Bianca Exklusiv Band 360

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  • Erscheinungstag 31.03.2023
  • Bandnummer 360
  • ISBN / Artikelnummer 0852230360
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Michelle Major, Nancy Robards Thompson, Stella Bagwell

BIANCA EXKLUSIV BAND 360

1. KAPITEL

Früh am Morgen waren die Straßen noch menschenleer. Die Sonne stieg langsam über die Dächer der Backsteinbauten, als Lexi Preston vor dem Eingang eines geschlossenen Geschäfts kauerte und zusah, wie der Wind das Herbstlaub umherwirbelte. Nachdem sie die letzten eineinhalb Tage in ihrem Wagen zugebracht hatte, tat die kühle Luft gut.

Vor fast sechs Monaten war sie das erste Mal nach Brevia, North Carolina, gekommen, damals noch unter ganz anderen Vorzeichen als am heutigen Tag.

Ihr fielen die Augen zu. Sie hätte schwören können, dass es nur eine Minute gedauert hatte, doch sie musste eingeschlafen sein, denn als sie jemand mit dem Fuß anstieß und sie die Augen aufriss, saß sie im hellen Sonnenschein da. Verlegen stand sie auf.

„Was wollen Sie denn hier?“, knurrte Julia Callahan sie an.

Lexi wich vor der Frau zurück, die allen Grund hatte, sie zu hassen. Dennoch erwiderte sie im Flüsterton: „Ich brauche Ihre Hilfe. Ich kann mich an niemanden sonst wenden.“

Als Julia die Brauen hochzog und die Lippen zusammenpresste, konnte Lexi den Zorn der anderen Frau spüren. Diese finstere Miene tat ihrem makellosen Aussehen aber keinen Abbruch. Die Frau war schlank, blond und ein ganzes Stück größer als Lexi und hätte als Schönheitskönigin durchgehen können. Aber es steckte mehr hinter Julia Callahan, das hatte Lexi bei ihrer Recherchearbeit herausgefunden.

„Sie wollten mir meinen Sohn wegnehmen. Warum sollte ich Ihnen helfen?“

„Letztlich habe ich dafür gesorgt, dass Sie ihn behalten dürfen“, betonte Lexi und rückte ihre Brille zurecht. „Schließlich haben Sie von mir die Informationen erhalten, durch die die Johnsons dazu veranlasst wurden, die Klage zurückzuziehen.“

„Das weiß ich, aber es erklärt nicht, warum Sie vor meinem Frisiersalon sitzen und wie ich Ihnen helfen soll.“

Lexi verschränkte die Arme vor der Brust, da plötzlich ihr Magen knurrte. Hätte sie auf dem Weg in die Stadt doch bloß erst noch gefrühstückt. „Dennis und Maria Johnson sind dahintergekommen, dass ich Ihnen die Informationen gegeben habe. Darauf haben sie meinem Vater das Mandat entzogen, und etliche ihrer Freunde sind ebenfalls zu einer anderen Kanzlei gewechselt. Wir haben mehr als die Hälfte unserer Mandanten verloren.“

Als sie an den Zorn und die Enttäuschung ihres Vaters dachte, versagte ihr einen Moment lang ihre Stimme. „Daraufhin hat mein Vater mich gefeuert und enterbt.“

Seit dem Abschluss des Jurastudiums vor sechs Jahren hatte sie in der Kanzlei ihres Vaters gearbeitet und dabei versucht, all seine Erwartungen zu erfüllen. Bislang hatte sie immer noch in dem Apartment gewohnt, für das er seit dem College aufgekommen war. Bis sie vor zwei Tagen auch hierfür die Kündigung erhalten hatte.

Sie atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen. „Er hat gesagt, er bereut den Tag, an dem ich geboren wurde. Und ich wäre nichts weiter als eine …“

„Ihr Vater ist ein Arsch.“ Julias klare Worte ließen sie lächeln.

„Stimmt.“ Sie kämpfte gegen ihre Tränen an. „Aber er ist alles, was ich habe … oder hatte.“

„Haben Sie sonst keine Familie?“

„Mit sechs Jahren wurde ich adoptiert. Ich war bei verschiedenen Pflegefamilien, aber an meine leibliche Mutter kann ich mich kaum noch erinnern. Mein Dad hat nie geheiratet, er war ein Einzelkind, und meine Großeltern sind vor Jahren gestorben.“

„Freunde?“

„Ich treffe mich schon mit Kollegen aus dem Büro oder Leuten aus dem Country Club oder Mandanten. Ich bin nicht sehr gut darin, Freundschaften zu schließen.“

„Vermutlich, weil es nicht so einfach ist, gleichzeitig eiskalte Anwältin und gute Freundin zu sein.“

„Ja, vermutlich“, gab Lexi betreten zurück.

„Himmel, das sollte ein Witz sein.“ Julia ging an ihr vorbei und schloss die Ladentür auf. „Werden Sie mal ein bisschen lockerer, Lex.“

„Geht’s Ihnen noch gut?“, brüllte Lexi und stürmte hinter ihr ins Geschäft. Die letzte Bemerkung war nach dem Tumult der vergangenen Tage zu viel gewesen. „Ich erzähle Ihnen gerade, dass ich keinen Job, kein Zuhause und keine Freunde mehr habe, weil ich Sie und Ihren Sohn gerettet habe. Und dann sagen Sie mir, ich soll ein bisschen lockerer werden?“

Julia legte die Lichtschalter um und sah Lexi an. „Ich weiß ja zu schätzen, was Sie für mich getan haben, aber ich bin Ihretwegen einmal durch die Hölle gegangen, weil Sie Charlie zur Familie meines Ex schicken wollten. Wir sind also ganz bestimmt keine seit langer Zeit verschollenen besten Freundinnen.“

„Ich will einen Neuanfang wagen.“

„Dann tun Sie’s.“

„Das ist nicht so einfach. Ich bin zwar siebenundzwanzig, aber mein Vater hat mein gesamtes Leben kontrolliert. Er hatte sogar eine persönliche Einkäuferin für mich engagiert, damit ich immer das Image bediene, das er für mich ausgesucht hatte.“ Aufgebracht fuhr sie sich durchs Haar und ging pausenlos hin und her. „Ich habe nie etwas ohne seine Zustimmung getan, ausgenommen diese Akte, die ich Ihnen geschickt habe. Ich bereue das nicht. Sie sind eine tolle Mutter, und mir tut leid, dass ich etwas mit diesem Sorgerechtsstreit zu tun hatte.“

„Das sollte Ihnen auch leidtun“, stimmte Julia ihr zu.

Lexi seufzte. „Ich würde das am liebsten alles ungeschehen machen. Ich möchte nicht länger die Anwältin sein, die ich bis vor Kurzem war. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch weiterhin Anwältin sein will. Ich brauche eine Verschnaufpause, damit ich entscheiden kann, was ich als Nächstes machen möchte.“ Sie atmete tief durch. „Ich dachte, Sie würden das vielleicht verstehen.“

Julia sah sie einen Moment lang an. „Vielleicht tue ich das ja.“

„Wenn ich ein paar Wochen in Brevia bleibe, könnte ich in Ruhe über alles nachdenken. Ich will hier nicht von meinem Vater entdeckt werden. Er wird bestimmt nach mir suchen, weil er nicht die Kontrolle über mich aufgeben will.“ Sie klopfte leicht auf ihre Handtasche. „Ich habe fünfhundert Dollar in bar bei mir, weil ich keine Kreditkarte benutzen will. Sonst kommt er mir noch auf die Spur.“

„Sie machen mir ein bisschen Angst. Ist er gefährlich?“

Lexi strich mit den Fingern über eine Regalkante. „Er ist nicht gewalttätig, nur bin ich noch nicht stark genug, um mich gegen ihn zu behaupten. Möglicherweise werde ich das auch nie sein, aber ich will es wenigstens versuchen. Mir hat es hier in Brevia gefallen. Und ich bewundere Sie, Julia, weil Sie so energisch und entschlossen sind. Ich weiß, Sie haben keine Veranlassung, mir zu helfen; trotzdem möchte ich Sie darum bitten.“

„Aber von unterwegs anrufen konnten Sie wohl nicht, wie?“

„Tut mir leid. Ich war nicht ganz bei Verstand. Ich habe mich in meinen Wagen gesetzt und bin losgefahren. Brevia war der einzige Ort, an den ich denken konnte. Aber wenn Sie …“

Julia hob eine Hand. „Vermutlich mache ich gerade mal wieder einen Fehler, aber ich werde Ihnen helfen.“

Lexi bekam vor Erleichterung weiche Knie. Julia Callahan war ihre einzige Hoffnung gewesen. Sie wusste, ihr Vater wollte sie im Moment nur bestrafen, und wenn sie ihre Lektion gelernt hatte, holte er sie zu sich zurück. Früher hätte sie alles getan, nur damit er nicht mehr wütend auf sie war. Aber jetzt war das anders. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass er die Sache mit der Akte herausfinden würde, und doch hatte sie es in Kauf genommen.

