sie nicht vorhatte auszuziehen.

Und wie hätte Harriet ihre eigene Schwester mit den Babys auf die Straße setzen können? Paul meinte, sie müsse Louise auffordern, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Doch Harriet lehnte es rundweg ab, und vor lauter Ärger redete Paul beinah zwei Wochen nicht mit ihr.

Als er seinen Ärger überwunden hatte und wieder mit ihr sprach, beendete sie die Beziehung. In den Jahren danach hatte sie gar keine Zeit für Freundschaften, denn sie musste für ihre Schwester und die Kinder mitarbeiten, die finanziell von ihr abhängig waren.

Louise nahm ihre Verantwortung als Mutter nicht ernst. Zuweilen verwöhnte sie die Zwillinge über alle Maßen, dann wieder ignorierte sie sie völlig. Sie weigerte sich zu arbeiten, hatte aber offenbar immer genug Geld, um sich neue Kleider zu kaufen. Abends ging sie oft mit irgendwelchen Männern aus.

Harriet liebte die Zwillinge, obwohl es manchmal schwierig war, mit ihnen zurechtzukommen. Louise hatte keine Lust, ihre Kinder zu erziehen, ließ es andererseits aber auch nicht zu, dass Harriet es tat.

Aus all diesen Gründen war das Leben für Harriet nicht leicht. Sie beklagte sich jedoch nie. Louise hingegen war seltsamerweise der Meinung, Harriet sei daran schuld, dass sie so früh geheiratet und die Kinder bekommen hatte. Schließlich gab es kurz nach dem neunten Geburtstag der Zwillinge gleich zwei Überraschungen.

Zuerst erhielt Harriet die Nachricht, dass der Verlag das Kinderbuch, das sie geschrieben und ihm zur Veröffentlichung angeboten hatte, herausgeben würde. Seit vielen Jahren schrieb sie die Geschichten auf, die sie abends den Zwillingen erzählte. Aber erst ein Artikel in einer Zeitschrift hatte sie auf den Gedanken gebracht, an langen Winterabenden die Geschichten zu überarbeiten und einem Verlag vorzulegen.

Sie konnte es kaum glauben, dass man sich wirklich dafür interessierte. Und noch unglaublicher fand sie es, dass man sie bat, vier weitere Kinderbücher zu schreiben.

Für die zweite Überraschung sorgte Louise. Sie verkündete, sie würde einen Amerikaner heiraten und mit ihm und den Kindern nach Kalifornien gehen.

Harriet hatte gewusst, dass ihre Schwester wieder jemanden kennengelernt hatte. Aber sie hatte im Lauf der Jahre so viele Affären gehabt, dass Harriet schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, Louise würde wieder heiraten. Sie brauchte Anerkennung und Bewunderung, und wenn der Mann, mit dem sie gerade zusammen war, sie nicht so behandelte, wie sie es sich vorstellte, wandte sie sich dem nächsten zu.

Doch jetzt hatte sie offenbar einen Mann kennengelernt, der ihr gewachsen war. Danach war alles sehr schnell gegangen, und innerhalb weniger Tage hatte die Hochzeit stattgefunden.

Nachdem Harriet beinah zehn Jahre lang für Louise und die Kinder gesorgt hatte, konnte sie endlich so leben, wie es ihren eigenen Vorstellungen entsprach. Die Verantwortung hatte sie freiwillig auf sich genommen, weil sie ihre Schwester liebte und sich schuldig fühlte. Seltsamerweise glaubte sie wirklich, sie sei dafür verantwortlich, dass Louise so früh geheiratet hatte. Wenn ihre Eltern nicht gestorben wären, wäre auch Louises Leben anders verlaufen. Aber jetzt fühlte Harriet sich wie befreit.

Es hatte ihr nie gefallen, in London zu leben und zu arbeiten. Die Großstadt mit ihrer Hektik war nichts für sie, und sie sehnte sich nach Ruhe. Schon immer hatte sie die Landschaft im Norden Englands an der Grenze zu Schottland fasziniert. Deshalb verbrachte sie nach Louises Abreise ein verlängertes Wochenende in dieser Gegend, um zu wandern und sich zu entspannen. Sie genoss es, zum ersten Mal in ihrem Leben nur für sich selbst verantwortlich zu sein, über ihre Zukunft nachdenken und Pläne machen zu können.

An einem sonnigen Nachmittag entdeckte sie ungefähr eine Meile außerhalb des Dorfes Ryedale das Schild mit dem Hinweis an der Straße, dass ein Haus zu verkaufen sei. Sie hielt an und wanderte über den mit Unkraut überwachsenen Pfad zu dem Cottage, das hinter einer wild wuchernden Hecke verborgen war.

Wenig später fuhr sie zu dem Hotel zurück und rief den Immobilienmakler an. Und eine Woche später unterschrieb sie den Kaufvertrag.

Der Makler hatte ihr die Mängel nicht verschwiegen. Das Cottage lag sehr einsam, es war nicht an die Kanalisation angeschlossen, es war verwahrlost und der Garten verwildert. Außerdem mussten alle elektrischen Leitungen neu verlegt und die Sanitäreinrichtungen modernisiert werden. Aber nichts hatte Harriet davon abhalten können, das kleine Haus zu kaufen, in das sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Wie alle Verliebten wollte sie sich die Fehler oder Mängel an dem Objekt ihrer Zuneigung nicht eingestehen.

Trotzdem verschaffte sie sich einen guten Überblick über den Zustand des Hauses. Es war aus Stein, hatte winzige Fenster und niedrige Räume. Bauliche Mängel gab es glücklicherweise nicht.

Da auf dem Immobilienmarkt in London momentan die Nachfrage größer war als das Angebot, konnte sie ihr Haus rasch zu einem Preis verkaufen, der ihr enorm hoch vorkam. Sie nahm sich vor, einen Teil des Geldes gut anzulegen, um in Notfällen darauf zurückgreifen zu können. Und sie brauchte sich nicht sogleich eine neue Stelle zu suchen, sondern wollte abwarten, ob sie sich als Autorin den Lebensunterhalt verdienen konnte. Vielleicht war ihr erster Erfolg reiner Zufall gewesen und wiederholte sich nicht.

Als sie dem Schulleiter ihren Entschluss mitteilte, verzog er die Lippen und runzelte die Stirn. Er wies sie auf das Risiko hin, das sie einging. In der Umgebung ihres neuen Wohnorts sei es recht schwierig, eine Stelle als Lehrerin zu finden, meinte er. Der Mann erwähnte auch, dass er sie zur Beförderung vorgeschlagen hatte.

Aber sie ließ sich nicht umstimmen. Zu lange hatte sie nur für andere gesorgt und ihre eigenen Wünsche und Träume beinah vergessen. Mit ihren fünfunddreißig Jahren war sie nie völlig frei und unabhängig gewesen. Wenn sie die Chance, die sie jetzt hatte, nicht nutzte … Aber nein, so etwas durfte sie gar nicht denken. Natürlich würde sie ihre Chance wahrnehmen.

Harriet war so glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Zugleich war sie auch sehr nervös.

Der Makler half ihr und beauftragte Handwerker, die die elektrischen Leitungen verlegten und die Sanitäreinrichtungen erneuerten. Harriet ließ auch die Küche neu einrichten, das Badezimmer wurde modernisiert, und es wurde eine Zentralheizung installiert.

Wie um sich zu beweisen, dass sie sich richtig entschieden hatte, sortierte sie all die modischen Blusen, Röcke und Hosen aus, die sie als Lehrerin getragen hatte, und verschenkte sie. Dann ging sie in die Stadt und kaufte sich sportliche Outfits, wie Jeans, Wollpullover in kräftigen Farben, T-Shirts und dergleichen. Statt praktischer Gummistiefel kaufte sie sich ein Paar burgunderrote Boots, die gut zu ihrem Dufflecoat passten.

Natürlich wäre es auch schön, wenn sie Freunde finden würde, wie sie sich eingestand. In London hatte es sich nicht ergeben. Einige Male hatte Harriet versucht, ihrer Schwester klarzumachen, dass sie auch ausgehen wollte und Zeit für sich brauchte. Doch Louise hatte es nicht gern gehört und jedes Mal geschmollt. Schließlich hatte Harriet aufgehört, sich selbst eine Freude gönnen zu wollen.

Seltsamerweise fühlte sie sich schuldig, weil sie Louise und die Zwillinge kaum vermisste. Louise hatte sie nicht eingeladen, sie in Kalifornien zu besuchen. Hoffentlich hält ihre zweite Ehe, überlegte Harriet, denn in ihrem Cottage gab es nur ein Schlafzimmer. Die Wand zwischen den beiden kleinen Zimmern hatte sie einreißen lassen, um einen größeren Raum zu haben. Das dritte Schlafzimmer hatte sie zu einem Badezimmer umbauen lassen.

Ja, zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern fühle ich mich frei, dachte sie. Sie konnte machen, was sie wollte, schreiben, träumen, durch die wunderschöne Landschaft wandern und alles nachholen, was sie schon immer gern getan hätte.

Plötzlich wurde sie aus den Gedanken gerissen, denn völlig überraschend tauchte ein Mann vor ihr aus dem Schatten der Bäume auf. Sie trat auf die Bremse, um ihn nicht zu überfahren, und ihr kleiner Wagen kam quietschend zum Stehen. Als der Mann auf sie zukam, wurde ihr bewusst, wie dumm es gewesen war, überhaupt anzuhalten. Und dann stellte sie fest, dass der Mann bis auf einen winzigen Slip nackt war. Soweit sie es in der anbrechenden Dunkelheit erkennen konnte, war er nass und schien zornig zu sein.

Der Mann riss die Tür auf, und erst in dem Moment fiel ihr ein, dass sie sie hätte verriegeln können.

