Bianca Exklusiv Band 370

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WENN DU BLEIBST von RACHEL LEE

„Ich liebe dich.“ Vor zehn Jahren hat Cliff diese drei kleinen Worte zu seiner Freundin Holly gesagt. Ihre Antwort? „Goodbye.” Und weg war sie. Doch jetzt ist Holly zurück, und Cliff hat genau vierzehn Tage Zeit für die nächsten zwei skandalösen Worte: „Heirate mich.“

NACHBAR, BESTER FREUND – UND MEHR? von KAREN TEMPLETON

Er ist nur ein guter Freund! Das sagt sich die schwangere Laurel immer wieder – vergeblich … Kaum steht ihr wahnsinnig attraktiver, hilfsbereiter Nachbar Tyler Noble vor der Tür, spürt sie die Anziehung zwischen ihnen. Dabei hat Tyler klargestellt: „Kinder sind nichts für mich.“

HABE HUND – SUCHE MANN! von HELEN R. MYERS

Oh nein, Humphrey ist ausgebüxt! Der freche Basset-Hund ihrer Tante bringt Brooke noch um den Verstand. Los geht die nächtliche Suche – doch zum Glück ist Brooke nicht allein. Hundeflüsterer und Tierarzt Gage ist an ihrer Seite. Und ist es noch, als der Morgen graut …


  • Erscheinungstag 06.01.2024
  • Bandnummer 370
  • ISBN / Artikelnummer 0852240370
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Rachel Lee, Karen Templeton, Helen R. Myers

BIANCA EXKLUSIV BAND 370

1. KAPITEL

Holly Heflin war äußerst unbehaglich zumute, als sie die Rechtsanwaltskanzlei in Conard City betrat. So unsicher hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Dabei hatte sie schon viele unangenehme Situationen gemeistert. Doch das hier war etwas anderes. Das Testament ihrer Großtante wurde eröffnet – und sie war, soweit sie wusste, Alleinerbin. Sie hatte mithin allen Grund, beklommen zu sein.

Mit der Nachtmaschine war sie nach Denver gekommen, hatte am Flughafen nach dem günstigsten Angebot für einen Mietwagen gesucht und war sofort losgefahren, um pünktlich zum Termin zu erscheinen.

Während der Fahrt durch Conard County stiegen die Erinnerungen in ihr hoch. Mit ihnen kam das Gefühl der Taubheit, das der Traurigkeit gewichen war, die sie bei der Nachricht von Marthas Tod überwältigt hatte.

Ihre Großtante war ihre einzige Verwandte gewesen. Jetzt war Holly vollkommen allein auf der Welt. Ein ganz neues, seltsames Gefühl.

Als sie in der Kanzlei eintraf, wurde sie von der Empfangsdame in ein geräumiges, altmodisch eingerichtetes Büro geführt. Der zur Kahlköpfigkeit neigende Mann hinter dem Schreibtisch musste wohl der Anwalt sein. Und dann bemerkte sie den Cowboy, der auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch saß.

Sofort begann ihr Puls zu rasen. Cliff Martin? Hier? Sein Name stand an erster Stelle auf der Liste der Menschen, die sie nie mehr wiedersehen wollte. Seit fast zehn Jahren versuchte sie nun schon, ihn zu vergessen. Und jetzt saß er leibhaftig vor ihr.

Entsetzlich!

Er war schon immer attraktiv gewesen, doch nun, mit zweiunddreißig, sah er geradezu unverschämt gut aus. Wind und Wetter und die vergangenen zehn Jahre hatten sein Gesicht noch markanter werden lassen. Alle Weichheit war daraus verschwunden. Nur die Augen waren noch von diesem unglaublichen Türkisblau, das sie seit jeher fasziniert hatte.

Die Erinnerung an vergangene Leidenschaften stach wie ein Pfeil in ihre dumpfe Traurigkeit. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte diesen Mann nie wiedersehen wollen. Warum zum Teufel reagierte ihr Körper so … bereitwillig?

Bei ihrem Eintreten hatten sich beide Männer gleichzeitig erhoben. Obwohl Holly es vermied, in Cliffs Richtung zu schauen, entging es ihr nicht, dass er größer zu sein schien. War das möglich – oder trog sie die Erinnerung? Breite Schultern, schmale Hüften … Hör auf! Hör sofort damit auf! Das brauchte sie jetzt wirklich nicht.

„John Carstairs“, stellte sich der Anwalt vor, und sie reichte ihm die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen, Miss Heflin. Sie erinnern sich an Cliff Martin?“

Holly drehte sich zu Cliff um. Wenn er doch bloß nicht so aussähe, als sei er gerade einem Werbeprospekt entsprungen! In seinen dunklen Haaren lag kein Schimmer von Grau. Sie dagegen fühlte sich auf einmal richtig alt.

Cliff Martin. Der Mann, der ihrer Tante in den vergangenen Jahren auf der Ranch geholfen hatte. Der Mann, der einen Großteil des Weidelands von Martha gemietet hatte. Der Mann, dem sie den Laufpass gegeben hatte. Ihre Hand zitterte leicht, als Holly sie ihm entgegenstreckte.

„Du bist also zurückgekommen“, begrüßte er sie.

Hörte sie da einen Vorwurf in seiner Stimme? Rasch ließ sie die Hand sinken, wandte sich von ihm ab und setzte sich auf den freien Stuhl. Als Sozialarbeiterin, die täglich Umgang mit Problemkindern und ihren Familien hatte, wusste sie, wann es besser war, sich zurückzuhalten und zu schweigen. Innerhalb von Sekunden konnte eine Situation eskalieren und außer Kontrolle geraten. „Ich bin schon öfter hier gewesen“, entgegnete sie gleichmütig.

Die Männer nahmen Platz. Um Cliff Martin nicht ansehen zu müssen, konzentrierte sie sich auf John Carstairs. „Ich war die ganze Nacht unterwegs“, erklärte sie. „Sie müssen ein wenig Nachsicht mit mir haben.“

Sofort drückte er auf einen Knopf seiner Wechselsprechanlage. „Jackie, könnten Sie Miss Heflin einen Kaffee bringen?“ Fragend schaute er sie an.

„Schwarz, bitte!“

„Schwarz, Jackie. Vielen Dank.“

Er lehnte sich zurück. Es lag eine Erwartungshaltung im Büro, die Holly nach der anstrengenden Reise noch nervöser machte. Schließlich ergriff der Anwalt das Wort. „Ich bedaure zutiefst, dass wir uns unter diesen Umständen treffen müssen. Ihre Tante war eine wundervolle Frau.“

„Ja, das war sie“, bestätigte Holly aufrichtig. „Ich werde sie sehr vermissen.“

„Wirklich?“ Cliffs Stimme klang gedehnt.

Wütend funkelte sie ihn an. „Was soll das heißen? Du hast doch keine Ahnung.“

„Sehr oft hast du sie jedenfalls nicht besucht.“

Das stimmte nicht, aber erneut verkniff sie sich die Antwort. Dieser Mann musste nicht alles wissen, und Holly dachte nicht im Traum daran, sich vor ihm zu rechtfertigen. Was sie im Übrigen gar nicht nötig hatte.

„Ich bitte Sie“, beschwichtigte der Anwalt. „Wir wollen doch keinen Streit.“

Er sprach Holly aus der Seele. Sie war zu müde für den Streit, den Cliff offenbar vom Zaun brechen wollte. Jackie kam herein und stellte eine Tasse Kaffee vor Holly auf den Schreibtisch. „Danke.“

Jackie nickte ihr lächelnd zu und verschwand. Leise schloss sie die Tür hinter sich.

John beugte sich nach vorn. „Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, Miss Heflin, hat Ihre Tante vor ihrem Ableben sämtliche Vorkehrungen getroffen. Nach unserer Unterhaltung werden Sie im Beerdigungsinstitut erwartet.“

„Gut.“ Sollte das Gespräch mit dem Anwalt nicht unter vier Augen stattfinden? „Wieso ist Mr. Martin eigentlich hier? Haben Sie nicht gesagt, ich sei Marthas einzige Erbin?“

„Er ist der Testamentsvollstrecker“, antwortete John.

Holly wurde schwindlig. Vielleicht lag es an der Erschöpfung. Oder an der nagenden Trauer. Sie hatte das Gefühl, von einem Lastwagen überrollt worden zu sein. „Und warum nicht Sie?“, wollte sie wissen.

„Wegen des Interessenkonflikts. Außerdem war es der ausdrückliche Wunsch Ihrer Tante.“

„Natürlich.“ Noch immer verstand sie nicht. Sie bekam es mit einem Mann zu tun, der allen Grund hatte, ihr aus dem Weg zu gehen, sie möglicherweise sogar zu hassen? Nun ja, es wäre nicht das erste Mal. Trotzdem … Sie griff zur Kaffeetasse, trank einen Schluck und versuchte, Ordnung in ihr Gedankenchaos zu bringen. Rasch stellte sie die Tasse ab, als sie merkte, dass ihre Hand zitterte.