„Danke“, wisperte sie. „Ich werde Ihnen auch nicht zur Last fallen. Ich kann Anrufe entgegennehmen oder die Haare wegfegen.“

„Sie wollen hier arbeiten?“, fragte Julia verwundert. „Ich dachte, Sie brauchen moralischen Rückhalt. Lieber Himmel, Sie sind Anwältin. Warum wollen Sie hier Haare wegfegen?“

„Wenn ich hier als Anwältin arbeiten will, muss ich mich registrieren lassen, und dann wird mich mein Vater doch wieder finden. Wie gesagt, ich brauche etwas Zeit für mich.“

„Ich setze jetzt erst mal Kaffee auf. Ich habe jetzt nämlich etwas Koffein nötig.“ Die Stylistin sah über die Schulter zu Lexi. „Haben Sie schon gefrühstückt? Im Pausenraum liegt ein ganzer Stapel Müsliriegel.“

„Das ist gut“, sagte Lexi. „Und ich will wirklich helfen, wo ich nur kann.“

Nachdem Julia die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, wandte sie sich kopfschüttelnd an Lexi: „Nächste Woche fangen wir an, den Salon zu erweitern. Ich kann jetzt niemanden einstellen.“

„Schon klar. Ich werde den moralischen Rückhalt zu schätzen wissen. Vermute ich.“

„Kein Wunder, dass Ihr Vater Sie so manipulieren kann. Ihnen steht genau ins Gesicht geschrieben, was Sie gerade fühlen. Ich dachte, Anwälte müssen alle hervorragend bluffen können.“

„Ich kann nicht gut bluffen“, antwortete sie und setzte sich auf einen Klappstuhl. „Darum war ich meistens hinter den Kulissen aktiv. Ich habe ein gutes Gespür für Details und kann belastendes Material ans Licht holen.“

„Ich weiß“, konterte Julia knapp.

„Kennen Sie jemanden in Brevia, der eine freie Stelle hat?“

Julia begann zu lächeln. „Ja, kenne ich. Eine Kellnerin in der Bar hat letzte Nacht Zwillinge bekommen. Sie waren einen Monat zu früh dran und kamen praktisch in Sams Streifenwagen zur Welt.“

„Meinen Sie denn, ich wäre ein gutes Kindermädchen?“

„Ich meine, Sie wären die perfekte Kellnerin für die Bar.“

„Ich trinke keinen Alkohol“, wandte Lexi hastig ein.

„Sie sollen die Drinks nicht selbst runterkippen.“

Lexi griff nach dem Müsliriegel, den Julia ihr gegeben hatte. Erwartungsvoll begann ihr Magen zu knurren. „Ich mag solche Lokale nicht.“

„Ich mag keinen Sport, und trotzdem gehe ich fünfmal die Woche joggen.“

Es war diese schlagfertige Art, die Lexi bei dieser Frau vom ersten Moment so fasziniert hatte. Fast ein Jahr war es her, da hatten Dads Mandanten Dennis und Maria Johnson ihn beauftragt, Julias Leben zu durchleuchten, um einen Grund zu finden, ihr den kleinen Jungen abzunehmen, dessen leiblicher Vater der Johnson-Spross Jeff war.

Lexi wusste, wenn man nur genug Geld locker machte, konnte man so gut wie jedes Problem aus der Welt schaffen. Trotzdem hatte Julia weitergekämpft, und auch wenn ihr Selbstbewusstsein manchmal vielleicht nur vorgetäuscht gewesen war, hatte Lexi durch sie trotzdem erkannt, dass sie nicht länger die Marionette ihres Vaters sein musste.

Zugegeben, sie verdankte ihm alles – aber durfte sie deswegen keine eigenen Entscheidungen treffen?

„Würde ich da sechs Wochen arbeiten können?“

„Ich denke schon. Amy wird alle Hände voll zu tun haben, aber sie will ihren Job nicht verlieren. Sie macht immer die Abendschicht, da wird sie das mit den Babys schon ganz gut regeln können.“

„Klingt nicht schlecht. Ich habe bloß keine Erfahrung als Kellnerin.“

„Lernen Sie schnell?“

„Ich war im Studium Jahrgangsbeste“, erwiderte Lexi. „Was ich davon habe, wenn ich als Kellnerin arbeiten sollte, weiß ich allerdings nicht.“

Wieder sah Julia sie nachdenklich an. „Wollen Sie nicht lieber doch Ihren Daddy anflehen, dass Sie Ihr gemütliches Leben zurückhaben möchten?“

Lexi stand auf. „Ich will ein richtiges Leben haben.“

„Das verstehe ich. Ich habe in der Stadt eine Möglichkeit, wo Sie unterkommen können, solange Sie hier sind. Ich kann Sie gleich hinbringen.“

„Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen, aber ich kann Ihnen unmöglich auch noch bei Ihnen zu Hause zur Last fallen.“

„Da haben Sie recht. Darum bekommen Sie auch mein altes Apartment. Ich bin noch nicht dazu gekommen, den Mietvertrag zu kündigen. Ich habe das Apartment an Sams Dad untervermietet, aber vor ein paar Wochen haben Joe und meine Mom geheiratet. Jetzt steht die Wohnung leer.“

„Zwei Hochzeiten in einem Jahr? Meinen Glückwunsch.“

Julia lächelte. „Danke. Es war eine stürmische Zeit, aber jetzt bin ich glücklich.“

„Dann war Ihre Beziehung zu Sam damals tatsächlich nur vorgetäuscht, um das Sorgerecht zu behalten?“

„Ja, aber es ist viel mehr daraus geworden.“

„Man könnte eigentlich sagen, dass Sie das zum Teil mir zu verdanken haben. Ohne den Rechtsstreit hätten Sie womöglich niemals gemerkt, wie gut Sie zusammenpassen.“

Diesmal musste Julia laut lachen. „Treiben Sie’s lieber nicht auf die Spitze. Ich werde Ihnen bei dem Job helfen, damit Sie ihn kriegen, und ich vermiete das Apartment an Sie. Was Sie aus Ihrem Leben machen und wie Sie an ein Rückgrat kommen, um Ihrem Vater zu trotzen, das müssen Sie ganz allein wissen.“

Lexi fragte sich, ob sie sich je aus den Klauen ihres Vaters würde befreien können. Das hier war die eine Chance, die sie bekommen würde, und die musste sie nutzen. „Ich werde mein Bestes geben“, sagte sie schließlich.

Scott Callahan trank eben einen Schluck Whiskey, als er den Knall und das Klirren hörte. Er sah zur Theke und schwenkte sein Glas, da er jeden noch so kleinen Tropfen Alkohol haben wollte, der sich noch am Eiswürfel festklammerte.

„Hört sich an, als hätte sie wieder eins fallen lassen“, sagte er zu der Kellnerin, die mit der dritten Runde zu ihm kam.

„Die Neue“, antwortete die Kellnerin. „So was Schlimmes habe ich noch nie erlebt.“ Sie stellte ihm das neue Glas hin und nahm das alte weg. „Julia verbürgt sich zwar für sie, aber ich weiß nicht, ob wir bald noch genug Gläser haben, mit denen sie üben kann.“

Scott lehnte sich nach hinten. „Julia verbürgt sich für sie?“, fragte er und deutete mit einem Nicken auf eine elfengleiche Gestalt mit knallrotem Kopf, die gerade eben hinter die Theke kam. „Die kleine Maus soll eine Freundin von Julia … ähm … Morgan sein?“

„Sie heißt jetzt Julia Callahan“, machte die Kellnerin ihm klar. „Seit ein paar Monaten ist sie mit dem Polizeichef der Stadt verheiratet.“

Scott nickte. „Das freut mich für sie. Sind die beiden ein glückliches Paar?“

„Ein perfektes Paar“, sagte sie sehnsüchtig. „Sam Callahan war der beste Fang im ganzen County. Für einen Familienmenschen hätte ich ihn nie gehalten. Aber er mag Julias Kleinen, und das zwischen den beiden ist wahre Liebe.“

„Gut“, murmelte Scott, der seine Verbindung zu Sam nicht publik machen wollte.

„Woher kennst du Julia?“

Er sah sie mit nichtssagender Miene an. „Aus ihrem Frisiersalon.“

„Ich hab dich noch nie hier gesehen. Neu in der Stadt?“

„Nur auf der Durchreise.“ Er trank einen Schluck. „Danke für das neue Glas.“

„Gern geschehen“, sagte die Kellnerin und zog sich zurück. Sie wusste, wann ein Gast sich unterhalten und wann er seine Ruhe haben wollte.

Scott war froh, dass sie sich um ihn kümmerte und nicht diese kleine Maus da drüben. Sie war zwar süß, aber sie hätte wohl weder diesen noch einen anderen Wink verstanden. Und sie war ganz sicher nicht sein Typ.