„Trixie, was, zum Teufel, soll das Theater? Du hast deinen Spaß gehabt. Gib mir jetzt meine Sachen!“, stieß der Mann zornig hervor.

Harriet wurde von zwei kräftigen Händen an den Armen gepackt. Sie war entsetzt und versteifte sich, während sich Angst in ihr ausbreitete. Doch wenige Sekunden später ließ der Mann sie los. Er zog die Hände zurück und entschuldigte sich.

„Es tut mir leid, ich habe Sie mit jemandem verwechselt. Ich könnte diese Trixie umbringen, sie fährt dasselbe Auto wie Sie, es hat auch dieselbe Farbe“, erklärte er. Man sah ihm an, wie sehr er sich bemühte, seinen Zorn zu unterdrücken und sich zu beherrschen.

Er war mindestens einen Meter achtzig groß und breitschultrig. Harriet betrachtete ihn. Er ist ein gut aussehender Mann, dachte sie. Das dunkle Haar war nass und klebte ihm am Kopf, als käme er gerade aus dem Wasser. Das würde auch erklären, warum er beinah nackt war. Doch welcher einigermaßen normale Mensch würde um diese Zeit ganz allein in der einsamen Gegend schwimmen gehen?

Diese und andere Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während er sich entschuldigte. Sie blickte ihn an und ärgerte sich darüber, dass sie errötete, als sie die Zusammenhänge erriet. Sie nahm an, dass er mit Trixie, seiner Geliebten, zusammen gewesen war. Wahrscheinlich hatte er mit ihr geschlafen, und anschließend war sie einfach ohne ihn weggefahren.

Harriet war irritiert. Es überlief sie heiß, und sie gestand sich wehmütig ein, dass es für sie so etwas nie gegeben hatte und sicher auch nicht geben würde. Sie war noch nie mit einem Mann zusammen gewesen und hatte sich noch nie mit jemandem leidenschaftlich gestritten.

Er war ungefähr drei oder vier Jahre älter als sie und hatte einen muskulösen Körper. Wie mochte seine Freundin aussehen? Sie war sicher sehr attraktiv und weltgewandt. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass er sie gefragt hatte, ob sie ihn mitnehmen würde.

Ihr Leben lang war sie vorsichtig gewesen, deshalb wollte sie sogleich Nein sagen. Aber er sieht so aus, als könnte ich es wagen, überlegte sie.

„Es tut mir leid“, erwiderte sie unbehaglich. „Ich bin sicher, Ihre Freundin wird bald zurückkommen“, fügte sie hinzu, wie um ihm etwas Nettes zu sagen.

Der Mann ließ sich nicht beschwichtigen, sondern wurde wieder zornig. Er kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und blickte Harriet ärgerlich an. „Was haben Sie mir da unterstellt?“, fragte er kühl. „Trixie ist nicht meine Freundin, sondern meine Nichte. Wenn Sie glauben, es handle sich hier um ein Schäferstündchen, bei dem etwas schief gegangen ist, irren Sie sich. Es geht vielmehr um gezielte Manipulation.“ In seinen Augen blitzte es verächtlich auf.

„Mir ist klar, dass Ihnen die Situation sehr seltsam vorkommen muss. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich ein ganz normaler Mensch und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft bin. Oder sehe ich so aus, als wäre ich verrückt genug, um mit meiner Freundin an einem kalten Herbstabend im Fluss zu schwimmen und sie dann mit meinen Sachen wegfahren zu lassen? Aus dem Alter bin ich heraus“, fügte er hinzu.

Harriet war überrascht, dass er sich offenbar über ihre falsche Vermutung, die eigentlich nahelag, mehr ärgerte als darüber, dass sie ihn nicht mitnehmen wollte. Sie betrachtete ihn genauer und stellte fest, dass seine Miene etwas arrogant wirkte. Im Gegensatz zu mir scheint er daran gewöhnt zu sein, jede Situation zu beherrschen, statt sich beherrschen zu lassen, dachte Harriet.

Auch wenn er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft war, wäre es dumm, ihn mitzunehmen. Harriet erbebte, während sie darüber nachdachte, was alles passieren konnte. Es war nicht auszuschließen, dass alles nicht stimmte, was er ihr erzählt hatte.

Sie war froh, dass sie den Motor hatte laufen lassen. Nervös blickte sie über die Schulter und wünschte, es würde jemand vorbeikommen.

„Du liebe Zeit“, fuhr der Fremde sie zornig an. Offenbar ahnte er, was in ihr vorging. „Sehe ich etwa wie ein Vergewaltiger aus?“

Dabei blickte er sie so verächtlich an, als würde er sich eine Frau wie sie bestimmt nicht als Opfer aussuchen, falls er wirklich vorhätte, jemanden zu vergewaltigen. Harriet war sich viel zu sehr bewusst, dass sie weder erotisch noch sexy wirkte.

„Woher soll ich das wissen? Ich bin noch nie einem begegnet“, erwiderte sie gereizt. „Es tut mir leid, ich kann Sie nicht mitnehmen. Das müssen Sie einsehen. Aber ich kann jemandem Bescheid sagen. Soll ich die Polizei schicken?“

Wieder blickte der Mann sie verächtlich an. Es war ein kühler Wind aufgekommen, und sogar im Innern des Wagens spürte Harriet die Kälte. Deshalb wunderte sie sich gar nicht, dass der Mann auf einmal eine Gänsehaut bekam.

Sie war nahe daran, schwach zu werden, denn sie war von Natur aus ein hilfsbereiter, mitfühlender Mensch. Doch als sie den Fremden auffordern wollte einzusteigen, richtete er sich auf.

„Nein, das ist nicht nötig“, antwortete er kurz angebunden, während es in seinen Augen zornig aufblitzte. Dann verbeugte er sich leicht. Seltsamerweise wirkte diese Geste keineswegs lächerlich, sondern eher beleidigend. „Das liebe ich an den Frauen, sie sind so überaus verständnisvoll und hilfsbereit“, fügte er spöttisch hinzu.

Harriet wollte die Tür zuschlagen. Doch der Mann hielt ihre Hand fest. Als er mit den kalten, feuchten Fingern ihre Haut berührte, überlief es sie heiß. Sie saß reglos da, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

„Glauben Sie wirklich, ich hätte Sie nicht schon längst überwältigen können, wenn ich es gewollt hätte? Sie wissen verdammt gut, dass ich Ihnen nichts tun will.“ Seine Stimme klang verbittert. „Aber es macht Ihnen offenbar Spaß, mich zu quälen. Ich habe Sie nur um einen kleinen Gefallen gebeten, sonst nichts.“

Plötzlich kam sie sich kleinlich und erbärmlich vor. Sie wollte gerade erklären, dass sie es sich anders überlegt habe, als er unvermittelt die Hand zurückzog und die Tür zuschlug. Harriet war verletzt und fühlte sich wie beraubt.

Der Mann drehte sich um und ging in die Richtung davon, aus der er gekommen war. Im Licht der Scheinwerfer sah sie seine große, muskulöse Gestalt, und dann war er verschwunden. Harriet erbebte, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie wie betäubt dasaß.

Sie nahm sich zusammen, legte den Gang ein und fuhr weiter. Eine halbe Stunde später erreichte sie das Dorf. Sie hatte immer noch Herzklopfen und konzentrierte sich darauf, die Straße zu finden, die zu ihrem Cottage führte. Plötzlich fragte sie sich, ob sie nicht doch die Polizei informieren sollte. Sie entschied sich jedoch dagegen, denn wahrscheinlich war dem Mann die ganze Sache peinlich.

Nicht ihm war es peinlich, sondern ich war peinlich berührt, als ich gemerkt habe, dass er beinah nackt war, gestand sie sich dann ein. Sie schluckte, als sie sich daran erinnerte, wie sehr sie sich bemüht hatte, dem Mann in die Augen zu sehen, statt seinen Körper zu betrachten, und sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

Und dann hatte er behauptet, seine Nichte sei für seine unangenehme Lage verantwortlich. Harriet runzelte die Stirn. Seine Erklärungen hatten sich für sie so angehört, als sagte er die Wahrheit. Sie hatte den Eindruck, der Mann hätte keine besonders hohe Meinung von Frauen. Woran mochte das liegen? Er sah so gut aus, dass Harriet eher vermutet hätte, er könne sich vor Verehrerinnen nicht retten.

Schließlich bog sie in die schmale Straße ein, die zu ihrem Cottage führte. Als sie es im Licht der Scheinwerfer erblickte, wünschte sie, sie wäre nicht so spät aus London weggefahren. Sie fand es deprimierend, ganz allein in ihrem neuen Zuhause anzukommen, ohne von jemandem erwartet zu werden, und dann auch noch alles in völliger Dunkelheit vorzufinden.

Das Cottage hatte einmal zu dem Landgut eines Großgrundbesitzers gehört. Man hatte keine Verwendung mehr dafür gehabt, als die Ländereien vor mehreren Jahren aufgeteilt und verkauft worden waren. Bis vor Kurzem hatte darin der Förster des früheren Besitzers gewohnt, wie der Makler Harriet erzählt hatte. Seit seinem Tod vor achtzehn Monaten hatte das Cottage leer gestanden.

Zwei Farmer aus der Umgebung hatten angeblich den größten Teil der Wiesen und Felder gekauft. Das Herrenhaus mit dem großen Grundstück darum herum hatte ein einheimischer Geschäftsmann erworben.

Während Harriet die Haustür aufschloss und Licht machte, breitete sich ein Gefühl der Erleichterung in ihr aus. Die kleine Eingangshalle wirkte hell und freundlich, und das Unbehagen, das sie seit dem Zwischenfall auf der Landstraße empfunden hatte, verschwand.