In den Griff bekommen. Die Worte kamen ihr in den Sinn. Was immer das Leben von ihr verlangte, sie hatte es in den Griff bekommen. Darin war sie wirklich gut. Das alles hier würde sie auch überstehen – selbst mit diesem schrecklichen Cowboy.

„Sie erhalten jetzt eine Abschrift des Testaments Ihrer Tante, damit Sie es sich in aller Ruhe durchlesen können. Hier und jetzt gebe ich Ihnen nur einen groben Überblick.“

„Das ist gut.“ Nach Details stand Holly im Moment wirklich nicht der Sinn.

„Sie sind die Erbin des gesamten Besitzes, also Haus, Grundstück und Ländereien. Abgesehen von den Verpachtungen können Sie uneingeschränkt darüber verfügen. Die Verpachtungen an Mr. Martin bleiben laut Testament bestehen. Darüber hinaus hat Ihre Tante verfügt, dass er das Land weitere zehn Jahre lang pachten kann, wenn er es möchte.“

Holly wurde das Herz schwer. Sie würde sich also noch unendlich lange mit diesem Geist aus ihrer Vergangenheit herumschlagen müssen.

„Ihre Tante war eine sehr umsichtige Frau. Sie hat Ihnen eine beträchtliche Summe Bargeld hinterlassen. Mr. Martin verfügt über die notwendigen Dokumente, die bestätigen, dass er der Verwalter der Ranch ist. Er wird mit Ihnen zur Bank fahren, um die Papiere auf Sie umzuschreiben.“

Holly konnte nur kurz nicken. Alles, was sie mitbekam, war die Tatsache, dass sie jetzt für lange Zeit vertraglich an einen Mann gebunden war, dem sie seit Jahren aus dem Weg gegangen war. Einen Mann, dem sie nie wieder hatte begegnen wollen. Martha hatte das gewusst. Was war nur in ihre Tante gefahren?

„Außerdem dürfen Sie die Ranch während der nächsten zehn Jahre nicht verkaufen. Dazu hat Ihre Tante noch etwas bemerkt.“

Holly hob den Kopf. „Ja?“

„In ihrem Testament spricht sie davon, dass es darum geht, Ihren Traum zu verwirklichen. Ich bin mir nicht sicher, was sie damit gemeint hat.“

Erstaunt sah Holly den Anwalt an. „Ich weiß es auch nicht.“

Carstairs zuckte mit den Schultern. „Nun ja, das jedenfalls hat sie gesagt, und wenn es etwas mit der Ranch zu tun hat, dann hat sie dafür gesorgt, dass Sie es in die Tat umsetzen können. Bei dem Rest geht es mehr oder weniger um juristische Dinge. Falls Sie dazu Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen.“

Früher als erwartet hatte Holly das Büro verlassen können. Auf der Straße fiel ihr auf, dass sich im Zentrum von Conard City nichts verändert hatte. Der Ort wirkte wie in Harz gegossen – konserviert für alle Zeiten. Er hatte sie immer bezaubert, denn sie war an das Leben in Großstädten gewöhnt. Einen Moment lang blieb sie stehen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Die Kleinstadt strahlte etwas Friedliches aus, das sie bei ihren Besuchen jedes Mal fasziniert hatte. Aber nach der Beziehung mit Cliff hätte sie hier niemals leben wollen.

Daran würde sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Sie steuerte auf ihren Mietwagen zu, als Cliffs Stimme sie zurückhielt. „Das Bestattungsinstitut liegt in der anderen Richtung.“

Sie drehte sich um. „Ich weiß. Ich fahre hin.“ Warum kümmerte er sich überhaupt darum?

„Es ist ganz in der Nähe. Wir sehen uns dann.“

Er würde auch dort sein? Sie hatte gehofft, allein von ihrer Tante Abschied nehmen zu können. Aber Martha hatte natürlich Freunde gehabt. Kritisch beäugte sie ihren Schlabberpullover und die ausgeleierte Hose. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Sie hätte sich etwas Besseres anziehen müssen.

Ihr war nur wichtig gewesen, pünktlich zu sein, um sich von ihrer geliebten Großtante verabschieden zu können. Jetzt fühlte sie sich genauso schäbig wie die Straßen in Chicago, in denen sie täglich ihrer Arbeit nachging.

Sie stieg in den Wagen, holte eine Bürste aus ihrer Handtasche und kämmte sich die kastanienbraunen Locken. Keine Spur von Make-up, stellte sie beim Blick in den Rückspiegel fest. Eigentlich war es ihr egal. Anstatt sich aufzuhübschen, startete sie den Motor und fuhr zum Beerdigungsinstitut.

Dort fand sie ihre Befürchtungen bestätigt. Etwa fünfzig Menschen hatten sich versammelt. Während sie sich an keinen erinnern konnte, schienen alle Holly zu kennen. Sie nannten ihre Namen und sprachen ihr Beileid aus. Einige erzählten Anekdoten aus dem Leben ihrer Tante.

Mit jeder Erinnerung schnürte sich ihre Kehle fester zu. Die zurückgehaltenen Tränen drohten Holly zu ersticken. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Trauerfeier so schnell wie möglich endete, damit sie zur Ranch fahren und ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnte.

Sie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, Blumen zu besorgen.

Der Bestatter verkündete, dass es nun so weit sei. Die Trauergäste folgten ihm gemessenen Schrittes, als er die Urne mit Marthas Asche zur Tür hinaus und über einen gepflasterten Weg zu einem großen Mausoleum trug. Die Tür zu einer Nische stand offen.

Der Bestatter stellte die Urne hinein.

Holly liefen die Tränen übers Gesicht, als sie vortrat und die Hand darauf legte. „Ich liebe dich“, flüsterte sie. Anschließend sah sie dem Bestatter dabei zu, wie er die Tür zur Nische verschloss. Auf einer Messingplakette standen Marthas Name, Geburts- und Todesdatum. Sonst nichts.

Ihre Großtante Martha war endgültig von ihr gegangen. Wenn Holly sie auch nicht häufig besuchen konnte, so hatten sie doch mindestens einmal wöchentlich telefoniert. Jetzt würde es diese Gespräche nicht mehr geben, und mit einem Schlag wurde ihr klar: Tausende von Meilen trennten Menschen nicht so sehr voneinander wie der Tod.

Es war ein gewaltiger, schmerzhafter Unterschied.

Missmutig beobachtete Cliff Martin Holly Heflin. Mit ihren kastanienbraunen Locken und den strahlend blauen Augen war sie immer noch das bezaubernde Wesen, das er einmal gel… – gekannt hatte. Wieder spürte er dieses nur zu vertraute Begehren. Krampfhaft versuchte er, sich nicht daran zu erinnern, wie sie sich in seinen Armen angefühlt hatte.

Inzwischen war zu viel geschehen, als dass er sie noch hätte mögen können. Martha hatte Holly immer verteidigt, während er die Wunden leckte, die sie ihm zugefügt hatte. Die Affäre eines Sommers, lange vorbei, kurz und oberflächlich. Am Ende war er zornig zurückgeblieben und davon überzeugt, dass Holly so egoistisch war, wie eine Frau nur sein konnte.

Marthas Erzählungen über das liebevolle und fürsorgliche Mädchen, das sie in ihrer Jugend gewesen war, hatten da auch nicht mehr geholfen.

Und nun war er dank Martha an diese Frau gebunden. Er verstand selbst nicht, warum Martha ihn als Testamentsvollstrecker eingesetzt hatte. Nicht, dass es viel gab, um das er sich kümmern musste. Aber leider war da Holly, die noch attraktiver geworden war seit damals, als sie zwanzig war. Sie gehörte wieder zu seinem Leben, ob es ihm passte oder nicht.

Es passte ihm ganz und gar nicht.

Was hatte Martha sich nur dabei gedacht? Cliff war ihr dankbar, dass sie sein Pachtland berücksichtigt hatte. Ohne diese Ländereien wäre er längst pleite. Aber warum zehn Jahre? Und was sollte dieses Gerede von Hollys Traum, den sie verwirklichen wollte?

Nicht, dass ihn Hollys Träume wirklich interessierten. Sie hatten ihn einmal fast umgebracht. Seiner Meinung nach konnte man ihr nicht vertrauen. Vielleicht glaubte Martha das auch und hatte deshalb in ihrem Testament verfügt, dass er nicht von seinem Pachtland vertrieben werden konnte. Trotzdem war das Ganze ziemlich übel. Er brauchte die Frau so nötig wie ein Loch im Kopf.

Doch obwohl er Holly für herzlos hielt, glaubte er nicht, dass ihre Tränen nur Show waren.

Er verstand die Welt nicht mehr, aber vermutlich spielte das auch keine Rolle. Martha hatte immer ihren eigenen Kopf gehabt – sie war verschroben, amüsant und immer für eine Überraschung gut gewesen. Warum hätte sie sich am Ende ihres Lebens ändern sollen?