Was er sich von Brevia versprach, wusste er selbst nicht. Er sah sich das Innenleben der Bar an, die verstaubte Neonreklame an den Wänden, den klebrigen Holzfußboden. Die Theke erstreckte sich über die ganze Länge der rückwärtigen Wand, aber nur ein paar Hocker waren besetzt. Nicht gerade der beliebteste Laden in der Stadt, also kein Wunder, dass im Fenster ein „Zu verkaufen“-Schild hing. Ihm gefiel es, dass nur so wenig los war. Die Bars, die er in D. C. üblicherweise besuchte, waren vielleicht edler und geschichtsträchtiger, aber Schnaps war immer noch Schnaps, und es war egal, wo und von wem er einem eingeschenkt wurde.

Einen Moment lang machte er die Augen zu und fragte sich, was ihn an diesem Abend nach Brevia geführt hatte. Nach dem Streit mit seinem Bruder Sam bei dessen Hochzeit vor ein paar Wochen hatte er geschworen, nie wieder herzukommen. Aber wenn er ehrlich war, gab es für ihn keinen anderen Ort, den er hätte aufsuchen können. Da waren keine Freunde, da war niemand, der sich dafür interessierte, dass Scott bei ihm vorbeikam. Sein Dad und sein Bruder waren die einzigen Ausnahmen, aber beide waren im Augenblick zu sauer auf ihn, als dass es sie hätte interessieren können.

Er trank auch dieses Glas aus. Es gefiel ihm, wie der Alkohol allmählich seinen Verstand betäubte, bis die düsteren Gedanken sich verflüchtigten. Manchmal verleitete ihn der Alkohol zu dummen Entscheidungen, aber er beruhigte ihn ein wenig – und es gab vieles, was Scott aufregte.

Noch ein paar Gäste verließen das Lokal. Die Kellnerin kam zu ihm an den Tisch. „Heute Abend ist nicht viel los, Honey“, sagte sie. „Ich mach mich jetzt auf den Heimweg. Wenn du willst, kann ich dich ein Stück mitnehmen, oder du kommst noch auf einen Kaffee mit zu mir.“

Sie sagte es so selbstverständlich, dass Scott den einladenden Tonfall fast überhört hätte. Er hob den Kopf. „Wie heißt du?“

„Tina.“

Er deutete flüchtig ein Lächeln an. „Tina, glaub mir, du kannst jede Nacht etwas viel Besseres als mich finden. Sogar hier in Brevia. Fahr lieber allein nach Hause.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Finger. „Und danke für das Angebot. Es fällt mir nicht leicht abzulehnen.“

„Dann noch einen schönen Abend“, seufzte sie.

Er sah ihr hinterher, bis ihm auffiel, dass irgendjemand ihn ansah. Die zierliche Kellnerin stand neben einem anderen Tisch, die Kinnlade hing buchstäblich runter und ihre Augen waren so weit aufgerissen, als wäre er der große böse Wolf in Person. Ein heißes Kribbeln wanderte an seiner Wirbelsäule entlang nach oben. Vielleicht hätte er Tinas Angebot doch annehmen sollen. Immerhin musste er dringend aufgestaute Energie abbauen.

Als er aufstand, ihr auf spöttische Weise mit dem leeren Glas salutierte und ihr dann auch noch zuzwinkerte, presste die kleine Maus die Lippen fest zusammen und drehte sich schnell weg. Dadurch rutschte ein weiteres Glas vom Tablett, das sie mit einer Hand zu balancieren versuchte.

Scott schüttelte den Kopf, als das Glas zu Bruch ging. Das Fünfte an diesem Abend. Tollpatschige neue Kellnerinnen blieben meistens nicht lange.

Er suchte sich einen Platz an der Theke und bestellte noch einen Whiskey.

Zu seinem Erstaunen schüttelte der Barkeeper den Kopf. „Sie haben genug, Kumpel.“

„Was soll denn das? Mache ich hier eine Szene oder was? Es ist noch früh.“

„Es ist ein Uhr. Das ist mein Laden, und ich sage, Sie haben genug getrunken.“

„Wo ist das Problem, Mann?“

Der Barbesitzer war Ende vierzig, ein großer Typ mit schütterem Haar und schmalem Gesicht. Scott verhielt sich nicht auffällig und konnte sich nicht erklären, was los war.

„Das Problem ist“, sagte der andere Mann und beugte sich vor, „dass Sie eben meiner Freundin einen Handkuss gegeben haben. Und jetzt verschwinden Sie aus meiner Bar.“

Scott dachte an die reizende Tina und verzog den Mund. „Ich hatte keine Ahnung, dass sie Ihre Freundin ist. Sie wollte mich auf einen Drink einladen und …“

Weiter kam er nicht, da der Barkeeper ihn am Kragen packte. Ohne zu überlegen, schlug Scott dessen Hand mit solcher Wucht auf die Theke, dass er sie ihm beinahe gebrochen hätte.

Der Mann schrie vor Schmerz auf und zog hastig die Hand zurück.

„Ich habe doch gesagt“, betonte Scott leise, „dass ich keine Ahnung hatte.“

„Luke? Ist alles in Ordnung?“

Als Scott zur Seite sah, entdeckte er neben sich die zierliche Kellnerin, die aus der Nähe betrachtet noch winziger wirkte, was wiederum ihre Augen hinter den kreisrunden Brillengläsern noch größer erscheinen ließ. Soweit er das erkennen konnte, trug sie kein bisschen Make-up. Ihre blasse Haut wirkte makellos, von ein paar Sommersprossen auf Nase und Wangen abgesehen. Die roten Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie wippte auf Zehenspitzen vor und zurück, während sie zwischen Scott und Luke hin und her sah.

„Alles in Ordnung, Lexi“, erwiderte der Barkeeper. „Dieser Gast hat genug getrunken, er geht jetzt.“

„Dann ist Lexi hier die Rausschmeißerin?“ Scott musterte die Maus. „Wollen Sie mich jetzt rausschmeißen?“

„Sie kommen mir nicht betrunken vor“, meinte sie.

„Bin ich auch nicht“, behauptete er, obwohl er wusste, es war ihm bloß nicht anzumerken. „Aber ich wäre es gern.“ Er ließ sich auf den Hocker sinken und lächelte Lexi breit an.

Ihr Shirt war mit Riley’s Bar bedruckt, und am Ausschnitt konnte Scott deutlich erkennen, dass sich ihre Haut langsam rötete, was sich bis zu ihren Wangen fortsetzte. Dadurch erschienen ihre Sommersprossen noch deutlicher. Unwillkürlich stellte sich Scott vor, dass ihr ganzer schlanker Körper von Sommersprossen geziert war, die in diesem Moment durch Lexis Verlangen kräftiger wurden. Vor Verlangen nach ihm.

Hey, halt, wo kam denn das jetzt her? Er zwinkerte ein paar Mal, damit er wieder einen klaren Kopf bekam.

„Haben Sie was im Auge?“, fragte die Maus. „Ich habe Augentropfen in meiner Handtasche, ich kann sie gern holen.“

So viel zum Thema Charme. Er war wohl ein wenig eingerostet. „Nein, danke.“

„Er braucht überhaupt nichts“, ging Luke wieder dazwischen. „Er wollte gerade gehen.“

„Kein Wunder, dass dieser Laden so runtergekommen ist“, warf Scott dem anderen Mann mit einem spöttischen Lachen an den Kopf. „Wenn Sie alle Ihre Gäste so behandeln …“

Er sah, wie Luke die Augen leicht zusammenkniff. „Meine Gäste reden nicht schlecht über meine Bar. Mein Lokal ist hier im Ort sehr beliebt.“

Demonstrativ ließ Scott seinen Blick durch den fast menschenleeren Raum schweifen. „Das ist nicht zu übersehen, wirklich nicht“, gab er ironisch zurück. Er sah die Kellnerin an, die flüchtig den Kopf schüttelte und dann vor sich auf den Boden sah.

Die Enttäuschung in ihren Augen ließ aus irgendeinem Grund seine Verärgerung zu richtiger Wut anschwellen. Er wusste nicht, wieso ihm das so wichtig war, aber mit einem Mal war er entschlossen, den Barkeeper nicht gewinnen zu lassen.

„Ich gehe erst, wenn ich noch einen Drink bekomme.“ Er verschränkte die Arme und sah den anderen Mann herausfordernd an.

„Vielleicht solltest du ihm einfach noch einen Drink geben“, schlug Lexi verhalten vor.

„Auf keinen Fall.“ Luke griff nach dem Telefon, das neben dem Regal mit Schnapsflaschen an der Wand hing. „Der Typ hat verloren. So oder so.“ Mit dem Hörer deutete er auf Scott. „Ich werde jetzt die Polizei anrufen und erzählen, dass hier jemand Ärger macht, und dann dürfen die Jungs dich mitnehmen.“

Scott wollte nun wirklich nicht, dass sein Bruder ihn ohne Vorankündigung in einer Bar mitten in seiner Stadt vorfand, schon gar nicht wenn er angeblich auch noch Ärger machte. Natürlich wollte er mit Sam reden, aber Zeitpunkt und Ort würde er bestimmen.