Warum hatte sie sich so schuldig gefühlt? Sie hatte dem Mann doch angeboten, die Polizei zu schicken. Sie blieb stehen. Seinen verbitterten Blick und seine abfälligen Bemerkungen über Frauen konnte sie nicht vergessen. Hoffentlich wohnt er weit genug weg, sodass ich ihm nie wieder begegne, überlegte sie.

Es war noch relativ früh, noch nicht einmal zehn Uhr. Trotz der langen Fahrt war sie nicht müde, sondern ruhelos und voller Tatendrang. Deshalb brachte sie nicht nur all ihre Sachen aus dem Auto ins Haus, sondern stellte den PC auf den Tisch ihrer Wohnküche und schloss ihn an. Dann setzte sie sich hin und arbeitete an einem Entwurf für einen Roman. Die Idee dazu war ihr erst gekommen, als sie den Kofferraum ihres Wagens ausräumte.

Ihre Möbel waren schon vor einigen Tagen gebracht worden. Harriet hatte mit dem Spediteur genau abgesprochen, wo was hingestellt werden sollte. Sie war noch einige Tage länger in London geblieben und hatte in einem Hotel übernachtet, weil sie noch einen Termin mit dem Verlag gehabt hatte.

Rasch vergaß sie alles um sich her und vertiefte sich in die Arbeit. Erst nach zwei Stunden hielt sie inne. Ihr Rücken schmerzte, und ihr war kalt. Sie unterdrückte ein Gähnen, druckte die Seiten aus, die sie eingegeben hatte, und stand auf.

Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Ich kann morgen durchlesen, was ich da geschrieben habe, dachte sie und stellte den Computer ab.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Türen verschlossen und verriegelt waren, ging sie nach oben in den behaglichen Raum mit den Dachschrägen und dem wunderschönen Blick auf die Landschaft mit den sanften Hügeln.

Das moderne Bett passte nicht so recht in das alte Cottage. Harriet nahm sich vor, sich in den Antiquitätenläden der näheren Umgebung nach einem stilvolleren Bett umzusehen. Der Raum mit den schrägen Dielen und den dicken Wänden musste mit altmodischen Möbeln ausgestattet werden, mit einem Bett, in das man im wahrsten Sinn des Wortes hineinsteigen musste.

Um sie her war es sehr still. In London fließt der Verkehr ununterbrochen, und der Lärm hört nie auf, dachte sie und erinnerte sich an Louise’ Worte. Ihre Schwester hatte erklärt, sie, Harriet, würde die Stille nicht ertragen können und innerhalb von sechs Monaten nach London zurückkehren. Aber Harriet war sich sicher, dass sie hier bleiben würde. Schon jetzt empfand sie die undefinierbaren, leisen Geräusche des Hauses als seltsam beruhigend. Alles kam ihr sehr friedlich vor, und sie freute sich auf das Leben auf dem Land.

Während sie dagegen ankämpfte einzuschlafen, wünschte sie, sie wäre diesem Fremden nie begegnet. Sein Zorn und die Verachtung, die er sie hatte spüren lassen, hatten etwas in ihr ausgelöst. Sie hatte das Gefühl, er hätte sie angesehen und dann entschieden, sie sei als Frau für ihn völlig uninteressant. Und aus dem Grund schien er sie zu verachten. Doch das war eigentlich lächerlich, denn er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er von Frauen ganz allgemein nicht viel hielt.

Schließlich schlief sie ein, ohne das Rätsel gelöst zu haben, warum sie überhaupt noch an den Fremden dachte.

Harriet schreckte aus dem Schlaf auf und war irritiert von den ihr noch nicht vertrauten Geräuschen. Dann erinnerte sie sich an ihren Traum.

Sie war an einem Fluss entlanggegangen. Sie hatte nur das Wasser gesehen und das leise Rauschen gehört. Plötzlich und wie aus heiterem Himmel erblickte sie den Mann, der zwischen Bäumen hindurch auf sie zukam. Er trug Jeans und ein Baumwollhemd und betrachtete sie von oben bis unten. Erst als ihr sein seltsamer Blick auffiel, wurde ihr zu ihrem Entsetzen bewusst, dass sie völlig nackt war.

Instinktiv wollte sie sich vor ihm verstecken, aber es war schon zu spät.

„Jetzt bist du in dieser Situation! Wie gefällt es dir?“, hatte er ihr spöttisch über das Rauschen des Wassers hinweg zugerufen.

Harriet setzte sich im Bett auf und erbebte. Sie wollte lieber nicht über den Traum nachdenken. Draußen regnete es, und die Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben. Hatte sie dieses Geräusch im Traum für das Rauschen des Flusses gehalten?

Sie ärgerte sich darüber, dass sie den Zwischenfall von dem Abend zuvor noch nicht vergessen hatte und sich in Gedanken immer wieder damit beschäftigte. Es ist Zeit zum Aufstehen, sagte sie sich energisch und schwang die Beine aus dem Bett.

Obwohl sie sich aus London Lebensmittel mitgebracht hatte, musste sie in die nahe gelegene Kleinstadt fahren und einkaufen, um den Kühlschrank zu füllen und sich einen kleinen Vorrat anzulegen.

Doch zuerst wollte sie frühstücken und danach den Tagesablauf planen. Nachdem sie die Filtertüten gefunden hatte, stellte sie die Kaffeemaschine an.

Nach zwei Bechern starken Kaffees und einer Scheibe Toast beschloss sie, sich trotz des schlechten Wetters die unmittelbare Umgebung anzusehen. Entlang des Feldes, das an ihren verwilderten Garten angrenzte, verlief ein Fußweg, der von dem Dorf bis zu den Hügeln führte. So weit wollte Harriet nicht laufen, doch sie war der Meinung, etwas frische Luft würde ihr nach dem Frühstück gut tun und Ordnung in ihre Gedanken bringen.

Sie zog die burgunderroten Boots und ihre gelbe Regenjacke mit Kapuze an und ging aus dem Haus. Der Boden war aufgeweicht, und Harriet war froh, dass sie die wetterfesten Schuhe gekauft hatte.

2. KAPITEL

Eine halbe Stunde war Harriet schon unterwegs, ohne jemandem begegnet zu sein. Nach dem hektischen Verkehr und den vielen Menschen in London war die Ruhe hier für sie die reinste Erholung. In ihrer gelben Regenjacke und den wasserdichten Boots störten Harriet der Regen und der kühle Wind nicht. Sie war an ihrem verwilderten Garten vorbeigegangen und hatte wehmütig gelächelt, als sie sich daran erinnerte, welche Pläne sie in London geschmiedet hatte. Sie hatte sich vorgenommen, diese kleine Wildnis in das kleine, private Paradies zu verwandeln, von dem sie immer geträumt hatte.

Der Himmel war an diesem Morgen von Wolken verhangen, und sie vermutete, dass es den ganzen Tag regnen würde. Deshalb würde sie sich am besten an den Computer setzen und arbeiten, statt ihre Zeit damit zu verschwenden, umherzuwandern. Das erste der vier Kinderbücher, für die der Verlag ihr einen festen Auftrag erteilt hatte, musste zu einem bestimmten Termin fertig sein, der leicht einzuhalten war. Dessen war sie sich sicher. Dennoch darf ich meine Zeit nicht damit verbringen, ziellos durch den Regen zu laufen und zu träumen, ich habe auch noch genug im Haus zu tun, mahnte Harriet sich streng. Schweren Herzens ging sie zurück.

Ich will im Garten arbeiten, die Zimmer renovieren und die Einsamkeit genießen, das klingt ganz so, als würde ich wirklich zu einer alten Jungfer, wie Louise es vorausgesagt hat, überlegte Harriet. In drei Monaten wäre sie fünfunddreißig. Natürlich war sie noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Während man von Männern zwischen fünfunddreißig und vierzig behauptete, sie seien im besten Mannesalter, galt etwas Ähnliches trotz des Umdenkens, das eingesetzt hatte, für Frauen nicht. Sie blieb stehen und wurde sich bewusst, dass sich der Gedanke an einen ganz bestimmten großen dunkelhaarigen Mann bei ihr festgesetzt hatte und sich nicht mehr verdrängen ließ. Dieser attraktive Mann war zornig gewesen und hatte sich für sie als Frau überhaupt nicht interessiert, sondern sie nur verachtet und sich über sie geärgert.

Wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn ich ihn mitgenommen hätte? fragte sie sich. War sie in all den Jahren, die sie in London ohne Freund und Partner und mit der Verantwortung für ihre Schwester und deren Kinder verbracht hatte, zu einer ängstlichen Einzelgängerin mit einer viel zu lebhaften Fantasie geworden? Glaubte sie etwa, jeder Mann, der ihr über den Weg lief, sei gefährlich?

Das düstere Bild, das sie da von sich selbst malte, gefiel ihr nicht. Nein, so bin ich nicht, es war durchaus richtig, dass ich den Mann nicht mitgenommen habe, sagte sie sich sogleich. Alleinstehende Frauen wurden immer wieder vor den Gefahren gewarnt, die in solchen schwer einzuschätzenden Situationen lauern konnten. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, dachte sie. Und dennoch …

Sie wurde jäh aus den Träumen gerissen, als ein mit Schmutz bedeckter brauner Labrador auf sie zugerannt kam. Ihm folgte ein schlankes rothaariges Mädchen, das trotz des Regens keine Kopfbedeckung trug. Es hatte eine dunkelgrüne Jacke, ausgewaschene Jeans und grüne Stiefel an.

„Komm sofort her, Ben“, rief das junge Mädchen und sah Harriet mit großen Augen an, als es sie entdeckte.