Holly lehnte es ab, am Leichenschmaus teilzunehmen. Martha hatte auch keinen gewollt, aber die Trauergäste waren fest entschlossen, ihr auch diese Ehre zu erweisen. Martha hätte sich wahrscheinlich köstlich darüber amüsiert.

Nur ihre Nichte erfüllte ihr den Wunsch. Er blickte ihr hinterher, als sie zu ihrem Wagen ging – eine schlanke Frau mit wunderschönem kastanienbraunen Haar und blauen Augen. Sie sah sehr einsam aus. Und sehr sexy. Da ihn diese Gedanken schon einmal in Schwierigkeiten gebracht hatten, jagte er sie davon.

Dieser blauäugigen Verführerin würde er nicht noch einmal auf den Leim gehen.

Wenn er Glück hatte, verschwand Holly Heflin genauso schnell aus der Stadt, wie sie gekommen war. Sie würde sich das Erbe krallen und die Ranch sich selbst überlassen. Schließlich kam sie aus der Großstadt.

Ob sie das Haus und die dazugehörenden Gebäude wirklich verrotten ließ? Ganz sicher würde er ihr nicht so bereitwillig zu Diensten sein, wie er es Martha gegenüber gewesen war.

Warum war er nur so sauer? All die Jahre hatte er nicht viel von Holly gehalten. Es bestand überhaupt kein Grund, sich jetzt wieder über sie aufzuregen.

Fluchend schob er seinen Teller beiseite und machte sich auf den Heimweg. Er musste sich um eine Ranch kümmern und Marthas Letzten Willen erfüllen: ihre Nichte zur Bank begleiten und die Konten auf ihren Namen umschreiben lassen.

Und dafür sorgen, dass sie die Ranch nicht verkaufte. Aber auch daran schien ihr nicht gelegen zu sein.

Verdammt! „Warum hast du mich in diesen Schlamassel geritten, Martha? Und warum habe ich das Gefühl, dass alles noch viel schlimmer ist, als ich mir vorstellen kann?“

Natürlich gab es darauf keine Antwort.

Mit schwerem Herzen und rotgeränderten Augen erreichte Holly die Ranch. Sie stieg aus dem Wagen und sah sich um. Die Erinnerungen stürzten über ihr zusammen. Als Kind war sie so gern hierhergekommen. Als junge Frau, nach der Sache mit Cliff, hatte sie es nur noch ihrer Tante zuliebe getan.

Die Veränderungen waren unübersehbar. Den Zäunen nach zu urteilen, die näher am Haus entlangzulaufen schienen, musste Cliff das gesamte Land gepachtet haben. Er hatte den Besitz für Martha in Schuss gehalten, dafür würde sie ihm danken müssen – auch wenn ihr die Worte vermutlich im Hals stecken blieben.

Tante Martha war Hollys großes Vorbild. So wie sie wollte sie als Kind auch werden: stark, unabhängig, ihren eigenen Kopf durchsetzen – aber mit einem Herzen aus Gold.

Sie betrat die Veranda und öffnete die Haustür. Ihr Schlüssel passte noch. Bekannte Gerüche schlugen ihr entgegen, die sie in die Vergangenheit versetzten. Dieser Ort war ihr zweites Zuhause gewesen.

In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie Martha niemals wiedersehen würde, und nun flossen die Tränen, die sie die ganze Zeit zurückgehalten hatte. Trotz der geografischen Entfernung hatte sie sich Martha immer nahe gefühlt. Der Schmerz darüber, dass sie nie mehr den Telefonhörer ans Ohr drücken würde, um die Stimme ihrer Tante zu hören, war unendlich groß.

Ablenkung war die beste Methode. Holly war immer sehr umtriebig gewesen. Es brachte überhaupt nichts, heulend im Haus ihrer Tante zu sitzen. Glücklicherweise hatte Martha nicht leiden müssen. Sie war mitten aus dem Leben an einem Schlaganfall gestorben – ein schnelles und angenehmes Ende, für das Holly dankbar war. Das bedeutete auch, dass das Haus in einem guten Zustand war. Es gab nicht viel zu tun – abgesehen davon, das Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel zu überprüfen und die Betten frisch zu beziehen.

Blieb nur noch, ihre Sachen durchzugehen. Martha war genügsam gewesen. Sie hatte nur sehr wenig gekauft und lediglich das behalten, was sie unbedingt brauchte. In den Schubladen entdeckte Holly Fotos, die sie an alte Zeiten erinnerten. Fotos von ihren Besuchen, von ihren Eltern, von Marthas Eltern und Großeltern …

Die Möbel zeigten Spuren von Alter und Abnutzung, aber sie waren noch in gutem Zustand. Das Haus schien bereit zu sein für Holly, und sie fragte sich, ob Martha es so beabsichtigt hatte.

Es gab nichts, was sie hätte erledigen oder zu Ende bringen müssen.

Als die Erinnerungen übermächtig wurden, ging sie in das Zimmer, in dem sie bei ihren Besuchen geschlafen hatte. Der riesige Stoffbär, den Martha ihr als Kind geschenkt hatte, saß noch immer auf dem Schaukelstuhl in der Ecke. Mit dem Bären im Arm dachte Holly an ihre Tante, ihre letzte Verwandte. Irgendwann schlief sie ein.

Als sie am Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte das Gefühl, kein Auge zugetan zu haben.

Plötzlich fiel ihr eine Bemerkung von Martha ein. „Du willst etwas für mich tun? Dann pflanz einen Baum.“

Also beschloss sie, nach dem Frühstück einen Baum zu besorgen – einen Baum für Martha. Während sie aß, war die Stille im Haus unerträglich. Einmal mehr wurde ihr klar, dass sie die Stimme ihrer Tante nie mehr hören würde, und sie brach erneut in Tränen aus. Das taube Gefühl war endgültig dem Schmerz gewichen, und er überfiel sie mit voller Wucht.

Martha war ihr Anker gewesen, ihre Familie, der Mensch, der ihr das Gefühl gab, keine Waise zu sein. Und nun war Martha gegangen.

Holly hatte sich noch nie so allein gefühlt.

Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Danach fühlte sie sich tatsächlich etwas besser.

Nachdem sie die Küche aufgeräumt hatte, zog sie Jeans und einen Kapuzenpulli an, die sie auch trug, wenn sie zu Hause in Chicago mit den Kindern arbeitete – Kinder, die immer hungrig waren, nicht warm genug angezogen und völlig auf sich allein gestellt. Der Gedanke an sie gab ihr ein beruhigendes Gefühl. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen, und Aufgaben waren das Wichtigste überhaupt.

Als sie vors Haus trat, spürte sie den Frühling von Conard County. In diesem Teil von Wyoming wehte ständig eine Brise. Sie hielt das Gesicht in den Wind und genoss die Wärme wie eine Zärtlichkeit, die sie von ihren Eltern und nun auch von ihrer Tante nicht mehr bekommen konnte.

Während sie ums Haus herumschlenderte, überlegte sie, was sie mit dem Besitz anstellen konnte. Der Stress, dem sie bei ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin in Chicago täglich ausgesetzt war, fiel allmählich von ihr ab.

Heute brauchte sie keine Besuche zu machen, nicht in winzige Wohnungen zu gehen, in denen die Verzweiflung fast mit den Händen greifbar war. Sie musste sich nicht mit den Problemen unterernährter Kinder beschäftigen, die in der Schule und zu Hause Schwierigkeiten hatten – und machten. Heute brauchte sie nicht gegen Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu kämpfen.

Sie straffte die Schultern und ging zum Wagen. Der Baum. Sie musste einen Baum besorgen.

Ein Wagen näherte sich dem Haus. Ein staubiger, aber ziemlich moderner Pick-up. Wer um alles in der Welt verirrte sich hierher?

Auf die Antwort brauchte sie nicht lange zu warten. Sie erkannte Cliffs Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Kurz darauf bremste er neben ihr.

„Wolltest du wegfahren?“, fragte er.

Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass ihn das nichts anging. Aber sie hielt sich zurück. Schließlich musste sie sich für eine lange Zeit mit ihm arrangieren. „Meine Tante wollte, dass ich einen Baum zu ihrem Gedenken pflanze. Ich wollte gerade einen besorgen.“

Kritisch beäugte er ihren Mietwagen. „Damit wirst du ihn kaum transportieren können. Ich bin wegen der Kontoumschreibungen gekommen. Je früher wir das hinter uns bringen, desto besser.“

Er hatte wirklich noch an der Vergangenheit zu knacken. „Okay“, erwiderte sie knapp.