Sam war vor Jahren nach North Carolina gezogen und stellte sich immer schützend vor seine neue Heimat. Scott sagte sich zwar, dass ihm die Meinung seines Bruders schon seit Langem egal war, dennoch hieß das nicht, dass er sich gleich heute Nacht mit ihm anlegen wollte. Das Beste wäre gewesen, einfach nachzugeben und zu gehen, aber so wie Lexi und Luke ihn ansahen, konnte er das nicht. Es war schlichtweg nicht seine Art, nicht mal dann, wenn es der vernünftigere Weg gewesen wäre.

Er sah kurz zur Tür und meinte beiläufig: „Ich habe das Schild im Fenster gesehen. Sie wollen verkaufen?“

„Sie wollen kaufen?“, konterte Luke argwöhnisch.

„Man könnte aus dieser Spelunke eine Menge machen.“

„Ach, wirklich? Wie wär’s dann mit einem Preisvorschlag?“

„Wie wär’s erst mal mit einem Drink? Vielleicht bekommen Sie ja dann Ihren Preisvorschlag.“

Der Barkeeper grinste spöttisch, dann drehte er sich um und nahm die Whiskeyflasche aus dem Regal.

Lexi zupfte an Scotts Ärmel. „Es geht mich ja nichts an, aber mit einem Kaufvertrag sollten Sie vielleicht besser bis morgen früh warten.“

„Wieso? Ich finde, das ist der richtige Zeitpunkt.“ Er beugte sich leicht vor und nahm einen Hauch von Vanille wahr, der von der zierlichen Frau ausging. Der Duft passte perfekt zu jemandem, der so unschuldig aussah wie sie. „Und Sie haben recht: Es geht Sie nichts an.“

Der Barkeeper stellte ihm ein Glas hin und stieß mit ihm an.

„Das mag ja sein“, redete sie weiter. „Aber damit der Vertrag auch Gültigkeit erlangt, muss erkennbar sein, dass beide Seiten sich das Ganze auch gründlich überlegt haben. Das ist nicht gegeben, wenn mindestens eine der beteiligten Parteien unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol stand.“

„Honey, sind Sie Kellnerin oder Anwältin? Mit diesem Rechtskauderwelsch können Sie nämlich viel besser umgehen als mit einem Tablett voller Gläser.“

„Ist ja wahr“, warf Luke ein. „Julia hat gesagt, dass du eigentlich Anwältin bist und dass du dir mit Kellnern dein Studium finanziert hast.“

„Hat sie das gesagt?“, fragte Lexi verwundert. Tatsächlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gekellnert, sondern neben dem Studium bei ihrem Vater in der Kanzlei gearbeitet. Trotzdem nickte sie. „Stimmt auch, dass ich Anwältin bin. Ich lege nur gerade eine Pause ein.“

„Als Kellnerin?“ Scott musterte sie skeptisch.

Sie kniff die Lippen zusammen, was eine Schande war, da sie so voll und wunderschön geformt waren. „Vorübergehend.“

Wieder beugte sich Scott zu ihr vor. „Wie heißt dieses alte Sprichwort? Schuster, bleib bei deinen Leisten? Kellnern ist jedenfalls nicht Ihre Stärke.“

„Idiot“, murmelte sie.

„Stimmt.“

Luke klatschte in die Hände. „Das ist einfach perfekt.“ Er betätigte ein paar Mal den Schalter für die Beleuchtung im Lokal. „Wir schließen heute etwas früher“, rief er einem Paar an einem der hinteren Tische zu. „Gehen Sie jetzt bitte.“ Dann zeigte er auf Lexi. „Du kannst ein Angebot für unseren hübschen Knaben aufsetzen. Warte, ich weiß was Besseres. Hinten im Büro steht meine alte Schreibmaschine. Hol sie her und setz den Vertrag auf.“

„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Ich bezahle dich nicht fürs Denken“, fuhr Luke sie an. „Du hast heute Abend schon ein halbes Dutzend Gläser zerschmissen. Wenn du morgen noch hier arbeiten willst, dann hol die verdammte Schreibmaschine.“

Sie sah zu Scott. „Wollen Sie das wirklich machen?“

Als er in ihre strahlenden Augen sah, wollte er nur eines, nämlich sie bis zur Besinnungslosigkeit küssen.

Eine heruntergekommene Bar kaufen? Absurd. Aber manchmal hatte man keine Wahl. Es gab mehr Dinge, die er nicht wollte. Er wollte nicht mehr an die missglückte Festnahme denken, die seinen Partner beim U.S. Marshal Service das Leben gekostet hatte. Er wollte nicht an das Kündigungsschreiben denken, das er mit sich herumtrug, anstatt es zur Post zu bringen. Er wollte nicht zurück in sein verwaistes Apartment in D. C. und Tag für Tag die gelben Wände anstarren. Er wollte sich nicht so hilflos und allein vorkommen.

„War das etwa nur Gerede?“, fragte Luke ihn herausfordernd. „Ich hätte wissen müssen, dass Sie nur heiße Luft von sich geben. Wenn Sie nicht kaufen wollen, verschwinden Sie. Ich kann meine Zeit sinnvoller vergeuden als mit Leuten wie Ihnen.“

Ohne den Blick von Lexi abzuwenden, antwortete Scott: „Das war keine heiße Luft. Lexi, würden Sie bitte Lukes Schreibmaschine holen?“

2. KAPITEL

Eine Ladung eiskaltes Wasser traf ihn ins Gesicht und riss ihn aus dem Schlaf, jemand sagte: „Wach auf, Dornröschen.“

„Ich bringe dich um“, knurrte Scott, machte die Augen einen Spaltbreit auf und sah sich um. Er lag auf einer abgewetzten Ledercouch in einem kleinen Büro, die verstaubten Regale an den Wänden waren mit Küchenutensilien vollgestellt. „Wo bin ich?“

Sam hielt ihm ein Handtuch hin. „In deiner Bar. Du bist einfach umgekippt und fest eingeschlafen. Luke Trujillo hat mich um drei Uhr in der Nacht angerufen und sich über dich halb totgelacht. Er wollte dich ein Stück weit mitnehmen, aber du wolltest unbedingt die Nacht in deiner Bar verbringen. Seit wann bist du in der Stadt?“

„Seit gestern Abend.“

„Weiß Dad, dass du hier bist?“

„Noch nicht. Wir sind beim letzten Mal ja nicht gerade als eine große glückliche Familie auseinandergegangen.“ Er gab vor, seine Haare trockenzureiben. So konnte er alle Gefühlsregungen vor seinem Bruder verbergen. „Ich bin ein großer Junge, Sam. Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“

„Meinst du wirklich?“ Sam nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und hielt es ihm hin. „Dann ist es also ganz normal, dass du mal so eben in die Stadt kommst und eine Bar kaufst. Luke sucht schon seit Langem einen Käufer für diesen Schuppen. Du hast einen Kaufvertrag unterschrieben und ihm einen Scheck über fünfzig Riesen als Anzahlung gegeben. Wahrscheinlich packt er gerade seine Sachen, um zu seiner Familie nach Florida zu ziehen.“

Scott starrte auf den Vertrag, der von ihm, Luke Trujillo und einer dritten Person unterschrieben worden war. Der Name Lexi Preston stand auf der Linie zu lesen, unter der „Zeugin“ vermerkt war.

Die elfengleiche Kellnerin und Anwältin aus der Bar. Leuchtend grüne Augen und rötlich schimmernde Haare. Er hatte sie beeindrucken wollen. Und er hatte einen Whiskey nach dem anderen trinken wollen. Jetzt, im grellen Licht des Morgens danach, musste er einsehen, wie dumm und spontan er gewesen war.

Wieder mal.

Viel zu oft ließ Scott sich von seinen Gefühlen leiten, vor allem von seiner Wut, und scherte sich dann nicht um die Folgen seines unüberlegten Handelns. Aber die missglückte Festnahme vor zwei Monaten, der seine krasse Fehleinschätzung der Lage vorausgegangen war, hatte sein Leben aus der Bahn geworfen. Das machte ihn zwar verrückt, doch darüber würde er ganz sicher nicht mit Sam diskutieren.

„Ich weiß, du erhältst weiter deinen Gehaltsscheck, und Dad meint, du hast dein Geld gut angelegt. Aber fünfzig Riesen sind eine Menge Geld, Scott. Und was willst du machen, wenn du in den Marshal Service zurückkehrst? Ich will nicht, dass du dein Geld so rausschmeißt.“

Sam war der mustergültige Bruder, der immer alles richtig machte. Der verantwortungsbewusste Callahan. Jedenfalls war es so nach dem Tod ihrer Mutter gewesen. Aber das war viele Jahre her. Scott war jetzt erwachsen, und er würde nicht zugeben, dass er wieder mal einen Fehler gemacht hatte. „Ich habe eine Bar gekauft. Na und? Ich kann’s mir leisten.“ Er warf das Handtuch auf den Boden und fuhr sich durchs Haar. „Ich weiß, was ich tue. Vertrau mir einfach.“

Er ging an seinem Bruder vorbei aus dem Büro ins eigentliche Lokal. Er durfte sich nicht anmerken lassen, dass er in diesem Moment das Gefühl hatte, den größten Fehler seines Lebens begangen zu haben. Was im Dämmerlicht noch gemütlich ausgesehen hatte, wirkte bei Tageslicht so, als müsse alles in dieser Bar erst einmal gründlich sauber gemacht werden. Der Holzboden war mit Schrammen, Kratzern und Flecken übersät, kein Tisch passte zum anderen, und alle sahen sie aus, als seien sie seit Jahren nicht mehr abgewischt worden.