„Oh, ich habe gar nicht gemerkt, dass noch jemand hier herumläuft. Ich habe gedacht, Ben hätte ein Kaninchen aufgespürt. Glücklicherweise fängt er sie nicht, aber ich habe schon genug Probleme und will nicht auch noch den halben Vormittag damit verbringen, hinter dem Hund herzulaufen. Oh nein, Ben! Setz dich!“

Es war zu spät. Ben war offenbar ein menschenfreundlicher Hund, denn er sprang Harriet begeistert an und leckte sie ab. Sie liebte Hunde und ließ ihn gewähren. In London war es unmöglich gewesen, sich einen Hund zu halten, doch hier hätte sie nichts dagegen.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich das junge Mädchen und versuchte, Ben zurückzuziehen. Es hatte braune Augen, eine niedliche Nase, und sein Lächeln wirkte warm und ließ das ganze Gesicht erstrahlen.

Harriet schätzte das Mädchen auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Es schien eine rasche Auffassungsgabe zu haben und wirkte intelligent und ganz bezaubernd. Wenn es sich seiner Ausstrahlung einmal bewusst wird, wird es die Männer sicher zur Verzweiflung bringen, überlegte Harriet. Sanft schob sie den Hund von sich und hielt ihn am Halsband fest.

„Oh, sehen Sie nur, was er mit Ihrer Regenjacke gemacht hat!“ Das Mädchen verzog schuldbewusst das Gesicht.

Die gelbe Jacke war mit Abdrücken schmutziger Hundepfoten übersät. Doch Harriet schüttelte den Kopf. „Das kann man abwaschen, es ist wirklich nicht schlimm.“

„Da bin ich froh“, antwortete das Mädchen mit entwaffnender Offenheit. „Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass sich jemand bei Rigg, meinem Onkel, über mich beschwert. Ich habe so schon genug Probleme momentan.“ Es verdrehte theatralisch die Augen. „Eigentlich sollte ich in meinem Zimmer sitzen und über meine Fehler nachdenken. Haben Sie schon mal so etwas Altmodisches gehört? Rigg ist ein seltsamer Mensch. Immer wieder versuche ich, ihm klarzumachen, dass ich erwachsen und kein Kind mehr bin.“

Die Miene des Mädchens wirkte plötzlich eigensinnig und entschlossen und kam Harriet seltsam bekannt vor. Sie runzelte die Stirn. Aber ehe sie etwas sagen konnte, fuhr das Mädchen fort: „Übrigens, ich bin Trixie Matthews, und das ist Ben, wie Sie sicher schon erraten haben.“

Trixie, was für ein ungewöhnlicher Name, überlegte Harriet. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hörte sie ihn schon zum zweiten Mal. Das war sicher kein Zufall, oder? War Trixie Matthews etwa die Nichte des Fremden, der Harriet am Abend zuvor angehalten hatte?

Am liebsten hätte sie Trixie gefragt. Das Mädchen war so offen und vertrauensvoll, dass es sicher bereitwillig Auskunft geben würde. Doch das war nicht Harriets Stil. Sie fragte grundsätzlich niemanden aus. Und war es überhaupt wichtig? Was gestern Abend war, ist vorbei, ich habe schon viel zu lange darüber gegrübelt, mahnte sie sich.

Sie lächelte Trixie Matthews höflich an, dann drehte sie sich um und wanderte zum Cottage zurück. Dieses unverbindliche Lächeln hatte sie im Lauf der Jahre bis zur Perfektion geübt. Es half ihr, Abstand zu wahren und niemanden an sich heranzulassen. Aber das Mädchen ließ sich davon nicht abschrecken, sondern begleitete sie. Ben lief vergnügt vor ihnen her.

„Machen Sie hier Urlaub?“, fragte Trixie interessiert. „Dieses Jahr haben wir noch kein richtiges Urlaubswetter gehabt.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich habe Rigg immer wieder gesagt, dass ich mal irgendwo anders hinfahren will.“ Sie lächelte Harriet an. „Er ist so altmodisch und richtig verstaubt. Viele meiner Freundinnen und Bekannten haben schon eine eigene Wohnung und fahren nicht mehr mit ihren Eltern in die Ferien.“

Das mag ja sein, aber das würde zu ihr nicht passen, überlegte Harriet. Trixies Bemerkungen und ihr Benehmen verrieten, dass sie sehr behütet und umsorgt aufgewachsen war.

„Wo wohnen Sie? Im Dorf im Staple?“

Das Staple war ein Pub mit Fremdenzimmern. Das historische Gebäude stammte aus der Zeit, als die Schäfer mit ihren Herden auf die Märkte im Süden Englands zogen und hier übernachteten.

„Nein, ich bin keine Touristin, sondern soeben aus London zugezogen“, erwiderte Harriet.

„Sie wohnen hier?“ Trixie war überrascht. „Sie kommen aus London? Dann gehört Ihnen wohl das alte Försterhaus, stimmt’s? Rigg hat erwähnt, es sei an eine Lehrerin verkauft worden.“ Trixie runzelte die Stirn.

„Ich war Lehrerin, aber ich bin es nicht mehr.“ Warum habe ich das überhaupt erwähnt? schoss es Harriet durch den Kopf.

Trixies Miene hellte sich auf. „Da bin ich froh, sonst hätte Rigg wahrscheinlich versucht, Sie dazu zu überreden, mit mir während der Ferien zu lernen.“ Wieder verzog sie das Gesicht. „Er ist geradezu von der Vorstellung besessen, ich müsste immer lernen, nur weil meine Eltern in Oxford studiert haben. Er will nicht einsehen, dass ich nicht so intelligent bin wie sie. Meinen Sie nicht auch, dass ich mit beinah achtzehn alt genug bin, mit meiner Freundin und ihrer Mutter in Urlaub zu fahren? Ich verstehe nicht, weshalb er sich so anstellt“, fügte sie ungehalten hinzu.

Harriet nahm an, dass mehr dahinter steckte und dass Trixie ihr etwas verschwieg. Deshalb erwiderte sie ausweichend: „Vielleicht bist du alt genug dazu, doch wenn dein Onkel es dir nicht erlauben will …“

„Er weigert sich nicht nur, es mir zu erlauben, sondern bekommt beinah einen Herzanfall, wenn ich mit ihm darüber sprechen will“, unterbrach Trixie sie mit finsterer Miene. „Und das alles nur wegen eines dummen Fehlers. Ich habe versucht, ihm klarzumachen, was passiert ist. Er hörte jedoch nicht zu. Und dann habe ich versucht, ihm zu demonstrieren, wie leicht man eine Situation missverstehen kann. Aber statt zu begreifen, was ich ihm beweisen wollte, ist er zornig geworden.“ In Trixies braunen Augen blitzte es empört auf.

Plötzlich hatte Harriet Mitleid mit Trixies Onkel. Es war sicher nicht leicht, die Verantwortung für einen so eigensinnigen, lebensprühenden Teenager zu tragen.

Trixie seufzte. „Ich gehe lieber zurück, ehe er merkt, dass ich abgehauen bin. Er wäre bestimmt nicht so streng und unerbittlich, wenn er nicht so ein Miso… Ach, ich komme nicht auf das Wort. Ich meine, wenn er nicht so ein Mann wäre, der Frauen hasst.“

„Er ist ein Misogyn, wolltest du sagen“, half Harriet ihr weiter.

„Genau. Und das alles nur, weil ihn vor einigen Jahren eine Frau einfach verlassen hat“, erzählte Trixie mit der ganzen Verachtung, zu der Jugendliche fähig waren.

Harriet war klar, dass sie sich das nicht anhören und schon gar nicht Trixie ermutigen sollte, ihr noch mehr anzuvertrauen.

„Ich gebe ja zu, dass es bestimmt nicht angenehm für ihn war, praktisch am Altar stehen gelassen zu werden“, redete Trixie unbekümmert weiter.

Harriet war überrascht. Vielleicht war Trixies Onkel doch nicht der Fremde, dem sie am Abend zuvor begegnet war. Sie konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass eine Frau diesen Mann kurz vor der Hochzeit verließ.

Als Harriet das Cottage erblickte, gestand sie sich schuldbewusst ein, dass sie Trixie längst hätte unterbrechen müssen. „Es war nett, dich kennenzulernen. Ich heiße Harriet, und du kannst Du zu mir sagen.“ Sie lächelte Trixie freundlich an. „Hoffentlich wird dein Onkel nicht zornig, wenn er merkt, dass du weg warst.“

„Ach, Rigg wird eigentlich nicht richtig zornig. Er sieht mich nur so verächtlich an, dass ich mir ganz klein und niedrig vorkomme. Wahrscheinlich stimmt es, dass ich so etwas wie eine Strafe für ihn bin, wie Mrs Arkwright, unsere Haushälterin, meint. Sie hat ihn sehr gern, aber mich mag sie nicht. Ich habe gehört, wie sie zu ihrem Mann, der Gärtner bei uns ist, gesagt hat, Rigg sei ein guter Mensch, weil er mich nach dem Tod meiner Eltern aufgenommen hat. Dabei ist er gar kein guter Mensch, sondern eher ein Teufel“, erzählte Trixie. „Er will nicht einsehen, dass ich erwachsen bin mit beinah achtzehn Jahren. Übrigens, dein Outfit gefällt mir“, stellte sie unvermittelt fest. „Rigg wäre entsetzt, wenn ich mir so etwas kaufen würde.“ Mit finsterer Miene betrachtete sie ihre zweckmäßige Kleidung.

Wenn ich eins meiner Londoner Outfits angehabt hätte, hätte Trixie sicher nicht so vertrauensvoll und unbekümmert mit mir geredet, überlegte Harriet. Sie fühlte sich wirklich schuldig, denn sie hätte nicht zulassen dürfen, dass Trixie ihr so viel erzählte.

Vor dem Gartentor zu Harriets Cottage verabschiedeten sie sich. Doch als Harriet später an ihrem neuen Buch arbeitete, fiel es ihr immer schwerer, in die Handlung nicht einen schlanken rothaarigen Teenager mit braunen Augen und einem Ungeheuer als Onkel einzufügen. Schließlich tat sie es, und am Nachmittag stellte sie fest, dass das Buch ganz anders wurde, als sie es geplant hatte, und dass die beiden neuen Figuren die Hauptpersonen wurden.

