Die Engel von New York - Kinderärzte zum Verlieben (8-teilige Serie)

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DIE LIEBE HEILT ALLES
Mit Liebe lässt sich alles heilen, glaubt die Sozialarbeiterin Nina. Nur Jack Carter, der attraktive Dr. Perfect des Angel Mendez Children’s Hospital, hält das für Gefühlsduselei! Bis ein kleiner Junge rätselhaft erkrankt - und Nina und Jack gemeinsam um sein Leben kämpfen …

MIT EINEM TANZ FING ES AN
Dr. Tyler Donaldson traut seinen Augen kaum! Ist die Schöne, die in dem sexy Kleid über den Flur stöckelt, wirklich die sonst so scheue Kinderärztin Eleanor Aston? Tyler kann es kaum erwarten, sie auf der Eröffnungsgala für die Frühchenstation zum Tanzen aufzufordern ...

KLEINE SCHRITTE INS GROßE GLÜCK
Er hat den Ball gefangen! Joshs Kinderaugen strahlen - und Physiotherapeutin Molly wächst ihr kleiner Patient sofort ans Herz. Auch sein charmanter Vater lässt sie nicht kalt, ganz im Gegenteil. Doch sie muss die Schmetterlinge im Bauch ignorieren - denn Chirurg Dan Morris ist ihr Chef im Angel’s ...

WARUM SO KÜHL, DR. O'DOHERTY?
Lucy ist sofort fasziniert von ihrem neuen Job als Familientherapeutin am Angel’s. Ebenso wie von ihrem attraktiven Kollegen Dr. O’Doherty, der sich jedoch geradezu feindselig verhält. Bei seinen kleinen Patienten zeigt er so viel Herz, warum ist er nur zu ihr so kühl?

RIVALEN UM SCHWESTER CHLOE
lirten? Für Dr. Brad Davis ist es harmloses Geplänkel, das ihn kalt lässt. Nur als die neue, hübsche Schwester Chloe ausgerechnet Dr. Coleman schöne Augen macht, seinem Erzfeind am Angel’s, wird Brad nervös. Eifersucht? Eigentlich hat er doch gar keinen Grund - oder?

DR. JACKSONS SÜßE VERSUCHUNG
Schwester Scarlet kann die hilflosen Erziehungsversuche von Dr. Jackson nicht mit ansehen. Also begleitet sie den attraktiven Kinderarzt und seine mutterlose Tochter auf einen Ausflug. Nur um zu helfen, redet sie sich ein. Aber warum endet der Tag dann mit einem heißen Kuss?

SCHENK MIR DEIN LÄCHELN
Dr. John Griffin ist Schwester Polly ein Rätsel: Für seine kleinen Patienten im Angel’s hat er immer ein Lächeln übrig, ihr jedoch zeigt er die kalte Schulter. War es ein Fehler, sich von ihm zum Dinner einladen und zu einer zärtlichen Liebesnacht verführen zu lassen?

VERBOTENE LIEBE MIT DR. RODRIGUEZ
Die Gerüchteküche im Krankenhaus kocht über: Was läuft da zwischen Dr. Layla Woods und dem Starchirurgen Alex Rodriguez? Zwischen ihnen knistert es heiß! Niemand ahnt, was sie beide verbindet: eine leidenschaftliche Liebe, die schon einmal zerstörerisch war …


  • Erscheinungstag 24.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727970
  • Seitenanzahl 1152
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Carol Marinelli, Janice Lynn, Laura Iding, Susan Carlisle, Tina Beckett, Wendy S. Marcus, Lynne Marshall, Alison Roberts

Die Engel von New York - Kinderärzte zum Verlieben (8-teilige Serie)

IMPRESSUM

Die Liebe heilt alles erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2013 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „NYC Angels: Redeeming the Playboy“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 63 - 2014 by HARLEQUIN ENTERPRISES GmbH, Hamburg
Übersetzung: Kristina Krüger-Barhoumi

Umschlagsmotive: Zoom Team / Shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733728090

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Nina Wilson ist die zuständige Sozialarbeiterin für Baby Sienna.“

Aha. Jack verdrehte kaum merklich die stahlgrauen Augen, während er die Neuigkeit verdaute. Nina Wilson war ein harter Brocken, das wusste Jack aus Erfahrung.

„Der Sozialdienst scheint fest entschlossen, Sienna wieder in die Obhut ihrer Eltern zu geben.“ Dr. Eleanor Aston seufzte frustriert. „Seit vierzehn Tagen überwache ich jetzt Siennas Drogenentzug. Zwei Kinder wurden der Mutter bereits weggenommen. Zufällig habe ich mich auch letztes Jahr schon um ihren gerade neugeborenen Sohn gekümmert.“

Eleanors Ton spiegelte wider, wie nahe ihr dieses Thema ging – ein Umstand, den Jack geflissentlich ignorierte. Mit Fakten konnte er viel besser umgehen als mit Gefühlen. „Ich sehe es einfach nicht ein. Warum ihr eine dritte Chance geben, wenn sie bei ihren ersten beiden Kindern schon versagt hat?“

„Mit diesem Argument darfst du Nina Wilson nicht kommen“, gab Jack nüchtern zurück. Rasch überflog er die Einträge in der Akte – einige davon von ihm höchstpersönlich. Leicht irritiert stellte er fest, dass er sich kein Bild von Baby Sienna machen konnte, obwohl er sie sich erst vor knapp einer Woche angeschaut hatte. Fünf Tage alt, unruhig, verstört … So lautete seine Aktennotiz.

Okay, im Angel Mendez Children’s Hospital, einem der wenigen kostenfreien Kliniken in New York City, herrschte für gewöhnlich Hochbetrieb, da konnte man schon mal ein Gesicht vergessen. Als Chefarzt der Pädiatrie war Jack voll ausgelastet, darüber hinaus musste er sich ständig mit dem Verwaltungsrat herumschlagen und intensive Netzwerkarbeit leisten, um den Zufluss an dringend benötigten Spendengeldern sicherzustellen.

Wobei es durchaus von Vorteil war, einer berühmten New Yorker Park-Avenue-Ärztedynastie zu entstammen. Seine Beziehungen waren buchstäblich Gold wert. Allein sein Name öffnete so manches Portemonnaie, weshalb ihm die unbeliebte Aufgabe zufiel, auf Spendengalas ein nettes Gesicht zu machen.

Aber zurück zu Baby Sienna … Es galt, die Weichen für die Zukunft des kleinen Mädchens zu stellen.

Wieder vertiefte Jack sich in die Akte, studierte Ninas akribische Notizen. Die bemerkenswert sachlich waren – und ganz im Gegensatz zu ihrer äußerst temperamentvollen Art standen, sich für ihre Klienten zu engagieren. Nina war jung, immer auf Kriegsfuß mit der Bürokratie und wollte die Welt zu einem besseren Ort machen. Jack dagegen mit seinen vierunddreißig Jahren betrachtete alles etwas nüchterner und realistischer.

„Nina ergreift grundsätzlich für die Eltern Partei“, erklärte Eleanor jetzt frustriert.

„Nicht immer. Aber ich weiß schon, was du meinst.“

Nina glaubte an die Institution Familie. Natürlich stieß auch sie manchmal an die Grenzen des Machbaren und war dann zum Glück klug genug, das einzusehen. Trotzdem … ihm stand ein langes, anstrengendes Meeting bevor, das ahnte Jack.

Eine Diskussion mit Nina glich einem extrem langen Tennismatch … jeder Ball wurde mit Power zurückgespielt. Kein Wunder, dass Eleanor ihn gebeten hatte, an der Fallbesprechung teilzunehmen – wie immer würde Nina über jedes noch so winzige familiäre Detail informiert sein und versuchen, ihren Standpunkt mit allen Mitteln zu verteidigen.

„Also, auf in den Kampf.“ Jack schlüpfte in sein Jackett. Ein prüfender Blick in den Spiegel erübrigte sich. Wohlhabend und mit fantastischen Genen ausgestattet, machte er in jeder Situation eine gute Figur. Alle vierzehn Tage stand ein Besuch bei seinem Friseur auf dem Programm, um seine Designer-Garderobe kümmerte sich seine Haushälterin.

Jacks einzige Aufgabe bestand darin, morgens aufzustehen, der jeweiligen Sexpartnerin in seinem Bett einen Abschiedskuss zu geben, sich fertigzumachen – um wenig später wie aus dem Ei gepellt das Haus zu verlassen und die nächsten Frauenherzen zu brechen.

Auf dem Weg zum Meeting musste er flüchtig an Monicas Tränen heute Morgen denken. Warum mussten Frauen immer alles zerreden? Musste es denn für alles einen Grund geben?

Ewig die gleiche Litanei: Was habe ich falsch gemacht? Ich kann mich doch ändern! Oder: Was ist passiert, warum magst du mich nicht mehr?

Nichts war passiert. Er war einfach nur nicht der Typ für eine feste Beziehung.

Jetzt stand ihm die nächste Konfrontation mit weiblicher Emotionalität bevor. Als Jack den Konferenzraum betrat, war Nina bereits da, knöpfte ihren Mantel auf und wickelte sich aus ihrem langen, flauschigen Wollschal. Bei Jacks Anblick kniff sie leicht die Lippen zusammen. Es passte ihr sicher nicht, dass Eleanor mit Verstärkung angerückt war.

„Guten Morgen, Nina“, begrüßte Jack sie mit einem strahlenden Lächeln, um sie zu ärgern.

„Morgen, Jack“, erwiderte sie zuckersüß, bevor sie ihm den Rücken zudrehte, um den Mantel auszuziehen.

Verdammt.

Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie kriegten sich regelmäßig in die Haare. Mit seiner coolen, betont gleichmütigen Art ging er ihr fürchterlich auf die Nerven.

Erst kürzlich waren sie über das Schicksal von Baby Thanner zusammengestoßen. Wobei sich im Nachhinein herausstellte, dass Jack mit seiner Einschätzung recht behalten hatte. Eine Fehlentscheidung von Nina, die dem Baby fast das Leben gekostet hätte. Jack hatte ihr keine Vorwürfe gemacht, aber der Blick aus seinen stahlgrauen Augen hatte Bände gesprochen. Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt.

Das war nicht der einzige Grund, weshalb Nina sich verunsichert fühlte.

Auch sein umwerfendes Aussehen brachte sie regelmäßig aus dem Gleichgewicht. Jacks Playboy-Dasein und seine privilegierte Herkunft waren allgemein bekannt. Die anerzogene Arroganz, die damit einherging, ärgerte Nina.

Und nicht nur das.

Wirklich zu schaffen machte ihr die Tatsache, dass er sie nicht kalt ließ. Er war arrogant, chauvinistisch, herablassend – alles Eigenschaften, die Nina nicht ausstehen konnte. Logisch betrachtet, müsste sie ihn eigentlich verabscheuen. Doch ihr verräterischer Körper ließ sie im Stich, reagierte auf ihn. Und zwar heftig.

Nina spürte Jacks Blick, war sich seiner Gegenwart nur zu bewusst, als sie zum Tisch ging, um das Meeting zu eröffnen. Fast freute sie sich schon auf die bissigen Spitzen, die er bestimmt gleich abschießen würde.

Er enttäuschte sie nicht. „Wie erfreulich, noch jemanden hier am Tisch zu sehen, der was Anständiges anhat.“ Alle anderen außer Nina und Jack waren in ihrer Krankenhauskluft zum Meeting erschienen. Und alle anderen lachten über seine launige Bemerkung.

Alle außer Nina.

Ihm wurde bewusst, dass er sie noch nie richtig hatte lachen sehen. Sie war immer ernst … und überpünktlich. Nur heute nicht. Hatte sie womöglich verschlafen?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber es kam noch ein Notfall dazwischen.“

Plötzlich fragte er sich, ob es wohl einen Mr Wilson gab, der sich darüber ärgerte, dass seine Frau in aller Herrgottsfrühe vom Notfallteam aus dem Ehebett gescheucht wurde.

Die Vorstellung, sie könnte verheiratet sein, behagte Jack irgendwie nicht. Seltsam eigentlich. Ihm wurde bewusst, dass Nina nie versucht hatte, mit ihm zu flirten. Nie hatte sie es darauf angelegt, ihn mit ihren unglaublich blauen Augen zu verzaubern. Das mochte sich vielleicht arrogant anhören, aber Flirten gehörte nun mal zum Metier, wenn man Jack Carter hieß.

Ausgenommen mit Nina.

„Also, können wir anfangen?“ Sie warf einen raschen Blick in die Runde, wobei sie sich nicht die Mühe machte, zu lächeln. Wahrscheinlich war hier sowieso jeder gegen sie.

Nina fühlte sich absolut nicht wohl in ihrer Haut. Zum einen deshalb, weil sie sich nicht vernünftig hatte vorbereiten können. Ihr Wochenende hatte sie mit ehrenamtlicher Arbeit verbracht, außerdem war sie in ihre neue Dreizimmerwohnung umgezogen.

Um sich noch einmal in die Akten zu vertiefen, hatte sie heute Morgen ganz früh ins Büro kommen wollen. Doch da hatte dann der Notfall dazwischengefunkt. Jetzt fühlte sie sich schrecklich unvorbereitet.

Was ihr sonst nie passierte.

Eins wusste sie: Die Mehrzahl der hier Anwesenden war dagegen, Sienna in die Obhut ihrer Eltern zu entlassen.

Brad Davis, Chefarzt der Perinatalstation, war der Erste, der das Wort ergriff. In nüchternen Worten sagte er: „Wir haben Hannah, die Mutter, in der vierunddreißigsten Schwangerschaftswoche gesehen. Andy, der Vater des Mädchens, hatte sie dazu überredet, sich im Angel’s untersuchen zu lassen, aus Sorge um Hannahs Drogenkonsum und die Auswirkungen auf das ungeborene Baby. Hannah dagegen sorgte sich einzig und allein darum, weiter an Stoff zu gelangen.“

„Damals“, betonte Nina. „Sie ist doch in das Methadonprogramm eingestiegen, oder?“ Brad nickte, und so ging das Frage- und Antwortspiel weiter. Die Hebamme, Krankenschwestern und die Drogenberaterin, die ihre Klienten regelmäßig im Krankenhaus aufsuchte, kamen zu Wort.

Auf besonders großen Widerstand stieß Nina bei Dr. Eleanor Aston. Sie bestand mit Nachdruck darauf, Sienna nicht ihrer Mutter anzuvertrauen.

„Letztes Jahr habe ich ihren Sohn betreut.“ Eleanors Stimme bebte. „Und ich erinnere mich noch gut …“

„Siennas Halbbruder ist heute Morgen nicht unser Thema“, unterbrach Nina sie scharf. Wobei sie natürlich selbst wusste, wie schwer es war, die beiden Fälle nicht miteinander in Zusammenhang zu bringen. Zu der Zeit, als Siennas Halbbruder geboren wurde, war Hannah ganz unten gewesen, und Eleanor hatte sie von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt: eine kalte, gefühllose Mutter, die nur an ihren nächsten Schuss dachte.

„Seit damals hat Hannah ernsthaft an sich gearbeitet und ist heute in sehr viel besserer Verfassung“, erklärte Nina. „Andy, der Vater des Babys, scheint sich sehr zu engagieren und hat Hannah dazu gebracht, überhaupt erst ins Methadonprogramm einzusteigen. Ich denke, sie ist wirklich auf einem guten Weg.“

„Ach ja, ist sie das?“ Es war das erste Mal in der halben Stunde nach Beginn des Meetings, dass Jack sich zu Wort meldete. Über den Tisch hinweg sah er Nina eindringlich an. „Seit wann genau, sagten Sie, bemüht sie sich, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen?“

„Seit sie sich hier in der Klinik vorgestellt hat“, erwiderte Nina gelassen.

„Sie hatte neun Monate Zeit, von den Drogen loszukommen“, erklärte Jack unnachgiebig. „Alles in allem hat sie also gerade mal zwei Wochen vorgeburtliche Betreuung in Anspruch genommen, gedrängt von ihrem Freund, sowie zwei Wochen postnatale Betreuung. Und das unter Inanspruchnahme sämtlicher staatlicher Möglichkeiten.“

„Soll heißen?“ Nina funkelte ihn gereizt an, aber Jack antwortete nicht. „Warum sollten wir ausgerechnet dieser Familie nicht sämtliche Ressourcen zur Verfügung stellen?“ Seine Miene verhärtete sich, doch sie fuhr ungerührt fort:

„Zweimal täglich nimmt Hannah die Angebote der Suchtberatungsstelle wahr. Zum ersten Mal in ihrem Leben zeigt sie echtes Interesse an der Unterstützung, die wir ihr bieten können. Sie hat mir wiederholt versichert, dass sie bereit ist, alles zu tun, damit man ihr Sienna nicht auch noch wegnimmt. Und vergessen wir nicht den Vater des Kindes, für den das Wohl des Babys ganz offensichtlich an erster Stelle steht. Ich weiß, es ist noch zu früh …“

„Meine Ärzte mussten sich bis jetzt jede Nacht ausgiebig um das Kind kümmern“, fiel Jack ihr ins Wort. „Ich übrigens auch einmal, als Sienna besonders unruhig war.“ Sein Blick bohrte sich in ihren. „Das Baby leidet unter heftigsten Entzugserscheinungen, kam mit einem viel zu niedrigen Geburtsgewicht zur Welt, genau wie sein älterer Bruder. Meiner Meinung nach ist Hannah die Letzte, die …“

„Sienna, das Baby heißt Sienna“, unterbrach ihn Nina nun nicht weniger scharf. „Ich denke, dieser Fall ist anders gelagert. Das bestätigen auch die Krankenberichte.“

Jack holte tief Luft, während Nina weiterredete. Ihr Gutmenschentum, dieses ganze Geschwafel der Sozialarbeiter über ihren ganzheitlichen Ansatz nervten ihn. Gereizt spielte er mit seinem Kugelschreiber, während sie sich lang und breit darüber ausließ, wie verheerend die Auswirkungen einer Trennung für Mutter und Kind wären. Besonders, da sich eine innige Mutter-Kind-Bindung entwickelt hätte.

Er wollte einwenden, dass sich die nicht in knapp zwei Wochen herstellen ließ, doch er verkniff sich die Bemerkung, wohl wissend, dass nicht nur Nina, sondern auch alle anderen Anwesenden im Raum dann über ihn herfallen würden.

Das Argument Mutter-Kind-Bindung zog bei ihm nicht.

Sofort musste Jack an seine eigene Mutter denken, die ganz gewiss keine solche Bindung entwickelt hatte. Jack war von zwei Nannys großgezogen worden und hatte seine Mutter nur beim Dinner oder irgendwelchen gesellschaftlichen Events zu Gesicht bekommen.

Rasch verscheuchte er diesen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Ninas Ausführungen. Die Sozialabteilung hatte beschlossen, der Familie eine Chance zu geben, natürlich mit der nötigen behördlichen Unterstützung. Sienna würde bei ihrer Mutter bleiben.

„Was mache ich dann eigentlich hier?“, warf Jack herausfordernd ein. „Aus medizinischer Sicht bestehen keine Einwände gegen Siennas baldige Entlassung. Sie hat ausreichend zugenommen, ist stabil und der Entzug mithilfe des Methadons scheint aussichtsreich. Etwas anderes wollen Sie von mir doch gar nicht hören, oder? Sie haben längst beschlossen, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.“

„Stopp!“ Ninas Stimme zitterte. „Wagen Sie es ja nicht, mir Leichtsinn zu unterstellen!“

Okay, vielleicht war er ein bisschen zu weit gegangen, aber er hatte nicht vor, sich zu entschuldigen.

„Selbstverständlich wurden all Ihre Einwände zur Kenntnis genommen und diskutiert.“ Ernst blickte Nina in die Runde, wobei ihr Blick sekundenlang auf jedem einzelnen Anwesenden ruhen blieb.

„Meine Aufgabe ist es, jeden Fall unabhängig von früheren Erfahrungswerten zu betrachten. Und in diesem Fall komme ich zu dem Schluss, dass die Mutter große Anstrengungen unternimmt, sich zu bessern. Mit anzusehen, was Sienna durchmachen musste, hat starke Schuldgefühle in ihr geweckt und …“, jetzt sah Nina Eleanor an, „… auch wenn ich einräumen muss, dass sie diese Gefühle nicht für ihre beiden anderen Kinder hat aufbringen können, sind die Umstände diesmal deutlich günstiger.“

Sie räusperte sich. „Diesmal gibt es einen Vater, der bereit ist, sich einzubringen, ein junges Paar, das sein Baby unbedingt behalten will. Und ja, wir haben ein Baby, das einen denkbar schlechten Start ins Leben hatte, genau wie seine Mutter. Natürlich könnte ich Sienna auch in einer Pflegfamilie unterbringen, aber glauben Sie mir, als Pflegekind aufzuwachsen, ist auch nicht gerade ein Zuckerschlecken. Mit der nötigen Unterstützung erscheint es mir sinnvoller, der Familie eine Chance zu geben.“

„Nun, meine Bedenken kennen Sie ja“, brachte Jack zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

„Danke, ich habe sie vermerkt.“

Die Versammlung begann sich aufzulösen, und Jack stand auf. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen …“

Draußen sagte Eleanor zu ihm: „Danke, dass du es versucht hast, Jack.“

„Ninas Argumente waren nicht ganz von der Hand zu weisen“, erwiderte Jack. Stimmt, dachte er, diesmal hat sie mich tatsächlich rumgekriegt. „Nicht leicht, das einzugestehen, ich weiß … Aber in diesem Fall sprechen die Fakten für sich, da hat Nina schon recht. Und seien wir mal ehrlich … wissen wir denn, ob Siennas Leben besser verlaufen wird, wenn wir sie jetzt von Pflegefamilie zu Pflegefamilie schicken?“

„Mit ein bisschen Glück landet sie in der perfekten Familie. Sie könnte …“ Eleanor unterbrach sich, als Nina aus dem Konferenzraum kam.

„So was wie eine perfekte Familie gibt es nicht.“ Mit einem knappen Nicken in Ninas Richtung wandte Jack sich zum Gehen.

„Na, wenn du nicht die perfekte Familie hast, dann weiß ich auch nicht“, dachte Eleanor laut. Mit leisem Unbehagen registrierte sie, dass Nina stehen geblieben war, um mit ihr zu reden. „Haben Sie das diesjährige Weihnachtsfoto der Carter-Familie schon gesehen?“

Nina lächelte schmallippig. Klar hatte sie es gesehen. Die Carters in trauter Runde um den Weihnachtsbaum in der Klinik versammelt – die teuren Klunker strahlten mit dem falschen Lächeln der Frauen um die Wette. Doch Nina wollte jetzt nicht an Jack denken, also kam sie gleich auf den Punkt. „Tut mir leid, dass ich Sie nicht überzeugen konnte.“

Eleanors Augen hinter ihren Brillengläsern schimmerten verräterisch. „Ich habe gerade eben mit Jack geredet – er hat ja recht, Ihre Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Es ist nur … ach, ich habe erlebt, wie Hannah mit ihrem Sohn umgegangen ist. So schrecklich distanziert und gefühllos, unwillig, auch nur die geringste Verantwortung zu übernehmen.“

„Typisch für Drogensüchtige“, erwiderte Nina ruhig.

„Ich weiß.“ Eleanor seufzte.

„Keine Sorge, wir werden Hannah sorgfältig überwachen. Diesmal sieht die Sache ein bisschen anders aus, weil es einen Vater gibt, der bereit ist, sich einzubringen. Falls Hannah es wieder nicht packt, dann ist da wenigstens Andy, der bereit sein wird, Sienna allein großzuziehen.“

„Auch nicht gerade ideal, wenn Sie mich fragen.“

„Finde ich nicht.“ Nina lächelte optimistisch. „Der kriegt das prima hin, glauben Sie mir.“

Nachdem sie sich von Eleanor verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Hannah.

Soso, Jack Carter hatte eingeräumt, dass ihre Argumente nicht von der Hand zu weisen waren.

Recht hatte er, denn ihre Argumente waren stichhaltig.

Auf sein Wohlwollen konnte sie gut verzichten. Alles, was zählte, war seine professionelle Meinung, das durfte sie nie vergessen.