„Ich habe kaum einen Grund, dir zu vertrauen, Scott. Und Lexi Preston werde ich ganz sicher nicht vertrauen.“

Auf Scotts fragenden Blick hin erklärte er: „Sie hat damals die Familie vertreten, die Julia Charlie wegnehmen wollte.“

„Was?“ Scott war vom ersten Moment an in Julias kleinen Jungen ganz vernarrt gewesen. Er kannte Julia nicht besonders gut, aber ihr ausgeprägter Mutterinstinkt war ihm sofort aufgefallen. „Ich dachte, die Familie ihres Ex lebt in Ohio? Was macht diese Anwältin dann in Brevia? Julia hat doch jetzt das alleinige Sorgerecht.“

Julia war in den Sorgerechtsstreit hineingezogen worden, als sie Sam näher kennengelernt hatte – genau zu dem Zeitpunkt, als Scott ihm einen Job bei den U.S. Marshals hatte verschaffen können. Dass Sams Entscheidung gegen den Job und für Julia ausgefallen war, hatte Scott durchaus als eine weitere Zurückweisung empfunden.

„Ich weiß auch nicht, was das soll. Sie ist gestern hier aufgetaucht, erzählt irgendeine rührselige Geschichte und sagt, sie will einen Neuanfang wagen. Julia hat ihr daraufhin diesen Job hier verschafft und ihr ihre alte Wohnung vermietet.“ Sam schüttelte den Kopf. „Dass diese Frau jetzt auch noch eine Rolle bei deiner fragwürdigen Investition gespielt hat, gefällt mir gar nicht.“

Scott konnte den herablassenden Tonfall seines Bruders nicht ausstehen. „Ich kann sehr gut allein auf mich aufpassen. Keine Ahnung, ob diese Lexi Preston irgendwelche finsteren Absichten hegt, auf jeden Fall hat sie nichts mit meiner Entscheidung zu tun, die Bar zu kaufen.“

„Sie hat dich einen Kaufvertrag unterschreiben lassen, obwohl du betrunken warst.“

„Wer sagt, dass ich betrunken war? Vielleicht wollte ich ja wirklich …“

„Mir machst du nichts vor“, unterbrach Sam ihn. „Ich weiß, dieser Vorfall bei den Marshals hat bei dir irgendwas ausgelöst. Du trinkst weitaus mehr als üblich. Und das Übliche ist bei dir schon eine ganze Menge.“ Er machte einen Schritt auf Scott zu. „Ich glaube, du brauchst Hilfe.“

„Raus hier“, gab er leise und ohne eine Gefühlsregung zurück. Er war noch keine vierundzwanzig Stunden zurück in Brevia, und schon wollte Sam ihm wieder weismachen, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

„Scott, hör zu …“

„Nein, Sam, du hörst zu.“ Er begann Stühle geradezurücken, weil seine Hände irgendwie beschäftigt werden wollten. „Der Vorfall hat bei mir nichts ausgelöst. Ich habe mich unter Kontrolle. Ich bin nur weggegangen, weil die internen Untersuchungen darauf hinausliefen, den Ruf meines getöteten Partners zu besudeln. Darum habe ich die Bar gekauft. Das ist meine Investition, mein Geld und mein Leben. Also verzieh dich.“

Nach langem Schweigen nickte Sam knapp. „Falls du mich brauchst, bin ich für dich da, Scott“, sagte er und verließ die Bar.

Als die Tür zugefallen war, sank Scott auf einen Stuhl und rieb sich die Stirn.

Was zum Teufel sollte er jetzt nur machen?

Lexi versuchte, das beharrliche Klopfen an der Wohnungstür zu ignorieren, weil sie fürchtete, ihr Vater könnte sie bereits aufgespürt haben und wollte sie jetzt nach Hause bringen. Aber so schnell wollte sie ihre gerade erst gewonnene Freiheit ganz bestimmt nicht wieder aufgeben.

Das Klopfen wurde energischer, und Lexi machte sich Sorgen, die Nachbarn könnten sich beschweren. Sie atmete einmal tief durch, um Mut zu fassen, dann ging sie zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit.

Oh Gott!

Draußen im Hausflur stand Scott Callahan und sah ziemlich gereizt aus. Er war unrasiert und trug noch die gleichen Sachen wie am Abend zuvor. Sie betrachtete ihn genauer, weil sie wissen wollte, ob er Julias Ehemann Sam ähnelte, denn zwei Callahans in einer so kleinen Stadt konnten kein Zufall sein. Tatsächlich hatten sie beide die gleichen strahlend blauen Augen, den kantigen Kiefer und waren so groß und stark, dass es ihnen etwas fast schon Einschüchterndes verlieh.

Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie bemerkte, dass ihre Wangen zu glühen begannen. Warum brachte der Mann sie bloß so sehr aus der Fassung?

Obwohl die Antwort darauf ein Leichtes war: Allein sein Anblick weckte ihre Fantasie und ließ sie auf Hochtouren laufen, denn dieser Mann war genau auf die Weise schön, von der sich eine Frau einfach angesprochen fühlen musste. Männer, die wie Scott Callahan aussahen, nahmen von Lexi normalerweise keine Notiz, aber er hatte es gemacht. Zumindest war ihr das gestern Abend so vorgekommen. Da hatte er sich zu ihr vorgebeugt und auf ihre Lippen geschaut, als wollte er sie küssen. Noch in den frühen Morgenstunden hatte sie im Bett gelegen und sich ausgemalt, wie es sein würde, von ihm geküsst zu werden. Im Augenblick kam es ihr fast so vor, als könnte sie seine Lippen schmecken und …

Oh.

Sie stutzte und räusperte sich. „Was machen Sie denn hier?“

Mit einem Arm stützte er sich am Türrahmen ab, unter seinem Sweater zeichneten sich die Muskeln deutlich ab. Ein Lächeln umspielte einen Mundwinkel, und mit einem Mal wirkte er gar nicht mehr so beängstigend.

„Was ist mit Ihnen, Lexi Preston? Sie gucken so schüchtern drein und reden so gebildet, aber Sie können auch wild und ausgelassen sein. Das kann ich Ihnen ansehen.“

Reflexartig schlang sie die Arme um sich. „So was können Sie mir gar nicht ansehen.“

„Ich kann Ihnen ansehen, dass Sie mich küssen wollen.“

„Will ich gar nicht!“, platzte sie heraus.

„Lügnerin. Aber den Gefallen tue ich Ihnen nicht. Noch nicht.“

Lexi erschrak darüber, dass seine Worte bei ihr ein Gefühl von Enttäuschung auslösten. „Was wollen Sie hier?“, fragte sie hastig. „Sie sind bestimmt als mein Arbeitgeber hergekommen.“

„Ich will wissen, warum Sie zugelassen haben, dass ich diesen Mist unterschreibe“, sagte er und hielt ihr den Kaufvertrag für die Bar hin. „Ich war betrunken, als ich das unterzeichnet habe.“

„Sie sagten, dass Sie nicht betrunken sind!“, protestierte sie.

„Ich kann das gut überspielen.“

Deshalb hatte er mit ihr geflirtet. Ja, natürlich. Jemand wie Scott musste schon betrunken sein, um jemanden wie sie attraktiv zu finden. „Ich habe Sie gewarnt, aber Sie haben mir versichert, dass Sie im Vollbesitz Ihrer geistigen Fähigkeiten sind.“

„Ich will das rückgängig machen“, sagte er und trat in ihr Apartment.

Das Pfeifen eines Wasserkessels ließ sie kehrtmachen und in die Küche eilen. „So einfach ist das nicht“, sagte sie, holte zwei Tassen aus dem Küchenschrank, legte in jede einen Teebeutel und goss das kochende Wasser darüber. Dann hielt sie Scott eine Tasse hin.

„Was ist das?“, fragte er misstrauisch und roch daran, dann verzog er das Gesicht.

„Grüner Tee. Der hilft mir beim Denken.“ Sie trank einen Schluck.