„Hast du vor, lange zu bleiben?“

„Ich muss erst in zwei Wochen zurück. Wenn das lange ist – dann ja.“

„Beim nächsten Regen kannst du den Wagen übrigens vergessen. Er wird im Schlamm stecken bleiben.“

„Ich habe ihn nur gemietet.“ Warum hatte Holly in Cliffs Gegenwart ständig das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? „Kannst du auch mal etwas Aufmunterndes sagen?“

„Ich sage, was ich sehe. Genau wie deine Tante. Und was ist mit dir?“

„Ich sehe einen Mann, dem ich eigentlich dafür danken wollte, dass er Tante Martha geholfen hat. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr. Du bist ziemlich unhöflich.“

Er presste die Lippen zusammen. „Du bist wie deine Tante. Jedenfalls ein bisschen.“

Holly antwortete nicht. Normalerweise hätte sie das als Kompliment aufgefasst, aber sie war nicht in Stimmung dazu. Außerdem hatte er es bestimmt nicht so gemeint. Cliff hatte viele Gründe, sie zu hassen. Aber sollte er nach zehn Jahren nicht darüber hinweg sein? Dumme Frage, dachte sie sofort. Sie ärgerte sich über ihre eigene Reaktion – nach all den Jahren.

„Steig in meinen Wagen. Ich bringe dir den Baum hierhin. Dann können wir auch auf einem Weg bei der Bank vorbeifahren.“

Am liebsten hätte sie abgelehnt und Cliff gesagt, er könne sich zum Teufel scheren. Er wurde ihr von Minute zu Minute unsympathischer.

Warum sah er bloß so gut aus? Jede Frau würde das so empfinden, redete sie sich ein. Das war ganz normal. Er wirkte verdammt attraktiv. Ein richtiger Mann.

Mach bloß keine Dummheiten, ermahnte sie sich. Nach den Erfahrungen mit ihm war sie erwachsen geworden. War er’s auch?

Allerdings musste sie zugeben, dass er recht hatte. Mit seinem Wagen ließ sich ein Baum leichter transportieren.

Sie biss die Zähne zusammen, kletterte in seinen Truck und wappnete sich für ein paar anstrengende Stunden. Als besonders unangenehm empfand sie dabei den Umstand, dass ihr Körper etwas ganz anderes zu wollen schien als ihr Verstand.

2. KAPITEL

Auf dem Weg in die Stadt schwieg Cliff beharrlich. Worüber sollten sie auch reden? Über Martha zu sprechen schien im Moment keine gute Idee zu sein. Obwohl – vielleicht irrte er sich?

Andererseits verspürte er nicht die geringste Lust, die Beziehung zu Holly wieder aufzufrischen. Nach einer heißen Sommeraffäre hatte sie ihm tausend Gründe genannt, warum sie nicht bleiben konnte. Sie hätte Wichtigeres zu tun, hatte sie ihm erklärt. Sie wollte Sozialarbeiterin werden und die Welt retten – oder wenigstens einen Teil davon.

Er musterte sie aus den Augenwinkeln. Sie sah überhaupt nicht wie eine Sozialarbeiterin aus. Dafür war sie viel zu zierlich und zu dünn. Außerdem wirkte sie erschöpft. Keine Spur von der Lebensfreude, an die er sich erinnerte. Wahrscheinlich zehrte der Job an ihrer Substanz.

Aber er würde den Teufel tun und sie danach fragen. In zwei Wochen wäre sie ohnehin wieder verschwunden. Hoffentlich war das nicht lang genug, um alte Wunden aufzureißen. Denn er hatte wirklich gelitten wie ein Hund. So etwas wollte er nie wieder erleben.

Vielleicht hat sie sich ja verändert, überlegte er. Und er würde die Frau, die sie geworden war, überhaupt nicht attraktiv finden. Bis jetzt hatte er nicht viel gesehen, was ihm gefallen hätte …

Vergiss es. Fahr mit ihr zur Bank, hilf ihr, den verdammten Baum zu pflanzen, und denk nicht länger darüber nach, dass sie auf demselben Planeten lebt.

Cliff war erleichtert, dass sie sich nicht lange in der Bank aufhalten mussten. Er präsentierte die Papiere, die der Anwalt ihm gegeben hatte. Marthas Konto wurde auf Holly umgeschrieben, und das war’s.

Als sie wieder im Wagen saßen, wirkte sie sehr bedrückt. So sehr, dass er schließlich nicht anders konnte, als sie zu fragen: „Was ist los?“

„Hast du gesehen, wie viel Geld sie mir hinterlassen hat, Cliff? Ich bin fassungslos.“

„Na ja, jetzt könntest du mal ordentlich Urlaub machen. Du siehst wirklich urlaubsreif aus.“

Sie sah ihn nur stumm an. Wo war das Feuer geblieben, das er von ihr kannte? „Was soll das heißen?“

„Du siehst mager und erschöpft aus“, erwiderte er unverblümt. „Deine Arbeit – was immer es auch ist – scheint deiner Gesundheit nicht gutzutun.“

„Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest.“

„Das hatte ich in deinen Augen doch nie.“ Wieder wartete er darauf, dass sie in die Luft ging. Aber nichts geschah. Kein gutes Zeichen. Das war nicht die Holly, an die er sich so gut erinnerte. Zum ersten Mal machte er sich Sorgen um sie – obwohl er immer noch sauer war, dass sie für eine Weile in seiner Nähe sein würde. Ob sie krank war?

Das geht mich nichts an, sagte er sich im Stillen. Sie hat es mir oft genug zu verstehen gegeben.

Die Gärtnerei bot keine große Auswahl an Bäumen. Der Laden hatte sich auf Garten- und Balkonpflanzen spezialisiert.

„Was wolltest du denn für sie pflanzen?“, fragte Cliff, während sie das kümmerliche Angebot in Augenschein nahmen.

„Na ja, sie hat immer gesagt, dass sie einen Fußabdruck in der Welt hinterlassen wollte. Ich denke, es sollte irgendwas Heimisches sein.“

„Wie wäre es mit diesem Tulpenbaum?“ Er zeigte darauf. „Im Herbst sieht er toll aus. Fast wie eine Espe. Die Arten sind nämlich verwandt. Und er ist winterhart.“

Sie betrachtete den Baum, der im Moment kaum mehr war als ein Zweig mit ein paar Blättern daran. „Wird der wirklich groß?“

„Irgendwann wird er mal viel Schatten spenden.“

Das gab den Ausschlag. Zehn Minuten später lud Cliff den Baum in seinen Truck.

Holly fühlte sich am Ende ihrer Kräfte. Lag es an der Trauer? Vielleicht. Wahrscheinlicher war jedoch, dass die ständige Anspannung nachgelassen hatte, unter der sie in Chicago lebte. Sie schien unendlich müde zu sein. Am liebsten wäre sie ins Bett gekrochen und hätte zwanzig Stunden lang geschlafen. Aber sie musste ja noch den Baum einpflanzen. Damit wollte sie nicht zu lange warten.

„Hast du schon mal einen Baum gepflanzt?“, unterbrach Cliff die Stille, die ihretwegen ewig hätte dauern können.

„Nein.“

Er schwieg einen Moment. „Dann helfe ich dir.“

Sein Zögern hätte nicht auffälliger sein können. Aber ehe Hollys Stolz die Überhand gewann und sie in Schwierigkeiten brachte, sagte sie sich, dass sie die Hilfe benötigte. Die Wurzel war so groß, dass sie ein riesiges Loch graben musste. Sie bezweifelte, dass sie so kräftig war.

Aus den Augenwinkeln musterte sie Cliff. Er war kräftig genug. Und wie kräftig! „Danke“, erwiderte sie nur.

Eine Meile legten sie schweigend zurück. Unvermittelt überraschte Cliff sie mit der Bemerkung: „Deine Tante war eine ausgesprochen liebevolle und großzügige Frau. Wenn jemand aus der Umgebung in Schwierigkeiten geriet, war sie immer zur Stelle, um zu helfen. Ich nehme an, das hast du von ihr.“

Erstaunt sah sie ihn an. „Wie kommst du denn darauf?“

„Könnte ich mir vorstellen. Du bist doch Sozialarbeiterin? Also hilfst du anderen Menschen.“

Sein kühler Tonfall entging Holly nicht. Sie hatte wirklich sehr ruppig reagiert. Irgendwie musste sie ihre Antipathie ihm gegenüber in den Griff bekommen. Cliff bemühte sich wirklich – obwohl sie das gar nicht wollte. „Theoretisch schon“, entgegnete sie. „Manchmal habe ich das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Meistens bin ich mir aber nicht sicher. Es dauert, bis Kinder erwachsen werden.“

„Du arbeitest mit Kindern?“

„Hauptsächlich. Manchmal auch mit den Eltern – je nachdem, was es für Probleme gibt.“

„Kurzfristige Belohnungen gibt es da nicht?“

Die Frage überraschte sie. Er klang so verständnisvoll. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. „Manchmal. Aber mir kommt es auch nicht auf Belohnungen an.“

„Nein. Dir geht es ums Helfen.“

Es war wie ein Echo, das aus zehnjähriger Entfernung zurückschallte. Das hatte sie Cliff damals gesagt. Ihr Wunsch, Menschen zu helfen, war stärker, als ein Leben auf einer Farm zu verbringen. Was hatte sie sich bloß eingebildet? Wie Don Quichote war sie losgezogen, ohne die geringste Ahnung zu haben, welche Windmühlen sie da draußen erwarteten.