2. KAPITEL

Im Anschluss an das Meeting machte Jack sich gleich auf den Weg zur Entbindungsstation. Er fühlte sich ruhelos und unzufrieden, ohne zu wissen, warum. Ja, er konnte es kaum erwarten, sich in sein Büro zurückzuziehen, doch das Piepen seines Pagers vereitelte diesen Plan.

Schlecht gelaunt marschierte Jack ins Schwesternzimmer, wo das nächste Telefon stand. Während er wartete, blickte er auf die Entlassungspapiere, die eine der Schwestern gerade fertigmachte.

Sienna Andrews. Dahinter ein Kürzel, das für „neonataler Drogenentzug“ stand. Nachdem Jack sein Telefonat beendet hatte, setzte er seinen Weg durch die Station fort. Vor Siennas Zimmer blieb er stehen und spähte durch die Glasscheibe. Hannah war nirgends zu sehen, eine Schwester kümmerte sich um das Baby.

Wie immer erfüllte es Jack mit Unbehagen, auf Station zu sein, konfrontiert mit all dem Elend und den Schicksalen, die sich unter dem Dach eines Krankenhauses wie dem Angel’s versammelten. Seine Arbeit als Chefarzt der Pädiatrie stellte sich oft genug als äußerst belastend heraus, auch ohne dass er sich mit jedem einzelnen Fall intensiv auseinandersetzte.

Für den Erfolg seiner Arbeit war es wichtig, einen gewissen Abstand zu wahren. Was ihm nicht schwerfiel.

Die Kunst des Abstandhaltens hatte Jack schon lange vor seinem Medizinstudium perfektioniert. Abhärtung – körperlich und seelisch – war das oberste Erziehungsziel seiner Eltern gewesen. Also hatte er seine Gefühle abgehärtet, stets darauf bedacht, anderen gegenüber nie preiszugeben, was er wirklich empfand.

Nein, die perfekte Familie gab es nicht.

Natürlich hatte er dieses Thema nie mit einer seiner vielen Freundinnen besprochen. So nah ließ er keine Frau an sich heran. Er hatte gelernt, das Carter-Image aufrechtzuerhalten. Damit war er im Leben immer gut gefahren.

„Suchst du etwas, Jack?“, unterbrach Schwester Cindy seine Gedanken.

„Nein. Ich schau einfach nur mal nach dem Rechten. Wie macht sich Baby Sienna?“

„Erstaunlich gut. Manchmal ist sie noch ein bisschen unruhig, insgesamt wirkt sie aber ziemlich ausgeglichen. Sie nimmt brav zu, und ihre Mum hat sie heute Morgen gebadet. Wie ist das Meeting gelaufen?“

„Na, wie schon?“ Jack zuckte die Achseln. „Entlassung nach Hause, entwicklungspsychologische und sozialmedizinische Nachsorge, engmaschige Kontrollen.“ Er sah Cindy fragend an. Sie arbeitete schon seit einer halben Ewigkeit im Angel’s, und vor ein paar Jahren hatte Jack eine kurze, leidenschaftliche Affäre mit ihr. Was ihr Arbeitsverhältnis nicht getrübt hatte. Jetzt war Cindy glücklich verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Jack schätzte ihre Meinung sehr. „Wie denkst du darüber?“

„Tja, du hast meinen Bericht gelesen. Die Mutter strengt sich wirklich an …“

„Aber was denkst du?“

„Diesmal ist es keine Eintagsfliege. Ich glaube, sie kriegt endlich die Kurve.“

Cindy entfernte sich, um nach einem schreienden Säugling zu sehen. Jacks Blick fiel wieder auf das kleine Wesen in dem Gitterbettchen hinter der Glasscheibe. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob dies nicht der völlig falsche Job für ihn war.

Er machte seine Arbeit gut, perfekt sogar, wenn man der Krankenhausleitung glauben wollte. Stemmte mühelos eine Sechzigstundenwoche, dazu noch ein ausgedehntes Gesellschaftsleben. So manch einer hätte da längst schlappgemacht.

Jack aber nicht.

Er leistete ausgezeichnete Arbeit.

Eine Arbeit, die er nicht ausstehen konnte.

Wie es sich wohl anfühlte, für seine Arbeit zu brennen, so wie Nina?

Er dachte an das leichte Beben in ihrer Stimme, wenn sie eine ihre flammenden Reden hielt, ihr Engagement für die Familien, die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen, sich voll und ganz für einen Fall einzusetzen. Manchmal wünschte er, er besäße auch nur ein Zehntel ihrer Leidenschaft.

Nachdenklich betrachtete er die kleine Sienna. Hoffte, dass man hier alles Menschenmögliche für sie getan hatte. Sie hatte die besten Ärzte, Schwestern, Sozialarbeiter – aber war das genug?

Hinter ihm betrat Nina den Raum, und Jack drehte sich um.

„Wie geht es ihr?“, fragte sie ihn. Hatte man Jack gerufen, weil es ein Problem gab?

„Gut.“

„Ist Hannah hier?“

„Nein. Wahrscheinlich ist sie bei einer Therapiesitzung.“

„Ach so.“ Zögernd trat sie ein bisschen dichter an das Kinderbett heran, warf ein unsicheres Lächeln in Jacks Richtung. Er schien in ungewohnt grüblerischer Stimmung. So kannte sie ihn gar nicht.

„Ich habe Eleanor gerade erklärt, dass wir die Kleine engmaschig …“, begann sie.

„Danke, ich lese mir Ihren Bericht durch“, fiel er ihr ins Wort.

„Aber natürlich tun Sie das.“ In ihrem Ton schwang ein Anflug von Ironie mit, den sie sofort bereute. Jack hatte das nicht verdient, er machte wirklich einen tollen Job.

„All die Ressourcen, die Sie für Sienna und ihre Familie heranziehen …“ Seine Stimme klang stahlhart. „Was glauben Sie, wo das alles herkommt?“

Achselzuckend gestand sie sich ein, dass sie wohl ein bisschen zu weit gegangen war. Sie hatte ihn ärgern wollen, als Revanche für seine Worte beim Meeting. Offensichtlich war ihr das gelungen.

Mit einem knappen Nicken ließ Jack Nina stehen und fuhr mit dem Fahrstuhl in die untere Etage, wo sich die Notaufnahme befand. Dort war er mit einer prominenten Sponsorin des Krankenhauses verabredet.

Wie satt er das hatte!

Er hasste es, sich einzuschmeicheln, nur um einen möglichst dicken Scheck zu kassieren.

Vielleicht war es wirklich höchste Zeit für eine Veränderung. Dank seiner privilegierten Herkunft und ein paar kluger Investitionen könnte er es sich locker leisten, die Arbeit hinzuschmeißen und nie wieder einen Finger zu rühren.

Aber was dann?

Sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten? Eine Privatpraxis in der Park Avenue gründen, um ein paar handverlesene Patienten zusammenzuflicken?

Eine Praxis, die keine allzu großen Herausforderungen parat hielt.

Arbeitsbeginn morgens um neun. Ein paar Patienten durchschleusen. Dankbare Worte und einen dicken Scheck kassieren. Um sechs Uhr abends nach Hause fahren.

Nach Hause?

„Hey, Kumpel.“

Beim Klang der wohlbekannten Stimme blickte er auf, und die düsteren Gedanken verflogen.

„Alex!“ Herzlich schüttelte Jack seinem Kollegen die Hand. „Schön, dich zu sehen. Dein erster Tag?“

„Genau.“

„Und?“

„Es läuft ganz gut“, erwiderte Alex.

Die beiden hatten sich während des Medizinstudiums kennen- und schätzen gelernt. Beide waren sie extrem ehrgeizig gewesen, fest entschlossen, jede Herausforderung perfekt zu meistern. Mit seiner Spezialisierung auf Kinderheilkunde hatte Jack gewissermaßen die Abkürzung genommen, während Alex Rodriguez erst kürzlich sein Studium der Neurochirurgie abgeschlossen hatte und jetzt seine erste Stelle antrat.

Die er nicht zuletzt Jacks Einfluss zu verdanken hatte. Alex’ Qualifikation war nicht das Thema, vielmehr ein dunkler Punkt in seinem Lebenslauf, über den der Verwaltungsrat großzügig hinweggesehen hatte.

„Ich habe dir noch gar nicht für deine Unterstützung gedankt“, sagte Alex jetzt.

„Die hattest du doch gar nicht nötig“, erwiderte Jack leichthin. „Du hast sie beim Vorstellungsgespräch sofort alle in die Tasche gesteckt.“

„Danke.“ Alex zögerte einen Moment. „Ich war so erleichtert, dass das Thema nicht auf …“ Er verstummte.

Überflüssig, weiter ins Detail zu gehen, Jack wusste ja Bescheid über den Fall damals in Los Angeles, der Alex nicht nur beruflich fast zerstört hätte. Gleichzeitig wusste Jack auch, dass es keinen Besseren für die freie Stelle im Angel’s gab.

„Das ist doch alles längst Schnee von gestern.“

„Yep.“ Bevor er sich von Jack verabschiedete, fragte Alex noch: „Alles okay mit dir?“

„Ja, wieso?“

„Ich sehe Gewitter im Anzug.“ Alex lächelte spöttisch. „Hab ich gleich gemerkt – das ist nicht der Jack, den ich kenne.“

„Na ja, du warst während der letzten fünf Jahre schließlich in Australien. Vielleicht ist der gute alte Jack einfach nur ein bisschen älter geworden.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Spaß beiseite. Ich habe gerade eine nervige Sitzung mit einer nervigen Sozialarbeiterin hinter mir.“ Jack verdrehte die Augen. „Du kennst den Typ.“

„Unerträgliches Gutmenschentum und ganzheitliche Herangehensweise?“ Mit verstellter Stimme plusterte Alex sich auf. „Mit der nötigen Betreuung und engmaschiger Kontrolle … Blabla …“ Jetzt musste Jack lachen. „Glaub mir, diesen Typ triffst du überall auf der Welt. Aber sei mal ehrlich, ohne die wäre unsere Arbeit doch langweilig, oder?“

„Stimmt“, räumte Jack ein. „Sorry, ich muss los, eine großzügige Sponsorin bezirzen. Eine kleine private Führung durch unsere Notaufnahme.“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Du verstehst, das kann nicht warten.“

Womöglich war es gar nicht die Sozialabteilung, die ihm so auf die Nerven ging. Womöglich war es der Job an sich. Oder aber eine ganz bestimmte Sozialarbeiterin, schoss es ihm durch den Kopf, als er besagte Nervensäge – rote Strümpfe, lange schwarze Stiefel – schnellen Schrittes den Gang entlangeilen sah. Ihr Pager piepte, im Gefolge hatte sie einen Mann von der Security.

„Probleme?“, erkundigte sich Jack, als sie an ihm vorbeisauste.

Eine Frage, mit der er nur einen irritierten Blick erntete. In Ninas Welt fügte sich normalerweise alles zum Guten.

Auch für Tommy und seinen Vater Mike hatte sie so sehr gehofft, dass die Dinge sich endlich positiv entwickeln würden.

„Halten Sie sich bitte zurück“, wies sie die Security-Leute vor dem Lift an. „Mike neigt zu Wutausbrüchen, aber das ist alles nur heiße Luft. Ich gebe Ihnen ein Zeichen, falls Sie einschreiten müssen.“

An diesem Montagmorgen war in der Notaufnahme die Hölle los. Zu gerne hätte Jack sich sofort in die Arbeit gestürzt. Stattdessen musste er Elspeth Hillier herumführen und ihr erklären, wofür die großzügige Spende im Andenken an den seligen Mr Edgar Hillier bestimmt war.

„Wir hoffen, eine betreute Spielecke einrichten zu können“, begann er, als der Anblick rotbestrumpfter Beine ihn einmal mehr an diesem Tag aus dem Konzept brachte. Nina hastete an der Seite eines aufgebrachten Mannes mit einem blassen Kind in den Armen den Korridor entlang, Alex Rodriguez im Schlepptau. Flankiert wurde die kleine Gruppe von zwei Security-Leuten.

Jack versuchte sich wieder auf seinen Gast zu konzentrieren, als die Situation zu eskalieren drohte.

„Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, Elspeth …“

Alarmiert beobachtete er das Geschehen vor dem Fahrstuhl. Der Mann mit dem Kind im Arm tobte, während die Sicherheitsleute drohende Mienen aufsetzten und Alex kurz davor schien, die Cops zu rufen. Einzig und allein Nina behauptete resolut und völlig ruhig ihre Stellung, redete auf den wütenden Mann ein. Ihre Worte zeigten Wirkung, denn jetzt übergab der Mann den Jungen einer Krankenschwester.

Jack wollte sich schon wieder seinem Gast zuwenden, als die Situation ausuferte.

„Verdammt, wofür halten Sie sich?“, brüllte der Mann Nina an und drängte sie drohend gegen die Wand, völlig unbeeindruckt von den Security-Männern.

„Danke, ich komme allein klar“, versuchte sie, immer noch gelassen, die Wachmänner zurückzuhalten, die Anstalten machten, den wütenden Mann zu packen.

Nein, sie kam nicht klar, daran zweifelte Jack keine Sekunde. Wie sollte sie auch gegen diese geballte männliche Wut? Er hätte ihr vertraut, schrie Mike sie an, und sie sollte ihn eigentlich besser kennen. Wie sie nur auf die Idee käme, dass er seinem Sohn etwas antun würde?

„Beruhigen Sie sich, Mike“, sagte Nina gelassen, während der Mann weitertobte. „Niemand macht Ihnen Vorwürfe. Aber Tommy sieht krank aus, und es wäre besser, ein Arzt schaut ihn sich mal an. Die Wunde, die er da am Arm hat, wirkt entzündet.“

„Sie, Sie …“

Bevor der Mann seine nächste Beleidigung loslassen konnte, schritt Jack ein. „Jack Carter, Chefarzt der Pädiatrie. Würden Sie mir bitte sagen, was hier vorgeht?“

„Ich hab das im Griff, vielen Dank, Jack.“

Ihre Stimme vibrierte vor Ärger, und er schüttelte ungläubig den Kopf, als ihm bewusst wurde, wem ihre Verärgerung galt. Ihm! Egal.

Er ignorierte Nina und richtete den stahlharten Blick auf den Mann. „Sir?“ Sein Ton klang drohend.

Und verfehlte seine Wirkung nicht.

Immer noch aufgebracht, aber schon etwas beherrschter, antwortete der Mann: „Tommy hatte heute einen Termin beim Kinderpsychologen, und es schien auch alles okay zu sein. Doch dann meinte jemand, dass die Wunde an seiner Hand untersucht werden muss. Ich wollte ihn aber nach Hause bringen, weil er müde ist. Plötzlich tauchte sie mit der Security auf. Jetzt gehen hier alle auf mich los, weil ein Vierjähriger eine Schnittwunde an der Hand hat. Wie irre ist das denn?“

„Die Wunde scheint entzündet zu sein“, beharrte Nina. „Jemand muss sie sich anschauen, so einfach ist das, Mike.“

„Wie ist das passiert?“, wollte Jack wissen.

„Keine Ahnung“, brauste Mike auf. „Mann, er ist erst vier. Die fallen ständig auf die Nase.“

„Stimmt.“ Jack nickte bedächtig. „Ich werde ihn mir gleich mal selbst ansehen. Von Ihnen erwarte ich, dass Sie sich beruhigen, bevor Sie zu ihm gehen. In Ihrer Verfassung machen Sie Ihrem Sohn Angst.“ Er bedeutete Nina mit einem raschen Nicken, ihm zu folgen.

„Es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte …“, setzte Nina an.

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, unterbrach Jack sie. „Im Moment interessiert mich allerdings nur der Gesundheitszustand des Kindes.“

„Der Vater kann manchmal ziemlich aufbrausend sein, aber bei seinem Sohn reißt er sich immer zusammen.“

Ihre Vorträge waren wirklich das Letzte, was er jetzt hören wollte. Sein einziger Gedanke galt dem Wohlergehen des Kindes – und Ninas Sicherheit. „Ich muss nachher noch mal kurz mit Ihnen sprechen, ja? Es geht um ein paar Sicherheitshinweise. Ich sehe es nämlich gar nicht gerne, wenn das Personal unnötige Risiken eingeht.“

„Ich kenne die Familie und weiß genau, worauf ich mich einlasse.“

„Wie gesagt, reden wir später darüber“, erklärte Jack energisch.

„Wenn ich Ihnen nur kurz ein paar Worte zu Tommy sagen darf …“

„Bitte nicht jetzt. Okay?“

Und schon ließ er sie stehen. Wenigstens hatte er ihr keine Vorwürfe gemacht wie sonst.

Aber im Moment hatte Nina keine Zeit, sich den Kopf über Dr. Perfect zu zerbrechen. Stattdessen wandte sie sich Mike zu, dessen Wut in Verzweiflung umgeschlagen war. Mit vors Gesicht geschlagenen Händen ließ er sich auf einen Stuhl sinken und fing an zu schluchzen.

„Ich wollte ihm doch keine Angst machen.“ Mike war jetzt völlig außer sich.

„Das weiß ich“, sagte Nina. „Was ist los, Mike?“

„Nichts.“

„Wann hat Tommy sich diese Wunde zugezogen?“

„Keine Ahnung, vor ein paar Tagen … ich muss jetzt zu ihm.“

„Später. Bleiben Sie noch ein Weilchen hier sitzen. Sobald sich die Dinge beruhigt haben, komme ich zurück, und wir unterhalten uns in Ruhe.“

„Aber ich sollte bei ihm sein.“

„Sie können jetzt nicht bei ihm sein, weil Sie gerade völlig die Beherrschung verloren haben, Mike! Sie haben es gründlich vermasselt, also seien Sie jetzt endlich vernünftig und hören Sie auf mich. Ich gehe jetzt zu ihm. Tommy kennt mich, es wird ihn beruhigen, wenn ich ein bisschen bei ihm bleibe.“

Sie erkundigte sich bei einer Schwester, wo Tommy war, dann klopfte Nina an die Tür des Untersuchungsraums und trat ein.

„Tolles Timing.“ In Jacks Stimme schwang Besorgnis mit. „Ich war kurz davor, Sie ausrufen zu lassen.“

Ihr Blick fiel auf Tommy, der jetzt in einem Krankenhaushemd steckte. Erschrocken betrachtete sie den blassen, malträtierten jungen Körper. Deswegen hatte Jack sie ausrufen lassen wollen. Sie sah ihn an, und sein Blick sprach Bände.

Genauso hatte er sie angesehen, nachdem die Sache mit Baby Tanner schiefgegangen war.

Diesen Blick kannte sie von Jack Carter nur zu gut.

Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt.

3. KAPITEL

„Entschuldige mich bitte eine Minute, Tommy.“ Jack verließ den Raum, machte die Tür aber nicht zu, was Nina so deutete, dass sie ihm folgen sollte. Ein Irrtum, wie sich herausstellte, als sie ihn mit einer älteren, sehr eleganten Dame sprechen sah. Wieder zurück, sagte er: „Ich muss gleich noch mal los, warte nur noch auf eine Vertretung, die hier übernimmt.“

„Kann ich noch kurz etwas mit Ihnen besprechen, Jack?“ Mit einem frustrierten Seufzer nickte er. „Tommy ist ein sehr behütetes Kind. Anfangs hatte er keinen Zugang zu seinem Vater, nur zu mir, aber während der letzten Monate …“

Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, wie Jacks graue Augen sich umwölkten. „Wollen Sie nicht hören, was ich zu sagen habe?“

„Im Moment nicht. Lieber würde ich von dem Jungen selbst erfahren, was passiert ist. Da Sie die Familie kennen und Tommy Ihnen vertraut, hätte ich gern, dass Sie dabei sind. Glauben Sie, Sie schaffen das?“

„Natürlich, aber …“

„Für mich zählen nur Fakten, Nina“, unterbrach er sie. „Und ich bilde mir gerne meine eigene Meinung. Also würde ich es begrüßen, wenn Sie mir nicht Ihre Sichtweise überstülpen wollten, okay?“

„Okay.“

Ohne Zweifel, er war arrogant, herablassend, sogar unverschämt. Umso mehr erstaunte es Nina, wie einfühlsam er mit dem Jungen umging. Ohne ihn zu bedrängen, plauderte Jack ganz unverfänglich ein paar Minuten mit ihm, bevor er begann, ein paar beiläufige Fragen zu stellen. Als Erstes über Tommys Eltern.

„Tommys Mum ist tot“, warf Nina leise ein. Hoffentlich kam er sich jetzt wie ein Schuft vor, weil er sie vorher nicht hatte ausreden lassen.

Jack hatte gehofft, dem Jungen ein paar Worte entlocken zu können. Doch der Junge saß nur blass und schweigend da, sein dunkler Lockenschopf zerzaust und ungewaschen.

„Okay, Tommy.“ Jack zog sich ein Paar Untersuchungshandschuhe über. „Jetzt wollen wir uns mal deine Wunde ansehen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag gönnte er Nina ein Lächeln, natürlich nur zum Wohl seines kleinen Patienten, wie sie wusste. „Du kennst Nina, oder?“

Tommys Blick huschte in ihre Richtung, und sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Wir haben uns schon ein paarmal getroffen, stimmt’s, Tommy?“

Sie kam zu ihm, um sich die Verletzung anzuschauen. Eine tiefe Wunde, entzündet und feuerrot. Selbst sie konnte sehen, dass die Verletzung sofort von einem Arzt hätte behandelt werden müssen. „Das sieht aber böse aus. Was ist passiert?“ Als sie die Verwirrung im Blick des Jungen bemerkte, fügte sie beruhigend hinzu: „Ist schon gut, Tommy. Wir müssen wissen, was passiert ist, um dir helfen zu können.“

„Wo ist Dad?“ Die Frage war an Nina gerichtet. Es waren die ersten Worte, die Jack aus dem Mund des Jungen hörte.

„Dad ist unten, um eine Tasse Kaffee zu trinken.“

Jack erkannte, was sie dem Jungen mit ihren Worten vermitteln wollte: dass sein Vater außer Hörweite war und er frei sprechen konnte. Wieder erkundigte sie sich nach der Schnittwunde.

„Ich weiß nicht.“

Vorsichtig begann Jack, den Jungen zu untersuchen, tastete den kleinen Bauch ab, fuhr mit den Fingern über die Rippen, wobei ihm nicht verborgen blieb, wie Tommy zusammenzuckte. Er hatte gerade sein Stethoskop angesetzt, um die Lunge des Jungen abzuhorchen, als jemand den Untersuchungsraum betrat.

„Sorry, dass ich einfach so hereinplatzte.“ Die junge Frau lächelte. „Ich bin die Assistenzärztin, Lorna Harris.“

„Schon gut, Lorna, ich kümmere mich selbst um den Jungen“, wollte Jack die junge Frau gerade wieder entlassen. Da steckte eine Schwester den Kopf zur Tür herein und verkündete, dass Elspeth langsam ungeduldig wurde.

Gereizt schloss Jack die Augen. Als er sie wieder öffnete, begegnete er den fragenden Blicken der beiden jungen Frauen. Zum ersten Mal an diesem Tag sprach er aus, was er wirklich dachte: „Wissen Sie, was ich am Spendenrummel am meisten hasse?“

Seine Worte waren mehr an sich selbst gerichtet als an irgendjemanden sonst, und er erwartete auch keine Antwort. Umso mehr schien es ihn zu verblüffen, als Nina leise erwiderte: „Den Preis, den Sie dafür zahlen müssen?“

Er quittierte ihre Bemerkung mit einem ironischen Lächeln, registrierte leicht amüsiert, wie ihre Wangen sich röteten, während er ihren Blick festhielt. Schade. Gerade jetzt, wo es interessant zu werden begann, musste er gehen. Die Welt da draußen wartete. Bedauernd wandte er sich Tommy zu und erklärte ihm, dass Lorna sich jetzt um ihn kümmern würde.

„Kommen Sie noch mal wieder?“, fragte Tommy plötzlich.