„Haben Sie keinen Kaffee?“

„Kaffee ist ungesund, den trinke ich nicht.“

„Sind Sie Anwältin und Gesundheitsfanatikerin?“

„Mein Vater sagt immer … ach, vergessen Sie’s.“ Sie winkte ab. „Sie müssen Luke erklären, dass Sie gestern Nacht betrunken waren, dann lässt sich der Vertrag anfechten. Tina wird sicher bestätigen, dass Sie ein paar Gläser zu viel getrunken haben.“

„Das ist das Problem. Niemand soll wissen, dass ich betrunken war, schon gar nicht mein Bruder.“

„Warum nicht?“

„Es ist etwas kompliziert.“

Das konnte sich Lexi gut vorstellen. Sie kannte Scott Callahan erst seit gestern Abend, aber er war schon jetzt der faszinierendste Mann, dem sie je begegnet war. Auf den ersten Blick war er das typische Alpha-Männchen, aber sie spürte, dass da mehr war, vor allem eine tiefsitzende Einsamkeit, wie Lexi sie von sich selbst nur zu gut kannte.

Sie hatte mit diesem Mann nichts gemeinsam, und doch wollte sie wissen, wieso ein Mensch so selbstsicher und zugleich so unsicher wirken konnte.

Sie wollte ihn richtig kennenlernen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nahmen seine Augen einen frostigen Ausdruck an. „Schon gut, ich werde mir was überlegen“, durchdrangen seine Worte ihre Gedanken. „Der Preis ist angemessen, und ich habe Zeit und Geld genug, um mir was auszudenken.“

„Warum haben Sie die Bar überhaupt gekauft, wenn Sie nicht wissen, was Sie damit anfangen sollen?“

„Keine Ahnung.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch sein fast schwarzes Haar. „Ich bin für meine spontanen Entscheidungen bekannt. Ist so was wie ein Markenzeichen.“

Es musste mehr dahinterstecken, aber sie hatte kein Recht, ihn danach zu fragen. „Ich mache nie was Spontanes.“

„Soll das heißen, Sie haben sich schon vor langer Zeit überlegt, das Anwaltsdasein hinzuschmeißen und sich in einer verschlafenen Kleinstadt im Süden als Kellnerin zu versuchen?“

Sie konnte sich ihr Lächeln kaum verkneifen. „Okay, Sie haben völlig recht. In den letzten Tagen habe ich ziemlich spontane Dinge getan.“

„Als Kompliment war das nicht gemeint.“

„Ich betrachte es aber als Kompliment.“ Sie stellte die Tasse weg und drehte sich wieder zu Scott um, der einen Schritt auf sie zugemacht hatte.

„Wenn Sie spontan sein wollen, kann ich Ihnen behilflich sein“, sagte er und strich mit dem Daumen über ihre Wange. „Auf dem Gebiet bin ich Experte.“

„So eine bin ich nicht“, flüsterte sie. Sie hasste ihn dafür, dass er vorhin ihr Verlangen richtig gedeutet hatte und das nun für sich ausnutzte.

„Ich weiß nicht, was für eine Sie sind.“ Er grinste sie lässig an. „Ich weiß nur, dass Sie die mieseste Kellnerin sind, die ich je gesehen habe.“ Er straffte die Schultern und nahm seine Hand weg. „Ich bin ab sofort Ihr Boss, und Sie werden den ganzen Tag üben, Gläser zu tragen. Sie haben mir diese Bescherung eingebrockt und werden nicht jeden Abend noch mehr Gläser zerschmeißen, die mich Geld kosten. Heute Abend sind Sie eine halbe Stunde vor Schichtbeginn da, wir haben eine Personalbesprechung.“

Er machte kehrt und ging zur Tür.

„Das machen Sie nur, weil Sie diesen Vertrag unterschrieben haben. Und jetzt wollen Sie mir die Schuld zuschieben. Das ist nicht fair.“

Scott blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Ich bin wütend, dass ich den Vertrag unterschrieben habe, und ich gebe mir selbst die Schuld daran. Aber was ich an dem Ganzen gar nicht mag, ist Ihre Beteiligung daran. Und für den Fall, dass Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte: Das Leben ist nie fair. Gewöhnen Sie sich lieber daran.“

Mit diesen Worten verließ er ihr Apartment und warf die Tür hinter sich zu.

3. KAPITEL

Gegen fünf Uhr am Nachmittag hatte Scott noch immer Kopfschmerzen, die aber nichts mehr mit seinem Kater zu tun hatten. Er war nach Charlotte gefahren, um ein paar Dinge für die Bar zu besorgen. Und er hatte Kleidung zum Wechseln gekauft, die genügen musste, bis er ein paar Sachen aus seiner Wohnung in D. C. holen konnte. Er hatte in der Bar ein Badezimmer mit Dusche entdeckt, und so konnte er im Büro übernachten, bis er sich darüber im Klaren war, was er mit seiner Anschaffung eigentlich anfangen sollte.

Dabei hatte er nur für ein paar Tage nach Brevia kommen wollen, weil ihm daheim die Decke auf den Kopf fiel. Dass er ausgerechnet hier eine Bar kaufen würde, war nicht geplant gewesen, zumal es keine Veranlassung gab, in die unmittelbare Nähe seines Bruders zu ziehen. Weder hatten sie viel Kontakt, noch wollte Sam ihn hier in Brevia haben.

Aber vielleicht war er ja auf diese idiotische Idee mit der Bar gekommen, weil er eine besondere Begabung hatte, seinem Bruder auf die Nerven zu gehen?

Er stellte gerade einen weiteren Sechserpack Bier in den großen Kühlschrank im Hinterzimmer, als sich auf einmal hinter ihm jemand räusperte. Scott fuhr herum und entdeckte einen Mann mit blondem Pferdeschwanz, etwa Mitte vierzig, in verschossener Jeans und mit olivgrüner Baumwolljacke über einem weißen T-Shirt.

„Sie sind nicht Luke“, erklärte der Mann.

„Gut beobachtet.“ Scott musterte den Mann, der früher wohl Soldat gewesen sein musste. „Ich bin Scott Callahan, der neue Eigentümer.“

„Na ja, schlimmer als Luke können Sie kaum sein. Der konnte am Anfang nicht mal ein Fass anstechen.“

„Ich glaube, das Problem kenn ich, Mr. …?“

„Jon Riley. Mein Dad hat den Laden hier vor fast zwanzig Jahren aufgemacht. Luke hat ihn übernommen, als Dad vor ein paar Jahren starb.“

„Das tut mir leid. Arbeiten Sie hier?“

„Bedauerlicherweise. Ich habe in New York Koch gelernt, dann war ich beim Militär, wurde im Irak verwundet und … na ja, jetzt bin ich wieder hier.“

„Hier wird aber kein Essen angeboten“, wandte Scott ein.

„Früher schon, als mein Dad den Laden hatte.“ Jon zuckte mit den Schultern. „Ich spüle, ich putze, ich tue, was gerade anfällt. Werden Sie hier was ändern?“

„Mir gehört das Lokal noch keine vierundzwanzig Stunden, und ich weiß noch nicht mal genau, wo vorn und hinten ist. Aber wenn Sie den Job behalten wollen, soll es mir recht sein.“

„Gern.“ Jon reichte ihm die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Boss.“

„Mich auch, Jon.“

„Ach, noch was“, fügte der andere Mann an. „Luke hat das nicht gewollt, aber in meinem Apartment habe ich keine Möglichkeit, was zu kochen. Hätten Sie was dagegen, wenn ich etwas früher zur Arbeit komme und mir hier in der Küche was zubereite? Ich mache auch alles sauber.“

„Von mir aus“, meinte Scott mit einem Schulterzucken. „Ich brauche die Küche nicht. Übrigens, in ein paar Minuten findet eine Personalbesprechung statt. Es wäre schön, wenn Sie auch teilnehmen könnten.“

„Werde ich machen“, sagte Jon und zog die Jacke aus. „Ich fange schon mal an aufzuräumen.“

In dem Moment hörte Scott mehrere Frauenstimmen, und als er einen Blick ins Lokal warf, sah er vier Frauen hereinkommen. Tina erkannte er vom Abend zuvor wieder, außerdem natürlich Lexi, die jeden Blickkontakt zu ihm mied. Eine andere Frau Anfang fünfzig mit pechschwarzem, hochgesteckten Haar stellte sich ihm als Misty vor. Die vierte war deutlich jünger, hieß Erin und machte keinen Hehl aus ihrem Interesse an ihm – was Lexi mit einem leisen Schnauben kommentierte.

Im Verlauf der Unterhaltung mit seinem Personal fand er heraus, dass Luke nicht nur die Drinks mit Wasser gestreckt, sondern von den Kellnerinnen auch noch einen Teil der Trinkgelder einbehalten hatte – zwei unerfreuliche Traditionen, die er nicht fortführen würde.

Als er schließlich mit seinen Angestellten anstoßen wollte, sagte Jon: „Nicht für mich, Boss. Ich bin seit fünf Jahren trocken.“

„Tut mir leid, das wusste ich nicht“, erwiderte Scott und ließ das Glas aus, das er für ihn hingestellt hatte.

„Kein Problem.“ Jon zog sich in die Küche zurück.

„Ich möchte auch nichts“, erklärte Lexi und schob das Glas weg, das er ihr gerade eben aufgefüllt hatte.