Sie reagierte nicht auf seine Bemerkung. Stattdessen betrachtete sie die Landschaft, die am Fenster vorbeizog. Worum ging es hier eigentlich? Sie sollten so wenig wie möglich miteinander zu tun haben. So einfach war das. Kaum zu glauben, dass eine heiße Affäre, selbst wenn sie noch so flüchtig gewesen war, Wunden hinterlassen konnte, die noch immer schmerzten.

Damit hätte sie niemals gerechnet.

Der Sommer lag schon lange zurück. In den Semesterferien hatte Holly ihre Tante besucht. Sie hatte sich im Garten gesonnt, mit nichts als einem lockeren Top und knappen Shorts bekleidet. Plötzlich kam Cliff dahergeritten. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören, weil er sich dem Grundstück von der anderen Seite des Hauses genähert hatte.

Im Lauf der Zeit hatte er immer mehr Verantwortung auf der Farm seines Vaters übernommen und wurde allmählich ein richtiger Mann. Gegen den blauen Himmel wirkte er wie auf einem Gemälde: ein stolzes Pferd, dessen Zügel er in der Hand hielt, den Cowboyhut schräg in die Stirn gezogen. Markante Gesichtszüge, breite Schultern. Eine imposante Erscheinung.

Sie hätte davonlaufen sollen, aber sie fühlte ein unwiderstehliches Begehren. Sie genoss seine Blicke, mit denen er sie von oben bis unten musterte. Sie kannte dieses Gefühl, aber es war noch nie so stark gewesen wie in Gegenwart dieses Mannes.

Holly hatte sich nicht dagegen gewehrt. Obwohl sie Cliff gesagt hatte, dass sie in zwei Monaten aufs College zurückgehen würde. Sie glaubte, er würde sie verstehen. Sie hatte sich fest vorgenommen, Sozialarbeiterin zu werden. Nicht im Traum dachte sie daran, mitten im Nirgendwo ein Leben als Frau eines Ranchers zu führen. Ebenso wenig wie sie von ihren Träumen wollte er von seiner Ranch lassen.

Wessen Schuld ist es denn nun gewesen? fragte sie sich, während sie aus dem Fenster schaute. Sie hatten mit dem Feuer gespielt und jede Gelegenheit wahrgenommen, sich zu lieben. Aber dann war die Idylle zu einem jähen Ende gekommen. Cliff wollte, dass sie blieb.

Seine Worte hatten sie in die Wirklichkeit zurückkatapultiert. Bis dahin hatte sie in einer Traumwelt gelebt. Als er ihr seine Liebe erklärte, hatte sie ihn einen Träumer genannt, weil er glaubte, dass ihre Affäre mehr war als ein flüchtiges Abenteuer.

Bis jetzt wusste sie nicht, warum sie so grausam gewesen war. Eigentlich war sie sanftmütig, aber damals … Vielleicht war es eine Art von Selbstschutz, der sie daran hindern sollte, ihr Leben in eine Bahn zu bringen, die sie nicht wollte. Vielleicht war sie schon genauso verzweifelt gewesen wie er selbst – wenn auch auf andere Art und Weise.

Wahrscheinlich würde sie ihr Verhalten von damals nie ganz verstehen. Sie hatte nicht nur Cliff vor den Kopf gestoßen, sondern die Erinnerung an diesen wunderschönen Sommer zerstört. Jedes Mal, wenn sie an die heißen, intimen, wundervollen Stunden dachte, versetzte es ihr einen Stich ins Herz, sodass sie irgendwann beschloss, diese Erinnerungen zu verdrängen.

Martha musste mitbekommen haben, was vor sich ging, aber sie hatte nie ein Wort darüber verloren. Vielleicht hatte sie auch gar nichts gemerkt. Hätte sie sonst ein solches Testament gemacht? Falls ja, dann wäre es eine Gedankenlosigkeit, die Holly ihrer Tante niemals zugetraut hätte. Nicht nur ihr, sondern auch Cliff gegenüber.

„Ich möchte nicht wie ein Provinzler klingen“, riss seine Stimme sie aus ihren Gedanken. „Aber sind bestimmte Gegenden in Chicago nicht ziemlich gefährlich? Verdammt, ich klinge wirklich wie ein Provinzler.“

„Doch, das sind sie.“ Worauf wollte er hinaus?

„Arbeitest du dort?“

„Dort werden wir am dringendsten gebraucht.“

Er schwieg, und sie wartete. Bestimmt gab er sich damit nicht zufrieden.

„Du hast Mumm“, meinte er schließlich.

„Nicht mehr als die Menschen, die dort leben müssen.“

„Aber du hast die Wahl.“

Was sollte Holly darauf antworten? Ja, es war ihre Entscheidung, aber das Elend war zu groß, als dass sie es ignorieren konnte. Ihr größter Wunsch war, den Kindern eine sichere und geschützte Umgebung zu bieten. Die Probleme waren viel zu groß, als dass einer allein eine Lösung hätte finden können. „Zum Teil geht es um Drogen“, erklärte sie. „Um den Stoff gibt es regelrechte Bandenkriege.“

„Wie zu Zeiten der Prohibition.“

„In etwa. Revierkämpfe. Solche Sachen. Die Armut zwingt die Menschen in die Knie und bringt manchmal ihre hässlichen Seiten hervor. Ich versuche den Kindern zu helfen, damit sie da nicht hineingezogen werden. Viel mehr kann ich nicht tun, um sie zu schützen – es sei denn, es gibt Missbrauch in der Familie.“

„Das ist wohl eine ziemlich undankbare Arbeit.“

Nicht zu fassen, dass Cliff so mitfühlend war – nach der Abneigung, die er Holly bei ihrem ersten Wiedersehen hatte spüren lassen. Wollte er etwas gutmachen? Eigentlich müsste ich etwas wiedergutmachen, dachte sie unbehaglich. „Wenn es auch nur ein Kind schafft, ist das schon ein Erfolg.“

„Wirklich?“

Glücklicherweise beließ er es dabei, und ihre Gedanken wanderten zu anderen Dingen, fort von ihren Sorgenkindern in Chicago. Holly musste entscheiden, was sie mit dem Besitz ihrer Tante machen wollte, doch während sie aus dem Fenster schaute, wurde in ihr der Wunsch wach, dass die Kinder ein Leben ohne Gewalt und Brutalität kennenlernen sollten, wie es hier in Conard County üblich war.

Sie unterdrückte einen Seufzer. Sollte sie das Haus vermieten? Verkaufen konnte sie es ja nicht. Aber müsste sie sich dann nicht darum kümmern, damit es nicht herabgewirtschaftet wurde?

Cliff beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Trotz allem, was geschehen war, fühlte er sich noch immer auf seltsame Weise zu ihr hingezogen. Gott sei Dank war das Fenster heruntergekurbelt. Sonst wäre er in ihrem Duft ertrunken; einem Duft, den er all die Jahre nicht hatte vergessen können. Sie benutzte noch immer dasselbe Shampoo, und sie verströmte das Aroma verführerischer Weiblichkeit. Es war nicht so intensiv wie nach dem Sex mit ihr, aber stark genug, um Erinnerungen heraufzubeschwören.

Nimm dich zusammen! Er musste vergessen, was geschehen war. Für immer und ewig. Er würde ihr helfen, den Baum einzupflanzen und ihr anbieten, ein Auge aufs Haus zu haben, wenn sie wieder weggefahren war. Und dann nahm er sich vor, ein höflicher und hilfsbereiter Nachbar zu sein. Mehr nicht.