Normalerweise hatte Jack ein ganzes Repertoire unverbindlicher Antworten auf solche Fragen parat. Aber dieser Junge hatte außer mit Nina nur mit ihm geredet. Er verdiente eine ehrliche Antwort. Und er verdiente es, dass man seinem Fall auf den Grund ging. Zum ersten Mal war Jack bereit, seine Prinzipien über Bord zu werfen und sich auf das Schicksal eines Patienten einzulassen.

„Ich sehe später noch mal nach dir, wahrscheinlich aber erst abends. Da schläfst du bestimmt schon.“ Nachdem er Lorna Tommys Unterlagen in die Hand gedrückt hatte, eilte er wortlos aus dem Raum.

Und ließ eine leicht irritierte Nina zurück. Das flüchtige Einverständnis zwischen ihnen hatte sie verwirrt, wie so vieles an diesem Mann sie verwirrte. Bis jetzt hatte sie Jack Carter immer für ziemlich oberflächlich gehalten. Einen verwöhnten Spross reicher Eltern, der Spaß daran hatte, Doktor zu spielen. Doch heute hatte sie gespürt, wie wichtig er Tommy genommen hatte. Er wäre viel lieber hiergeblieben, als sich draußen mit einer vermutlich anspruchsvollen Wohltäterin abzugeben.

Zum ersten Mal fragte Nina sich, ob er es wirklich immer so leicht hatte. Aber ihr blieb keine Zeit, weiter über den widersprüchlichen Charakter von Dr. Jack Carter nachzugrübeln.

Eine weitere vorsichtige Befragung von Tommy ergab, dass sein Vater heute Morgen ziemlich sauer gewesen war, weil der Junge plötzlich wieder ins Bett gemacht hatte. Mehr war aus Tommy nicht rauszukriegen.

Lorna hatte sich ihre Meinung rasch gebildet. Für sie war klar, dass Mike seinen Sohn misshandelt hatte. In ihrem Urteil sah sie sich bestätigt, als eine Röntgenuntersuchung zwei gebrochene Rippen ergab. Also ordnete sie eine Blutentnahme und einen Ganzkörperscan an, Routine bei Verdacht auf Kindesmisshandlung. Was bedeutete, dass Mike seinen Sohn vorerst nur unter Aufsicht würde besuchen dürfen.

Nina blieb skeptisch – trotz der scheinbar eindeutigen Fakten. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Mike für die Verletzungen seines Sohnes verantwortlich war.

Nachdem sie abends noch einmal rasch bei Tommy reingeschaut hatte, suchte sie Jack in seinem Büro auf.

Jack blickte fragend von Tommys Krankenbericht auf seinem Monitor hoch. Ninas heute Morgen noch so sorgfältig hochgestecktes Haar begann sich zu lösen und umrahmte in sanften Locken ihr Gesicht. Sie muss völlig erschöpft sein, dachte er, als er sich daran erinnerte, dass sie schon vor Dienstbeginn zu einem Notfall gerufen worden war.

Wieder einmal fragte er sich, ob es wohl auch einen Mr Wilson gab. Nein, tippte er, sonst wäre sie vorhin nicht so entzückend errötet.

Sofort verscheuchte er diesen irritierenden Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Bericht. Das Letzte, was er brauchen konnte, war eine Affäre mit einer Frau wie Nina Wilson.

Denk nicht mal dran! Jack schmunzelte in sich hinein. Wahrscheinlich war sein eigener Schlafmangel schuld, dass seine Gedanken so seltsame Wege gingen.

Trotzdem musste er Nina wieder ansehen. Sie war zweifellos müde, das ja, wirkte aber gleichzeitig auch ruhig und konzentriert. Wo nahm sie bloß diese Stärke her?

Er begegnete ihrem Blick, und plötzlich war er es, der sich verunsichert fühlte. Als hätte man ihn dabei erwischt, wie er sie lüstern anstarrte. Doch er wich ihrem Blick nicht aus, sah ihr gelassen entgegen, während sie auf ihn zukam.

„Nina.“ Er nickte ihr freundlich zu.

„Kann ich kurz mit Ihnen reden?“

„Klar.“

„Ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen.“ Ihr Lächeln wirkte angespannt. „Nichts Neues eigentlich … ich mache mir ständig Sorgen. Aber heute ganz besonders.“

„Ich höre.“

„Tja, gerade habe ich mich noch mal ziemlich lange mit Mike unterhalten. Ich glaube nicht, dass er für Tommys Verletzungen verantwortlich ist.“ Eindringlich fügte sie hinzu: „Haben Sie meinen Bericht gelesen?“

„Noch nicht ganz, ich habe gerade eben angefangen.“ Auch etwas, was ihn an seiner Arbeit frustrierte. Dass er nie Zeit hatte, sich in Ruhe hinzusetzen und die Berichte zu studieren. „Schießen Sie los, was haben Sie auf dem Herzen?“

Sie atmete erleichtert auf, bevor sie anfing: „Ich arbeite jetzt seit sechs Monaten mit dieser Familie, seit dem Tod der Mutter. Finanziell ging es ihnen nie gut. Unter der Woche war Mike regelmäßig weg, um irgendwo zu arbeiten, und an den Wochenenden verkroch sich die Mutter mit dem Sohn meistens bei ihrer Mutter. Mike hat Tommy also kaum zu Gesicht bekommen. Vor sechs Monaten dann hatten Mike und Kathy Streit, bevor Mike wegfuhr, um zu arbeiten. Abends rief er sie nicht wie sonst an, erst am nächsten Tag. Als Kathy nicht ranging, machte er sich keine großen Sorgen, weil er glaubte, sie sei noch böse auf ihn.“

Nina seufzte. „Er versuchte es noch ein paarmal, und als er sie auch dann nicht erreichen konnte, rief er einen Nachbarn an, um ihn zu bitten, nach dem Rechten zu sehen. Der Mann fand Kathy tot auf, neben ihr einen völlig verstörten hungrigen und dehydrierten Tommy …“

Eine traurige Geschichte, wie Jack sie ähnlich schon viel zu oft gehört hatte. Die Tränen, die jetzt in Ninas Augen schimmerten, nervten ihn. Es stimmte ihn gereizt, dass sie sich dermaßen in den Fall involvierte.

„Selbstverständlich verdächtigte man auch Mike, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun zu haben. Seitdem betreue ich die beiden“, erzählte Nina weiter.

„Okay.“ Jacks Miene war verschlossen, aber er hörte wenigstens aufmerksam zu, das merkte Nina.

„Natürlich leidet Tommy noch unter dem Trauma, den Tod seiner Mutter mitzuerleben. Abgesehen davon, gab es immer massive Probleme mit der Vater-Sohn-Bindung.“

„Können Sie mir das bitte näher erklären?“

„Ganz zu Anfang fiel mir auf, dass Tommy viel intensiver auf mich reagierte als auf seinen Vater. Wie Sie sicher wissen, verhalten sich Kinder normalerweise Fremden gegenüber eher unsicher. Nicht in diesem Fall. Meine Aufgabe war es, die Vater-Kind-Bindung zu stärken, während die Psychologin mit Tommy an seinem Trauma über den Verlust der Mutter arbeitete. Vater und Sohn machten rasche Fortschritte miteinander. Sie halten jetzt richtig gut zusammen, und Tommy möchte seinen Vater dringend sehen.“

„Der Vater hat ganz eindeutig ein Aggressionsproblem.“

„Stimmt. Aber mit Tommy ist er nie so.“

„Wirklich nie?“

„Okay, heute Morgen war er sauer wegen des Malheurs im Bett, aber mehr aus Frustration und Sorge. Er kann sich ebenfalls keinen Reim auf die Prellungen und die entzündete Wunde machen. Mike fürchtete, die Ärzte würden sofort falsche Schlüsse daraus ziehen. Deswegen wollte er Tommy nicht untersuchen lassen. Ein fürchterlicher Fehler, ich weiß …“

Jack nickte ernst. Ja, ein fürchterlicher Fehler, den leider viele Eltern begingen.

„Ich erinnere mich noch an einen Fall, da rührten die blauen Flecken daher, dass das Kind Leukämie hatte. Was viel zu spät erkannt wurde, weil die Eltern Angst hatten, wegen Kindesmisshandlung angezeigt zu werden.“

„Wir haben seine Laborwerte genommen.“ Jack schüttelte den Kopf. „Tommy hat keine Leukämie. Die würde übrigens auch nicht die beiden gebrochenen Rippen und die infizierte Wunde erklären. Dazu kommt, dass er wieder angefangen hat, das Bett zu nässen.“

„Schön.“

Jack furchte die Stirn. „Was soll das heißen?“

„Sie haben sich also schon Ihre Meinung gebildet.“ Schon war Nina aufgesprungen und rauschte aus seinem Büro. Er sah sie im Schwesternzimmern verschwinden, wo sie sich hinter dem PC verschanzte und aufgebracht auf der Tastatur herumzuhämmern begann.

Was war sie nur für eine hitzige kleine Person! Am liebsten wäre er zu ihr rübergegangen, um ihr sanft auf die Schulter zu klopfen und ihr zu sagen: Keine Angst, ich ziehe keine voreiligen Schlüsse, und nein, ich habe mir noch keine Meinung über den Fall gebildet. Bevor ich das tue, studiere ich erst mal genau die Patientenberichte.

Und genau das würde er jetzt auch tun.

Zunächst vertiefte er sich in das psychologische Gutachten, das sich vorrangig mit dem frühen Verlust der Mutter beschäftigte. Dann las er Ninas Berichte, die sehr detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen die positive Entwicklung des Jungen aufzeichneten.

Was war da plötzlich schiefgegangen?

Jack blickte auf und bemerkte, wie Nina gähnte und aufstand, um sich ein Glas Wasser zu holen. Anschließend überflog sie noch einmal stirnrunzelnd, was sie gerade geschrieben hatte, und schickte das Dokument ins Intranet. Plötzlich erschien auf Jacks Bildschirm ein Update.

Interessiert vertiefte er sich in ihre neuen Anmerkungen. Brillant geschrieben wie immer. Einfühlsam, trotzdem stets objektiv schilderte sie detailliert die Ereignisse des heutigen Tages. Aufgrund der unklaren Befunde war sie leider gezwungen, bei Gericht einen Eilantrag durchzuboxen, der es Mike verbot, Tommy ohne Aufsicht zu besuchen.

Jack saß da und zermarterte sich das Hirn.

Immerhin war er nicht nur aufgrund seiner gesellschaftlichen Beziehungen Chefarzt der Pädiatrie.

Als er später noch einmal zu Tommy ins Zimmer ging, fand er dort Nina an seinem Bett sitzend vor. Nachdenklich strich sie dem schlafenden Jungen über die zerzausten Haare. „Bringen Sie sich bei jedem Ihrer Klienten so intensiv ein?“

„Ja, klar.“ Sie blickte auf. „Die Unterstützung meiner Abteilung ist alles, was die Kleinen haben.“

„Schwestern und Ärzte sind doch auch noch da.“

„Das ist nicht dasselbe. Nehmen Sie zum Beispiel Tommy. Er sehnt sich nach seinem Vater, aber wegen der unklaren Befunde musste ich einen Gerichtsbeschluss erwirken, der den Kontakt zwischen Vater und Sohn einschränkt. Eine solche Entscheidung nimmt man nicht auf die leichte Schulter. Morgen um neun kommt eine Sozialarbeiterin, die anwesend sein wird, wenn Mike seinen Sohn besuchen darf. Aber wissen Sie was? Eigentlich braucht Tommy seinen Vater heute Nacht hier an seinem Bett.“

„Ich bin gerade noch mal seine Akte durchgegangen“, begann Jack, als der schlafende Junge plötzlich zu weinen begann. Nina wollte tröstend den Arm um ihn legen, da setzte sich Tommy abrupt auf und riss in blankem Entsetzen die Augen auf.

„Schon okay, Tommy“, versuchte Nina ihn zu beschwichtigen. Sie nahm an, der Junge hätte einen Albtraum gehabt.

Doch Jack wusste es besser. Sofort schickte er Nina raus, während er gleichzeitig den Schwesternotruf betätigte. Ihn überfiel eine schreckliche Ahnung, was wirklich mit Tommy los war. Der Junge war nicht aufgewacht. Er machte gerade eine Panikattacke durch, wie sie oft einem zerebralen Krampfanfall voranging. Schon spannte sich sein kleiner, ausgemergelter Körper wie eine Feder. Jack hielt den gepeinigten Jungen fest, bis der Krampf sich allmählich löste und die Muskeln des Jungen erschlafften.

Erschüttert beobachtete Nina das Geschehen vom Flur aus. Sie war jetzt hier überflüssig, Tommy brauchte medizinische Hilfe. Also fuhr sie wohl am besten nach Hause, um nicht im Weg zu sein.

Doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren.

Im Eilschritt rollten zwei Schwestern einen Laborwagen herbei. Jack legte dem Jungen einen intravenösen Zugang und injizierte Medikamente.

Mit zitternden Knien ging Nina ins Schwesternzimmer, ließ sich dort erschöpft auf einen Stuhl sinken und wartete. Nach einer Weile kam Jack, um ihr mit grimmiger Miene mitzuteilen: „Er ist jetzt anästhesiert und wird gerade für ein Schädel-CT nach unten gebracht. Sie müssen seinen Vater verständigen.“

„Was soll ich ihm erzählen?“

„Dass er so schnell wie möglich herkommen soll. Die schlechte Nachricht bringe ich ihm dann bei. Es steht gar nicht gut um Tommy.“

Es wurde eine fürchterliche Nacht.

Mike war völlig außer sich. Irgendwann traf auch Lorianna ein, die diensthabende Sozialarbeiterin, um Nina abzulösen. Doch die brachte es nicht über sich, nach Hause zu fahren.

„Es ist schon nach eins, und morgen früh musst du wieder ausgeruht hier auf der Matte stehen“, sagte Lorianna.

„Ich möchte noch die Untersuchungsergebnisse abwarten.“

„Die sind morgen früh immer noch dieselben“, erwiderte Lorianna in ihrer praktischen Art. „Du musst jetzt wirklich loslassen und nach Hause gehen. Das weißt du.“

Ja, das wusste Nina.

Morgen wurde sie von anderen Kindern und Familien gebraucht, und zwar wach und ausgeruht. Es wäre nicht fair, ihnen nicht dieselbe ungeteilte Aufmerksamkeit und dasselbe Engagement zu widmen wie Tommy. Andererseits fühlte es sich so schrecklich falsch an, jetzt zu gehen …

Benommen vor Erschöpfung, überquerte sie den dunklen, menschenleeren Krankenhausparkplatz Richtung Straße, um nach einem Taxi Ausschau zu halten. Als ein Wagen neben ihr bremste, fuhr sie zusammen. Durch das geöffnete Fenster rief der Fahrer ihr zu: „Kann ich Sie vielleicht irgendwo absetzen?“

Jack. In seinem Luxusschlitten.

„Nein, danke.“

„Ich wollte sowieso noch mit Ihnen sprechen – diesmal hatten Sie recht.“

„Wie bitte?“

„Es war kein Schädeltrauma, was den Krampfanfall verursacht hat. Der Junge hat eine Hirnläsion, dessen Ursache wir noch klären müssen. Wie gesagt, ein durch einen Schlag zugeführtes Trauma konnten wir nicht feststellen.“

Ernst fügte er hinzu: „Alex Rodriguez ist gerade gekommen, er spricht jetzt mit dem Vater.“

Langsam fuhr Jack neben Nina her, die rasch weiterging. Die Sohlen ihrer Stiefel knirschten auf dem eisverkrusteten Bürgersteig, und weiße Atemwölkchen bildeten sich vor ihrem Mund, während sie sich bemühte, die Beherrschung zu wahren.

„Was soll’s, da sieht man’s mal wieder. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Schein trügen kann. Nina, nun machen Sie schon, steigen …“

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

„Was soll’s?“, fauchte sie ihn an und kämpfte mit Tränen der Wut. „Was soll’s? Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“ Nina wusste, sie sollte jetzt besser den Mund halten, sich ins nächstbeste Taxi setzen und zu Hause gründlich ausschlafen. Aber sie tat es nicht. „Soll das etwa heißen, dass Tommy einen Gehirntumor hat? Oh, hallo, Nina, was ich Ihnen noch erzählen wollte …

„Ich versuche, Ihnen zu erklären …“

„Großartig! Haben Sie überhaupt ein einziges Mal richtig zugehört? Anscheinend machen Sie sich keinen Begriff davon, was Tommy und Mike alles durchgemacht haben. Und jetzt stellt sich heraus, dass Tommy einen Gehirntumor hat? Wahrscheinlich erwarten Sie noch einen kleinen Freudentanz von mir, weil ich recht hatte, dass Mike seinen Sohn nicht misshandelt hat? Tja, dann können Sie lange warten. Im Gegensatz zu Ihnen neige ich nicht zu Schadenfreude.“

„Jetzt warten Sie doch mal …“ Jack parkte am Straßenrand und stieg aus.

Völlig erledigt stand Nina da und zitterte vor Wut. Die seit Wochen angestauten Schuldgefühle und Frustrierungen machten sich jetzt mit aller Macht Luft.

„Worum geht es hier überhaupt?“ Jack fixierte sie scharf.

„Das wissen Sie doch ganz genau“, fuhr Nina ihn an. „Um Ihren vielsagenden Blick zum Beispiel, als Baby Tanner wieder in die Klinik eingeliefert wurde.“

„Baby Tanner?“, wiederholte er ratlos.

„Der acht Wochen alte kleine Junge, der auf Anraten meiner Abteilung in die Obhut seiner Eltern entlassen wurde …“ Seit der Nacht, als der Junge wiedereingeliefert worden war, litt sie unter Schuldgefühlen. Zu denen sich jetzt ohnmächtige Wut gesellte, als ihr bewusst wurde, dass Jack sich nicht mal an das Kind erinnerte. „Sie haben keine Ahnung, wen ich meine, oder?“

„Nina …“

„Sie erinnern sich wirklich nicht!“ Vor Abscheu spuckte sie die Worte förmlich aus.

„Nina, was Sie nicht verstehen, ist …“

Sie wollte ihn ja gar nicht verstehen, wollte nicht wissen, wie Jack Carter tickte. Sollte er doch verschwinden und sie in Ruhe lassen! „Sie sind so schrecklich professionell und unpersönlich, unfähig, eine menschliche Beziehung zu Ihren Patienten aufzubauen“, schleuderte sie ihm entgegen, kurz davor, völlig die Beherrschung zu verlieren.

Es war zwei Uhr nachts, sie fror entsetzlich, hatte Hunger und war total übermüdet. Was sie allerdings am meisten zur Weißglut brachte, war die Tatsache, dass sie dieses arrogante Scheusal tatsächlich auch jetzt noch attraktiv und zum Dahinschmelzen sexy fand … Wie abgefahren war das denn?!

„Wissen Sie was, Jack?“, zischte sie. „Sie sind ausgebrannt.“

„Oh, ganz und gar nicht, Baby – ich bin noch gar nicht richtig heiß geworden“, erwiderte er mit einem vielsagenden Lächeln.

Baby! Schlimmer konnte es nicht kommen! Dieser chauvinistische Mistkerl wagte es, sie Baby zu nennen?

Sein halb entschuldigendes Achselzucken bedeutete wohl, dass er begriffen hatte, dass er zu weit gegangen war. Er machte ein paar Schritte auf sie zu. „Kommen Sie, steigen Sie endlich ein.“ Jetzt stand er so dicht vor ihr, dass Nina den frischen Duft seines vermutlich sündhaft teuren Aftershaves wahrnahm. „Ich bringe Sie nach Hause.“

„Nein, danke.“

„Sie sind verärgert …“

Die Untertreibung des Jahrhunderts! Nina war richtig wütend. Wütend auf ihn, wütend auf sich selbst, weil seine Nähe ihr Herz schneller schlagen ließ … „Ich bin fuchsteufelswild! Jemand sollte mich festbinden, sonst … sonst …“

Jack Carter besaß auch noch die Frechheit, ihr ins Gesicht zu grinsen!

„Oh, ich bin sicher, das ließe sich arrangieren.“

Ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit der Nacht. Bestimmt würde er sie gleich küssen! Wäre das nicht typisch Jack Carter? Sich auf diese Weise aus der Affäre zu ziehen?

Das Schlimme war, dass Nina es kaum erwarten konnte, von ihm geküsst zu werden. Sie wollte ihn, und das machte ihr Angst.

In seiner Gegenwart war sie einfach nicht mehr sie selbst …

„Ich bringe Sie jetzt nach Hause“, widerholte er, „und wir reden morgen noch mal in aller Ruhe.“

„Es gibt nichts zu bereden“, meinte Nina stur.

„Oh, da bin ich anderer Ansicht. Aber jetzt müssen Sie sich erst mal beruhigen.“

Mit dieser Bemerkung brachte er das Fass zum Überlaufen. Genauso gut hätte er ihr vorwerfen können, sie sei PMS-gesteuert. Was zufällig gerade stimmte … „Oh, ich werde mich schon beruhigen, sobald ich Ihren Anblick nicht mehr ertragen muss!“

„Nina …“ Jack hielt sie am Ärmel fest, als sie weitergehen wollte.

Mit zornblitzenden Augen fuhr sie zu ihm herum. „Bleibt das hier unter uns?“

„Natürlich!“

Ha! Sie hätte schwören können, dass er ein Grinsen unterdrückte.

„Gehen Sie zum Teufel!“

Wie ein lästiges Insekt schüttelte sie ihn ab, stapfte mit großen Schritten weiter über den vereisten Bürgersteig, sorgfältig darauf bedacht, nicht auszurutschen. Das Vergnügen gönne ich ihm nicht, dachte Nina grimmig.

Endlich, ein Taxi! Wild gestikulierend lief sie darauf zu und ließ sich erleichtert auf den Rücksitz fallen. Missgelaunt beobachtete sie, wie Jack in seinem Luxusschlitten sie überholte.

Jack hinter dem Steuer seines Wagens war nicht weniger missgelaunt.

Was zum Teufel war eigentlich los mit Nina Wilson?

Solche Szenen konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.

Und doch ließ die temperamentvolle Nina ihn irgendwie nicht kalt. Er dachte an ihre zornroten Wangen, das Stampfen ihrer Stiefel, die ganze geballte Aggression. Seine beinahe amüsierte Reaktion darauf war so untypisch für ihn. Normalerweise ließ er sich nicht auf erregte Wortgefechte ein. Er sagte einfach, was Sache war, und gut.

Während der Fahrt nach Hause verblasste das Bild der wütenden Nina langsam. Schade, dass er ausgerechnet heute mit Monica Schluss gemacht hatte. Ein bisschen nette Entspannung hätte er jetzt gut gebrauchen können.

Professionell und unpersönlich. Ja, schuldig im Sinne der Anklage.

Aber ausgebrannt?

Nein, da irrte Nina sich gewaltig.

Erleichtert schloss Nina die Wohnungstür hinter sich und sperrte die Welt aus.

Sie würde nicht über Jack nachdenken.

Auch nicht über Tommy.

Nein, sie brauchte dringend Schlaf und hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es manchmal einfach nötig war, alle störenden Gedanken wegzuschieben und für ein Weilchen die Augen zuzumachen.

Trotzdem zitterte ihre Hand, als sie sich ein Glas Milch einschenkte.

Also ging sie noch einmal durch ihr neues Zuhause, in der Hoffnung, so zur Ruhe zu kommen.

Die Wohnung war ihr ganzer Stolz. Seit acht Jahren arbeitete sie darauf hin: ein anständiges Zuhause, in dem sie endlich eine Familie sein konnten.

Als Erstes öffnete sie die Tür zu Blakes zukünftigem Zimmer, betrachtete die großen Umverpackungen, die ein Bett, einen Nachttisch und einen Kleiderschrank enthielten. Leider waren die Heinzelmännchen nicht so freundlich gewesen, die Möbel inzwischen zusammenzubauen. Das würde sie morgen Abend erledigen oder spätestens bei Blakes Besuch am nächsten Wochenende.

Nebenan befand sich das Zimmer, das bald hoffentlich Janeys kleines Reich sein würde. Beim Gedanken an ihre Schwester schnürte es Nina sofort die Kehle zu.