„Hast du auch einen Entzug hinter dir?“, fragte Tina.

„Nein, aber ich halte nichts davon, während der Arbeit zu trinken.“

Scotts Nackenhaare sträubten sich vor Verärgerung, als er das hörte. Seine kleine Kellnerin musste ihm keine Moralpredigten halten. „Es ist ja aus einem besonderen Anlass“, gab er zurück. „Wenn Sie ein bisschen lockerer werden, schaffen Sie es ja vielleicht, nicht mehr so viele Gläser auf dem Fußboden landen zu lassen.“

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. „Ich komme schon klar. Vielen Dank.“ Schnaubend folgte sie Jon in die Küche.

Scott stieß mit den anderen an, sie unterhielten sich noch eine Weile, dann gingen Erin und Tina wieder nach Hause, da Lexi und Misty an diesem Abend arbeiten sollten.

Als er wieder allein im Lokal war, spülte Scott die Gläser und wischte die Theke ab. Dabei fiel sein Blick auf den Whiskey, den Lexi nicht getrunken hatte. Es wäre eine Schande gewesen, einen so guten Whiskey wegzuschütten, also nahm er das Glas, trank es aus und stellte es auf der Spüle ab.

„Halten Sie das für eine gute Idee?“, fragte Lexi, die auf einmal neben der Theke stand und ihm zusah.

„Sweetheart, nichts von dem Ganzen ist eine gute Idee. Zum Glück mache ich mir über solche Dinge keine großen Gedanken. Wenn sich eine Sache richtig anfühlt, dann nehme ich sie in Angriff.“

„Und bei der Arbeit zu trinken fühlt sich für Sie richtig an?“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich dachte, der Alkohol ist der Hauptgrund dafür, dass Sie jetzt diese Bar am Hals haben.“ Sie legte sich die Schürze um und griff hinter sich, um sie zuzuschnüren. Dabei drückten ihre Brüste gegen den weichen Stoff ihres pinkfarbenen T-Shirts.

Scott stockte der Atem. Himmel! Das T-Shirt lag nicht mal eng an, und es war hochgeschlossen. Misty trug dagegen ein tief ausgeschnittenes, hautenges Oberteil, das Mühe zu haben schien, ihren Busen zu bändigen. Im Gegensatz zu Lexis zugeknöpftem Erscheinungsbild konnte Misty ihn aber gar nicht damit reizen.

Er ging um die Theke herum und fasste Lexi am Arm, damit er sie von sich wegdrehen konnte.

„Was wird denn das?“, fragte sie erschrocken.

„Ich helfe Ihnen mit der Schürze“, antwortete er und griff nach den Bändern. „Außerdem finde ich, Sie sind der Hauptgrund dafür, dass ich jetzt diese Bar am Hals habe. Hätten Sie sich nicht mit Ihrem Anwaltswissen eingemischt, hätten Luke und ich noch ein paar Minuten lang große Reden geschwungen, und dann wäre ich gegangen. Jetzt gehört mir eine Bar, die ich nicht haben will, in einer Stadt, in der ich nicht leben will.“

Seine Hände lagen noch auf ihren Hüften, als Lexi wie außer Atem erwiderte: „Vielleicht hätten Sie Ihren Verstand einschalten sollen, bevor Sie auf die Idee kamen, die Bar zu kaufen. Dann wären Sie vielleicht auch in der Lage gewesen, die Bar zu verlassen, als Luke Sie dazu aufgefordert hatte.“

Natürlich würde er ihr nicht verraten, wie sehr sie mit ihrer Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. Er hätte sich in seinem Leben einiges ersparen können, wenn er ab und zu mitgedacht hätte.

„Verstand wird überbewertet“, ließ er sie wissen, dachte sich aber seinen Teil. Würde er sich die Zeit nehmen, zu reflektieren, würde ihm nämlich auffallen, dass er einsam war und sich ernsthaft davor fürchtete, einen anderen Menschen zu brauchen und dann von ihm im Stich gelassen zu werden. So wie es ihm als Kind mit seinen Eltern passiert war.

„Sie sollten es einfach mal versuchen“, schlug sie ihm im Flüsterton vor.

„Was passiert ist, ist passiert.“ Er zog sie näher an sich heran und sagte ihr leise ins Ohr: „Es fällt mir leichter, das zu tun, was die Leute von mir erwarten – das ist nämlich nicht viel.“

Den ganzen Abend über ließ Lexi nur ein einziges Glas fallen, was nach ihrer ersten Schicht eine enorme Verbesserung darstellte. Genauso gewöhnte sie sich allmählich daran, mit den Gästen zu reden und zu flirten, auch wenn sie darin nicht annähernd so gut war wie Misty, die ein Naturtalent in Sachen Smalltalk zu sein schien.

Auch nahm sie die Geräuschkulisse und den Geruch in der Bar nicht mehr als so unangenehm wahr. Je weiter der Abend vorrückte, umso ausgelassener wurden viele Gäste, womit Lexi überhaupt keine Erfahrung hatte. Schon während ihrer Zeit am College hatte sie sich von Bars ferngehalten, weil sie fürchtete, sie könnte so wie ihre leibliche Mutter zu Alkoholsucht neigen. Diese Furcht war ihr von ihrem Vater eingeredet worden, der sie glauben ließ, wenn sie dem wilden Lebensstil ihrer Mutter zu nahe kam, würde sie ebenfalls auf die schiefe Bahn geraten.

Hier in Riley’s Bar zu arbeiten, war für Lexi eine Offenbarung. Sie verspürte nicht den Drang, etwas zu trinken, aber durch die Energie, die die Menschen um sie herum ausstrahlten, fühlte sie sich auf eine noch nie dagewesene Art von Leben erfüllt.

Sie sah, wie Scott ein weiteres Mal an diesem Abend mit einem Gast anstieß. Wie viel er insgesamt schon getrunken hatte, wusste sie nicht, und es ging sie auch nichts an.

Als die letzten Gäste gegangen waren, hängte sie ihre Schürze auf und zählte ihre Einnahmen zusammen. Sie hatte zwanzig Dollar Trinkgeld bekommen, was zwar nicht viel war, ihr aber sehr viel bedeutete.

„Sie haben ja gar nicht so viele Gläser hingeschmissen, wie ich erwartet hatte.“

Sie drehte sich um und sah Jon Riley in der Küchentür stehen. „Ich habe auch den ganzen Tag geübt.“

„Hat funktioniert“, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. „Sie sind kein Naturtalent, aber Sie sind schon auf dem richtigen Weg.“

„Meine Mom hat ihr Leben lang gekellnert“, entgegnete sie und fragte sich gleich darauf, warum ihr ausgerechnet das hatte rausrutschen müssen.

„Es gibt schlimmere Berufe.“

„Sie war Alkoholikerin“, platzte Lexi heraus, ehe sie sich zurückhalten konnte. „Als ich sechs war, hat sie das Sorgerecht für mich verloren. Das Kellnern hat sie umgebracht.“

Jon schüttelte den Kopf. „Der Schnaps hat sie umgebracht. Keine Sorge, Sie sind nicht wie Ihre Mom.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte sie.

„Ich habe die Alkoholsucht selbst durchgemacht“, erklärte er. „Ich erkenne es, wenn jemand mit seinen inneren Dämonen kämpft.“

Plötzlich hörte sie Misty lachen, gleich darauf ertönte Scotts tiefe Stimme.

Jon nickte in Richtung der Tür, die zur Bar führte. „In ihm tobt ein richtiger Krieg. Er hat ein gutes Herz, aber er muss ziemlich tief graben, wenn er es wiederfinden will.“

„Kann man jemandem wie ihm helfen?“, wollte sie wissen.

„Vielleicht. Aber er muss es auch wollen. Und Sie riskieren, selbst verletzt zu werden, wenn es nicht klappt.“

Sie musste wieder an ihre Mutter denken und fragte sich, ob wohl jemand versucht hatte, ihr zu helfen.

In diesem Moment machte Misty die Tür zur Bar auf und schaute herein. „Scott hat noch ein Glas Wein zusätzlich eingeschenkt. Willst du dich zu uns gesellen?“

„Ich glaube …“, begann Lexi und sah noch, wie Jon wieder in die Küche verschwand. „Ich gehe jetzt lieber nach Hause.“

Die andere Kellnerin zuckte mit den Schultern. „Wie du willst. Übrigens, gute Arbeit heute. Scott findet zwar, du bist zu langsam, aber ich habe gesehen, dass du dich die ganze Zeit über wirklich angestrengt hast.“

Prompt fingen ihre Wangen an zu glühen. Scott hielt sie also für zu langsam? Sie stand hier und überlegte, wie sie ihn vom Alkohol abbringen konnte, und er redete hinter ihrem Rücken schlecht über sie? „Gute Nacht, Misty“, brachte sie heraus, nahm die Handtasche vom Haken und ging zum Hinterausgang.