Um vier Uhr erinnerte sie sich daran, dass sie noch hatte einkaufen wollen. Bis in die nächste Kleinstadt brauchte sie mit dem Auto gut eine Dreiviertelstunde. Sie hatte noch genug zu essen im Haus. Nachdenklich blickte sie auf das Telefon und überlegte, wie viel Uhr es jetzt in Kalifornien war. Sollte sie Louise anrufen, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war? Nein, Louise ist erwachsen und hat einen Mann, der sich um sie kümmert, sagte sie sich schließlich. Immer noch glaubte Harriet, sie sei für ihre Schwester verantwortlich. Doch in Wahrheit konnte Louise gut auf sich selbst aufpassen.

Während Harriet den Computer abstellte, breitete sich ein ungewohntes Glücksgefühl in ihr aus. Sie war frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. Niemand stellte Ansprüche an sie, und sie brauchte keine Rücksicht mehr auf andere zu nehmen. Es war einfach wunderbar. Zum zweiten Mal an diesem Tag zog sie die Regenjacke und ihre Boots an und arbeitete eine ganze Stunde im Garten. Sie entfernte das Unkraut von dem mit Steinen ausgelegten Weg, der durch den Vorgarten zum Tor führte. Schließlich ging sie wieder ins Haus.

Nach der Arbeit im Garten war sie hungrig. Deshalb nahm sie rasch ein heißes Bad und machte sich etwas zu essen.

Da der Himmel immer noch grau war und es regnete, wurde es früher dunkel als sonst zu dieser Jahreszeit. Harriet sah die Nachrichten im Fernsehen. Laut Wettervorhersage würde es auch in den nächsten Tagen noch regnen. Das sind keine guten Aussichten, dachte sie und beschloss, sich ins Bett zu legen und zu lesen.

Aber der neuste Roman eines ihrer Lieblingsautoren konnte sie nicht fesseln. Stattdessen wanderten ihre Gedanken immer wieder zu dem Gespräch mit Trixie und zu der unerwarteten Begegnung mit ihrem Onkel.

Er hatte sie am Abend zuvor Trixie genannt, ehe ihm bewusst wurde, dass er sich getäuscht hatte. Seine Stimme hatte zornig und resigniert geklungen. Es war sicher nicht leicht für den armen Mann, für so einen lebhaften Teenager verantwortlich zu sein.

Auch wenn Trixie ein unternehmungslustiges, ideenreiches Mädchen war, fragte Harriet sich doch, wie sie Rigg dazu gebracht hatte, sich bis auf den Slip auszuziehen. Und dann hatte sie es auch noch geschafft, dass er beinah nackt an der Landstraße entlanglaufen musste. Während Harriet darüber nachdachte, schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

Supermärkte unterschieden sich offenbar durch nichts, wie Harriet feststellte, als die Kassiererin ihr den Kassenbon reichte. Dann schob sie den Einkaufswagen hinaus in den grauen, trüben Herbsttag und über den Parkplatz zu ihrem Auto.

Wenn das Wetter besser gewesen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich die kleine Stadt angesehen. Doch es regnete zu sehr, und ein kühler Wind wehte über den großen Platz.

Von einem goldenen Herbst kann man momentan bestimmt nicht reden, dachte sie. Sie stellte die Einkaufstüten in den Kofferraum und fuhr nach Hause.

Die Landschaft mit den sanften Hügeln wirkte rau und karg. Unwillkürlich erbebte Harriet in der Wärme, die in ihrem Auto herrschte. Die Leute, die an diesem Tag draußen arbeiten mussten, waren nicht zu beneiden. Die Schafe waren durch ihr Fell gegen den Regen geschützt, aber die Schäfer und ihre Hunde nicht.

Als sie durch das Dorf fuhr, zu dem ihr Cottage gehörte, fiel ihr auf, wie menschenleer es war. Nur ein alter Mann wollte die Straße überqueren.

Nachdem sie den Wagen auf der Einfahrt ihres Hauses abgestellt hatte, stieg sie aus. Sie musste gegen den stürmischen Wind ankämpfen, als sie zur Hintertür lief, um die Tür aufzuschließen. Dann zog sie den Schlüssel wieder ab und legte den Schlüsselbund auf den Küchentisch, ehe sie nach draußen eilte, um den Kofferraum auszuräumen.

Sie hörte, dass die Tür zuschlug, dachte sich jedoch nichts dabei. Erst als sie voll bepackt mit Einkaufstüten zurückkam, merkte sie, was passiert war: Sie hatte sich ausgesperrt.

Ich darf jetzt nicht in Panik geraten, mahnte sie sich und stellte die Sachen hin. Die Tür ließ sich nicht mehr öffnen, und ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, das Schloss zu sperren.

Sie ärgerte sich über sich selbst und betrachtete ungläubig die verschlossene Tür. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es in Strömen regnete und sie nass wurde. Es half ihr nicht weiter, hier herumzustehen und die Tür anzublicken. Sie hatte auch alle Fenster zugemacht, ehe sie weggefahren war, weil sie es von London noch so gewöhnt war.

Was sollte sie jetzt machen? Vielleicht hatte der Makler noch einen Ersatzschlüssel. Wenn nicht, könnte er ihr sicher einen Schlüsseldienst empfehlen.

Harriet stöhnte auf und verstaute die Einkaufstüten wieder im Kofferraum ihres Wagens. Glücklicherweise habe ich noch keine Zeit gehabt, meinen Autoschlüssel auch an den Schlüsselbund zu hängen, sagte sie sich und war froh, dass sie die zwei Meilen bis ins Dorf nicht zu Fuß gehen musste. In der dünnen Jacke und den eleganten Schuhen wäre sie innerhalb weniger Minuten völlig durchnässt.

Im Dorf war kein Mensch unterwegs, und auch die Telefonzelle war leer. Nachdem sie sich von der Auskunft die Telefonnummer des Maklers hatte geben lassen, wählte sie die Nummer. Die Sekretärin hörte Harriet zu und antwortete dann voller Mitgefühl, ihr Chef sei weggefahren und würde erst in einer Stunde zurückkommen.

„Aber warten Sie einen Moment“, sagte die Frau, als Harriet gerade den Hörer auflegen wollte. „Ich glaube, im Herrenhaus gibt es noch einen Ersatzschlüssel. Die Leute haben ab und zu im Cottage nach dem Rechten gesehen, als es leer stand. Soll ich dort anrufen und fragen?“

Harriet bedankte sich und erklärte, sie würde sogleich hinfahren und sich selbst erkundigen. Der Makler hatte sie im Vorbeifahren auf das beeindruckende, schmiedeeiserne Tor hingewiesen. Deshalb wusste sie auch, dass das Herrenhaus ungefähr zwei Meilen von ihrem Cottage entfernt war. Sie hoffte, dass man dem Makler den Ersatzschlüssel noch nicht zurückgegeben hatte. Und sie war froh, dass sie noch nicht dazu gekommen war, die Schlösser auszutauschen, wie sie es sich vorgenommen hatte.

Sie fluchte leise vor sich, während sie durch das Dorf und an der Einfahrt zu ihrem Cottage vorbeifuhr. Schließlich hielt sie vor dem schwarzen Tor aus Schmiedeeisen mit den vergoldeten Spitzen an. Der Mann, der das damals sehr verwahrloste und heruntergekommene Herrenhaus gekauft hatte, stammte angeblich nicht aus dieser Gegend. Der Makler hatte Harriet erzählt, er sei ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, dessen Vorfahren hier gelebt hätten. Der Mann habe das Haus renovieren lassen und wohne jetzt selbst darin, außerdem habe er auch sein Geschäft hierher verlegt und eine Fabrik im Gewerbegebiet der nahe gelegenen Kleinstadt gebaut.

„Er hat etwas mit Computern zu tun“, hatte der Makler erklärt. Harriet war froh gewesen, dass sie ihm nicht verraten hatte, wie sie ihr Geld verdiente. Der Mann wollte natürlich niemandem schaden, aber er sprach offenbar gern über seine Kunden. Sie war noch viel zu unsicher und wusste nicht, ob sie mit ihrem zweiten Buch genauso erfolgreich sein würde wie mit dem ersten. Deshalb wollte sie sich lieber noch nicht Kinderbuchautorin oder Autorin nennen.

Sie stieg aus, um das Tor zu öffnen. Es wurde nicht elektronisch überwacht, wie sie erleichtert bemerkte, sodass sie nicht lange im Regen stehen musste. Sie war jetzt schon durchnässt, und ihre Haut fühlte sich kalt und feucht an.

Auch die Jeans waren nass. Das feste Material scheuerte an ihren Beinen, wenn sie bremsen oder in einen anderen Gang schalten musste.

Das Herrenhaus war nicht so imposant, wie Harriet es sich vorgestellt hatte. Es war ein lang gestrecktes, niedriges Gebäude und stammte offenbar aus derselben Zeit wie das Cottage. Die Mauern aus Stein waren nach dem starken Regen von Feuchtigkeit durchdrungen und sahen dunkelgrau und so trist aus wie die ganze Umgebung an diesem Tag. Dennoch hatte das Haus etwas Einladendes, Freundliches und Warmes. Und es strahlte etwas aus, das schwer zu definieren war. Harriet vergaß das feuchte Outfit und ihren Ärger darüber, dass sie sich ausgesperrt hatte. Dass es ihr peinlich war, mit den Leuten, die hier wohnten und die ihr fremd waren, über ihr Missgeschick reden zu müssen, war auf einmal nicht mehr wichtig.

Sie stieg aus und ging auf die Haustür aus massiver Eiche zu. Die Menschen, die hier leben, sind zu beneiden, aber nicht weil das Haus so groß ist und so einsam liegt, sondern weil es so unerwartet friedlich wirkt, überlegte sie.