Schon vor dem Tod ihrer Eltern war Janey ein schwieriges, bockiges Kind gewesen. Jetzt mit fünfzehn steckte sie mitten in der Pubertät und balancierte hart am Abgrund zur Kriminalität. Nina machte sich schreckliche Sorgen um ihre kleine Schwester.

Janey sollte bei ihr wohnen, damit sie sie notfalls auffangen konnte. Nina hoffte und betete, dass man ihr bei der Verhandlung in wenigen Wochen endlich das Sorgerecht für ihre beiden Geschwister zusprechen würde.

Ihre Eltern waren bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, da war Nina gerade sechzehn gewesen. Alt genug, um nach Meinung der Behörden für sich selbst zu sorgen, aber zu jung, um ihre ein und sieben Jahre alten Geschwister aufzuziehen. Eine weise Entscheidung, wie sie im Nachhinein erkannte.

Zwei Jahre lang war sie genauso schwierig und wild gewesen wie Janey heute – eigentlich sogar noch schlimmer. Völlig am Boden zerstört durch den Verlust der Eltern und ihrer beiden Geschwister, hatte Nina irgendwann das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen können. Sie verlor ihre Wohnung, und es folgten ein paar Jahre Couchsurfen bei Freunden. Keine einfache Zeit.

Erst der Kontakt mit der ehrenamtlichen Beratungsstelle hatte ihr Leben buchstäblich auf den Kopf gestellt. Dort hatte sie Hilfe – auch finanziell – gefunden. Mit neunzehn schließlich hatte sie angefangen zu studieren und mit dreiundzwanzig ihr Diplom als Sozialarbeiterin gemacht.

Mit dem nicht gerade üppigen Anfangsgehalt hatte sie sich allerdings nur eine winzige Einzimmerwohnung leisten können, war nicht in der Lage gewesen, ihren beiden Geschwistern ein angemessenes Zuhause zu bieten.

Also hatte Nina eisern gespart und jeden Cent zur Seite gelegt, bis sie genug Geld zusammenhatte, um sich diese Dreizimmerwohnung leisten zu können. Endlich konnten die Wilson-Geschwister wie eine richtige kleine Familie zusammenleben.

Das war das Einzige, was zählte.

Und ausgerechnet jetzt hatte sie sich mit dem Chefarzt der Pädiatrie anlegen müssen.

Nina kuschelte sich in ihr warmes Bett und versuchte einzuschlafen. Versuchte sich zu beruhigen, dass er sie schon nicht feuern lassen würde. Immerhin hatte auch er sich danebenbenommen.

Ziemlich heftig sogar.

Während sie in die Dunkelheit starrte, ließ sie sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen – erschüttert, dass sie allein bei der Erinnerung daran heiß erschauerte.

Energisch drehte sie sich auf die Seite und schloss die Augen, als könnte sie so jeden Gedanken an Dr. Perfect aussperren. Was natürlich nicht funktionierte.

Nina fühlte sich schrecklich durcheinander. Ihr Kontakt mit Männern beschränkte sich auf Kollegen und Klienten. Beziehungserfahrung? Fehlanzeige.

An Jack allerdings dachte sie ganz und gar nicht mit professionellem Abstand.

Und das, wo sie sich nichts aus Sex machte … Ohne sich dagegen wehren zu können, überfielen sie die erotischsten Fantasien über Jack, sodass sie seinen Namen laut herausstöhnte.

Mist! Wie sollte sie ihm morgen bloß gegenübertreten?

4. KAPITEL

Doch am nächsten Tag war das gar kein Thema mehr.

Als Nina die Intensivstation betrat, um nach Tommy zu sehen, brach ihr der Anblick von Mikes kummervoller Miene fast das Herz, und alles andere war vergessen. Jack, der gerade mit Alex sprach, nahm sie kaum wahr.

Doch er nahm sie wahr.

Sie trug einen schwarzen Rock und ein jadegrünes Oberteil, farblich dazu passende Strümpfe und hochhackige Stiefeletten. Die dunklen Ringe unter den Augen und ihre auffallende Blässe signalisierten, dass sie nicht genug geschlafen hatte. Trotzdem wirkte sie wie üblich voller Elan.

„Wie geht es Tommy?“, fragte sie mitfühlend.

Mike zuckte hilflos die Schultern. „Er hat schon eine ganze Reihe Untersuchungen hinter sich, fehlt nur noch eine Biopsie. Sie wollen ihn für ein paar Tage künstlich beatmen …“ Er sah sie zerknirscht an. „Tut mir leid wegen gestern.“

„Ach, darüber reden wir ein andermal.“

„Ich glaube, ich habe gespürt, dass irgendetwas ganz fürchterlich nicht mit ihm stimmt … ich habe es nur nicht wahrhaben wollen.“

„Mike, das diskutieren wir später noch in aller Ruhe. Ich habe für morgen Vormittag eine Fallbesprechung anberaumt. Jetzt wollen wir uns ganz auf Tommy konzentrieren. Haben Sie schon Ihre Schwester angerufen?“

Mike nickte. „Sie kommt sofort aus Texas her, sobald sie ihre Kinder untergebracht hat.“

„Gut.“

Jack hatte der Sozialabteilung bis jetzt immer mit ziemlich gemischten Gefühlen gegenübergestanden. Sie machten einen tollen Job, das war ihm schon klar. Doch viel zu oft war er mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden. Heute begriff er zum ersten Mal wirklich, wie wichtig es war, dass sie das gesamte Umfeld ihrer Klienten erfassten.

Mike hatte niemanden, hatte seine Frau und seinen Job verloren. Nun stand auch noch das Leben seines Sohnes auf dem Spiel. Wie gut, dass jemand wusste, da gibt es noch eine Schwester in Texas. Jemanden, der Mikes Ausbruch gestern als Ausrutscher einordnen konnte. Jemanden, der für Mike sprechen konnte, jetzt, wo er sprachlos vor hilfloser Verzweiflung war.

In diesem Fall war dieser jemand Nina. Glück gehabt, Mike, dachte Jack anerkennend.

Ihr Blick streifte ihn flüchtig, blieb dann auf Alex liegen. „Können Sie es einrichten, morgen an einer Fallbesprechung teilzunehmen?“

„Bis morgen sind wir auch noch nicht viel schlauer“, gab Alex zurück.

„Das ist mir klar. Es geht mir darum, die gerichtliche Verfügung gegen Mike zu stoppen und alle auf den neuesten Stand zu bringen.“

Nina wandte sich gerade zum Gehen, da rief Jack: „Bis später dann!“

„Bitte?“ Sie sah ihn irritiert an. „Es ist nicht nötig, dass Sie ebenfalls an dem Meeting teilnehmen.“

„Ich weiß. Aber ich möchte mich gerne über ein paar andere Dinge, die gestern Abend angesprochen wurden, auf den neuesten Stand bringen.“

„Ach so.“

Mist. Sie hatte also vergeblich gehofft, dass er ihren Wutausbruch ignorieren würde. Nina konnte ja selbst kaum glauben, dass sie das gesagt hatte. Und dann auch noch zum Chefarzt der Pädiatrie, Jack Carter höchstpersönlich! Ein völlig unprofessionelles Verhalten, das war ihr natürlich bewusst. Schuld waren ihre völlig unprofessionellen Gefühle für Jack.

Wie konnte es nur passieren, jemanden attraktiv zu finden, den man eigentlich gar nicht ausstehen konnte?

Eine Frage, die sich so leicht nicht beantworten ließ.

Als um drei Uhr nachmittags die Gegensprechanlage auf ihrem Schreibtisch summte und die Sekretärin Jack Carter ankündigte, reagierte Nina fast erleichtert. Jetzt würde reiner Tisch gemacht, gut so.

Am besten brachte sie es so schnell wie möglich hinter sich. „Schicken Sie ihn bitte rein.“

Nina atmete ein paarmal tief durch. Sollte sie aufstehen, um ihn zu begrüßen? Sollte sie sich unaufgefordert entschuldigen und ihr unmögliches Verhalten mit ihrer Erschöpfung gestern Abend erklären?

Während sie noch darüber nachgrübelte, klopfte es an der Tür, und Jack füllte den Raum mit seiner männlichen Präsenz.

„Sie wollten mich also am liebsten zum Teufel schicken?“, meinte er augenzwinkernd.

Jack Carter brachte sie zum Lachen? Dass sie das noch erleben durfte …

„Sie wissen genau, es war nur eine dumme Redensart.“

„Oh, schade.“ Er tat enttäuscht. „Und ich hab mich extra rasiert und fein rausgeputzt für meinen Besuch beim Teufel. Sehen Sie, ich trage sogar meine beste Krawatte.“

Ja, er hatte sich rasiert, und er duftete fantastisch.

Er sah auch fantastisch aus.

Jack konnte letzte Nacht nicht mehr geschlafen haben als sie, trotzdem wirkte er kein bisschen müde. Nach allem, was sie über ihn gehört hatte, war er es gewöhnt, mit einem Minimum an Schlaf auszukommen. Kein Wunder, neben seinem gewaltigen Pensum als Chefarzt der Pädiatrie stemmte er ein ebenso beeindruckendes Pensum an gesellschaftlichen Aktivitäten.

Wahrscheinlich hatte jeder in New York schon mal von den legendären Carters gehört. Den Namen verband man automatisch mit Glamour, unermesslichem Reichtum und rauschenden Festen. Die Klatschblätter titelten regelmäßig mit Jack, immer in Begleitung einer neuen hinreißenden Schönheit. Und in genauso regelmäßigen Abständen erschienen Artikel über die tränenreiche Trennung von seiner letzten Eroberung.

Dazu brauchte Nina gar nicht die Boulevardpresse zu bemühen. Die Einschläge wurden immer dichter, und sie hatte nicht die Absicht, sich in das Heer der abgelegten Freundinnen einzureihen.

„Ich möchte mich gern für meine Ausrutscher gestern Nacht entschuldigen. Es war ein langer, harter Tag, und ich war völlig fertig.“

„Oh, das kann ich gut verstehen.“ Nina hoffte schon, das Thema sei damit erledigt, aber da hatte sie sich geirrt. Eifrig zog Jack sich einen Stuhl heran. „Trotzdem würde ich der Sache gerne noch ein bisschen näher auf den Grund gehen.“

„Nicht nötig, glauben Sie mir.“

„Doch. Auch ich möchte mich nämlich bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Ihnen meine Diagnose nicht so hinknallen dürfen. Aber ich dachte, Sie würden gerne wissen, was Tommy fehlt, bevor sie nach Hause fahren.“

Jack Carter entschuldigte sich bei ihr? Das musste sie erst mal verdauen. „Wie geht es ihm eigentlich heute?“

„Er wird immer noch beatmet. Sein Vater ist bei ihm. Wir hoffen, dass die Medikamente anschlagen, sodass wir die Beatmung wieder einstellen können. Alex hat inzwischen eine Biopsie durchgeführt.“

„Ist es sehr ernst?“, fragte Nina beklommen.

„Ich fürchte schon. Wie es scheint, leidet der Junge bereits seit einigen Wochen unter diesen Krampfanfällen. Das erklärt auch die Prellungen und das plötzliche Bettnässen. Übrigens sehr verantwortungslos von dem Vater, dass er seinen Sohn nicht längst zum Arzt gebracht hat.“

„Er hatte Angst.“

„Das ist mir klar. Aber so wurde leider kostbare Zeit verschwendet …“ Jack seufzte frustriert. „Klar verstehe ich, dass er Angst hatte.“

Nina bedachte ihn mit einem flüchtigen Lächeln. „Tja, danke, dass Sie vorbeigeschaut haben. Wie gesagt, tut mir leid, wie ich mich gestern Nacht aufgeführt habe.“ Sie stand auf, doch Jack blieb sitzen.

„Ich bin noch nicht fertig.“

„Sorry, aber auf mich wartet ein Berg Arbeit …“ Im selben Moment hätte Nina sich am liebsten auf die Zunge gebissen. In seiner Position war sein Arbeitsberg vermutlich fünfmal so hoch wie ihrer.

„Geht uns das nicht allen so?“ Er lächelte liebenswürdig. „Trotzdem sollten wir uns die Zeit nehmen, einmal ganz in Ruhe über Baby Tanner zu sprechen.“

„Lieber nicht.“

„Ein Nein steht nicht zur Diskussion. Und ja, danke, eine Tasse Kaffee wäre jetzt genau das Richtige.“

Widerstrebend machte Nina sich an ihrer Kaffeemaschine zu schaffen.

„Milch und Zucker bitte“, rief Jack. Nachdem sie ihm wortlos seinen Kaffee in die Hand gedrückt hatte, kam er sofort zum Thema. „Ich habe mich noch einmal in die Unterlagen vertieft. Daraus geht meine Empfehlung hervor, Baby Tanner in einer Pflegefamilie unterzubringen.“

„Ganz richtig.“

„Der Sozialdienst dagegen schätzte die Mutter als stabil und in der Lage ein, sich mit der nötigen Unterstützung selbst um ihr Kind kümmern zu können …“ Jetzt war sein Lächeln nicht mehr ganz so liebenswürdig. „Kommt Ihnen das bekannt vor?“

„Sie erinnern sich überhaupt nicht an ihn, stimmt’s?“

„Doch, verschwommen. Allerdings verstehe ich nicht, warum Sie der Meinung sind, ich müsste mich partout an den Jungen erinnern. Warum regt Sie das so dermaßen auf?“

„Tut es gar nicht.“

„Klar tut es das.“ Als hätte er alle Zeit der Welt, lehnte Jack sich in seinem Stuhl zurück und nippte genüsslich an seinem Kaffee. „Es regt Sie sogar so sehr auf, dass Sie mich gestern Nacht mitten auf dem Krankenhausparkplatz zum Teufel gejagt haben.“

„Dafür habe ich mich entschuldigt.“

„Und ich habe Ihre Entschuldigung angenommen. Ich bin nicht hier, um Ihnen die Schuld zuzuschieben. Mich interessiert wirklich, warum Sie in Bezug auf Baby Tanner so wütend auf mich sind.“

„Es hat mit Ihrer Bemerkung zu tun, als er wiedereingeliefert wurde …“ Nein, so ganz stimmte das nicht. Nina schüttelte den Kopf. „Oder vielmehr mit Ihrem Blick.“

„Meinem Blick?“

„Diesem Habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt – Blick.“

„Ach. Meinen Sie den hier?“

Fast hätte Nina sich an ihrem Kaffee verschluckt, als Jack Carter lächelte.

Und zwar auf eine Art, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte. Er blickte ihr direkt in die Augen, und ein herausfordernder, triumphierender Zug lag um seine Lippen. Dieses Lächeln und diesen Blick hielt er so lange durch, bis ihre Wangen anfingen zu brennen und sie das Gefühl hatte, buchstäblich dahinzuschmelzen.

Irgendwie schaffte sie es, ihren Kaffee herunterzuschlucken, erinnerte sich daran, zu atmen. Sekundenlang hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, mit ihm zu schlafen …

„Das ist mein Habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt – Blick.“ Jack zwinkerte ihr zu, dann wurde er ernst. „Sie haben ihn mit meinem Manchmal hasse ich diesen Job – Blick verwechselt: Warum kriegen Leute Kinder, die sie gar nicht haben wollen? Was zum Teufel ist los mit dieser Welt, dass jemand so etwas einem acht Wochen alten Baby antun kann …“

„Oh.“

„Nicht eine Sekunde habe ich Sie für das Schicksal von Baby Tanner verantwortlich gemacht. Ebenso wenig für das, was mit Tommy geschehen ist. Wie kommen Sie nur darauf, dass ich Ihnen die Schuld gebe?“

„Da wären Sie nicht der Erste“, erwiderte sie grimmig.

„Mir fiele das jedenfalls überhaupt nicht ein“, betonte er. „Es gibt nun mal nicht immer auf alles eine einfache Antwort …“

In diesem Moment wurden sie von einem Tumult im Vorzimmer unterbrochen, und die Tür zu Ninas Büro wurde aufgestoßen.

„Janey!“ Nina schoss aus ihrem Stuhl hoch. „Du kannst hier doch nicht einfach so hereinplatzen!“

„Du hast gesagt, ich kann jederzeit kommen.“

Jack drehte sich zu dem jungen Mädchen um, das sich mitten im Raum aufgebaut hatte. Ihre ganze Haltung drückte kaum gebändigte Aggression aus, und ihr Ton klang herausfordernd. Die heftigsten Schlachten wurden offenbar an der Front des Klinik-Sozialdienstes geschlagen, stellte er leicht verblüfft fest.

„Ich brauche Geld“, verkündete Janey. „Für die U-Bahn. Außerdem hab ich Hunger.“

„Warte bitte draußen. Ich kümmere mich darum, sobald ich hier fertig bin, ja?“, erwiderte Nina gelassen.

„Ich hab aber keinen Bock zu warten. Krieg ich nun die Kohle oder nicht?“

Stirnrunzelnd beobachtete Jack, wie Nina nach ihrer Tasche griff. „Moment mal“, sagte er scharf. „Sie wollen diesem unverschämten kleinen Ding doch nicht etwa wirklich Geld geben?“

„Mischen Sie sich da bitte nicht ein, Jack.“

Zähneknirschend beobachtete er, wie Nina dem jungen Mädchen ein paar Dollar-Scheine in die Hand drückte und es ermahnte, vorsichtig zu sein. Ohne auf Ninas Frage zu reagieren, wohin sie wolle und mit wem sie unterwegs war, drehte Janey sich um und schlenderte lässig aus dem Raum.

„Keine Ahnung, wie das beim Sozialdienst so läuft“, begann Jack. „Aber es gefällt mir gar nicht, wenn unerzogene Teenager meinen, hier einfach so reinmarschieren und Geld verlangen zu dürfen …“

„Das war keine Klientin“, unterbrach ihn Nina so cool wie möglich. „Janey ist meine kleine Schwester.“

„Ihre Schwester? Aber warum …“ Lass es, Jack, das geht dich absolut nichts an.

In diesem Moment passierte das Unerwartete: Nina stützte den Kopf in die Hände und brach in Tränen aus.

Ein paar Minuten lang schluchzte sie sich den ganzen Frust, der sich in ihr aufgestaut hatte, von der Seele. Nachdem sie sich schließlich gefangen hatte, wäre sie vor Verlegenheit am liebsten im Erdboden versunken. Ausgerechnet vor Jacks Augen musste sie ihren längst fälligen Nervenzusammenbruch kriegen!

„Oh, bitte …“ Nina zog eine Handvoll Papiertücher aus der Spenderbox auf ihrem Schreibtisch und putzte sich die Nase. „Würden Sie mich jetzt alleinlassen?“

Er rührte sich nicht von der Stelle.

Schon wieder kampflustig gestimmt, funkelte sie ihn an. „Ich möchte nicht darüber reden.“

„Sorry, das werden Sie wohl müssen.“ Jack stand auf. „Aber ich schlage vor – nein, ich bestehe darauf, dass Sie erst mal nach Hause gehen und sich richtig ausschlafen.“

„Das kann ich nicht.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Es geht einfach nicht. Ich habe tausend Termine und muss …“

„Sie müssen nach Hause gehen.“

Erschöpft gab sie sich geschlagen. Es war einfach alles zu viel gewesen: der anstrengende Umzug am Wochenende, die Wochenendarbeit im Beratungszentrum, die ständigen Streitereien mit Janey … und dann dieser fürchterliche gestrige Tag. „Okay.“

„Ich fahre Sie.“

„Nicht nötig, ich nehme die U-Bahn.“

„Nein.“

„Dann eben ein Taxi.“

„Keine Diskussionen. Ich bin nicht auf Rufbereitschaft, kann Sie also rasch nach Hause bringen.“ Jack meldete sich kurz an der Rezeption ab und dirigierte Nina zu seinem Wagen.

Natürlich hätte sie ein Taxi nehmen können, das war Jack klar. Er wusste selbst nicht recht, warum er sie unbedingt fahren wollte. Normalerweise ließen Frauentränen ihn ziemlich ungerührt, daran konnte es also nicht liegen.

Nein, irgendwas hatte Nina Wilson an sich … Vielleicht war es ihre Vielschichtigkeit, die es ihm angetan hatte.

Als Nina endlich in seinem Wagen saß, überkam sie ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit. Es war so herrlich warm hier drin, und die Sitze waren wundervoll weich … fast wäre sie schon unterwegs eingeschlafen. Zum Glück stellte Jack keine nervigen Fragen, dafür war sie ihm wirklich dankbar.

„Wir sind gleich da“, sagte sie, als er in ihre Straße einbog.

„Ich parke nur rasch.“

„Nicht nötig, Sie können mich einfach hier rausschmeißen. Eine Eskorte bis zur Tür brauche ich nicht.“

„Hey, ich bin ein Gentleman“, verkündete er mit einem Anflug von Stolz in der Stimme.

Na, da hatte sie aber was ganz anderes gehört!

Er rangierte den Wagen in eine Parklücke und hielt Nina die Beifahrertür auf. Während Nina schwerfällig die Stufen hochstieg, unterdrückte sie ein Gähnen. „Sie haben recht, ich falle gleich um vor Müdigkeit.“

„Legen Sie sich hin und schlafen Sie. Um acht Uhr hole ich Sie ab, dann gehen wir essen.“

„Nicht nötig.“

„Essen Sie nicht?“, meinte er augenzwinkernd.

„Ich meine …“

„Ich weiß, was Sie meinen, aber ich höre gar nicht hin. Dinner um acht, keine Widerrede.“

„Warum?“

„Weil wir heute Abend beide vor Hunger sterben werden und unsere kleine Unterhaltung sonst nie zu Ende kriegen.“

Ist ja nur ein Abendessen, beruhigte Nina sich, nachdem Jack sich verabschiedet hatte. Zwei Kollegen, die beim Essen ein paar Dinge besprechen wollten.

Das meinst du doch nicht ernst, Nina, oder?

5. KAPITEL

Ein paar Stunden später saß Nina ihm erfrischt und ausgeschlafen gegenüber. Jack hatte das Lokal ausgesucht, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen, typisch für ihn. Na ja, zu meckern gab es nichts, es war ein sehr feines Lokal mit allem Pipapo – Valet-Parken, livriertem Portier usw. Nichts, wovon Nina heimlich träumte, trotzdem zur Abwechslung mal ganz angenehm.

Jack hatte auch den Wein ausgesucht – ebenfalls eine ausgezeichnete Wahl, wie Nina anerkennend feststellte, als sie an ihrem perfekt temperierten Weißwein nippte. Leicht, fruchtig und bestimmt fünfzigmal teurer als das Zeug, was sie für gewöhnlich serviert bekam. Gerade als sie anfing, sich ein bisschen zu entspannen, machte Jack alles kaputt, indem er ihr eine sehr persönliche Frage stellte.

„Was ist eigentlich mit Ihrer Schwester los?“

„Warum sollte ich das ausgerechnet mit Ihnen besprechen?“, konterte sie.

„Weil ich mich zufällig ziemlich gut mit Teenagern auskenne.“

„Ich auch.“

„Ah, dann gehen Sie das Problem also ganz objektiv an?“, meinte Jack herausfordernd. „Sie sind in der Lage, Janey wie eine Ihrer Klientinnen zu behandeln?“ Sein forschender Blick ging ihr durch und durch. „Bestellen wir erst mal. Aber ich warne Sie: Wenn Sie jetzt ein Omelette oder einen Salat nehmen, suche ich mir das Teuerste aus, was die Küche zu bieten hat, nur um Sie zu ärgern.“

Sie hatte sich tatsächlich bescheiden wollen wie üblich. Sie war Vegetarierin, was bedeutete, es wurde nie so richtig teuer. Außerdem war ihr das Sparen zur zweiten Natur geworden. Aber doch nicht, wenn Jack Carter sie ausführte! Da wollte sie es mal so richtig krachen lassen und bestellte sich einen Tomatensalat als Vorspeise und anschließend Steinpilzravioli in Safransoße.

Und ganz vielleicht wäre es auch gar nicht schlecht, sich mal seine Meinung über die Probleme mit ihrer kleinen Schwester anzuhören – ihre Position war viel zu emotionsgeladen, da konnte ein nüchtern denkender Verstand zur Abwechslung nicht schaden.