In ihrem Apartment angekommen zog sie als Erstes die Schuhe aus. Ihre Füße taten ihr weh, die Schultern schmerzten ebenso wie etliche andere Muskelpartien. Als Anwältin trug sie zwar immer hohe Absätze, aber sie war nie stundenlang auf den Beinen.

Obwohl es schon spät war, ließ sie noch ein Bad ein und tauchte in das angenehm warme Wasser. Sie mochte es zu baden, einfach weil sie sich gern sauber fühlte. Das war eine Sache aus der Zeit, bevor Robert Preston sie adoptiert hatte, an die sie sich noch erinnern konnte: Sie war damals oft schmutzig gewesen.

Als sie später die weiche Baumwolle ihres Schlafanzugs auf der Haut spürte, fühlte sie sich gleich noch etwas entspannter. Auf dem Weg in die Küche hörte sie auf einmal ein leises Klopfen an der Wohnungstür. Diesmal kam sie gar nicht erst auf die Idee, es könnte ihr Vater sein. So wie es in ihrem Bauch plötzlich kribbelte, war klar, wer da draußen im Hausflur stand.

4. KAPITEL

„Scott – es ist schon spät.“ Warum musste sie nur wieder so atemlos klingen? „Was wollen Sie?“

„Ich brauche einen Platz zum Schlafen“, antwortete er ungewohnt ernst.

„Ich dachte, Sie schlafen in der Bar.“

„Da ist es mir etwas zu einsam, wenn alle gegangen sind. Und es riecht da nach Bar.“

Sie lächelte flüchtig. „Sie riechen auch nach Bar.“

„Ich könnte eine Dusche gebrauchen.“ Er hielt eine schwarze Reisetasche hoch. „Ich habe auch was zum Wechseln mitgebracht.“

„Sie sollten bei Sam und Julia übernachten.“

„Die sind eine Familie, da gehöre ich nicht hin.“

„Hierhin aber auch nicht.“

„Ich gehöre nirgendwo hin“, meinte er mit einem Schulterzucken.

Lexi wusste sofort, dass es das erste durch und durch Ehrliche war, was er seit ihrer ersten Begegnung zu ihr gesagt hatte. Als sie dann noch einen Hauch von Verwundbarkeit in seinen Augen bemerkte, war es um sie geschehen.

Sie setzte sich über Jon Rileys Warnung hinweg, sie könnte am Ende verletzt dastehen, und griff nach Scotts Hand. Sie zog ihn an sich heran und schob ihm ein Haarbüschel aus der Stirn. Ihre Finger strichen so über sein Gesicht, wie er es zuvor bei ihr gemacht hatte. Löste das bei ihm die gleiche Wirkung aus? Sein hitziger Blick machte ihr Hoffnung.

Er kam ihr vor, als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen stand er nur da, während sie mit den Fingern über seine Haut strich. Sein Atem ging angestrengt und flach.

„Misty sagt, du hältst mich für zu langsam.“

„Die Gäste stört es nicht. Und du hast an Trinkgeldern einiges zusammenbekommen.“

„Dann willst du mich nicht feuern?“ Sie versuchte, lässig und ein wenig verlockend zu klingen.

„Noch nicht.“

„Ich würde dir ja gern mit einer Klage wegen sexueller Belästigung drohen, aber ich bin die Einzige in der Bar, mit der du nicht flirtest. Wie kommt das?“

„Moment, du bist diejenige, die sich gerade an mich schmiegt“, machte er ihr leise klar und zog sie auf eine unerklärliche Weise näher an sich heran. „Wer betreibt hier also sexuelle Belästigung?“

Er hatte recht, aber sie spürte, dass sein Verlangen mindestens genauso stark war wie ihres. „Fühlt es sich denn wie Belästigung an, Scott?“

„Eher wie der siebte Himmel“, flüsterte er. „Aber dafür bin ich nicht hier. Ich wäre für dich genau der verkehrte.“

„Eben. Ich suche ja gerade nach wilden Abenteuern, und ich merke, dass mir Dinge gefallen, die eigentlich für mich die verkehrten sind.“

Er nahm ihre Arme und legte sie um seinen Hals, dann beugte er den Kopf vor und strich mit seinen Lippen über ihre. Endlich. Es kam ihr vor, als hätte sie ihr Leben lang auf diesen Kuss gewartet.

Seine Lippen fühlten sich wundervoll an, jeder leichte Druck steigerte ihre Begierde, bis sie sich ganz in diesem Kuss verlor. Er presste sie so fest an sich, dass sie deutlich spüren konnte, wie sehr er sie haben wollte. Ihr entglitt immer schneller die Kontrolle über die Situation, aber es war genau dieses ungewohnte Gefühl, das sie zur Vernunft kommen ließ.

Lexi Preston verlor nie die Kontrolle, da sie wusste, auf welchen finsteren und gefährlichen Pfad sie dadurch geraten konnte.

„Du hast recht“, sagte sie außer Atem. „Ich bin ziemlich langsam.“ Sie legte die Finger auf ihre immer noch kribbelnden Lippen und sah zu Boden. „Ich bin keine von den Frauen, die mit Bars vertraut sind.“

„Habe ich auch nie gedacht.“

Sie zog ihr Oberteil runter, das ein Stück hochgerutscht war. „Du kannst heute Nacht hier schlafen. Auf der Couch. Im zweiten Schlafzimmer steht kein Bett. Du kannst gern duschen, wenn du willst, ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett.“ Sie kniff die Augen zu. „Allein.“

Ehe er noch etwas erwidern konnte, musste er mitansehen, wie Lexi sich in ihr Schlafzimmer zurückzog. Er zwang sein Herz dazu, nicht so rasend schnell zu schlagen, damit sein Körper wieder zur Ruhe kam.

Was zum Teufel hatte er in Lexis Apartment zu suchen?

Er hatte ihr die Wahrheit gesagt: Er war hergekommen, um hier zu schlafen, weil er es in der Bar nicht mehr ausgehalten hatte. Als der letzte Gast gegangen war, hatte er sich noch ein Glas Whiskey gönnen wollen, aber noch bevor er zum trinken ansetzen konnte, war ihm etwas bewusst geworden: Sam hatte recht. Er trank in letzter Zeit mehr als üblich. Der Alkohol war das Einzige, was seinen Schmerz betäubte, mit dem er seit dem Tod seines Partners kämpfte.

Über so viele Bereiche seines Lebens hatte er bereits die Kontrolle verloren – wie viele mehr wollte er noch aufgeben? Kurz entschlossen schüttete er den Whiskey weg und ging in seinem Laden auf und ab. Es gab nichts Deprimierenderes als eine verwaiste, stumme Bar, die ihm wie ein Sammelplatz für zerbrochene Träume erschien – eigentlich ein Ort, an dem sein Leben bestens aufgehoben war.

Schließlich war er in seinen Truck gestiegen und hierher gefahren. Sicherlich hätte er bei Tina oder Misty nicht allein auf der Couch schlafen müssen, doch aus unerfindlichen Gründen hatte er Lexi aufgesucht. Sie verkörperte für ihn alles Gute und Unschuldige – die Eigenschaften, die ihm vor Jahren abhanden gekommen waren.

Warum er so ein Verlangen nach ihr verspürte, konnte er sich nicht erklären. So zugeknöpfte Frauen wie sie waren noch nie sein Typ gewesen. Aber ihr rötliches Haar, die großen strahlenden Augen und ihre blasse Haut weckten in ihm den Wunsch, sie an sich zu drücken und nicht mehr loszulassen.

Nur wusste er auch, dass er alles Gute in ihr zerstören würde, so wie er es bei allen Menschen tat, die er brauchte. Also musste er auf Abstand zu Lexi bleiben, um sie zu beschützen. Die Frage war nur, wie er das anstellen sollte, wenn er selbst doch derjenige war, vor dem sie beschützt werden musste.

Am Morgen hatte Scott bereits geduscht und sich angezogen, als Lexi endlich aus ihrem Schlafzimmer kam. Sie trug eine Jeans und ein weites T-Shirt, das ihre Kurven zwar verhüllte, Scott aber dennoch gefiel. Warum sie ihre zierliche Gestalt so zu verstecken versuchte, war ihm ein Rätsel.

„Wieso bist du noch hier?“, fragte sie argwöhnisch.

„Es ist hier gemütlich.“

„Hier stehen nur Möbel, hier ist nichts dekoriert. Wie soll das gemütlich sein?“ Sie schob ihn aus dem Weg und warf die Badezimmertür hinter sich zu.

Lachend ging er in die Küche und rief über die...

Autor

Michelle Major

Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.

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Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
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Eigentlich ist Stella Bagwell gelernte Friseurin, tragischerweise entwickelte sie aber eine Haarspray-Allergie. Schlecht für sie, gut für ihre Leserinnen. Denn so verfolgte Stella ihr kreatives Talent in eine andere Richtung weiter und begann mit viel Enthusiasmus, Romane zu schreiben. Was ganz bescheiden auf einer alten Schreibmaschine begann, entwickelte sich auch...
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