Harriet war noch gar nicht an der Tür angekommen, als sie schon geöffnet wurde. Trixie blickte sie lächelnd an und war offenbar nicht überrascht, sie zu sehen. Und dann begrüßte Ben sie stürmisch, während Trixie sie ins Haus zog.

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, sagte Trixie. „Ich habe mich schrecklich gelangweilt.“ Sie verdrehte die Augen und lachte. „Rigg hat mir verboten, aus dem Haus zu gehen.“

Sie standen in der wunderschönen, großen Eingangshalle mit den getäfelten Wänden und einem riesigen Kamin, in dem ein Feuer brannte.

Nachdem Ben sich beruhigt hatte, legte er sich vor den Kamin und seufzte zufrieden.

Eine ausgetretene Treppe aus Eiche führte nach oben auf eine Galerie. An der Wand neben dem Treppenaufgang hingen Gemälde, die so aussahen, als wären sie Originale und unbezahlbar.

Die Vorhänge an den Fenstern waren aus schwerer Seide und verliehen der Eingangshalle Behaglichkeit und Wärme. Zu spät merkte Harriet, dass sie auf einem wertvollen Teppich stand, auf dem man besser nicht mit nassen und schmutzigen Schuhen herumlief.

Als sie anfing sich zu entschuldigen, musste Trixie lachen. „Komm, ich kann es kaum erwarten, dich Rigg vorzustellen. Er behauptet immer, ich würde es nie schaffen, respektable Freunde zu haben, wie er sich ausdrückt.“

Plötzlich stand Harriet wie erstarrt da. Ihr wurde bewusst, wie peinlich die Situation werden könnte. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie angenommen, Trixies Onkel sei nicht zu Hause, sondern im Büro oder in seiner Firma. Wenn er wirklich der Mann war, dem sie am Abend ihrer Ankunft auf der Landstraße begegnet war, wollte sie ihn lieber nicht wieder sehen, schon gar nicht unter solchen Umständen. Er hatte sie weder eingeladen, noch war sie ihm willkommen, deshalb kam sie sich wie ein Eindringling vor.

„Oh nein, bitte, du brauchst deinen Onkel nicht zu stören. Er ist sicher sehr beschäftigt“, protestierte sie und hielt Trixie am Arm fest. „Ehrlich gesagt, ich wollte dich gar nicht besuchen, Trixie. Ich habe nicht gewusst, dass du hier wohnst.“ Aber ich hätte es mir denken können, fügte sie in Gedanken hinzu. Aus den Bemerkungen des Maklers über den Besitzer des Herrenhauses ließ sich unschwer erraten, dass es sich dabei um Trixies Onkel handeln musste. Jetzt verstehe ich auch, warum der Mann nicht wollte, dass ich die Polizei informiere, überlegte Harriet.

„Du wolltest mich nicht besuchen?“, wiederholte Trixie irritiert.

Rasch erklärte Harriet, dass sie sich ausgesperrt hatte. „Ich habe den Makler angerufen, über den ich das Cottage gekauft habe. Seine Sekretärin hat gesagt, ihr hättet vielleicht noch den Ersatzschlüssel.“

Sie merkten beide nicht, dass sie nicht mehr allein waren.

Trixie runzelte die Stirn. „Davon weiß ich nichts. Ich muss Rigg fragen“, antwortete sie.

„Was musst du mich fragen, Trixie?“, ertönte auf einmal eine Harriet allzu vertraute Stimme hinter ihnen.

Es überlief sie heiß und kalt, und sie wirbelte herum. Als sie den Mann erblickte, der in einer der Türen stand, bekam sie Herzklopfen. Er kam ihr bekannt und zugleich sehr fremd vor in dem eleganten Anzug und dem weißen Seidenhemd.

Das dunkle Haar war weder feucht, noch klebte es ihm am Kopf wie an jenem Abend, sondern war perfekt frisiert. Es schien seine männlichen Züge zu betonen, die bei Tageslicht seltsam zynisch wirkten.

„Das ist Harriet“, stellte Trixie sie vor. „Sie hat sich ausgesperrt, ihre Schlüssel sind im Cottage. Sie möchte gern wissen, ob wir Ersatzschlüssel haben.“

Sekundenlang betrachtete er Harriet aufmerksam. Dann wandte er sich an seine Nichte, und Harriet glaubte, er habe sie nicht erkannt.

Zu ihrer eigenen Überraschung war sie sehr verletzt darüber, dass er sich offenbar nicht mehr an sie erinnerte. Immerhin hatte er bei ihr einen so tiefen Eindruck hinterlassen, dass es schon beunruhigend war.

„Versuch es mit einer etwas logischer klingenden Erklärung, Trixie“, forderte er sie ruhig auf. Obwohl Trixie das Gesicht verzog, spürte Harriet, dass das Mädchen Respekt vor seinem Onkel hatte.

Trixie biss die Zähne zusammen und warf Harriet einen flehentlichen Blick zu. „Das ist Harriet, Rigg. Ich habe sie … gestern kennengelernt. Sie wohnt in dem alten Försterhaus. Harriet, das ist mein Onkel.“

„Miss Smith und ich sind uns schon begegnet, Trixie“, stellte Rigg fest.

Harriet zuckte leicht zusammen. Sie hatte sich getäuscht, er erinnerte sich doch an sie. Aber woher kannte er ihren Familiennamen?

„Oh!“ Trixie blickte Rigg und Harriet erstaunt an. „Du hast gestern gar nicht erwähnt, dass du Rigg schon kennst, Harriet“, sagte sie dann.

„Vielleicht erinnert sie sich nicht gern an den Zwischenfall.“ Riggs Stimme klang sanft. „Leider war Miss Smith in gewisser Weise das Opfer deines dummen Benehmens, Trixie. Sie hat das Pech, so einen Wagen zu fahren wie du. Als ich aus dem Wasser kam und sah, dass mir so ein Auto wie deins entgegenkam, habe ich zunächst geglaubt, du seist zur Vernunft gekommen.“

Harriet merkte, dass Trixie Mühe hatte, sich das Lachen zu verbeißen. Aber ihr Onkel fand die ganze Sache überhaupt nicht lustig, sondern schaute seine Nichte und Harriet mit finsterer Miene an.

„Oh Harriet, bist du die Frau, die sich geweigert hat, Rigg mitzunehmen?“, fragte Trixie. „Na bitte, Rigg, es hat doch funktioniert“, stellte sie triumphierend fest. „Du bist aufgrund von Indizien verurteilt worden. Ich wette, Harriet hat dir nicht geglaubt …“

„Miss Smith hat angenommen, ich sei entweder ein Verrückter oder ein Vergewaltiger, vielleicht sogar beides“, unterbrach er seine Nichte hart.

„Harriet, ich finde es ausgesprochen mutig, dass du dich geweigert hast, ihn mitzunehmen.“ In Trixies Augen blitzte es amüsiert auf.

Aber Harriet fand die ganze Sache nicht komisch. Rigg hatte sie um einen Gefallen gebeten, und sie hatte es abgelehnt, ihm zu helfen. Jetzt war die Situation umgekehrt, sie brauchte seine Hilfe. Sie erbebte und wünschte, sie würde nicht ausgerechnet Rigg, diesem so kühl und streng wirkenden Mann, gegenüberstehen. Und noch mehr wünschte sie sich, sie hätte nicht plötzlich so eine ausschweifende Fantasie. Es war viel zu gefährlich, sich daran zu erinnern, wie sie Rigg zum ersten Mal gesehen hatte: nicht im eleganten Anzug, sondern beinah nackt.

Sie schluckte. „Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Aber der Makler ist wirklich der Meinung, Sie hätten einen Schlüssel für das Cottage gehabt. Nur deshalb bin ich hier.“

3. KAPITEL

Harriet war klar, was Rigg antworten würde. Es lag auf der Hand, sie konnte es an seiner zufriedenen Miene ablesen. Deshalb war sie auch nicht überrascht, als er schließlich kühl erklärte: „Leider habe ich den Schlüssel vor einigen Tagen an den Makler zurückgeschickt. Vielleicht ist er noch nicht angekommen.“

Harriet bezweifelte keine Sekunde, dass es stimmte. Dieser Mann würde sich nicht so weit erniedrigen, jemanden zu täuschen, auch dann nicht, wenn er sich für irgendetwas rächen wollte. Ohne es zu merken, runzelte sie die Stirn. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Wieso glaubte sie, genau zu wissen, was für ein Mensch Rigg Matthews war? Ihre Reaktion auf ihn gefiel ihr nicht. Die Sache war zu gefährlich und zu bedrohlich.

Als ihr bewusst wurde, dass Trixie und Rigg sie ansahen, zauberte sie wieder dieses unverbindliche Lächeln auf die Lippen, mit dem sie seit vielen Jahren die Leute auf Distanz hielt.

Trixie blickte sie irritiert an. „Rigg, du kannst doch bestimmt irgendwie helfen“, wandte sie sich dann an ihren Onkel, ehe sie abwechselnd Harriet und Rigg betrachtete. Offenbar spürte sie die gespannte Atmosphäre.

„Nein“, protestierte Harriet sogleich, „das ist nicht nötig. Ich habe sowieso nicht damit gerechnet, dass sich hier noch ein Schlüssel für das Cottage befindet. Aber es war einen Versuch wert.“

Sie drehte sich um und wollte gehen. Ihr war klar, wie ungepflegt sie in ihrem feuchten Outfit auf diesen attraktiven Mann wirken musste, der sie so genau beobachtete. Sie konnte nicht verhindern, dass sie mit allen Sinnen auf ihn reagierte, und hielt sekundenlang inne. Dann versteifte sie sich und versuchte, die Gefühle zu verdrängen.