„Ich habe zwei Geschwister“, begann Nina. „Janey ist sechzehn und Blake acht. Beide sind bei verschiedenen Pflegeeltern untergebracht.“

„Aha, daher Ihre kritische Bemerkung neulich über Pflegefamilien. Sie haben aus eigener Erfahrung gesprochen.“

„Stimmt. Anfangs schien Blake ganz zufrieden mit seiner Unterbringung, doch in letzter Zeit läuft es nicht mehr so gut. Das Paar, das ihn aufgenommen hat, kommt langsam in die Jahre. Sie haben eine erwachsene Tochter, die gerade mit ihren Kindern aus Übersee zurückgekehrt ist. Jetzt kümmern sie sich nur noch um sie und vernachlässigen Blake. Er selbst spricht kaum darüber, aber ich fürchte, er verbringt viel zu viel Zeit einsam und allein in seinem Zimmer.“

„Und Janey?“

„Die hat sich von Anfang an ziemlich schwergetan und wurde dementsprechend oft herumgereicht. Seit vier Jahren lebt sie in der Obhut einer alleinstehenden Frau, Barbara. Während der vergangenen Monate … hm, sieht so aus, als hätte Barbara die Nase voll. Ständig schwänzt Janey die Schule, macht, was sie will, ist aufsässig …“

„Was ist mit Ihren Eltern?“

„Die starben, als ich sechzehn war. Damals habe ich mich um das Sorgerecht für meine beiden Geschwister bemüht, aber …“ Sie schüttelte den Kopf.

„Zu jung.“

„Ja. Zu jung und zu zornig. Zornig auf meine Eltern, weil sie einfach gestorben sind und uns allein zurückgelassen haben. Im Grunde war ich auch nicht viel besser als Janey heute. Bei jeder Gelegenheit habe ich mich mit meinen Betreuern angelegt.“

Sie brauchte bloß daran zu denken, schon überfielen sie heftige Schuldgefühle. Dankbar registrierte Nina, dass Jack ihre Beichte mit einem verständnisvollen Lächeln quittierte. „Ich habe es geschafft, alles gründlich zu vermasseln …“

„Sie waren noch sehr jung“, erinnerte Jack sie. „Glauben Sie wirklich, Sie hätten diese Verantwortung tragen können?“

„Nein“, gestand Nina ehrlich ein. „Es hat nur so schrecklich wehgetan, dass wir drei auseinandergerissen wurden. Meine Eltern hatten keinerlei Ersparnisse, es gab keine Lebensversicherung, nichts. Dem Jugendamt ist nichts vorzuwerfen, das weiß ich. Doch das ist längst Geschichte, inzwischen haben sich die Dinge zum Glück gewandelt. Gerade habe ich meine neue Dreizimmerwohnung bezogen und bin dabei, noch einmal das Sorgerecht zu beantragen.“

„Ohne sich diesmal mit den zuständigen Betreuern anzulegen?“, kommentierte er augenzwinkernd.

„Ja.“ Nina lächelte.

„Sie marschieren ganz cool da rein und präsentieren Ihnen die überaus kompetente Sozialarbeiterin, die Sie sind.“

„Danke.“ Wieder ernst, sagte sie: „Schwer genug, sich zu beherrschen, wenn es um einen Klienten geht, aber bei der eigenen Familie … Na ja, Sie können sich vorstellen, wie das ist.“

Nein, konnte er nicht. Jack beschloss, das lieber für sich zu behalten, und ließ Nina weiterreden.

„Gar nicht so leicht, immer professionellen Abstand zu wahren. In letzter Zeit ist Janey ziemlich oft weggelaufen und bei mir aufgetaucht. Was ich Barbara und den Behörden tunlichst verschwiegen habe. Ein Fehler, ich weiß, aber ich wollte dem Problem selbst auf den Grund gehen. Irgendwann stand dann mal eine Frau vom Jugendamt vor meiner Tür, und Janey hat aufgemacht.“

„Schwerer Fehler.“

„Ich will doch nur meine Familie wieder zusammenbringen.“

„Das klappt schon.“

„Hm, da bin ich mir nicht so sicher.“ Nina seufzte. „Allein meine lange Arbeitszeit bis spät in den Abend …“

„Können Sie nicht ein bisschen runterfahren?“

Sie zuckte die Achseln. Lächerlich, sich ausgerechnet bei ihm über ihre prekäre finanzielle Lage zu beklagen. „Dann ist da noch meine ehrenamtliche Arbeit im Beratungszentrum in Harlem. Da kommen weitere acht Stunden die Woche zusammen.“

„Das können Sie doch streichen“, empfahl er leichthin.

Nina umfasste den Stiel ihres Weinglases fester. Es machte sie wütend, wie kaltlächelnd jemand, der mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden war, etwas verwarf, das ihr und vielen anderen Menschen wirklich wichtig war.

„Zufällig arbeite ich dort sehr gerne“, erwiderte sie schnippisch. „Ohne die Leute von der Beratungsstelle …“ Sie unterbrach sich. Was ging ihn das eigentlich an?

„Ja? Was wäre dann?“, hakte Jack nach.

„Sie leisten ganz einfach fantastische Arbeit. Dort engagieren sich Menschen, die für ihre Aufgabe brennen, Menschen mit Empathie und Leidenschaft.“

„Ganz im Gegensatz zu mir, meinen Sie“, bemerkte er schmunzelnd.

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber gedacht.“

Statt zu antworten, zuckte Nina nur mit den Schultern.

„Ich kann es mir nicht leisten, mich zu sehr zu engagieren, Nina.“

„Das verstehe ich nicht ganz. Sie sind ein brillanter Arzt. Wir wissen doch beide …“ Sie biss sich auf die Zunge. Manche Dinge blieben besser unausgesprochen.

„Ich höre. Reden Sie weiter“, forderte er sie auf.

„Lieber nicht.“

Jack zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Nur Mut. Natürlich bleibt auch das ganz unter uns.”

Mit seiner Bemerkung brachte er sie zum Erröten, gleichzeitig auch zum Lachen. Und er wollte ihre ehrliche Meinung hören. Na gut, sollte er.

„Das soll keine Kritik an Ihren Kollegen sein. Aber wäre Tommy von Anfang an Ihr Patient gewesen, dann …“ Sie trank einen Schluck Wein, bevor sie fortfuhr: „Hm, ich glaube, wir hätten wertvolle Zeit gewonnen, weil Sie gleich die richtige Diagnose gestellt hätten.“

Es war nicht seine Art, die Verantwortung auf seine Kollegen abzuwälzen. Aber insgeheim sah er die Sache genauso wie Nina. Genau darüber hatte er heute Vormittag ein ernstes Gespräch mit der Assistenzärztin geführt, aber das ging Nina nichts an.

„Ich dachte nur …“ Halt lieber die Klappe, schalt sie sich im Stillen. Manchmal neigte sie dazu, ihr Herz auf der Zunge zu tragen. So auch jetzt. „Anstatt sich bei den edlen Spendern einzuschleimen, sollten Sie sich lieber mehr um Ihre Patienten kümmern.“

Schon wieder zu weit gegangen, das merkte sie am Aufflackern in seinem Blick. Rasch ruderte sie zurück. „Ich meine, die Patienten wären mit Ihnen besser dran“, korrigierte sie sich lahm.

Nina war so ganz anders als die Frauen, die Jack sonst kannte. Überhaupt völlig anders als die meisten Menschen, die ihn umgaben. Nie hatte jemand gewagt, ihm so offen die Meinung zu sagen, und das nicht zum ersten Mal.

„Lassen Sie sich denn gefühlsmäßig nie ein?“, wollte Nina später wissen, während sie ihr Dessert löffelte.

„Reden wir hier noch über die Arbeit?“ Jack schmunzelte.

Nina lächelte gezwungen. „Klar doch.“ Was sein Privatleben betraf, erübrigte sich diese Frage sowieso.

Jack schien zu ahnen, was sie dachte, denn sein Schmunzeln verwandelte sich in ein herausforderndes Lächeln, das ihr durch und durch ging.

„Nein“, erwiderte er. „Auch nicht bei der Arbeit.“ Sein Lächeln erstarb. „Ich bin keine Maschine, Nina. Auch mir geht mal etwas nahe. Aber meiner Arbeit kommt es zugute, wenn ich mich emotional zurückhalte.“

Eine steile kleine Stirnfalte erschien zwischen Ninas fein geschwungenen Brauen. Jack rechnete schon mit einer weiteren Attacke. Stattdessen überraschte sie ihn mit einem offenen Blick und einem freundlichen Lächeln. „Im Beratungszentrum könnten wir Sie gut gebrauchen.“

Jetzt war es Jack, der die Stirn runzelte. „Ich fürchte, meine Kapazitäten sind ausgelastet.“

„Sie verstehen mich falsch. Ich will Sie nicht als ehrenamtlichen Mitarbeiter anwerben. Nein, ich meinte nur, Ihre Einstellung würde gut passen.“ Mit einem entwaffnenden Lächeln fügte sie hinzu: „Tut mir leid, dass ich manchmal so mit der Tür ins Haus falle. Kühlen Kopf zu bewahren, hat durchaus seine Vorteile.“

Einen kühlen Kopf könnte er jetzt dringend gebrauchen.

Denn Jack war drauf und dran, gegen seinen eisernen Vorsatz zu verstoßen, Abstand zu anderen Menschen zu wahren, auch beim Dating. Ja, er ertappte sich dabei, dass er mehr über Nina wissen wollte, über ihre Vergangenheit. Wie sie mit dem frühen Tod ihrer Eltern und dem Verlust ihres Zuhauses fertiggeworden war.

Auf seine Frage erwiderte sie: „Anfangs war es ziemlich hart, aber ich habe es irgendwie geschafft.“

„Wie?“

„Mithilfe von Freunden.“ Sie zuckte die Achseln. „Eine ganze Weile konnte ich mich mit Couchsurfen über Wasser halten.“

„Couchsurfen?“

„Bei Freunden auf dem Sofa übernachten.“ Aus ihren tiefblauen Augen sah sie ihn ernst an. „Fast wäre ich auf der Straße gelandet.“

Auf einmal bekam Jack eine Ahnung davon, warum sie sich in ihrem Job so sehr für den Erhalt der Familien einsetzte. „Aber wie …“

„Ich möchte das nicht vertiefen, Jack“, unterbrach sie ihn.

„Okay.“ Normalerweise war er es, der dichtmachte, also konnte er sie verstehen.

Sie plauderten über unverfängliche Themen weiter, doch Jack war nicht richtig bei der Sache. Was ihn wirklich interessierte, war Nina. Sie verunsicherte ihn, und er hatte keine Ahnung, wie er sie nehmen sollte. Mit jeder anderen Frau wäre er inzwischen schon längst im Bett gelandet.

Auf dem Gebiet war er Profi, da bewegte er sich auf sicherem Terrain. Diesen plötzlichen Moment der Verlegenheit, als sie später in sein Auto stiegen, kannte er sonst nicht. Normalerweise wäre es für beide Parteien klar, wie dieser Abend enden würde.

„Nein, danke“, lehnte Nina seine beiläufige Einladung zu einem Absacker in seinem Apartment ab. „Es ist schon spät, und ich habe morgen Nacht Bereitschaftsdienst.“

Eine weitere ungewohnte Erfahrung für Jack war, dass sie ihn vor ihrer Haustür tatsächlich abservierte. Insgeheim hatte er doch noch damit gerechnet, sie würde ihn hereinbitten …

„Danke für den schönen Abend“, sagte Nina. „Es hat gutgetan, reinen Tisch zu machen.“

„Eins haben wir dabei allerdings vergessen“, erwiderte er und gab ihr den längst fälligen Kuss.

Keinen zärtlichen Kuss, sondern einen ziemlich energischen. Einen Kuss, der einfach sein musste.

Einen Kuss, den Nina viel zu eifrig erwiderte, wo sie besser hätte standhaft bleiben müssen, wie sie genau wusste. Zumindest hätte sie anstandshalber so tun sollen, als ob sie nicht wollte, stattdessen erlag sie sofort Jack Carters Zauber. So, wie er in allem perfekt war, entpuppte er sich auch als perfekter Verführungskünstler, vor dem sie einfach nur kapitulieren konnte.

Jetzt löste er die Lippen von ihren, strich in heißem Verlangen über ihren Nacken, während er sie dicht an sich zog. Er schien genauso erregt wie sie, sorgte dafür, dass Nina sein Verlangen spürte. „Willst du mich nicht reinbitten?“, flüsterte er ihr rau ins Ohr.

„Lieber nicht“, brachte sie mit dem letzten Rest an gesundem Menschenverstand, der ihr noch geblieben war, atemlos hervor.

„Vielleicht lässt du dich ja noch überreden …“

Wieder drückte er die Lippen auf ihren Mund … aber er täuschte sich. Sie ließ sich nicht überreden, war fest entschlossen, keinem Mann ihr Herz anzuvertrauen, schon gar nicht einem wie Jack Carter.

Energisch zog sie sich zurück, wusste, sie spielte hier mit dem Feuer. Am besten flüchtete sie sich so schnell wie möglich in die schützenden vier Wände ihrer Wohnung. Mit fliegenden Fingern wühlte sie auf der Suche nach ihrem Haustürschlüssel in ihrer Handtasche.

„Nina …“

„Danke für die Einladung zum Essen.“

Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, dann schlug sie Jack die Tür vor der Nase zu, sperrte ihn aus ihrem Leben aus. Jetzt bloß nicht schwach werden!

Die kommenden Wochen würden die vielleicht wichtigsten in ihrem Leben werden. Unvorstellbar, die Sache schon wieder zu vermasseln, weil sie sich von Jack Carter den Kopf verdrehen ließ.

Ihre Familie war das Einzige, was zählte. Da gab es keinen Platz für einen Jack Carter, der alles nur verderben würde.

6. KAPITEL

Während der folgenden Tage ging Nina Jack geflissentlich aus dem Weg. Seine Anrufe ignorierte sie, und als er sie einmal auf dem Flur fragte, ob sie abends mit ihm essen gehen wolle, lehnte sie freundlich lächelnd mit einer vagen Ausrede ab.

Jack, der es nicht gewohnt war, dass man ihm einen Korb gab, gefiel das gar nicht. Zum Glück hatte er genug zu tun, um sich abzulenken, sodass er nicht ständig über die rätselhafte Nina Wilson nachgrübeln konnte. Da gab es zum Beispiel den kleinen Tommy, der seine ganze Aufmerksamkeit brauchte. Alex und der Onkologe Terence waren dabei, einen Behandlungsplan für den Jungen aufzustellen.

„Mir ist es ganz wichtig, dem Vater keine falschen Hoffnungen zu machen“, erklärte Alex. „Ihm muss klar sein, dass wir nur versuchen können, Tommy ein bisschen mehr Lebenszeit zu kaufen. Selbst wenn der Tumor unter der Chemotherapie schrumpft, bleibt weiterhin fraglich, ob eine OP infrage kommt. Das Risiko ist einfach zu groß, die meisten Chirurgen würden die Finger davon lassen.“

„Aber gerade du nimmst doch Patienten an, die andere längst aufgegeben haben“, wandte Jack ein. „Deshalb brauchen wir dich im Angel’s ja auch so dringend.“

Jack wusste natürlich genau, was Alex belastete, beschloss aber, jetzt nichts dazu zu sagen.

In diesem Moment klopfte es an der Tür zu seinem Büro. Terence kam mit der Onkologie-Schwester zur Fallbesprechung. Jeden Moment wurden auch Mike und Nina erwartet.

Als alle versammelt waren, registrierte Jack flüchtig, dass Nina sich absolut nichts darüber anmerken ließ, was neulich zwischen ihnen passiert war. Ihre coole Fassade zeigte keine Risse, was ihn maßlos nervte. Doch sofort rief er sich in Erinnerung, dass Sinn und Zweck dieses Meetings Tommy und sein Vater waren.

„Um es vereinfacht auszudrücken, wir werden Ihnen einen regelrechten Marathon abverlangen“, erklärte Terence, an Mike gewandt. „Es handelt sich um einen ziemlich aggressiven Tumor. Wir hoffen, ihn deutlich zum Schrumpfen zu bringen, aber das wird nicht leicht.“

„Tommy und ich sind bereit, den Kampf aufzunehmen“, bekräftigte ein ziemlich blass und verhärmt aussehender Mike.

„Wir müssen uns da voll und ganz auf Sie verlassen können.“ Terence fixierte den Vater des Jungen eindringlich. „Die kleinste Verletzung, erhöhte Temperatur oder eine Erkältung, und Tommy muss sofort in die Klinik.“

„Ist doch klar“, bestätigte Mike leicht verärgert.

„Es ist wirklich wichtig, dass Sie ganz genau zuhören“, warf Jack ernst ein. „Immerhin haben Sie es ja schon einmal versäumt, Tommy rechtzeitig zum Arzt zu bringen.“

„Da hatte ich ja auch keine Ahnung, was los ist“, verteidigte sich Mike. „Ich hatte doch nur Angst, Sie nehmen ihn mir weg.“

„Das hat sich ja inzwischen geklärt“, fuhr Jack geduldig fort. „Tommy braucht Sie jetzt mehr denn je. Darüberhinaus ist es überaus wichtig, dass wir alle hier uns aufeinander verlassen können. Einen weiteren Ausbruch wie den neulich werde ich nicht dulden, das sage ich Ihnen ganz offen, Mike. Unter gar keinen Umständen.“

„Das wird nicht wieder vorkommen“, versprach Mike kleinlaut. Er sah Nina an. „Ich kann gar nicht oft genug wiederholen, wie leid es mir tut.“

„Mike wird an dem Antiaggressions-Training im Beratungszentrum teilnehmen“, warf Nina ein. „Das wird ihm helfen, sich zu stabilisieren.“

Nachdem Terence das Meeting verlassen hatte, weil er auf Station gebraucht wurde, wollte Mike wissen: „Wenn die Chemo anschlägt, können Sie den verfluchten Tumor mit einer OP entfernen, oder?“

„Das ist eine mögliche Option“, erwiderte Alex vorsichtig. „Aber versprechen kann ich es Ihnen nicht. Die Läsion liegt an einer ungünstigen Stelle.“

„Haben Sie einen solchen Eingriff überhaupt schon mal gemacht?“, hakte Mike besorgt nach.

„Ähnliche OPs, ja“, erwiderte Alex vage.

Schnell ergriff Jack das Wort. „Jeder Fall ist anders“, sagte er ruhig. „Sie können uns glauben, Mike, dass wir kein Risiko eingehen. Näheres lässt sich erst nach der Chemotherapie sagen.“

„Aber …“

„Tommy erhält bei uns eine Therapie nach modernsten Standards“, erklärte Jack ernst. „Leider ist der Fall ziemlich kompliziert, das wollen wir Ihnen gar nicht verschweigen. Eins kann ich Ihnen trotzdem versprechen: das beste Team und die bestmögliche medizinische Versorgung für Ihren Sohn.“

Mike nickte. Als Alex aufstand, löste sich das Meeting auf, nach und nach verabschiedeten sich alle. Bis auf Nina, die allein mit Jack zurückblieb.

„Du gehst mir aus dem Weg“, kam Jack gleich zur Sache.

„Nein“, schwindelte Nina. „Ich hatte bloß schrecklich viel zu tun.“

„Wie wär’s heute Abend nach der Arbeit …“

„Da bin ich im Beratungszentrum“, sagte sie schnell.

„Wäre nett, wenn du mich ausreden ließest. Ich wollte dich nämlich fragen, ob wir uns heute Abend nach der Arbeit mal über dieses Beratungszentrum unterhalten können. Das interessiert mich, und ich würde gerne ein bisschen mehr darüber erfahren.“

Lügner! dachte sie, doch natürlich konnte sie ihm seine Bitte nicht abschlagen. Tatsächlich wäre ein ehrenamtlicher Mitarbeiter mit Jacks Kompetenz wie ein Sechser im Lotto für das Zentrum. Trotzdem hatte sie keine Lust, sich von ihm manipulieren zu lassen. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal mit ihm essen gehen. Wo das endete, konnte sie sich ziemlich genau ausrechnen.

Nina bedachte ihn mit einem zuckersüßen Lächeln. Sie würde auf sein Spiel eingehen, allerdings zu ihren Bedingungen.

„Komm doch heute Abend einfach mal vorbei und schau zu“, schlug sie beiläufig vor. „Ich habe Sprechstunde. Da kriegst du gleich einen richtig guten Einblick.“

„Super!“ Jack lächelte gezwungen. Das durchkreuzte seine Pläne aber gewaltig! Eigentlich hatte er eine nette Plauderei bei einer Flasche Champagner im Sinn gehabt. „Ich hole dich um …“

„Wir treffen uns dort“, unterbrach Nina ihn rasch. „Meine Sprechstunde beginnt um sieben.“

„Bis später also. Ach, wie lange geht die Sprechstunde?“

„Bis neun, halb zehn.“

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, erlosch Jacks Lächeln schlagartig. Einen Abend im Beratungszentrum brauchte er so dringend wie einen Kropf. Trotzdem, es war die Mühe wert.

Spätestens um zehn hätte er Nina im Bett.

Als Nina ihn am Eingang des Beratungszentrums begrüßte, viel Jack als Erstes auf, dass sie sich nicht umgezogen hatte. Ihm wurde bewusst, dass ihr Arbeits-Outfit immer aus denselben paar Teilen kombiniert war: einem schwarzen Rock, einem grauen Rock, einem scheußlichen grauen Trägerkleid, kombiniert mit Pullis und Strümpfen in verschiedenen Farben.

Plötzlich hatte er große Lust, mit ihr shoppen zu gehen.

Er wollte sie verwöhnen, eine ganz ungewohnte Anwandlung bei ihm.

Oh, er war immer großzügig zu seiner jeweiligen Sexpartnerin. Beim Floristen und Juwelier war er Stammkunde, ebenso wie in den gerade hippen Bars und Restaurants. Aber bei Nina war das irgendwie anders. Er wusste, mit so etwas konnte er sie nicht beeindrucken.

Und beeindrucken wollte er sie mehr als alles andere auf der Welt.

„Hoffentlich langweilst du dich nicht allzu sehr“, meinte sie jetzt achselzuckend. „Ich helfe den Leuten hier hauptsächlich mit Papierkram. Anträge auf Sozialhilfe usw.“

Jack war es gewohnt, sich für Wohltätigkeitsarbeit zu engagieren, allerdings nicht so hautnah. Er hatte keine Ahnung, was ihn hier erwartete. Eine riesige Suppenküche vielleicht? Der Anblick der modernen Büros überraschte ihn.

„Heute Abend findet auch eine Arzt-Sprechstunde statt“, informierte ihn Nina. „Jeden zweiten Abend, um genau zu sein.“

„Tja, wo ich nun schon einmal hier bin …“, bot Jack an, froh, sich nützlich machen zu können, doch Nina schüttelte bedauernd den Kopf.

„Sorry, ohne offizielle Bewerbung geht gar nichts. Das ist hier kein Hinterhoftreff, sondern eine gemeinnützige Organisation mit regulären Angestellten und einem ganzen Heer von ehrenamtlichen Mitarbeitern.“

Wieder schenkte sie ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Wenn du Lust hast, setz dich doch einfach zu mir ins Büro und schau mir bei der Arbeit zu.“ Voller Schadenfreude beobachtete sie, wie seine Brauen in die Höhe schossen. „Ich muss meine Klienten natürlich vorher um Erlaubnis bitten, ob sie mit deiner Anwesenheit einverstanden sind.“

Sofort fühlte Jack sich an seine Zeit als Praktikant zurückversetzt. Die Welt war schon verrückt. Jede Minute seines anstrengenden Arbeitstags war voll verplant. Und jetzt, wo er sich mal nützlich machen könnte, musste er tatenlos wie ein dummer Junge danebensitzen und zuschauen.

Was blieb ihm schon anderes übrig, wenn er sein Ziel erreichen wollte? Also verzog er sich mit seinem Stuhl in den hinteren Teil des Raums, während Nina nacheinander ihre Klienten empfing. Jedem stellte sie ihn als Chefarzt der Pädiatrie vor, den man hoffentlich für die ehrenamtliche Arbeit im Beratungszentrum gewinnen könne.