Seltsamerweise war Holly trotz ihrer Magerkeit und Erschöpfung anziehend. Ihr Zustand weckte Beschützerinstinkte in ihm, und das beunruhigte ihn. Er sollte sie sich aus dem Kopf schlagen und auf seine eigene Ranch konzentrieren. Dort wartete harte Arbeit auf ihn, und die hatte ihn während all der Jahre abgelenkt.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, fragte sie plötzlich: „Wie läuft’s denn auf der Ranch?“

Eine harmlose Frage. Doch aus ihrem Mund klang sie – bedeutungsschwer. „Gut“, antwortete er. Und als er merkte, wie knapp seine Antwort ausgefallen war, fügte er hinzu: „Dass ich das Land deiner Tante pachten konnte, hat mir sehr geholfen. So konnte ich meinen Betrieb ausbauen.“

„Stimmt es, dass Rinderzucht immer teurer wird?“

„Die haben wir längst aufgegeben. Stattdessen züchten wir Schafe. Wolle geht immer.“

„Schön.“

Sie interessierte sich nicht wirklich für sein Leben. Wenn er ehrlich sich selbst gegenüber war, hatte sie sich nie dafür interessiert …

„Ist die Schafzucht schwieriger?“

„Probleme gibt’s mit allem, was auf vier Beinen läuft.“

Sie lachte. „Das ist gut gesagt.“

„Stimmt aber.“ Fast hätte er gelächelt. Bloß nicht. „Ich habe ein Problem gegen ein anderes getauscht. Schafe sind die besseren Rasenmäher, und die Wolle gibt’s jedes Frühjahr, ohne dass ich meine Herde dezimieren muss, um Geld zu verdienen. Erneuerbare Ressourcen.“

„Das finde ich gut.“

Cliff wollte herausfinden, wie ernsthaft ihr Interesse wirklich war. „Ich habe auch eine kleine Herde von Angoraschafen. Sie sind ein bisschen anfälliger für Parasiten, aber ihre Wolle bringt mehr Geld. Natürlich sind sie auch in der Haltung teurer. Aber unterm Strich lohnt es sich.“

Er entspannte sich ein wenig. Begann er etwa, sich in Hollys Gegenwart wohlzufühlen? Bloß nicht. Er nahm sich fest vor, nicht noch einmal auf diese Frau hereinzufallen. Außerdem … so abgemagert, wie sie aussah, war sie doch gar nicht mehr attraktiv. Oder? „Bist du verheiratet?“ Die Frage platzte aus ihm heraus, ohne dass er lange darüber nachgedacht hatte. „Hast du Kinder?“

„Zweimal nein.“

Die knappe Antwort machte ihm unmissverständlich klar, dass Holly ihn nicht zu nahe an sich herankommen lassen wollte.

„Ich habe es versucht“, gestand er. „Mit der Ehe“, fügte er erklärend hinzu.

„Und?“, fragte sie sofort.

„Hat nicht geklappt. War wie Essig und Öl, die kein gutes Dressing ergeben.“

Sie lachte. „Entschuldige, dass ich lache. Das ist überhaupt nicht komisch, aber deine Beschreibung …“

Unwillkürlich musste er selbst lachen. „Eine bessere fällt mir nicht ein. Martha hat mich gewarnt.“

„Wirklich?“

Holly sah ihm ins Gesicht. Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen. „Ja. Sie hat mich gefragt, ob ich noch bei Verstand sei. Es wäre weniger gefährlich, mit meinem Pferd über einen Abgrund zu springen, als diese Frau zu heiraten. Was soll ich dazu sagen? Sie hat recht gehabt.“

Und er hatte seine Lektion gelernt. Jedenfalls hoffte er es.

Schweigend erreichten sie Marthas Haus. „Ich muss unbedingt etwas an der Straße machen. Nach jedem Winter ist sie voller Rinnen und Schlaglöcher“, erklärte er. „Dein Miniauto würde hier sofort stecken bleiben.“

Holly reagierte nicht, und Cliff überlegte, ob sie es ihm übel nahm, wenn er sich in Dinge mischte, die ihn nichts angingen. Seufzend hielt er den Wagen an. Martha, was hast du mir da eingebrockt?

Ohne den Motor auszuschalten, erkundigte er sich: „Wohin willst du den Baum pflanzen?“

„Ich weiß noch nicht. Wie groß wird er überhaupt? Und braucht er viel Sonne?“ Sie verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse. Das hatte Cliff damals so sehr gemocht. „Ich bin eben durch und durch ein Stadtmensch.“

Als ob er das vergessen hätte!

„Richtung Südwesten“, schlug er vor. „Da kriegt er genug Sonne, und im Sommer spendet er genügend Schatten, sodass es im Haus angenehm kühl bleibt.“

„Hört sich gut an“, meinte sie.

Langsam fuhr er um das Haus herum. „Im ersten Monat braucht er viel Feuchtigkeit. Dummerweise hat Martha keinen Außenanschluss für Wasser. Sie musste es immer eimerweise aus dem Haus tragen.“

„Das kriege ich schon hin.“

Daran hatte Cliff seine Zweifel. Aber vielleicht war Holly stärker, als sie im Moment aussah.

„Ich wollte ihr immer einen Außenanschluss legen. Irgendwie habe ich es nie geschafft.“

„Kein Problem.“

Ehrlich gesagt hatte Cliff keine Vorstellung von ihrem Leben in Chicago. Wie konnte Holly nur wieder dorthin zurückkehren? Schießereien auf den Straßen. Die entsetzliche Armut. Bandenkriege. Dem setzte sie sich jeden Tag freiwillig aus. Kein Wunder, dass ein solches Leben seinen Tribut von ihr forderte.

Dennoch betrachtete er wohlwollend ihre schwingenden Hüften, als sie vor ihm herlief, um den besten Platz für den Baum zu finden. Als sie sich umdrehte, fiel sein Blick auf ihre Brüste. Sie waren immer noch rund und voll. Eine wunderschöne Frau. Eine begehrenswerte Frau.

Zu dumm!

Sie fand eine passende Stelle, und er holte eine Schaufel aus Marthas Schuppen. Holly verschwand im Haus und kehrte mit zwei Gläsern Eistee zurück.

Sie reichte ihm ein Glas. „Ich glaube mich zu erinnern, dass du viel Zucker magst.“

„Das mag ich immer noch“, gab er zu. „Ich weiß, es ist nicht gut für die Figur, aber ich arbeite ihn wieder ab.“

Sie lächelte kurz. „Das glaube ich dir gern.“ Sie schaute auf die Stelle, die sie für den Baum ausgesucht hatten. „Soll ich dir helfen?“

„Hast du jemals versucht, ein Loch in diese Erde zu buddeln? Möglicherweise brauchen wir sogar einen Bagger.“

Er griff zur Schaufel, stellte einen Fuß darauf und kam gerade mal zehn Zentimeter tief. Glücklicherweise war die Erde noch weich vom Frühlingsregen.

„Im Haus ist es anders“, sagte Holly unvermittelt.

Fragend schaute er auf. „Wieso?“

„Ich erwarte jeden Moment, Marthas Stimme zu hören. Oder dass sie ins Zimmer kommt. Selbst wenn wir zwei allein waren, war es nie so still.“

Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er schaute zu dem einstöckigen, mit Schindeln verkleideten Haus hinüber. „Ja. Ich glaube auch, dass es sehr still ist.“

Eine Träne lief Holly über die Wange. Was auch immer Cliff von ihr gehalten hatte – ihre Tante musste sie wirklich geliebt haben.

Unter anderen Umständen hätte er Holly jetzt in den Arm genommen und getröstet. Bei jeder anderen hätte er sich so verhalten. Aber sie erschien ihm so distanziert, dass er nicht den leisesten Anflug von Mitgefühl zu zeigen wagte. Schließlich fragte er: „Alles in Ordnung?“

Sie wischte die Träne fort. „Ja, ja. Ich vermisse sie sehr. Ich kann sie nicht mal mehr anrufen. Den Gedanken werde ich einfach nicht los. Dass ich ihre Stimme nie mehr hören werde.“

Er grub tiefer. Schließlich stellte er den Spaten hin und stützte sich auf den Griff. „Du kannst ihre Stimme hören“, meinte er. „Sie ist in deinem Kopf und in deinem Herzen. Hör einfach in dich hinein. Wie ich Martha kenne, flüstert sie dir im Moment bestimmt etwas Ungeheuerliches ins Ohr.“

Endlich war das Loch groß genug für die Wurzel, und Cliff setzte den Baum hinein. Er kniete sich hin und testete die Erde auf dem Grund der Grube. Sie war feucht genug.

„Soll ich einen Eimer Wasser holen?“, erbot Holly sich.

„Wenn das nicht zu schwer für dich ist …“

Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, verschwand sie im Haus und kehrte kurz darauf mit einem vollen Eimer zurück. Mit beiden Händen schleppte sie ihn bis zum Baum.

Cliff füllte Erde auf, und Holly kippte Wasser nach, bis das Loch wieder zugeschüttet war. „So einen Eimer braucht er in nächster Zeit jeden Tag.“

Er zog seine Handschuhe aus und trug die Schaufel in den Schuppen. Als er zurückkam, stand sie mit dem leeren Eimer in der Hand und schaute in die Ferne.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Es ist so friedlich hier. Ich wünschte, einige meiner Kinder könnten ein solches Leben kennenlernen – selbst wenn es nur vorübergehend wäre.“

Dann sagte Cliff das Dümmste, was ihm jemals eingefallen war. „Warum kommst du denn nicht mit einigen von ihnen hierher?“

Holly sah ihm ins Gesicht, die blauen Augen erstaunt aufgerissen.

Prompt spürte er ein warmes Ziehen im Unterleib. Hatte er ihr wirklich gerade eben vorgeschlagen, zurückzukommen?

Höchste Zeit, die Arbeit hier zu Ende zu bringen und zu verschwinden!