Reagierte sie etwa körperlich auf Rigg Matthews? Das war geradezu lächerlich. In der Vergangenheit hatte sie sich manchmal gewünscht, für einen der netten und liebenswerten jungen Männer, mit denen sie ab und zu ausgegangen war, und auch für Paul irgendetwas zu empfinden. Doch sie waren ihr alle gleichgültig gewesen.

Deshalb hatte sie sich vor einigen Jahren damit abgefunden, dass sie sich wahrscheinlich nie körperlich zu einem Mann hingezogen fühlen würde. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, passierte es im ungünstigsten Moment. Es war ein schmerzliches, überwältigendes Gefühl. Harriet war bestürzt über die heftigen Emotionen, die sich in ihr ausbreiteten, und versuchte herauszufinden, was da mit ihr geschah.

Schließlich erbebte sie. Sie fühlte sich seltsam schwach, und ihr war sekundenlang schwindlig. Glücklicherweise stand sie mit dem Rücken zu Rigg. Es wäre zu demütigend gewesen, wenn er gespürt hätte, was in ihr vorging. Sie konnte gar nicht schnell genug von ihm wegkommen und eilte zur Tür.

„Warte doch. Ich bin sicher, Rigg kann dir irgendwie helfen“, sagte Trixie. Sie holte Harriet an der Tür ein und blickte ihren Onkel bittend an.

Obwohl sie sich gegen ihren Onkel auflehnt und ihn kritisiert, liebt und respektiert sie ihn, dachte Harriet. Trixie hatte offenbar großes Vertrauen zu Rigg und schien davon überzeugt zu sein, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, egal, welche Probleme in ihrem Leben auftauchen würden. Sie beneidete Trixie etwas, denn sie hatte nie jemanden gehabt, auf den sie sich verlassen konnte.

Louise war immer der Liebling ihrer Eltern gewesen, und Harriet hatte schon in der Kindheit lernen müssen, um alles zu kämpfen.

Aber es war auch ganz gut, dass sie für sich selbst sorgen und sich durchsetzen konnte, wie sie sich eingestand. „Das ist lieb von dir, Trixie. Doch ich bin sicher, dein Onkel wird mir zustimmen, dass er nichts für mich tun kann, was ich nicht auch selbst tun könnte“, erwiderte sie kühl und war froh, wie leicht ihr die Worte von den Lippen gingen. Ohne dass sie sich dessen bewusst war, klang ihre Stimme so scharf und bestimmt wie während des Unterrichts in der Schule. Betont gleichgültig fügte sie hinzu: „Ich fahre nach Hawick und bitte einen Schlüsseldienst …“

Dummerweise fing sie in dem Moment heftig zu zittern an. Und dann musste sie auch noch niesen. Hatte sie sich etwa erkältet? Das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen.

Während sie ein Taschentuch in der Tasche ihrer Jeans suchte, erklärte Rigg kühl: „Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Soweit ich mich erinnere, hat das Cottage ein kleines Dachfenster.“

„Ja“, stimmte Harriet zu. Schockiert drehte sie sich um und sah ihn an. Doch sogleich wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Obwohl er streng, hart und sehr distanziert wirkte, war er wirklich ein außergewöhnlich attraktiver Mann. Wie kann eine Frau nur so dumm sein, ihn kurz vor Hochzeit zu verlassen? überlegte sie. Aber was sollten solche Gedanken? Großzügigkeit, Herzlichkeit und menschliche Wärme waren viel wichtiger als gutes Aussehen, und solche Eigenschaften schien Rigg nicht zu haben.

„Ja, das stimmt“, wiederholte sie. „Doch …“

„Ich wollte Ihnen vorschlagen, dass Sie vielleicht durch das Dachfenster ins Haus steigen. Es würde zumindest Zeit sparen.“ Er musterte sie von oben bis unten.

Harriet konnte sich gut vorstellen, was für einen Anblick sie ihm bot mit dem feuchten Haar und in den nassen Jeans, die an ihren Beinen klebten. Wieder zitterte sie am ganzen Körper. Vielleicht lag es daran, dass sie sich in den nassen Sachen ausgesprochen unwohl fühlte. Vielleicht hatte es aber auch einen ganz anderen Grund. Ihr fiel auf, dass Rigg die Lippen zusammenpresste. Wahrscheinlich war ihm das alles sehr unangenehm. Und dann erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung. Er hatte wesentlich weniger angehabt als sie jetzt, und es war kälter gewesen. Das Schlimmste war, sie hatte ihn einfach stehen lassen.

Sie nahm sich zusammen und zauberte ein höfliches Lächeln auf die Lippen. „Das Dachfenster, ja, danke. Ich werde es versuchen.“

„Ohne Leiter und jemanden, der sie für Sie festhält, schaffen Sie es nicht“, erklärte er prompt. „Trixie, geh in die Küche, und bitte Mrs Arkwright, unserem Gast etwas Warmes zu trinken zu machen“, forderte er seine Nichte auf, ohne sich von Harriet abzuwenden. Und als wüsste er, dass Harriet Einwände erheben würde, fügte er so energisch hinzu, dass jeder Widerspruch zwecklos zu sein schien: „Dann kannst du Harriet mit nach oben nehmen und ihr etwas anderes zum Anziehen geben. In der Zeit fahre ich mit Tom zum Cottage und versuche, irgendwie hineinzukommen.“

Harriet fühlte sich beschämt durch seine Hilfsbereitschaft. Geschickt hatte er sie auf eine Stufe mit einem Teenager oder einem Kind gestellt. Zugleich hatte er ihr indirekt vorgehalten, ihm in seiner schwierigen Situation nicht geholfen zu haben.

Ärgerlich und peinlich berührt, fragte sie sich, ob er sie zunächst absichtlich hatte glauben lassen, er würde es ihr heimzahlen und ihr nicht helfen. Er genoss es offenbar, dass er sich ihr als edler Mensch präsentieren konnte.

Egal, weshalb er seine Hilfe anbietet, ich werde sie nicht annehmen, nahm Harriet sich vor. Doch in dem Moment musste sie schon wieder niesen, und Rigg eilte aus dem Haus.

Eine halbe Stunde später betrachtete Harriet sich im Spiegel. Sie trug ein weites T-Shirt und hautenge Jeans, die Trixie ihr gegeben hatte. Ihr Haar war wieder trocken, aber es war durch den Regen so weich geworden, dass es sich nicht frisieren ließ. Deshalb fiel es ihr offen über die Schultern und wirkte seltsam unordentlich.

Mrs Arkwright bestand darauf, ihr eine warme Suppe vorzusetzen. Sie schmeckte so köstlich, dass Harriet den ganzen Teller leer aß.

Riggs Haushälterin war eine gemütliche, freundliche Frau. Sie erzählte Harriet, Miss Trixie, wie sie Riggs Nichte nannte, sei manchmal recht schwierig, aber Rigg sei der rücksichtsvollste Arbeitgeber, den sie sich vorstellen könne.

Harriet spürte, dass die ältere Frau mehr über sie erfahren wollte, und erzählte etwas von sich.

Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, dass es Leute gibt, die gern in London wohnen. Hier bei uns kann man wenigstens richtig atmen, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Harriet wusste es. Sie gab zu, wie aufregend es für sie gewesen war, sich endlich den Traum ihres Lebens erfüllen zu können und auf das Land zu ziehen.

Als sie gerade erwähnte, dass sie nach Louise’ Heirat das Haus verkauft hatte, kam Trixie wieder in die Küche. Sie hatte mit einer Freundin telefoniert.

„Du bist aus London weggezogen? Was für eine verrückte Idee“, erklärte sie geradeheraus. Harriet musste lächeln, und Mrs Arkwright schüttelte den Kopf. „Das war Eva am Telefon“, fuhr sie fort. „Ihre Mutter will wissen, ob ich mit ihnen in Ferien fahren darf. Ich habe ihr gesagt, dass ich Rigg noch bearbeite.“

„Miss Trixie, Sie wissen genau, dass er Sie nicht mitfahren lässt“, sagte Mrs Arkwright und wandte sich dann an Harriet. „Das kann ich gut verstehen, denn es ist eine ziemlich wilde Gesellschaft, in der Mrs Soames verkehrt.“

„Das Problem mit Rigg ist, dass er keine Ahnung davon hat, wie junge Leute heutzutage leben“, beschwerte Trixie sich bei Harriet. „Wenn man ihn hört, denkt man, er stamme aus dem Mittelalter“, fügte sie verächtlich hinzu.

Harriet runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich an ihre Auseinandersetzungen mit Louise und empfand so etwas wie Mitgefühl für Rigg. Doch sie wehrte sich gegen diese Regung, denn sie durfte nicht zulassen, dass sie über einen Mann, vor dem der Verstand sie warnte, zu viel nachdachte. Außerdem hatte Trixie etwas Nettes, Natürliches an sich, was Louise fehlte.

„Mach dir keine Sorgen“, erklärte Trixie. Offenbar hatte sie Harriets Stirnrunzeln missverstanden. „Rigg findet eine Möglichkeit, ins Haus zu kommen.“ Sie blickte zum Fenster hinaus und verzog das Gesicht. „Sieh dir den Regen an. John Beard hat vorige Woche gesagt, es würde einen harten Winter geben. Er war Schäfer und ist jetzt Rentner. Ich wünschte, Rigg würde mich mit Eva und ihrer Mutter zum Skilaufen fahren lassen. Ich brauche unbedingt Urlaub.“

Harriet musste über die Bemerkung lachen.

„Ihr Onkel braucht eher Urlaub als Sie“, wandte Mrs Arkwright ein.

„Er kann ja mitkommen. Ich habe es ihm angeboten, aber Sie wissen ja, wie er ist. Er behauptet, er hätte zu viel zu tun“, antwortete Trixie.