Die meisten Hilfesuchenden dankten ihm für was auch immer, einige zogen es allerdings vor, dass er draußen wartete.

Eine verhärmt wirkende Frau namens Nancy beäugte ihn misstrauisch, bestand aber nicht darauf, dass er den Raum verließ. Sie war durch eine hässliche Narbe quer über dem einen Auge und eine gebrochene, nicht gerichtete Nase entstellt.

Mit leuchtenden Augen fragte Nina: „Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen von Dr. Cavel erzählt.“

„Dem Schönheitschirurgen?“

Jetzt horchte Jack auf. Meinte Nina etwa den renommierten Louis Cavel, der auch schon an Jacks Mutter herumgeschnipselt hatte?

„Wie versprochen habe ich ihm bei unserem letzten Meeting von Ihrem Fall berichtet. Er hat sich Ihre Fotos angesehen und ist zuversichtlich, Ihnen helfen zu können.“ Als sie das hörte, brach Nancy in Freudentränen aus. Nina kam zu ihr herum und legte ihr den Arm um die Schultern. „Tatsächlich kann er es kaum erwarten, Sie kennenzulernen.“

„Wirklich?“, stammelte Nancy schluchzend.

„Natürlich“, erwiderte Nina sanft.

„Mein Gesicht … ich schäme mich so schrecklich. Alle Leute starren auf meine Narbe. Und immer, wenn ich in den Spiegel gucke, muss ich daran denken, was der Kerl getan hat …“

„Dr. Cavel kriegt das schon wieder hin. Er ist eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet. Jetzt haben Sie endlich auch einmal Glück, Nancy.“ Nina beugte sich über ihren Schreibtisch und zog eine Visitenkarte hervor, die sie ihrer Klientin in die Hand drückte. „Am Donnerstag hält er hier seine Sprechstunde ab. Allerdings ist die Warteliste ziemlich lang, und man braucht einen Termin. Der Doktor war so nett, Sie dazwischenzuschieben. Schaffen Sie es, am Donnerstag zu kommen?“

„Oh, keine Sorge, ich werde da sein.“ Nancy lächelte unter Tränen. „Den Termin verpasse ich um nichts auf der Welt.“

„Ich kann es kaum erwarten, Sie nach der OP wiederzusehen.“ Herzlich verabschiedete Nina ihre Klientin.

„Reden wir hier über den Louis Cavel?“, meldete sich Jack von seinem Platz direkt an der Wand.

„Er spendet uns fünfzehn Stunden im Monat“, erklärte Nina leichthin. „Damit bewirkt er wahre Wunder. Louis liebt seine Arbeit hier. Er sagt immer, dass es ihn auf den Boden der Realität zurückbringt, sich mal nicht mit den Problemchen der Schickeria beschäftigen zu müssen.“

„Er ist der Schönheitschirurg meiner Mutter.“

Kein bisschen verlegen über ihren Volltreffer ins Fettnäpfchen, musste Nina lachen, was Jack sehr erfrischend fand. „Louis ist wirklich ein richtiger Magier auf seinem Gebiet. Er gibt schwer misshandelten Frauen ihr Gesicht, ihre Identität zurück, das ist unbezahlbar“, sagte sie, plötzlich wieder ernst.

Je weiter die Sprechstunde fortschritt, desto faszinierter war Jack. Der Abend entwickelte sich überhaupt nicht zäh und langweilig wie erwartet, im Gegenteil. Während Jack im Anschluss an die Sprechstunde noch mit Nina über den einen oder anderen Fall diskutierte, erwärmte er sich zunehmend für diese Aufgabe – und für den ganzheitlichen Ansatz der Sozialarbeit, den er bislang so gering geschätzt hatte.

„Wir bieten nicht nur für die Frauen und Kinder Beratungstermine, auch für die Partner“, erzählte sie eifrig auf dem Weg nach Hause. „Es ist unglaublich befriedigend zu erleben, wie einige Männer es tatsächlich schaffen, sich zu ändern.“ Auf Jacks zweifelndes Achselzucken hin bekräftigte sie: „Doch, ein paar kriegen wirklich die Kurve!“

Um das zu glauben, musste er es mit eigenen Augen sehen. Tatsächlich wollte er es mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.

„Am Wochenende gibt es eine Spendengala zugunsten des Zentrums für Schwerbrandverletzte unserer Klinik. Komm doch mit“, lud Jack sie spontan ein.

„Danke, lieber nicht.“

„Ach, bitte. Ich hab jetzt deine ehrenamtliche Arbeiten kennen- und schätzen gelernt, da fände ich es nur fair, wenn du mir auch eine Chance gibst.“

„Jack“, meinte sie unbehaglich, „da falle ich auf wie ein bunter Hund, glaub mir.“

„Ich könnte …“

„Oh, bitte, beleidige mich nicht, indem du anbietest, mir was Angemessenes zum Anziehen zu kaufen“, fiel sie ihm ins Wort. „Selbst wenn ich Millionärin wäre, würde ich keine tausend Dollar für eine Abendrobe zum Fenster rausschmeißen.“

Tausend Dollar? Peanuts in seiner Welt, in der mit Geld nur immer mehr Geld gemacht wurde und sich alles nur darum drehte, sich mit einem guten Namen und einem beachtlichen Vermögen neue Türen zu öffnen.

„Denk noch mal drüber nach.“

„Vielleicht.“

Das war geschwindelt. Sie würde nicht gehen.

„Apropos Kerle und ihr Unvermögen, sich zu ändern, wollen wir noch irgendwo einen Happen essen?“, schlug Jack vor.

„Ich hab schon bei der Arbeit gegessen.“

„Wie wär’s dann wenigstens mit einem Absacker?“

Nina war versucht, Ja zu sagen. Es war so schön kuschelig warm hier in seinem Luxusschlitten mit den bequemen Ledersitzen … und der Anblick des attraktiven Mannes hinter dem Steuer … da wurde ihr gleich noch viel wärmer, geradezu heiß …

Doch dann fiel ihr Blick auf seine teure Uhr, die schlanken, gepflegten Hände mit den sorgfältig manikürten Nägeln. Und sie erinnerte sich daran, dass er alles verkörperte, was sie verabscheute.

Trotzdem begehrte sie ihn.

Er war der erste Mann, den sie je wirklich gewollte hatte.

Ihm aus dem Weg zu gehen, hatte nicht geholfen. Tag und Nacht stahl er sich in ihre Gedanken. Da sie es sowieso nicht schaffte, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen, konnte sie ihrem Verlangen genauso gut auch nachgeben. Schließlich würden sie ja nur etwas zusammen trinken gehen, mehr nicht … vielleicht eine nette Erinnerung für später.

Also sagte sie zu.

Womit Jack nicht wirklich gerechnet hatte. Noch mehr überraschte sie ihn, als sie hinzufügte: „Vielleicht gehen wir einfach zu dir?“

Es war wie ein Spiel, bei dem beide Akteure eigene Regeln aufstellten.

Kaum hatte Nina seine blitzblanke Junggesellenwohnung betreten, wurde ihr einmal mehr bewusst, dass er in einer ganz anderen Liga spielte, und zwar nicht nur, was die Dicke des Bankkontos betraf.

Etwas umständlich half er ihr aus dem Mantel, seine intensive Nähe jagte ihr eine wohlige Gänsehaut über den Rücken. Ihr Herz pochte wie wild, dabei hatte er sie doch kaum berührt …

„Hier, trink was.“ Jack drückte ihr ein geschliffenes Kristallglas in die Hand.

Nina stand vor dem Fenster, beide Hände um das Glas gelegt. Dieses scheußliche graue Trägerkleid, schoss es Jack durch den Kopf. Doch die lilafarbenen Strümpfe in den kniehohen Stiefeln gefielen ihm. Sehr sexy.

Nicht nur, was ihre äußerliche Erscheinung betraf, unterschied Nina sich von den Frauen, die er sonst kannte. Sie war so ganz anders, ohne dass er dieses Anderssein näher definieren konnte.

Nachdem Jack seine Krawatte gelöst und die Schuhe von den Füßen gekickt hatte, machte er es sich auf einem der niedrigen Sofas bequem und beobachtete Nina, die durch die großen Panoramafester die Skyline von New York bewunderte.

„Woran denkst du?“, wollte er wissen.

„An nichts Besonderes. Ich genieße nur die Aussicht.“

„Los, raus damit, Nina, was geht dir durch den Kopf?“

Mit blitzenden Augen drehte sie sich zu ihm um. „Wenn ich es dir nicht sage, muss ich dann zur Strafe in der Ecke stehen?“

„Mit verbundenen Augen“, gab er augenzwinkernd zurück.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich mag.“

Wenn das keine klare Ansage war … Seltsamerweise fühlte er sich durch ihre unverblümte Art nicht gekränkt. Im Gegenteil. Es reizte ihn umso mehr, diese geheimnisvolle Frau zu enträtseln.

„Und wieso magst du mich nicht?“

„Oh, bitte, das weißt du doch ganz genau.“ Nina setzte sich neben ihn. „Ich habe ganz einfach keine Lust auf ein paar Tage oder Wochen Sexmarathon und diese peinliche Verlegenheit danach.“

„Verlegenheit kenn ich nicht.“ Er freute sich, dass sie lachte. Jack fixierte sie schmunzelnd. „Ich wette, du magst so richtig weichgespülte Typen, die Sachen sagen wie: ‚Ist das okay für dich, Nina?‘, während du daliegst und gelangweilt an die Decke starrst.“

„Nein.“

Er sah sie fragend an. „Wenn du nicht sicher bist, ob du mich magst, warum sitzt du dann überhaupt hier und trinkst mit mir zusammen?“

„Vielleicht aus dem gleichen Grund wie du.“

„Ich verrate dir, weshalb ich hier mit dir sitze.“ Gespannt wartete Nina darauf, dass er weitersprach. Diesmal war er es, der sie verblüffte. „Im Gegensatz zu dir mag ich die Person zufällig, mit der ich gerade hier zusammen bin. Zugegeben – das überrascht mich selbst am meisten. Nichts für ungut, aber du bist eigentlich gar nicht mein Typ.“

„Schon gut, du ja erst recht nicht meiner.“

„Trotzdem …“ Er sah ihr tief in die Augen, während er die Hände an den Innenseiten ihrer Schenkel hinaufwandern ließ. „Der Sex mit dir ist bestimmt fantastisch … Keine Ahnung, wie es mit uns weitergeht und ob überhaupt, da bin ich ganz ehrlich. Ich weiß nur eines: dass ich dich gerne ein bisschen besser kennenlernen möchte – in jeder Hinsicht.“

Den Blick voller Begehren auf ihre leicht geöffneten Lippen gerichtet, fügte er hinzu: „Aber ich muss dich warnen. Ich werde dich auf alle Zeit für diese Softies, die du gewöhnt bist, verderben.“

„Jack, du kennst mich kein bisschen. Es gibt und gab keine Softies in meinem Leben. Ich hatte noch nie eine feste Beziehung.“

Sie spürte, wie er mitten in der Bewegung erstarrte, amüsierte sich über den fast panikartigen Ausdruck in seinen Augen.

„Keine Angst, ich bin keine Jungfrau mehr.“ Jetzt musste Nina lachen.

„Na, da hab ich ja noch mal Glück gehabt.“ Er stieß erleichtert den Atem aus. „Du warst tatsächlich noch nie länger mit einem Mann zusammen?“

„Nein. Keine Zeit.“ Jack brauchte nicht zu wissen, dass er der erste Mann seit einer kleinen Ewigkeit war, nein, der erste Mann überhaupt, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Und dass die Nächte auf den Sofas guter Freundinnen auch eine Schattenseite in Gestalt von zudringlichen Brüdern und Vätern hatte.

Also sagte sie ihm das, was die Sache am Unkompliziertesten machte: dass diese eine Nacht völlig okay für sie sei und sie nichts weiter von ihm erwartete.

Damit konnte er umgehen. Schließlich war auch Jack nicht scharf auf eine feste Bindung. Trotzdem ärgerte ihn ihre unverblümte Art doch ein bisschen. Noch nie hatte ihm eine Frau so offen ins Gesicht gesagt, dass sie nur wegen Sex hier war. Allerdings erholte er sich rasch von diesem Anfall von Doppelmoral und setzte sein Streicheln fort.

Falls sie erwartet hatte, dass er sie über die Schulter werfen und in sein Schlafzimmer schleppen würde, enttäuschte er Nina. Jack fiel auch nicht über sie her, um ihr die Kleider vom Leib zu reißen, sondern neigte sich vor und küsste sie.

Ein zärtlicher, angenehmer Kuss, den er behutsam vertiefte, der aber nie fordernd wurde. Auch seine Hand an ihrem Hinterkopf ruhte dort nur sehr sanft. Es war die andere Hand, die frech wurde.

Zielstrebig wanderte sie Ninas bestrumpften Schenkel hinauf, dann begann Jack, sie durch den Stoff ihrer Strumpfhose zu streicheln. Kreisende Bewegungen wechselten sich ab mit wohldosiertem Druck. Er erforschte sie, streichelte, presste sanft, während er sie weiter ganz gentlemanlike küsste.

Nina erwiderte seinen Kuss, drängte sich seiner forschenden Hand entgegen, bis sie es nicht länger aushielt. „Reiß das blöde Ding doch einfach runter“, keuchte sie.

„Nein.“ Er drückte ein wenig fester, und sie sog scharf die Luft ein. „Ich finde die Strumpfhose total sexy … Wenn ich dich das nächste Mal darin sehe, werde ich bestimmt sofort ganz heiß auf dich.“

Jack fuhr fort, sie zu streicheln, bis Nina vor Verlangen brannte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um sich die Strumpfhose selbst herunterzureißen, doch Jack hielt sie fest, als ahnte er, was sie vorhatte, wie sehr sie sich danach sehnte, dass er sie auszog und ins Bett trug. Aber er rührte sich nicht. Intensivierte sein kreisendes Streicheln vielleicht ein kleines bisschen, küsste sie, saugte sanft an ihrer Unterlippe.

Nina stöhnte erregt auf, versuchte, ihm das Hemd aufzuknöpfen.

„Warum bist du nur so stur?“, neckte er sie, während sie sich redlich mühte, nicht jetzt schon zu kommen.

„Bin ich doch gar nicht.“ Ihr Keuchen beschleunigte sich, während es ihr immer schwerer fiel, gegen den Impuls zu kämpfen, einfach loszulassen. Warum sie das tat, wusste Nina selbst nicht zu sagen, aber sie wollte einfach noch nicht …

Nein, sie wollte, dass Jack sich als rücksichtsloser, egoistischer Liebhaber entpuppte, damit sie ihn sich endlich aus dem Kopf schlagen konnte. Wollte nicht unter seinen Liebkosungen stöhnen und flehen, weil er sie so scharf machte, wie sie es sich nie hätte träumen lassen …

Jack spürte, dass sie ihre Schenkel anspannte, spürte ihren Atem in schnellen Stößen auf seiner Haut. Er hörte mit dem Streicheln auf, genoss es, wie ihr schlanker Körper auf dem Höhepunkt der Lust erbebte, genoss den Triumph, als Sieger aus diesem stummen Kampf hervorzugehen.

Kaum hatte Nina sich wieder etwas gefasst, ärgerte sie sich. Ärgerte sich darüber, dass ihm im Leben alles so leicht zufiel, selbst ihre Hingabe …

Ja, es machte sie böse, dass er wusste, wie gut er war. Aus blitzenden Augen sah sie ihn an, nicht bereit, ihm die Zügel vollständig zu überlassen. Wenn er erwartet hatte, dass sie jetzt zu einem wimmernden Etwas zerfloss und hingebungsvoll seinen Namen stöhnte, hatte er sich getäuscht.

Nina suchte seine Lippen und küsste ihn. Fordernd, leidenschaftlich. Gleichzeitig begann sie, mit fliegenden Fingern sein Hemd aufzuknöpfen. Er reagierte wie gewünscht, hob ein wenig ihre Hüften an, um sie so zu positionieren, dass er seine machtvolle Erektion an ihre empfindsamste Stelle pressen konnte.

Jetzt bedeckte Nina erst sein Gesicht mit hauchzarten Küssen, dann seinen Hals, fing an, sanft an der sensiblen Stelle unter seinem Ohr zu saugen. Wieder fanden sich ihre Lippen, während Nina seine Gürtelschnalle in Angriff nahm.

Zum ersten Mal konnte Nina ihre Sinnlichkeit ausleben, spürte die verborgene Leidenschaft, die in ihr schlummerte. Stellte entzückt fest, wie berauschend dieses Spiel von Geben und Nehmen war.

Endlich löste sich die Gürtelschnalle, und Nina öffnete seine Hose, um ihn in die Hand zu nehmen, die unglaublich seidige, heiße Haut zu streicheln.

Mit einem Ruck zerriss Jack als Nächstes ihre Strumpfhose – endlich! – und ihren Slip gleich mit. Entlockte ihr lustvolle Seufzer, als er mit dem Finger in sie eindrang und mit der Zungenspitze über ihren Hals strich.

Und brachte es sogar noch fertig, die Suche nach einem Kondom in ein erotisches Spiel zu verwandeln. „Ich hab einen kleinen Job für dich.“

Nina musste sich weit vorbeugen, um das Zellophanpäckchen aus der Tasche seines Jacketts zu fischen, das über der Sofalehne lag. Die perfekte Gelegenheit für Jack, ihren festen, kleinen Po zu liebkosen. Mit ihrer Beute in der Hand hockte sich Nina auf die Fersen, zwischen seine leicht gespreizten Beine, und hielt ihm das Zellophanpäckchen hin. „Hier.“

„Ich bin beschäftigt“, stöhnte Jack, während er nach dem Reißverschluss ihres Kleids tastete. „Streif du das Ding über.“

„Tzz, tzz, du bist alt genug, das selbst zu tun“, schalt sie ihn scherzhaft. Sie blieb, wo sie war, in ihren Stiefeln vor ihn gekauert, und streichelte ihn mit beiden Händen, spürte voller Genugtuung, wie er noch größer und härter wurde. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht, Jack zappelte an ihrer Angel, versuchte mit aller Macht, die Kontrolle zu behalten.

„Warum bist du nur so stur, Jack?“, neckte sie ihn.

„Dasselbe könnte ich dich fragen.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er sie zu sich auf den Schoß zurück, umfasste mit beiden Händen ihre Hüften und ließ sie ein Stückchen hinunter, sodass nur die Spitze seiner Erektion in sie eindrang. Diese lustvolle Folter setzte er eine ganze Weile fort, eine wirklich harte Lektion für Nina. Wie gebannt sah er ihr dabei ins Gesicht, registrierte jedes noch so leise Stöhnen, jedes Flattern ihrer Lider, bohrte seinen Blick in ihren.

Ganz schnell hatte er sie wieder dort, wo sie vorhin aufgehört hatten.

Nina tastete nach dem Kondom, doch Jack hatte es sich anders überlegt. Er wollte keine schnelle Nummer auf dem Sofa, hatte keine Lust, Nina um zwei Uhr nachts nach Hause zu fahren oder ihr ein Taxi zu rufen. Worauf sie wahrscheinlich bestehen würde, denn anders als die meisten Frauen legte sie es nicht darauf an, einen festen Platz in seinem Bett oder gar in seinem Herzen zu beanspruchen.

Diesmal war es Jack, der mehr wollte, nicht umgekehrt.

Also zog er sie mit sich in sein Schlafzimmer. Streifte ihr dort geschickt in einer einzigen fließenden Bewegung das Trägerkleid ab, gefolgt von ihrem lilafarbenen Pulli. Zum Vorschein kam ein ausgeleierter, vom vielen Waschen verblichener BH.

Als er ihr auch den auszog, musste Nina über seinen Gesichtsausdruck lachen.

„Hey, hast dich ja richtig fein gemacht für den großen Auftritt“, neckte er sie.

„Das hab ich nicht nötig.“

Stimmt. Nie hatte Jack sich weniger um die Verpackung geschert. Diesmal interessierte ihn wirklich nur der Inhalt.

Doch Nina widersetzte sich ihm immer noch.

Nicht körperlich, da kam sie ihm mehr als willig entgegen.

Den Mund in einem verlangenden Kuss auf seinen gepresst, schälte sie ihn Stück für Stück aus seiner Kleidung. Nackt fand sie Jack ebenso beeindruckend wie in seinen Designer-Klamotten. Er roch fantastisch – nach Jack eben –, sie konnte es kaum erwarten, ihn zu schmecken. Und er war so wundervoll groß und hart.

Sekunden später ließ er sie diese Härte spüren, drang behutsam in sie ein, tief und langsam. Sie fühlte sich ganz heiß und feucht an, und er merkte, wie sie sich fest um ihn schloss. Und doch hielt sie etwas von sich zurück. Auch das spürte er genau.

„Nina …“ Jack suchte nach den richtigen Worten, vergeblich. Und während sie sich immer fordernder an ihn drängte, konnte er sich immer weniger darauf konzentrieren, was es war, das er vermisste. Mit Sex hatte es nichts zu tun, Nina war die hingebungsvollste, leidenschaftlichste Partnerin, die er sich nur vorstellen konnte. Nein, es war etwas anderes als Sex, etwas viel Bedeutsameres …

Routiniert trieb er sie zum Höhepunkt, auch auf diesem Gebiet verstand er sein Metier. Immer wieder brachte er sie fast zum Kommen, um dann innezuhalten und ihre lauten, lustvollen Seufzer zu genießen, zu beobachten, wie sie sich hilflos unter ihm wand.

Aber eines schaffte er nicht: dass sie seinen Namen stöhnte, ihn anfeuerte, sie ganz und gar zu nehmen, wie er es von anderen Frauen gewohnt war. Das störte Jack nicht wirklich, denn er merkte ja, wie erregt sie war.

Endlich erbebte ihr ganzer Körper auf dem Gipfel der Lust. Wild bog Nina sich ihm entgegen, zog ihn heftig pulsierend noch tiefer in sich hinein.

Sekunden später kam auch er, klammerte sich mit einem heiseren Aufschrei an sie.

Es war der beste Sex, den Jack je gehabt hatte.

Trotzdem wollte er mehr.

Anschließend lagen sie schwer atmend nebeneinander auf dem Bett, ihre Körper schweißfeucht, während ihr Herzschlag sich nur langsam beruhigte.

Jetzt wusste Nina also, wie toll Sex sein konnte, besonders mit diesem einen Mann. Unmöglich, sich vorzustellen, dass es mit einem anderen auch so sein konnte … Ein beunruhigender Gedanke, der sie verwirrte.

Ihre Blicke trafen sich, und Nina musste sich sehr beherrschen, um ihn nicht merken zu lassen, welch großartiges Geschenk er ihr gerade gemacht hatte. Auch wenn er sie ganz sicher bald verlassen und zur nächsten Eroberung weiterziehen würde.

„Ich rufe mir ein Taxi …“

Fast hätte Jack laut losgelacht.

Welch Ironie des Schicksals! Wie oft hatte er hier mit einer Frau gelegen und gehofft, genau diesen Satz zu hören. Und nun musste ausgerechnet jene Frau diese Worte aussprechen, von der er sie auf keinen Fall hatte hören wollen.

„Du kannst unmöglich ein Taxi nehmen, deine Sachen sind ja alle zerrissen“, protestierte Jack. „Ich lasse dich nicht ohne Unterwäsche in ein Taxi steigen.“

„Dann bring du mich bitte nach Hause.“

„Wird gemacht.“ Er zog sie in die Arme. „Morgen früh.“

Wenn er die Nacht mit einer Frau verbracht hatte, wachte er morgens normalerweise ziemlich verspannt auf, weil er einen Arm fest um seinen Nacken spürte oder eine Hand auf seinem Rücken. Noch schlimmer war es, von Frühstücksgerüchen aus der Küche geweckt zu werden, wenn es mal eine seiner Freundinnen geschafft hatte, seiner Haushälterin zuvorzukommen. Um das zu verhindern, musste er schon spätestens um sechs aufstehen.

Doch heute war alles ganz anders. Nina lag ganz dicht an der Bettkante zusammengerollt auf der Seite und drehte ihm den Rücken zu.