3. KAPITEL

Kaum war der Baum eingepflanzt, machte Cliff sich davon. Zusätzlich hatte er drei Pfähle eingeschlagen und den dünnen Stamm daran festgebunden, damit er gerade wuchs.

Jetzt war Holly allein. Sie schaute zu den Bergen hinüber, die dunkelgrün und grau im Licht des frühen Nachmittags lagen. Bald würde die Sonne hinter den Kuppen versinken und sie rot färben.

Holly hatte sich noch nie so einsam gefühlt. Abgesehen von der einen Nacht in Chicago, als sie überfallen worden war und es eine Ewigkeit gedauert hatte, bis die Polizei eingetroffen war. Irgendjemand in der Nachbarschaft hatte sie verständigt. Vorsichtshalber hatte sie nie nachgeforscht, wer es gewesen war, um ihren Retter nicht in Gefahr zu bringen.

Inzwischen hatte sie sich mit den Lebensbedingungen in den sozialen Brennpunkten der Großstadt arrangiert. Wenn sie keine Hausbesuche machte, kümmerte sie sich darum, dass ihre Schutzbefohlenen von der Straße blieben und eine sinnvolle Beschäftigung fanden. An die permanente Geräuschkulisse – Pistolenschüsse, Geschrei und quietschende Reifen, wenn irgendwelche Gangster auf der Flucht waren – hatte sie sich ebenfalls gewöhnt.

Nach dem Überfall hatte sie ein paar Wochen freigenommen und war zu Martha gefahren, um sich zu erholen. Zwischen Chicago und dieser Gegend lagen Welten, und auch jetzt staunte sie wieder darüber, wie anders das Leben hier war.

Nur gab es jetzt keine Tante mehr, der sie ihr Leid klagen konnte und die ihr zuhörte. Dabei fiel ihr ein, dass Martha ihr nicht ein einziges Mal vorgeschlagen hatte, den Job zu wechseln und etwas weniger Gefährliches zu machen.

Sie blickte zum Himmel. „Was für einen Sinn hat das alles?“, fragte sie laut.

Natürlich erhielt sie keine Antwort. Ratlos betrachtete sie das Haus. Sie könnte hierbleiben. Martha hatte ihr so viel hinterlassen, dass sie niemals mehr arbeiten musste, wenn sie mit dem Geld sparsam umging.

Aber das hatte Martha bestimmt nicht mit ihrem Testament beabsichtigt. Ein solches Leben würde Holly auch nicht zufriedenstellen. Martha war auch immer für andere da gewesen. Sie hatte stets ein offenes Ohr für Menschen gehabt, die mit ihren Sorgen und Problemen zu ihr gekommen waren.

Sie war ein richtiges Vorbild gewesen.

Warum kommst du denn nicht mit einigen von ihnen hierher? Cliffs Frage ging ihr durch den Kopf. Warum nicht? Sie hörte bereits das Wiehern des Behördenschimmels. Man würde ihr bestimmt nicht erlauben, mit den Kindern in einen anderen Bundesstaat zu fahren. Ganz gewiss nicht!

Außerdem konnte sie so etwas nicht allein stemmen. Sie brauchte Unterstützung – von ausgebildeten Pädagogen, die den Kindern eine sinnvolle Beschäftigung gaben. Und wo sollten ihre Schützlinge untergebracht werden – im Haus oder in eigens errichteten Schlafhütten?

Holly setzte sich auf der Veranda in Marthas Schaukelstuhl und ließ den Blick über das weite Land schweifen. Zum ersten Mal empfand sie ein Gefühl von Ruhe und Frieden. Offenbar hatte die Gegend eine heilende Wirkung.

Die Kinder hätten es verdient, überlegte sie. Eine Weile ohne Hunger und Angst zu leben – Gefühle, die ihren Alltag bestimmten. Am Abend ohne das Knallen von Pistolenschüssen und das Sirenengeheul der Einsatzwagen einzuschlafen.

Unmöglich! Das würde sie nie verwirklichen können. Der Aufwand wäre immens, und die Ämter würden ihr alle möglichen Knüppel zwischen die Beine werfen. Und wie sollte sie bei all dieser Arbeit noch ihren eigentlichen Job erledigen?

Außerdem wollte sie nicht in Cliffs Nähe sein. Er war zwar sehr höflich zu ihr gewesen, aber in seiner Gegenwart empfand sie die gleiche Anspannung wie nachts in der Stadt. Hinzu kam, dass Holly sich noch immer zu ihm hingezogen fühlte. Obwohl sie sich eher die Zunge abgebissen hätte, als es ihn jemals spüren zu lassen. Diese Gefühle konnten nur in die Katastrophe führen – genau wie damals. Da hatte sie ihrer Lust nachgegeben und prompt großen Schaden angerichtet.

Sie hatte es Cliff gegenüber nie zugegeben, aber ihn zurückzulassen war ihr nicht leichtgefallen. Doch sie wollte keinerlei Verpflichtungen eingehen. Sie war noch nicht so weit gewesen. Ihr Ziel war es, den Kindern zu helfen. Ein anderes Leben hätte sie sich nicht vorstellen können.

Sie hatte bekommen, was sie wollte – und nun saß sie wieder hier und musste sich mit vielen unbeantworteten Fragen auseinandersetzen.

Es war, als hätte sich ein Kreis geschlossen.

Wie konnte sie den Kindern am besten helfen? Und warum sehnte sie sich noch immer nach Cliff?

Warum kommst du denn nicht mit einigen von ihnen hierher?

Wieso hatte er sie das gefragt? Was hatte er sich dabei gedacht? Seine Miene hatte nichts von seinen Gedanken verraten. Aber dann war er sehr schnell gegangen. Auffallend schnell.

Würde sie es ein paar Wochen in seiner Nähe aushalten? So viel Zeit müsste sie den Kindern schon gönnen. Auf einmal erschienen ihr diese Gedanken egoistisch. Wenn sie dank ihrer Erbschaft in der Lage war, den Jugendlichen irgendwie zu helfen, dann musste sie es tun. Ohne Rücksicht auf Cliff und ihre eigenen Gefühle.

Aber war es wirklich eine gute Idee, die Kinder ein paar Wochen oder sogar Monate hierher zu bringen, um sie hinterher wieder in ihr altes Leben zu entlassen? Nach ihrer Heimkehr müsste Holly ihnen eine Perspektive anbieten können. Nur unter diesen Umständen wäre es zu verantworten, ihnen zu zeigen, dass es auch eine andere Art von Leben gab.

Als es zu kühl wurde, ging sie ins Haus und bereitete sich einen kleinen Imbiss zu. Erneut fiel ihr die Stille auf, die sie umgab, und ihr wurde schwer ums Herz.

Hier für immer allein leben? Niemals! Es musste eine andere Möglichkeit geben. Einen besseren Weg. Einen sinnvollen Weg.

Diese verdammten Erinnerungen!

Cliff hatte die Hoffnung auf Schlaf längst aufgegeben. Eigentlich hatte er keine Nacht mehr durchgeschlafen, seit er wusste, dass er Holly wiedersehen würde.

Stattdessen waren die Bilder von damals vor seinem inneren Auge vorbeigezogen. Klar und deutlich, als wäre es gestern gewesen.

Er dachte an den Sex, den sie gehabt hatten. An ihr Seufzen und Stöhnen, wenn er sich in ihr bewegte. Er glaubte, ihre Haut spüren zu können, weich, warm und samtig. Ihr Körper fühlte sich fantastisch an. Er dachte daran, wie er sie liebkost hatte, ihr Gesicht, ihren Hals, die harten Spitzen ihrer Brüste und die lockende Hitze zwischen ihren Schenkeln …

Noch immer stieg ihm das Aroma ihrer Begierde in die Nase, der aufreizende Duft ihrer Lust. Holly hätte genauso gut neben ihm liegen können, so lebendig waren diese Erinnerungen.

Leider teilte niemand das Bett mit ihm.

Sosehr er sich auch bemühte, diese Erinnerungen zu verdrängen – sie hafteten an ihm und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Seine Begierde wurde so intensiv, dass es ihn fast schmerzte. Er sehnte sich danach, Holly zu berühren, in ihr zu sein. Nicht einmal in seiner kurzen Ehe hatte er sich so sehr nach seiner Frau verzehrt.

Hoffentlich nahm Holly seinen Vorschlag nicht ernst. Nicht auszudenken, wenn sie tatsächlich ihre Kinder hierher brachte. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Außerdem wäre sie dann ja seine Nachbarin. Er konnte Marthas Haus von seinem Grundstück aus zwar nicht sehen, aber dass Holly dann nur wenige Meilen von ihm entfernt war – undenkbar!

In Gedanken hatte er schon wieder Sex mit Holly. Um die quälende Vorstellung zu beenden, stand er auf und starrte in die Dunkelheit, die sich hinter dem Fenster erstreckte.