Mrs Arkwright warf ihr einen missbilligenden Blick zu. „Es ist kein Wunder, dass Rigg dieser Mrs Soames nicht traut. Sie hat zugelassen, dass ihr Freund Sie nach Hause fuhr, obwohl er getrunken hatte. Ich kann gut verstehen, dass Rigg zornig ist, denn Mrs Soames hatte ihm versprochen, sie würde dafür sorgen, dass Sie um elf zu Hause sind. Stattdessen waren Sie erst um zwei Uhr nachts wieder hier“, stellte Mrs Arkwright fest.

Sekundenlang herrschte bedrückendes Schweigen. Trixie sah die Haushälterin rebellisch an.

„Wahrscheinlich gab es einen Grund dafür, warum Mrs Soames Trixie nicht rechtzeitig nach Hause gebracht hat“, mischte Harriet sich ein, ohne nachzudenken.

„Ja, es hatte einen Grund“, sagte Trixie sogleich.

„Andererseits ist es verständlich, dass dein Onkel beunruhigt war“, fuhr Harriet fort. Es geht mich natürlich nichts an, gestand sie sich ein, als Trixies Miene sich verfinsterte. Plötzlich hörte sie ein Auto vorfahren und versteifte sich.

„Das ist Rigg“, verkündete Trixie. Sie sprang auf und eilte zur Tür. Ihren Ärger hatte sie offenbar schon wieder vergessen. „Hoffentlich hat er es geschafft, ins Haus einzusteigen.“

Ja, das hoffe ich auch, schoss es Harriet durch den Kopf. Als die beiden Männer hereinkamen, blickte sie Rigg an. An seiner linken Hand war eine Schnittwunde, und am Ärmel seiner Jacke hing ein Spinngewebe. Sie biss sich auf die Lippe, ehe sie aufstand und ihn fragen wollte, ob er etwas erreicht habe.

„Hast du es geschafft?“, kam Trixie ihr jedoch zuvor.

„Ja.“ Dann wandte er sich an Harriet. „Sie müssen ein Schloss am Dachfenster anbringen lassen, wenn Sie eine neue Scheibe einsetzen lassen. Ich bin nicht sicher, ob die Versicherung den Schaden bezahlt.“ Seine Stimme klang streng. Er zog ihren Schlüsselbund aus der Tasche und reichte ihn ihr. „Wir haben das Dachfenster mit Brettern vernagelt, damit es nicht hineinregnet. Sie sollten es jedoch bald reparieren lassen, denn im Landfunk wurde für nächste Woche Sturm vorhergesagt.“

Harriet kam sich vor wie ein gemaßregeltes Kind. Sie nahm den Schlüsselbund entgegen. Nur mühsam gelang es ihr, sich zu beherrschen. „Danke, dass Sie mir geholfen haben. Es war dumm von mir, mich auszusperren. Doch trotz dieser Dummheit habe ich genug Verstand, um zu wissen, dass das Dachfenster so rasch wie möglich repariert werden muss“, erwiderte sie leicht gereizt.

Rigg betrachtete sie und runzelte die Stirn. Plötzlich wurde ihr klar, dass er ihr nicht ins Gesicht sah, sondern sie von oben bis unten musterte. In dem geliehenen Outfit und mit dem Haar, das ihr offen über die Schultern fiel, wirkte sie sicher eher wie ein Teenager statt wie eine erwachsene Frau von beinah fünfunddreißig.

Während sie den Schlüsselbund entgegennahm, berührte sie sekundenlang Riggs Finger. Sogleich überlief es sie heiß, und sie stand wie erstarrt da. Trixie redete auf ihren Onkel ein und erzählte ihm von dem Telefonat. Er drehte sich zu seiner Nichte um, und Harriet eilte zur Tür.

Je eher sie wieder in ihrem Cottage wäre, weit genug weg von diesem Mann, der sie so sehr aus der Fassung brachte, desto besser wäre es für sie. Natürlich wollte sie Trixie die geliehenen Sachen zurückbringen. Doch zuvor würde sie sie anrufen, um sich zu vergewissern, dass Rigg nicht zu Hause war.

Trixie hatte ihn als Frauenhasser beschrieben. Er war ein intelligenter Mann und wusste bestimmt, wie er auf Frauen wirkte. Deshalb wollte Harriet unter allen Umständen vermeiden, dass er glaubte, sie versuche, seine Aufmerksamkeit zu erregen oder dergleichen.

Sie konnte sich gut vorstellen, was so ein attraktiver und reicher Mann von einer Frau wie ihr hielt. Seit sie über dreißig war, hatte Louise sich oft genug darüber lustig gemacht, dass sie noch Single war und keine Affären gehabt hatte. Sie machte sich keine Illusionen mehr und hatte sich damit abgefunden, dass Männer sich nicht für sie interessierten.

Da schon ihre Eltern dafür gesorgt hatten, dass sie überzeugt war, weniger attraktiv und weiblich zu sein als ihre Schwester, verhielt sie sich allen Menschen und ganz besonders Männern gegenüber kühl und distanziert. Auf den Gedanken, dass nur ihre zurückhaltende, beinah abweisende Art für ihr Singledasein verantwortlich war, wäre sie nie gekommen.

In Wahrheit war sie viel attraktiver, als ihr bewusst war. Außerdem wirkte sie sehr verletzlich, was bei Männern einen Beschützerinstinkt wachrief.

Als sie sich an der Tür umdrehte, begegnete sie Riggs Blick. Er runzelte wieder die Stirn. Wahrscheinlich konnte er es kaum erwarten, dass sie endlich verschwand.

„Ich begleite Sie nach Hause“, erklärte er jedoch zu ihrer Überraschung. „Es wird schon dunkel. Obwohl ich alles abgeschlossen habe, weiß man nie, ob nicht jemand ums Haus schleicht. Die Bretter, mit denen wir das Dachfenster vernagelt haben, würden einen Einbrecher nicht davon abhalten können, ins Cottage einzudringen.“

Sekundenlang blickte sie ihn nur an. „Nein, mir passiert schon nichts. Sie haben genug für mich getan“, entgegnete sie dann.

„Das kannst du dir sparen, Harriet“, mischte Trixie sich ein. „Rigg ist fest davon überzeugt, wir Frauen könnten nicht selbst auf uns aufpassen.“ Sie hob herausfordernd das Kinn.

Aber Rigg ignorierte ihre Bemerkung und ging zur Tür. Harriet hatte keine andere Wahl, als ihm vorauszugehen.

Während sie nebeneinanderher zu den Autos eilten, hätte sie sich gern bei ihm dafür entschuldigt, dass sie ihm an jenem Abend nicht geholfen hatte. Sie fand jedoch nicht die richtigen Worte.

Sie war sich seiner Gegenwart viel zu sehr bewusst und war verwirrt und nervös. Und sie befürchtete, er würde vielleicht spüren oder ahnen, was für Gefühle seine Nähe in ihr wachrief. Sie verstand selbst nicht, was mit ihr los war. So hatte sie noch nie auf einen Mann reagiert, und er hatte sie keineswegs ermutigt. Das Gegenteil war eher der Fall.

Normalerweise war sie eine gute Autofahrerin. Aber jetzt hatte sie Mühe, den Motor zu starten, und dann legte sie auch noch den Gang so hart ein, dass es ein lautes, unangenehmes Geräusch gab. Es war ihr geradezu peinlich, und sie wagte nicht, sich vorzustellen, was Rigg jetzt von ihr dachte. Schließlich fuhr sie zurück zu ihrem Cottage.

Durch den Regen und die grauen Wolken wurde es noch früher dunkel. Ihr kleines Haus, das sie wenig später zwischen den Bäumen erblickte, wirkte düster und verlassen.

Harriet erbebte und stellte den Wagen auf der Einfahrt ab. Am nächsten Morgen werde ich als Erstes Ersatzschlüssel machen lassen, nahm sie sich vor. Sie stieg aus, und im selben Moment stieg auch Rigg aus seinem Auto. Sie bekam weiche Knie und zwang sich, sich höflich für seine Hilfe zu bedanken. Aber sie schaffte es nicht, ihn anzusehen. Er hatte ihr geholfen, obwohl er allen Grund gehabt hätte, es nicht zu tun.

Rigg holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete damit über das Cottage.

„Es ist noch alles so, wie es war“, stellte er fest. „Wenn Sie möchten, dass ich mit Ihnen hineingehe und nachsehe …“

„Nein, das ist wirklich nicht nötig“, unterbrach sie ihn und wich so hastig zurück, dass sie ausglitt und das Gleichgewicht verlor.

Rigg reagierte rasch. Er legte die Taschenlampe hin, packte Harriet fest an den Armen und hob sie hoch, um sie sogleich wieder auf die Füße zu stellen.

Trotz des Schocks über die Berührung mit seinem Körper war sie sich Riggs Kraft und Stärke sehr bewusst. Er hatte sie so mühelos hochgehoben, als wäre sie ein Kind. Sie erinnerte sich daran, dass sie am Abend ihrer Ankunft bemerkt hatte, wie muskulös und durchtrainiert sein Körper war.

Er schien ihr Entsetzen zu spüren, denn sekundenlang wurde der Griff seiner Hände noch fester. Im Licht der Scheinwerfer seines Geländewagens konnte sie sein markantes Profil erkennen, als er sich zu ihr hinüberbeugte. Die Lippen presste er zusammen, und Harriet schloss daraus, dass er sie nicht mochte.

„Sie brauchen nichts zu befürchten“, erklärte er kurz angebunden. „Ich kann Ihnen versichern, es ist nicht meine Art, Frauen zu vergewaltigen.“

Es könnte so leicht sein, ihm mit einigen freundlichen, netten Worten klarzumachen, dass ich so etwas auch gar nicht befürchte, überlegte sie. Aber nein, aus irgendeinem unerfindlichen Grund fing sie an, hilflos zu zittern, sodass er die Stirn runzelte und sie aufmerksam ansah.

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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