7. KAPITEL

Als Nina am nächsten Tag Jack bei der Arbeit traf, war sie kein bisschen verlegen. Dazu war sie viel zu beschäftigt.

Jede Menge Neuzugänge mussten aufgenommen werden, und dann war da natürlich auch noch Tommy, der ihre besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

„Wie geht es dir?“ Zufrieden stellte sie fest, dass Tommy sehr viel besser aussah als bei seiner Einweisung. Die Medikamente hatten das Tumorwachstum – zumindest für den Moment – stoppen können. Endlich hatte Tommy wieder etwas Farbe in den Wangen. Am Montag würden sie mit der Chemotherapie beginnen, einer besonders strapaziösen, wie Nina wusste.

„Mir geht’s super, danke.“ Tommy wies auf die Frau, die an seinem Bett saß. „Das ist meine Tante Kelly, sie bleibt übers Wochenende.“

„Ich werde Tommy so oft wie möglich besuchen.“ Kelly lächelte. „Mike hat jetzt ein Vorstellungsgespräch, aber heute Nachmittag kommt er auch noch vorbei.“

„Gut.“

Nein, in Wirklichkeit war es einfach nur schrecklich.

Was machte diese Familie bloß durch! Wie furchtbar, auf Arbeitssuche gehen zu müssen, während der eigene Sohn todkrank im Krankenhaus lag! Nina nahm sich vor, für Mike eine Unterkunft in der Nähe der Klinik zu organisieren. Viel mehr konnte sie für diese Familie nicht tun, was sie zutiefst deprimierte.

Also verabschiedete sie sich und verließ das Zimmer. Gina sprach aus, was Nina empfand.

„Grausam, nicht?“

„Ich muss mal überlegen, ob es nicht doch etwas gibt, was wir tun können.“ Nina seufzte.

„Der arme Kerl zerreißt sich förmlich, um an fünf verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein. Dabei möchte er eigentlich nur am Bett seines Sohnes sitzen.“ Bedrückt schüttelte Gina den Kopf.

Zurück in ihrem Büro, brütete Nina über ihren Unterlagen. Im Geist fügte sie ‚Pflichtberatung‘ der Liste von Aufgaben hinzu, die für Mike anstanden.

Und wieder fragte sie sich, was sie da eigentlich tat.

Allerdings nicht lange, denn sie musste noch einen dringenden Nachtrag in ihrem Bericht für den morgigen Gerichtstermin fertigstellen.

Jack hatte ein paarmal angerufen, aber sie hatte ihn jedes Mal kurz abgefertigt mit der Ausrede, sie stecke bis über die Ohren in Arbeit. Was ja auch stimmte. Und ihr gleichzeitig ganz gut passte, denn es hielt sie davon ab, ihrem Verlangen nach seiner Gesellschaft nachzugeben.

Ihr Terminkalender platzte wirklich aus allen Nähten. Und eine Entspannung der Lage war so schnell nicht in Sicht. Wie zur Bestätigung ihrer düsteren Gedanken strandete auch noch Janey schlecht gelaunt gegen vier Uhr nachmittags in Ninas Büro. Das junge Mädchen schmollte und war wütend … wieso konnte sie nicht endlich zu ihrer großen Schwester ziehen, wo die doch jetzt eine Dreizimmerwohnung hatte?

„Ich habe das Sorgerecht für euch beide beantragt, das weißt du ja. Jetzt warte ich auf den Besuch vom Jugendamt. Jemand kommt vorbei, um zu schauen, ob die Wohnung den Anforderungen entspricht.“

„Ich glaube dir kein Wort“, fuhr Janey sie an. „Wenn du uns wirklich willst, hättest du uns schon vor Jahren zu dir geholt.“

Diese Worte trafen Nina wie Messerstiche. Es war nicht das erste Mal, dass Janey ihr diesen Vorwurf machte. Obwohl Nina inzwischen gelernt hatte, die meisten dieser harten Worte an sich abprallen zu lassen, gelang ihr das nicht immer. So wie jetzt. Es brachte sie schier um, dass sie ihre kleine Familie nicht hatte zusammenhalten können.

„So einfach ist das alles leider nicht, Janey.“ Nina gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. „Und es ist auch nicht fair gegenüber Barbara …“

„Barbara ist eine blöde Kuh“, blaffte Janey.

„Es gefällt mir nicht, wenn du so redest.“

„Sie ist trotzdem ’ne blöde Kuh.“

Nina biss die Zähne zusammen. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie der Aufgabe gewachsen war, mit einem so schwierigen Teenager fertigzuwerden. Wenn alles glattging, würden Janey und Blake schon in wenigen Wochen bei ihr einziehen. Bis dahin musste sie es schaffen, Janey irgendwie in den Griff zu kriegen, sonst würde die Situation eskalieren.

„Das braucht alles seine Zeit, aber es geht voran, glaub mir“, erklärte sie ihrer kleinen Schwester geduldig. „Ich weiß, dir kommt das wie eine Ewigkeit vor. Überleg doch mal, so lange habe ich die Wohnung doch noch gar nicht. Sag mal, was hältst du davon, wenn wir erst mal einen Happen essen? Dann zeige ich dir die Fotos, die ich gemacht habe. Ich hab jetzt sämtliche Möbel für dein Zimmer zusammen.“

„Musst du nicht arbeiten?“

„Heute Abend habe ich sowieso Bereitschaftsdienst, also kann ich ruhig eine kleine Pause einschieben.“

Im Krankenhaus gab es verschiedene Cafeterien. Sie entschieden sich für das Café und setzten sich ganz nach hinten, wo es nicht so laut war. Nina kaufte für Janey ihren Lieblingsmuffin und einen Café Frappé, während sie selbst sich mit einem schwarzen Kaffee begnügte. Sie fühlte sich so gestresst, dass sie keinen Bissen herunterbekam.

Es störte sie, dass Janey es nicht für nötig hielt, Danke zu sagen, als Nina das Tablett vor sie hinstellte. Eigentlich dürfte sie ihr das nicht durchgehen lassen, aber wenn sie jetzt etwa sagte, würde ihre Schwester einfach aufstehen und gehen, das wusste sie. Und das wollte Nina um jeden Preis vermeiden.

„Ich gebe mir Mühe, ehrlich.“

„Geschenkt!“

„Am Wochenende habe ich Blake. Willst du nicht auch vorbeikommen?“

Janey erwiderte nichts darauf. War sie eifersüchtig, weil Blake regelmäßig ein ganzes Wochenende bei seiner großen Schwester verbringen durfte? „Ich könnte dich zum Netball bringen.“

„Netball spiele ich nicht mehr.“

„Wieso denn nicht? Das hat dir doch immer so viel Spaß gemacht?“

„Ja, komm wieder runter, ey. Die haben mich rausgeschmissen.“

„Aber warum denn nur? Du hast dich gut gemacht.“

„Bis ich die Schiedsrichterin beschimpft hab.“ Mit gesenktem Blick bröselte Janey ihren Muffin auseinander. „Barbara sagt, wenn ich so weitermache, muss ich am Wochenende den Keller aufräumen.“ Sie blickte auf und sah Nina an. „Aber wenn du sie anrufst, dann darf ich bestimmt kommen …“

„Nein.“ So leicht würde Nina sich nicht manipulieren lassen. Barbara hatte es schwer genug mit Janey, und Nina wollte ihr bei der Erziehung nicht dazwischenpfuschen. „Barbara hat völlig recht, wenn sie dir das nicht durchgehen lässt. Janey, du warst doch immer ganz scharf aufs Netball-Spielen. Hast du wirklich die Schiedsrichterin beschimpft?“

„Sie ist eine dumme Kuh.“

„In deinen Augen scheint jeder eine dumme Kuh zu sein.“ Nina hatte Mühe, die Beherrschung zu wahren, wollte Janey nicht noch mehr aufregen. Vergeblich. Bei der geringsten Kritik fühlte Janey sich sofort angegriffen, besonders, wenn die Kritik von Nina kam. Und sie rächte sich, indem sie alle Register zog, um Nina auf die Palme zu bringen.

„Du bist die blödeste Kuh von allen.“ Janey sprang auf. „Ich soll mich das ganze Wochenende beim Kelleraufräumen todschuften, während du Blake Zucker in den Hintern bläst. Tausend Dank, Schwesterherz …“ Damit stürmte sie aus dem Café, direkt an Jack vorbei, von dem sie keine Notiz nahm.

Suchend blickte er sich im Café um und entdeckte Nina mit in die Hände gestütztem Kopf an ihrem Tisch im hinteren Bereich. Gerade wollte er zu ihr gehen, um sich zu vergewissern, dass sie okay war, da wurde er auf die Intensivstation gerufen. Nina musste warten, er würde sich später um sie kümmern.

Und das würde er tatsächlich. Allein schon deshalb, weil sie Tag und Nacht in seinen Gedanken herumgeisterte. Eine völlig neue Erfahrung für Jack.

Tagsüber konnte er sich mit Arbeit ablenken, aber die Abende waren schlimm, besonders, weil Nina nie Zeit zu haben, ständig zu arbeiten schien. Manchmal erwiderte sie nicht mal seine Anrufe.

Aber so schnell würde er nicht aufgeben.

Um sieben Uhr abends rief er an, nur um zu erfahren, dass sie – Überraschung! – wieder den ganzen Abend arbeiten würde. Fast kam er sich wie ein Idiot vor, als er, bewaffnet mit einer Flasche Mineralwasser und italienischem Essen, die dunklen Büros des Sozialdienstes passierte und auf die eine Tür zuhielt, unter der ein schwacher Lichtschein hindurchschimmerte.

„Oh, hallo, Jack. Sorry, ich hab wirklich keine Zeit für eine Pause“, begrüßte Nina ihn nervös.

„Nicht mal, um zu essen?“

Das war ein Argument. Nina konnte sich nicht erinnern, wann sie heute zuletzt etwas zu sich genommen hatte. Trotzdem … Sie sollte Jack lieber wegschicken. Sein Anblick in Scrubs war zu sexy für ihren geschwächten Zustand. Wie sollte sie ihm widerstehen, falls er versuchen würde, sie zu küssen?

Nina räusperte sich, fest entschlossen, ihn abzuwimmeln. „Ich muss wirklich arbeiten. Morgen früh habe ich einen Gerichtstermin, und vorher muss ich noch diesen Bericht zu Ende schreiben …“

„Fünf Minuten?“

„Okay.“ Memme, wie kannst du nur so schnell umkippen? Ob es nun an dem leckeren Duft des Essens lag, der ihr entgegenwaberte, oder an Dr. Perfect, dem sie sowieso nicht widerstehen konnte – sie wusste es nicht. „Komm rein.“

„Wie war dein Tag?“

„Anstrengend. Und deiner?“

„Vollgestopft.“ Munter plaudernd öffnete er die Styroporboxen, und appetitlich duftende Spaghetti mit Meeresfrüchten kamen zum Vorschein. „Die meiste Zeit habe ich auf der Intensivstation verbracht: ein kleines Mädchen, das uns Kopfzerbrechen bereitet. Es ist uns zum Glück gelungen, sie zu stabilisieren. Morgen sehen wir weiter.“

„Na, wenigstens was.“ Es störte sie nicht mehr, dass er seine kleinen Patienten nicht beim Namen nannte.

„Auch sonst gibt’s einige positive Entwicklungen. Zum Beispiel haben wir endlich das Okay für die betreute Spielecke.“

„Super, die können wir wirklich gut gebrauchen.“ Nina tauchte ihre Gabel in das leckere Nudelgericht.

„Stimmt.“ Jack zögerte kurz, bevor er fragte: „Wie geht es deinen Geschwistern?“

„Ach, alles so wie immer.“

Ein weiteres Spiel mit ungewohnter Rollenverteilung. Normalerweise stand Jack im Fokus des Interesses. Eine Frau wie Nina – verschlossen wie eine Auster – hatte er bis jetzt nicht kennengelernt.

Sie unterhielten sich noch ein bisschen über die Arbeit, und nachdem sie auch den letzten Rest der delikaten Spaghetti vertilgt hatten, dankte Nina ihm für das Essen – eine höflich verpackte Aufforderung, zu gehen.

Doch Jack rührte sich nicht.

Nun wurde Nina deutlich „Tut mir leid, ich muss wirklich arbeiten.“

„Ich störe dich nicht.“

Schweigend saß er da, während sie sich wieder ihrem Bericht zuwandte.

Bis Jack es nicht länger aushielt. „Hör mal, hast du nicht Lust, zu mir zu kommen, sobald du hier fertig bist?“

„Geht leider nicht, ich muss nach Hause. Für meinen Gerichtstermin morgen früh brauche ich ein etwas formelleres Outfit.“

„Weißt du was, gib mir einfach deinen Schlüssel, dann hole ich dir inzwischen die Sachen …“

„Wie bitte?“

Nina hatte ja keine Ahnung, wie sehr er mit seinem Vorschlag gegen seine Prinzipien verstieß, nie einen Fuß in die Wohnung seiner jeweiligen Freundin zu setzen. Eine weitere Selbstschutzmaßnahme mit dem Zweck, nicht zu tief ins Leben eines anderen einzudringen.

„Als ob ich jemandem, den ich kaum kenne, meine Wohnungsschlüssel anvertraue.“

„Ach, du kennst mich kaum?“, gab er sich gekränkt.

„Jack.“ Nina stand auf und warf die Styroporboxen in den Papierkorb. „Ich hocke hier bestimmt noch bis Mitternacht – wenn wir so weitermachen, wahrscheinlich sogar bis ein Uhr nachts.“ Sie kam um den Schreibtisch herum zu ihm und sah ihn an. Und da war es wieder – dieses Gefühl brennender Sehnsucht nach diesem Mann. Was gäbe sie darum, hier einfach alles stehen und liegen zu lassen, um mit ihm im Bett zu verschwinden.

„Ich muss jetzt wirklich arbeiten“, erklärte sie so entschlossen wie möglich.

„Und ich finde, du hast eine kleine Pause verdient.“ Ehe sie ihm ausweichen konnte, zog er sie auf seinen Schoß und küsste sie.

Sofort vergaß Nina alles um sich herum und überließ sich dem erregenden Rausch, in den seine Küsse sie sofort versetzten. Jack hatte sich seit heute Morgen nicht mehr rasiert, und seine Bartstoppel kratzten, das nahm Nina noch am Rande wahr. Mühsam löste sie sich von seinen Lippen, hauchte: „Ich kann morgen nicht völlig zerkratzt bei Gericht erscheinen …“

„Oh, mir fallen auch noch andere Stellen ein, wo ich dich küssen kann“, meinte er verheißungsvoll.

Nina sah ihm in die Augen, und mit ihrem Blick sagte sie ihm all das, was sie nicht laut aussprach: dass sie Jack sexy fand und es ihr Spaß machte, mit ihm zusammen zu sein. Trotzdem – sie würde sich nicht in ihn verlieben.

„Nina, du möchtest das nicht hören, ich weiß, aber ich will dich so sehr, will mehr …“

„Na gut, dann sollst du mich auch kriegen.“ Sie kletterte von seinem Schoß und begann, sich Stiefel und Strumpfhose auszuziehen.

„Ich meine, mehr Zeit mit dir. Ich möchte mit dir ausgehen, irgendwas Nettes unternehmen …“

„Jack.“ Sie stand jetzt ohne Strümpfe und ohne Slip vor ihm, aber ihre Gefühle würde sie nicht entblößen. „Worauf bist du aus? Verschafft es dir einen Kick, eine Frau in dich verliebt zu machen? Um sie dann, wenn sie mit Haut und Haaren dir gehört, fallenzulassen wie eine heiße Kartoffel?“

Ja, genau das verschaffte ihm tatsächlich einen Kick. Was er natürlich nicht zugeben würde. Das erschien ihm nicht ratsam.

Weil es diesmal anders war.

„Mit dir ist es anders“, sagte er also.

„Kann schon sein. Weil du nicht so zu tun brauchst, als sei dies mehr als nur eine kurze Affäre.“

„Hey, ich bin doch nicht wegen Sex hier!“

„Oh, schade, dann hast du sicher auch kein Kondom dabei …“ Schadenfroh registrierte sie das Aufblitzen in seinen Augen. „Ertappt!“ Sie beugte sich über ihn, suchte seine Lippen, während Jack die Hände unter den Saum ihres Kleides schob und ihre nackten Schenkel hinaufstrich.

Warum reichte ihm das auf einmal nicht? Endlich war er einer Frau begegnet, die sexuell auf der gleichen Wellenlänge war wie er und die es nicht darauf angelegt hatte, sich in sein Leben zu stehlen.

Darüber konnte er jetzt allerdings nicht länger nachgrübeln, denn Nina kniete sich jetzt vor ihn und zog ihm energisch die OP-Hosen herunter. Dann senkte sie den Kopf, ganz offensichtlich in der Absicht, es schnell hinter sich zu bringen, um ihn loszuwerden.

Das kränkte ihn nun wirklich. Einen Blowjob lehnte er sonst nie ab, aber heute empfand er ihr Angebot wie eine Beleidigung.

Mit ihr war eben alles anders.

Kurzentschlossen zog er sie mit sich auf den Boden, bedeckte ihre Lippen mit heißen Küssen – und noch immer wehrte sie sich gegen ihn. Nicht physisch, da war sie leidenschaftlich wie letztes Mal auch, sondern eher auf der psychischen Ebene. Für sie schien es tatsächlich nur um heißen Sex zu gehen, während er ihr Herz zu erobern versuchte.

Ihr Herz, das sie ganz fest hinter Schloss und Riegel gepackt hatte.

Mit wachsendem Verlangen erwiderte Nina seine Küsse. Als er in der Brusttasche seines OP-Kittels nach einem Kondom fischte, hauchte sie dicht an seinen Lippen: „Wusste ich’s doch!“

„Verdammt, Nina.“ Allmählich wurde er richtig sauer, was ihm bei Frauen sonst nie passierte. Wenn ihm irgendwas nicht passte, beendete er die Sache normalerweise sofort und suchte sich die nächste Partnerin.

„Soll ich dir helfen?“, gurrte Nina.

Ungehalten schob er ihre Hand weg. Er war nicht nur sauer, sondern wirklich verletzt. Ihre unverblümte Botschaft ‚Eine schnelle Nummer ist schon okay, also bringen wir es hinter uns‘ nervte ihn unendlich.

Jack drückte ihre Schenkel auseinander und drang kraftvoll in sie ein. Ihre Lippen noch immer fest auf seine gedrückt, gab sie trotzdem nicht nach. Ein absurder Ringkampf zwischen zwei starken Persönlichkeiten begann …

Jetzt hatte Jack genug davon, löste sich von Ninas Lippen und sah sie auf die Ellbogen gestützt an. „Geh mit mir aus.“

„Ich kann nicht.“

„Doch, du kannst. Am Wochenende führe ich dich schick aus …“, er begann, sich in ihr zu bewegen, „und wir …“

„Am Wochenende hab ich Blake.“

„Dann Sonntagabend.“

„Ich habe zu tun.“

„Ich möchte mehr Zeit mit dir verbringen, Nina.“

Für ihren Geschmack bewegte er sich viel zu behutsam in ihr, sie wollte ihn schnell und hart. Wollte, dass es endlich vorbei war, weil sie dieses innige, zärtliche Zusammenspiel nicht mehr lange würde ertragen können, ohne in Tränen auszubrechen und laut seinen Namen zu schluchzen.

Also wand sie sich unter ihm und stöhnte. „Ich komme …“

„Kleine Schwindlerin.“ Jack lachte leise. Ein Experte wie er ließ sich nicht täuschen.

Jetzt drang er tief in sie ein, wartete ein bisschen, um sich dann zurückzuziehen und das Spiel von Neuem zu beginnen.

Tränen schimmerten in ihren schönen Augen, und ihre Wangen glühten. „Bitte hör auf.“ Sie wussten beide, dass sie nicht über Sex redete.

„Ich will dich, Nina.“

„Du hast mich doch.“

„Ich will mehr von dir“, keuchte er und fing an, seinen Rhythmus zu beschleunigen.

Aufstöhnend schlang sie ihm die Beine um die Hüften, zog ihn ganz dicht an sich, presste die Lippen auf seinen Mund. Sie musste ihn küssen, durfte nicht damit aufhören, weil sie ihm sonst verraten hätte, dass sie verrückt nach ihm war und ihn am liebsten nie mehr gehen lassen würde.

Immer schneller, tiefer drang er in sie ein, bis er einen machtvollen Orgasmus erlebte. Nina konnte kaum atmen, konnte sich nicht länger beherrschen und schrie auf dem Höhepunkt der Lust seinen Namen hinaus …

Danach sah Jack ihr in die Augen, um seinen Mund lag dieses Hab ich’s dir nicht gleich gesagt? – Lächeln, das sie immer ganz schwach machte. Ihre anfängliche Schwärmerei für diesen Mann nahm allmählich bedrohliche Züge an.

Nina vertraute eigentlich niemandem wirklich und schon gar nicht einem Typ wie Jack Carter. Schließlich war sie kein naiver Dummkopf. Dazu hatte sie im Leben schon zu viel erlebt.

Angenehm schläfrig, rollte Jack von ihr herunter und blieb eine Minute mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen.

Nina dagegen war hellwach. Jack durfte nicht mal ahnen, was sie für ihn empfand. Denn er würde ihr das Herz brechen.

Das wusste sie genau.

Zwei Tage – oder zwei Wochen –, dann wäre auch diese Affäre für ihn abgehakt. Trotzdem würden sie weiter zusammenarbeiten müssen. Also musste Nina für sich behalten, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Kein Wehmütiges: Was wäre, wenn? Auch wenn es noch so verlockend war, sich ihren Fantasien hinzugeben …

Sosehr sie sich auch danach sehnte, endlich ihre Geschwister zu sich zu holen, wünschte sie sich gleichzeitig ein bisschen Zeit für sich selbst. Zeit für sich und den umwerfenden Dr. Perfect … Solange es eben dauern würde …

Denn eine gemeinsame Zukunft gab es für sie nicht. Punkt.

„Danke für die zauberhafte Unterbrechung.“ Nina lächelte versonnen. „So, jetzt muss ich aber wirklich an die Arbeit.“

8. KAPITEL

Nina hasste Gerichtstermine. Hasste das ewige Rumsitzen und Warten, während sie im Krankenhaus dringend gebraucht wurde.

Schlecht gelaunt warf sie sich in Montur, wählte eins ihrer Gerichtsoutfits: einen schlichten dunklen Hosenanzug mit einer weißen Bluse. Die Stiefel tauschte sie später im Warteraum gegen ein Paar Pumps, die schrecklich drückten, weil sie so selten getragen wurden.

Nachdem die Batterie ihres Laptops aufgegeben hatte, erlaubte Nina sich, ein wenig in den Klatschmagazinen zu blättern, die auf einem Tisch in der Ecke auslagen. Na super, schon wurde sie wieder von Jack Carter eingeholt, der ihr im Kreis seiner Lieben vom Cover eines Hochglanzmagazins entgegenlächelte.

Interessiert las sie den Artikel, verglich ihr Leben mit seinem.

Eine nette Familie und ein wunderschönes Zuhause. Anna Carter, ganz die perfekte Gastgeberin, führte die Reporterin freudig herum, erfuhr Nina.

War sie etwa neidisch auf das luxuriöse Zuhause, in dem Jack aufgewachsen war? Oder beneidete sie ihm um seine scheinbar intakte Familie? Darum, dass Jack senior nichts mehr liebte als eine Golfpartie mit seinen Söhnen und dass Anna es kaum erwarten konnte, endlich ihre ersten Enkelkinder in die Arme zu schließen? Das sei ihre einzige Sorge, wirklich.

Ich darf nicht neidisch sein, ermahnte sich Nina. Das ist nicht meine Art. Außerdem legte sie gar keinen Wert auf äußere Attribute wie eine Luxusvilla und einen dicken Schlitten vor der Tür. Und die Carters haben der Gesellschaft auch viel zurückgegeben, das musste man ihnen zugestehen.

Warum wurde sie dann beim Betrachten dieser Heile-Welt-Fotos so wütend? Vielleicht, weil sie wusste, dass sie nicht gut genug war? Das hatte man Nina oft genug in ihrem Leben eingeimpft. Warum sollte es diesmal anders sein?