Zehn Jahre, nachdem sie sich ihm gegenüber so schäbig verhalten hatte, verzehrte er sich nach ihr wie am ersten Tag. Es war zum Verrücktwerden. War er vielleicht schon verrückt geworden?

Das Wiedersehen hatte ein Feuer in ihm entfacht, dessen Glut wohl niemals ganz verloschen war. Was zum Teufel sollte er nur tun?

Und er hatte sich eingeredet, mit seinem Leben mehr oder weniger zufrieden zu sein. Von wegen! Die Frau nebenan hatte das Talent, ihn wieder in einen liebeskranken Teenager zu verwandeln, dessen Hormone Achterbahn fuhren.

Nur gut, dass es stockfinster war und niemand die Ausbuchtung in seinen Shorts sah.

Manchmal war er mitten in der Nacht auf seinem Wallach Sy ausgeritten. Er überlegte, ob er es jetzt ebenfalls tun sollte. Aber in dieser mondlosen Nacht war es zu gefährlich für einen Ausritt. Außerdem befürchtete er, am Ende wie ein liebeskranker Kater vor Marthas Haus zu landen.

Deshalb blieb er reglos am Fenster stehen – mit pochendem Herzen, stechendem Schmerz in der Brust und pulsierender Lust, für die es keine Erlösung gab.

Ein paar Meilen entfernt erging es Holly nicht viel besser. Nach einem kurzen Schlaf war sie schweißgebadet aufgewacht. Sie hatte – erstmals seit Jahren – von Cliff geträumt, aber dann waren auf einmal jene Gangster aufgetaucht, die sie angegriffen hatten.

Wie konnte sie sich nach etwas sehnen, das ihr immer noch Angst machte? Dass sie von der nächtlichen Attacke geträumt hatte, sollte ihr eine Warnung sein. Seit jenem Vorfall hatte sie sich mit niemandem mehr verabredet. Die Erinnerung an die grapschenden Hände und den übel riechenden Atem war sie nicht mehr losgeworden. Sobald ihr danach ein Mann zu nahezukommen drohte, hatte sie einen Rückzieher gemacht.

Genauso hatte sie sich auch Cliff gegenüber verhalten. Allmählich fragte sie sich, wer sie war und was in ihr vorging.

Kein Zweifel: Cliffs Anziehungskraft war ungebrochen. Wenn sie doch nur wüsste, was ihn so attraktiv machte! Nie zuvor hatte sie so intensive Gefühle für einen Mann gehabt.

Wenigstens war sie im Lauf der Jahre immer weniger egoistisch geworden. Sie hatte ihm sehr wehgetan. Das Risiko würde sie nicht mehr eingehen – gleichgültig, wie sehr sie ihn immer noch begehrte.

Sie trat ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Über Cliff nachzudenken ist reine Zeitverschwendung, redete sie sich ein. Ihr war klar, dass er sie nicht leiden konnte. Nun gut, heute war er ganz nett zu ihr gewesen – aber das war reine Höflichkeit. Ganz normale Nachbarschaftshilfe.

Und dennoch …

Mehr als zehn Jahre waren inzwischen vergangen, und sie verzehrte sich noch immer nach ihm. Das war absolut verrückt.

Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung in der Dunkelheit. Sie trat näher ans Fenster und starrte angestrengt nach draußen. Pferd und Reiter? Was um alles …? In Windeseile riss sie sich das ziemlich dünne Nachthemd vom Körper, schlüpfte in ein längeres und sehr züchtiges Flanellhemd und eilte die Treppe hinunter.

Nur ein Mensch würde um diese Zeit an Marthas Haus vorbeireiten. Dessen war sie sich ganz sicher.

Als sie die Haustür öffnete, kam Cliff gerade um die Ecke geritten. Er schien ganz in seinen Weg versunken und schaute überhaupt nicht in ihre Richtung. Sie nahm eine Jacke vom Garderobenständer, streifte sie über und trat ins Freie.

„Was tust du denn hier?“, wollte sie wissen.

Er zog die Zügel an und lenkte das Pferd in ihre Richtung. „Ich kämpfe gegen meine Schlaflosigkeit. Tut mir leid, wenn wir dich geweckt haben.“

„Hast du nicht. Ich war sowieso wach.“

„Schade, dass ich kein Pferd für dich mitgebracht habe.“

Das war ein Fehler, dachte Holly sofort. Sie erinnerte sich an viele gemeinsame nächtliche Ausritte. Sie hatten sich unterhalten und gelacht, bis ihre Leidenschaft so groß wurde, dass sie abstiegen und sich auf dem Waldboden liebten, einmal auf einem Felsen, einmal sogar in der Mitte eines Flusses, und ein anderes Mal …

Sie räusperte sich energisch. Weg mit diesen Erinnerungen! „Hilft Reiten wirklich gegen Schlaflosigkeit?“ Die Frage klang ziemlich harmlos.

„Ich glaube nicht, dass heute Nacht irgendetwas dagegen hilft“, erwiderte er unverblümt.

Obwohl Holly ihn kaum sehen konnte, spürte sie seinen Blick auf ihrem Körper. Die Stille der Nacht wurde nur vom Geräusch des Zaumzeugs unterbrochen, als das Pferd den Kopf nach hinten warf.

„Tja“, sagte er schließlich. „Dann wollen wir mal weiter …“

„Möchtest du einen Kaffee?“ Die Worte waren ihr herausgerutscht, ehe sie über ihre Einladung nachgedacht hatte. „Ich weiß, dass er dich nicht müde macht …“

„Es ist ohnehin fast Morgen. Da lohnt es auch nicht mehr zu schlafen.“ Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Cliff weiterreiten, aber dann schwang er sich vom Sattel. „Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.“

Rasch drehte sie sich um und ging ins Haus, zum einen, weil sie Cliff nicht zu nahe sein wollte, zum anderen, weil ihr kalt geworden war. Frühsommer? Die Nächte waren immer noch kühl.

Hätte sie doch bloß noch einen Morgenmantel angezogen! Selbst das biedere Flanellhemd schien ihr in dieser Situation zu aufreizend zu sein. Während sie Kaffee machte, fragte sie sich, warum sie Cliff so schnell entgegengelaufen war, nachdem sie ihn erkannt hatte.

Sie schüttelte den Kopf über ihr eigenes Benehmen. Vielleicht, weil sich das Haus ohne Martha so leer anfühlte. Schlimm genug, dass sie sich deshalb an Cliff klammerte …

Unsinn. Von Klammern konnte nun wirklich keine Rede sein.

Reine Höflichkeit. Ganz normale Nachbarschaftshilfe.

Vielleicht war es auch nur wieder ein Anflug von Trauer gewesen, der sie so hatte handeln lassen. Das war immerhin möglich.

Sie hörte Cliff in die Küche kommen. „Setz dich“, forderte sie ihn auf. „Nimmst du ihn immer noch schwarz?“

„Immer noch. Danke.“

Sie stellte zwei Becher auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Jetzt musste sie ihm wohl oder übel ins Gesicht sehen.

Er wirkte müde. Lag wahrscheinlich am Schlafmangel. Trotzdem sah er immer noch verdammt sexy aus. Vielleicht sogar noch attraktiver. Das war nicht fair.

„Du hast abgenommen“, stellte er fest. „Warst du krank?“

Holly schüttelte den Kopf. „Ich habe viel Arbeit. Manchmal bin ich sogar zu müde, um zu essen.“

„Das ist nicht gut.“ Als sie schwieg, fuhr er fort: „Dein Job ist wohl ziemlich anstrengend. Willst du darüber reden?“

„Was gibt’s da groß zu erzählen? Ich arbeite mit Menschen, die dem Rest der Gesellschaft ziemlich egal sind. Menschen, die nie eine richtige Chance im Leben gehabt haben. Ich arbeite daran, dass wenigstens die Kinder eine Chance bekommen. Wir bieten ihnen ein geschütztes Umfeld nach der Schule, helfen ihnen bei den Hausaufgaben, geben ihnen zu essen und versuchen, ihren Horizont ein bisschen zu erweitern. Und dann gehen sie nach Hause und zurück in das alte Elend.“

Cliff stieß einen leisen Pfiff aus.

„Na ja, vielleicht ist das nicht fair“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Schlechte Eltern gibt es überall – in jeder Gesellschaftsschicht. Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich mich um Missbrauchsfälle gekümmert – solche, die in den besseren Kreisen vorkamen. Danach habe ich mit benachteiligten Kindern gearbeitet. Viele glauben es kaum, aber oft bekomme ich die größte Unterstützung von deren Eltern. Sie wollen, dass ihre Kinder ein besseres Leben haben. Aber das ist manchmal eben nicht einfach, wenn man in eine heruntergekommene Wohnung zurückkehrt, wo der Kühlschrank leer ist und sich die Leute nicht mal mehr an den Kakerlaken stören.“

„Da prallen ja Welten aufeinander.“

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Autor

Rachel Lee
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