Zu dumm nur, dass sie sich bereits in Jack Carter verliebt hatte. Schlimmer noch, allmählich mochte sie ihn sogar. Am allerschlimmsten: Sie bildete sich ein, dass auch er sie mochte. Was natürlich völliger Unsinn war. Diese Hirngespinste schlug sie sich lieber ganz schnell aus dem Kopf – sonst würde sie am Ende sehr tief fallen …

Ihr Handy summte. Es war nicht Jack wie erhofft, sondern Blake, um sie daran zu erinnern, dass sie ihn um fünf abholen wollte.

Wie könnte sie das vergessen? Plötzlich wurde ihr bewusst, wie sehr sich ihr Leben in Zukunft ändern würde, sobald ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging und sie ihre Geschwister bei sich hatte. Keine verplauderten Abende mit Jack in irgendeinem romantischen Lokal mehr, keine heißen Nächte in seinem Apartment … stattdessen jede Menge Hausarbeit und Kinderbetreuung.

Nina war ehrlich genug, sich selbst gegenüber zuzugeben, dass es ihr nicht leichtfiel, die gewohnte Freiheit aufzugeben. Auch wenn sie ihre Geschwister über alles liebte.

Endlich wurde ihr Fall aufgerufen, was sie auf andere Gedanken brachte. Alles lief wie gewünscht, die Mühe, die sie sich mit ihrem Bericht gemacht hatte, hatte sich also gelohnt. Als sie die Treppen vor dem Gerichtsgebäude hinunterlief, atmete sie erleichtert auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich nicht mehr lohnte, noch ins Büro zurückzukehren. Also machte sie sich gleich auf den Weg zu den Deans, um Blake abzuholen.

Wieder einmal ärgerte sie sich darüber, dass man ihn in eine Pflegefamilie am anderen Ende der Stadt untergebracht hatte. Aber das ist ja bald vorbei, beruhigte sie sich, während sie den Wagen durch den dichten Feierabendverkehr lenkte.

Bei den Deans angekommen, landete sie offenbar mitten in einer kleinen Familienfeier. Das heiß geliebte Enkelkind hatte Geburtstag. Sofort fiel Nina auf, dass Blake nicht an der Feier teilnahm, sondern ihr aus seinem Zimmer im oberen Stock entgegenlief. Die schönen Zeiten schienen wirklich vorbei …

Auf dem Rückweg nach Hause ließ ihr kleiner Bruder keinen Zweifel daran, wie er sich den Verlauf des Abends vorstellte. Er wollte sich ein Hockeyspiel im Fernsehen anschauen und dazu gemütlich ein paar Burger vom Take-away verdrücken.

Nina unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Sosehr sie diese Besuche auch liebte, empfand sie sie gleichzeitig als wahnsinnig anstrengend. Ihr kleiner Bruder erwartete immer das volle Verwöhnprogramm, das sie ihm ja auch gönnte. Gleichzeitig wusste sie, dass es pädagogisch nicht klug war, jeder seiner Forderungen nachzugeben.

Also, Hockeyspiel ja, Take-away nein.

Auf den Stufen zu ihrer Wohnung erwartete sie eine Überraschung. Jack. Mit einer Flasche Wein in der Hand.

„Was willst du denn hier?“, platzte Nina ungehalten heraus.

„Mit dir reden.“

„Aber ich hab dir doch gesagt, dass mein Bruder kommt.“ Seufzend schloss sie auf. „Geh schon mal rein, Blake, und schau dich ein bisschen in deinem neuen Zuhause um …“ Damit schob sie ihn energisch über die Schwelle.

Jack hatte bestimmt keine Lust, seinen Abend in Gesellschaft eines nörgeligen Teenagers zu verbringen, noch dazu in einer erst halb eingerichteten Wohnung. Also lud sie ihn ein, hereinzukommen. Eine sichere Methode, um ihn loszuwerden, wie sie hoffte.

Doch er nahm ihre Einladung an, was ihre Laune nicht gerade besserte.

Zuerst zeigte Nina Blake sein Zimmer. „Das wird dein Reich. Die Möbel muss ich noch zusammenbauen.“

Nervös eilte sie zu Jack zurück, der ein wenig unbehaglich in der Diele stand. „Tut mir leid, dass ich hier einfach so hereingeplatzt bin“, sagte er. „Irgendwie dachte ich, dass du deinen Bruder erst morgen holst.“

„Nein“, versetzte sie spitz. „Ich habe Blake alle vierzehn Tage für zwei Nächte.“

„Wie lief es bei Gericht?“, erkundigte sich Jack, als sie ihren Mantel auszog und ihr formelles Outfit zum Vorschein kam.

„Bestens. Bis auf die nervtötende Wartezeit. Na ja, zum Glück gab es einen Haufen Zeitschriften. Zufällig habe ich sogar einen Artikel über dich und deine Familie gefunden.“ Sie lächelte verschmitzt. „Deine Mom kann es also kaum erwarten, dass du oder dein Bruder einen Enkel produziert.“

„Tja, da wird sie sich wohl noch ein bisschen gedulden müssen.“

Sein Ton klang abweisend, was Nina daran erinnerte, mit welchem Kaliber von Mann sie es hier zu tun hatte.

„Liebst du denn niemanden? Nicht mal deine Eltern?“

Statt zu antworten, sah er sie nur ausdruckslos an.

„Ich meine es ernst, Jack.“

„Wie ich neulich schon sagte, die perfekte Familie gibt es nicht.“

„Was ist mit deinem Bruder?“

„Wir sind sechs Jahre auseinander“, meinte er nur achselzuckend. „In der Schule hatten wir nie viel miteinander zu tun.“

„Und zu Hause?“

„Wir waren im Internat.“

In diesem Moment kam Blake aus seinem Zimmer gestürmt. „Bestellen wir uns jetzt was zu essen?“, drängelte er erneut.

„Nein. Das habe ich doch schon gesagt.“

„Es macht mir nichts aus, rasch etwas zu holen“, bot Jack an.

Nina funkelte ihn böse an. „Kommt gar nicht infrage. Ich werde kochen.“

„Soll das eine Einladung zum Essen sein?“, fragte er mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen.

„Es gibt nur Pasta.“

„Super.“

Bevor sie hier vor Blakes Augen einen Nervenzusammenbruch bekam, verzog Nina sich lieber in die Küche, wo sie lautstark rumorte. Gereizt hörte sie mit an, wie Jack und Blake sich im Wohnzimmer amüsierten. „Jack!“, rief sie, während sie einen großen Topf mit Wasser füllte. „Kannst du mal bitte für einen Moment kommen?“

„Klar“, rief er zurück und eilte herbei.

„Geh bitte nicht gleich in die Vollen mit ihm, ja?“

„Wie bitte?“

„Blake ist so schrecklich liebesbedürftig …“ Und da taucht einfach so ein Jack Carter auf und verwandelt den Jungen im Handumdrehen zu einem seiner zahlreichen Fans. „Versprich ihm nichts, was du dann doch nicht halten kannst.“

„Hältst du mich für völlig unterbelichtet?“

„Nein“, fauchte Nina. „Übrigens, wir sind nur Freunde, falls er fragt.“

„Ach, tatsächlich?“, spottete Jack. „Ich habe ihm schon erzählt, dass wir zusammenarbeiten und dringend einen Fall besprechen müssen. Aber ich kann uns auch gerne zu Freunden upgraden, wenn du möchtest …“

„Kollegen klingt gut.“

Sie wandte Jack den Rücken zu, das Signal, dass er entlassen war. Dann machte sie sich daran, Blake sein Lieblingsessen zuzubereiten: Spaghetti mit Kräuterbröseln.

Schnell gemacht, nicht teuer und bestimmt nicht gerade ganz oben auf Jacks Speiseplan.

Während sie Semmelbrösel in Butter bräunte, kam Jack in die Küche geschlendert, um die Weinflasche zu öffnen. Er schenkte zwei Gläser ein und stellte ihres auf die Arbeitsplatte in Reichweite des Herds.

Nina wartete darauf, dass er sie küsste, sich irgendwie der Situation unangemessen verhielt, eine unsichtbare Grenze überschritt, damit sie ihn vor die Tür setzen konnte, aber den Gefallen tat er ihr nicht.

„Soll ich dir helfen?“, fragte er stattdessen höflich.

„Hey, Jack!“, rief Blake aus dem Wohnzimmer. „Sie übertragen das Spiel live …“

„Kein Fernsehen beim Essen“, schimpfte Nina streng.

„Spielverderberin!“

Okay, das war sie, weil sie es sein musste. Sie goss die Pasta ab, verrührte sie mit gekräuterten Semmelbröseln und einem ganzen Berg frisch geriebenem Käse und trug die Schüssel ins Wohnzimmer, wo Blake gehorsam den Tisch deckte.

„Jack ist für die Islanders“, verkündete der Junge voller Vorfreude.

Nina verdrehte kaum merklich die Augen, jetzt auch noch wütend auf die Programmmacher. Mussten sie ausgerechnet heute Abend ein Spiel zwischen Blakes Team, den New York Rangers, und den Islanders übertragen?

Natürlich würde sie Blake erlauben, das Spiel zu gucken. Wäre Jack nicht gekommen, würden sie es sich jetzt mit ihren Spaghetti auf dem Sofa bequem machen.

„Bitte …“ Blake sah seine großen Schwester flehend an.

„Na gut“, versetzte Nina schnippisch.

Sofort wurde der Fernseher wieder angeschaltet und der Tisch abgedeckt. Blake und Jack häuften sich ihre Teller voll und hockten sich damit aufs Sofa, gefolgt von der widerstrebenden Nina.

„Auf dem Tisch steht noch ein Korb mit Knoblauchbrot“, bot sie lustlos an.

„Nicht für mich, danke.“ Jack lächelte bedeutungsvoll. „Lieber kein Knoblauch.“

Nicht? Dann würde sie sich eine ordentliche Knoblauchfahne anfuttern, um ihn zu ärgern. Bissen für Bissen stopfte Nina sich das warme Brot in den Mund, während Jack scherzhaft vor ihr zurückwich wie ein verschreckter Vampir.

Es wurde ein fantastisches Hockey-Spiel – das beste dieser Saison. Schon seit Wochen waren die Karten dafür ausverkauft, wie Nina wusste, die vergeblich versucht hatte, noch welche zu bekommen, um Blake damit zu überraschen.

Während Nina in der Küche stand und Popcorn machte, fragte sie sich, ob ihr Bruder im Stadion überhaupt mehr Spaß hätte haben können als hier zu Hause. Jack verfolgte begeistert das Spiel und wetteiferte mit Blake beim Anfeuern der jeweiligen Mannschaft. Außerdem schien Jack sich mit Eishockey wirklich auszukennen, denn er konnte jeden noch so komplizierten Spielzug brillant erklären.

Blake war hin und weg von seinem neuen Kumpel.

„Ich kümmere mich dann mal um die Möbel in seinem Zimmer“, sagte Nina, die den Anblick nicht ertragen konnte, mit welcher Begeisterung Blake an Jacks Lippen hing. Die Enttäuschung war vorprogrammiert, darauf konnte sie wetten.

„Das kann ich doch nach dem Spiel machen.“ In der Halbzeit tauchte er im Türrahmen zu Blakes Zimmer auf und beobachtete, wie sie gereizt die Möbel zusammenbaute.

„Nach dem Spiel muss er gleich ins Bett“, erwiderte sie knapp.

„Ich brauche höchstens fünf Minuten.“

„Klar. Bei deiner Erfahrung als Heimwerker …“, ätzte sie.

„Okay. Dann spiel weiter den Märtyrer.“

„Ich spiele nicht den Märtyrer. Ich richte nur Blakes Zimmer ein.“

Er verstand überhaupt nicht, wo das Problem lag. Jack amüsierte sich hier prächtig, ohne den geringsten Schimmer, was sie so auf die Palme brachte.

„Hör mal, tut mir leid, wenn ich dir Blake heute Abend ausgespannt habe“, meinte er plötzlich nachdenklich. „Ich wusste ja nicht, dass er hier sein würde. Meine Schuld. Wenn du willst, verschwinde ich jetzt …“

„Darum geht es überhaupt nicht, Jack. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, ständig hin und her geschoben zu werden, keine feste Bezugsperson zu haben. Menschen kommen und gehen, mit großartigen Versprechen im Gepäck. Immer dieselben Versprechen, die dann doch nicht eingehalten werden. Davon haben diese Kinder genug gehabt. Bei mir zu Hause will ich das nicht auch noch. Ich will nicht, dass jemand in mein – in unser – Privatleben eindringt.“

„Das heißt, keine Besuche von Freunden oder Dates …?“ Jack schüttelte den Kopf. Er wollte noch etwas sagen, aber Blake rief ihm aus dem Wohnzimmer zu, dass das Spiel weiterging.

Wieder allein, saß Nina auf die Fersen gehockt da und schloss die Augen. Nein, sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt ein Bett zusammenzubauen, und nein, sie wollte auch nicht den Märtyrer für ihre Geschwister spielen. Aber noch viel weniger wollte sie ihnen wehtun. Und Jack wieder zu verlieren, würde Blake wehtun.

Wahrscheinlich begriff Jack es wirklich nicht.

Zwecklos, weiter darüber nachzugrübeln, beschloss Nina. Stattdessen sollte sie lieber den Abend genießen. Also ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich zu den beiden Eishockeyfans auf die Couch, fest entschlossen, einfach mal im Hier und Jetzt zu leben. Kein schlechter Ort übrigens, denn Blake wirkte so ausgeglichen und gut gelaunt wie schon lange nicht mehr – obwohl seine Mannschaft verlor.

„Ich mach mich jetzt mal besser auf den Weg“, verkündete Jack, nachdem er Nina im Anschluss an das Spiel geholfen hatte, Blakes Möbel zusammenzubauen.

„Nein!“, protestierte der Junge sofort.

Doch, dachte Nina, als sie Jack zur Tür begleitete.

„Höchste Zeit, dich bettfertig zu machen“, rief sie an Blakes Adresse, sah dabei aber Jack an.

„Na, eigentlich noch ein bisschen früh für mich, aber wenn du darauf bestehst“, gab er schlagfertig zurück.

„Haha.“ Unschlüssig stand sie da. „Danke“, sagte sie schließlich. „Blake hat sich köstlich amüsiert.“

„Ich mich auch. Kriege ich keinen Kuss?“

„Bei meiner Knoblauchfahne?“

In diesem Moment klingelte das Telefon. Sofort flackerte die allgegenwärtige Panik in Nina auf.

„Nina“, rief Blake von drinnen. „Sie wollen dich sprechen.“

Im selben Moment begriff sie, was los war. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie Blake im Wohnzimmer das Telefon aus der Hand nahm. „Nina Wilson.“ Sie schloss die Augen, konnte es nicht ertragen, dass Jack Zeuge dieses erneuten Desasters wurde. „Nein, hier ist sie nicht. Selbstverständlich rufe ich an, falls sie auftaucht …“ Sie holte tief Luft. „Ja, natürlich. Ich melde mich, sobald ich etwas von ihr höre.“

Und der entspannte, schöne Freitagabend war Geschichte. Na, wenn ihr billiges Dinner es nicht geschafft hatte, Jack abzuturnen, dann das hier bestimmt.

„Janey ist weggelaufen.“

„Passiert das öfter?“, wollte er wissen.

Nina schüttelte den Kopf. „Nein, nur dieses eine Mal neulich …“ Deprimiert trat sie ans Fenster und blickte in die eiskalte Nacht hinaus. Wieder schnürte ihr Panik die Kehle zu, während sie daran dachte, dass Janey irgendwo da draußen war.

„Bestimmt ist sie bei einer Freundin.“ Jack überlegte. „Hast du deren Adressen …“

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und eine sehr schlecht gelaunte junge Dame marschierte herein, gefolgt von einem Schwall eiskalter Luft.

Nina lief aufgeregt auf sie zu, wurde aber rüde zurückgestoßen. Janeys hübsche Gesichtszüge verzerrten sich wütend, als sie die Szenerie in sich aufnahm – den köstlichen Essensduft, der noch in der Luft hing, die Schüssel mit Popcorn auf dem Tisch. Untrügliche Beweise für einen gemütlichen Abend, von dem sie ausgeschlossen gewesen war.

Böse funkelte sie Jack an. „Oh, tut mir leid, dass ich euch den Abend verderbe. Ihr hattet wohl ne Menge Spaß, wie’s scheint.“

„Janey“, brachte Nina gepresst hervor. „Das ist Jack, ein Kollege, du hast ihn ja schon mal in meinem Büro gesehen. Wir haben …“ War sie Janey Rechenschaft schuldig? Nein. „Wo warst du? Barbara ist kurz vorm Durchdrehen.“

„Ich geh nicht zurück.“

„Was ist denn passiert?“

„Barbara wollte mich um neun ins Bett schicken. Voll krass, ist doch Freitagabend!“

In Gedanken zählte Nina bis zehn, um nicht die Beherrschung zu verlieren. „Was ist passiert, dass sie dich so früh ins Bett schicken wollte?“

Achselzuckend maulte Janey: „Sie ist sauer auf mich wegen der Geschichte beim Netball, hab ich dir doch erzählt. Ich sollte den Keller aufräumen.“

„Das allein kann es nicht gewesen sein“, fiel Nina ihr scharf ins Wort. „Man hat mir gerade gesagt, dass du gestern die Schule geschwänzt hast.“

„Na und? Hey, ich bin keine fünf mehr. Ich geh nicht um neun ins Bett. Nicht mal das Spiel durfte ich gucken. Ihr neuer Macker Vince hat mir verboten, die Glotze anzuschalten.“

„Das ist der Sinn der Sache, Fräulein.“ Nina hatte Mühe, ihre kleine Schwester nicht anzuschreien. „Wie soll das werden, wenn du bei mir wohnst, Janey? Es gibt nun mal gewisse Regeln …“

„Ja, schon gut, amüsier du dich ruhig weiter“, fauchte Janey. „Ich hau wieder ab.“

Jack stand schweigend daneben, darauf bedacht, sich nicht einzumischen. Nina steckte ganz tief im Schlamassel, das wusste er aus eigener Erfahrung.

„Warum rufst du nicht an?“ Janeys Augen blitzten herausfordernd. „Und erzählst ihnen, dass ich hier bin? Dann kannst du in Ruhe weiter einen draufmachen.“

„Du weißt genau, dass ich anrufen muss“, gab Nina gereizt zurück. „Sonst hab ich hier gleich jemandem vom Jugendamt auf der Türschwelle. Janey, wenn du …“

„Wir gehen zu mir“, erklärte Jack gelassen.

„Jack!“ Nina tobte. „Misch dich hier bitte nicht ein, du machst alles nur noch schlimmer!“

„Komm schon“, sagte er, ohne ihren Prostest zu beachten. „Pack ein paar Sachen zusammen.“

„Kann ich mal kurz allein mit dir reden?“ Ninas Augen versprühten zornige Blitze. Na, dem würde sie was erzählen …

Doch Jack ließ sich nicht erschüttern. „Janey muss mit dir reden – sie braucht ein bisschen Zeit mit dir allein.“

„Aber sie will gar nicht mit mir reden – sie lässt mich doch immer stehen, wenn ich eine Aussprache vorschlage.“

„Weil du dich zu sehr aufregst.“

„Natürlich rege ich mich auf! Jack, erst heute kam sie zu mir ins Büro, um sich über Barbara zu beklagen. Sie war schrecklich eifersüchtig auf Blake, weil er übers Wochenende zu mir durfte und sie nicht. Ich wusste gleich, dass sie Ärger machen würde …“

Nina schloss frustriert die Augen. „In dieser Sache muss ich Barbara recht geben. Wenn Janey jedes Mal zu mir gerannt kommt, sobald Barbara sie mal etwas härter drannimmt, kommen wir nicht weiter. Also, ich werde mit Barbara reden und sie bitten, ob Nina den Sonntag bei mir verbringen darf, wenn sie vorher den Keller aufräumt.“

„Das wird Janey nicht tun, mach dir nichts vor“, sagte Jack. „Wenn du sie jetzt wieder zurückschickst, schürst du nur ihren Zorn auf dich. Lass uns jetzt zu mir fahren. Dort können wir in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll. Wenn du noch länger zögerst, musst du dich gleich wirklich mit jemandem vom Jugendamt hier rumschlagen.“

Er hatte recht. Also packte Nina in Windeseile ein paar Sachen ein. Wenige Minuten später hockte ihre kleine Familie in Jacks schickem Wagen. Blake aufgeregt und begeistert, Janey stumm und wütend, Nina frustriert und voller Zweifel, ob es richtig war, was sie tat.

„Wir müssen anrufen.“

„Das werden wir auch. Schließlich sind wir ja nicht auf der Flucht.“ Jack lächelte Nina aufmunternd zu.

„Hoffentlich kriegst du deswegen keinen Ärger.“

„Keine Angst. Ich tue das, was ich für richtig halte, und kann das auch vertreten. Es hat keinen Sinn, sie zurückzubringen, nur, damit sie gleich wieder abhaut.“ Im Rückspiegel begegnete er Janeys feindseligem Blick. „Wir sind gleich da.“

Jacks Wohnung war zwar groß, aber absolut nicht kinderkompatibel. Nina kam sich mit ihren beiden Geschwistern völlig deplatziert in dieser stylishen Umgebung vor.

Auch Jack wurde bewusst, dass dies nicht der richtige Ort für eine Aussprache zwischen Nina und ihrer renitenten Schwester war. Da kam ihm eine Idee.

„Nina, du rufst jetzt Janeys Betreuerin an und erzählst ihr, dass Janey bei dir ist und ihr übers Wochenende wegfahrt. Und dass du sie Montagmorgen zu ihr ins Büro bringst. Wird schon okay sein, schließlich bist du ihre Schwester.“

Nina wollte protestieren, doch dann resignierte sie. Blieb ihr denn eine andere Wahl?

Eine Viertelstunde später saßen alle wieder in Jacks Wagen, diesmal in Richtung Hamptons, einem Reservat der Superreichen auf Long Island. Unterwegs hielten sie vor einem Supermarkt, um sich mit Proviant und ein paar warmen Sachen für Janey einzudecken.

Staunend bewunderte Blake die imposanten Villen, die die gepflegten Straßen säumten. Anstatt vor einem der riesigen Anwesen zu halten, bog Jack in eine schmale Nebenstraße und parkte seinen Wagen. „Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter.“

Er führte die kleine Truppe zu einem kleinen, auf Holzbohlen errichteten Haus, dessen Zufahrt völlig zugeschneit war. Keuchend stapften sie mit ihrem Gepäck beladen durch den kniehohen Schnee. Im Innern des Hauses war es fast genauso kalt wie draußen, und ihre Kleidung war inzwischen völlig durchweicht.

Als Erstes entzündete Jack im Wohnzimmer die Holzscheite im Kamin, den seine umsichtige Zugehfrau dort aufgeschichtet hatte. Er durfte nicht vergessen, ihr ein ordentliches Trinkgeld hinzulegen. Frierend scharten die vier sich um die Feuerstelle. „Ich stelle euch noch ein paar Heizstrahler in eure Schlafzimmer“, sagte Jack. „Janey, machst du uns bitte etwas zu trinken?“

Nina half Jack, die Heizstrahler zu verteilen. „Ich hatte ein riesiges Herrenhaus erwartet.“

„Enttäuscht?“

„Nein. Es ist entzückend, nur schrecklich kalt.“

„Sobald ich die Genehmigung zum Umbau habe, wird hier einiges besser.“

Bis Janey und Blake im Bett lagen, wurde es ziemlich spät. Jack schloss die Wohnzimmertür und setzte sich zu Nina aufs Sofa.

„Bist du dir ganz sicher, dass du das auf dich nehmen willst?“, erkundigte er sich ernst. „Willst du wirklich das Sorgerecht für die beiden?“

Nina sah ihn an, wohl wissend, dass ihre nächsten Worte den Todesstoß für ihre Affäre bedeuteten. „Ja, bin ich.“

„Ich muss das wissen, denn wenn ich dich unterstütze, werde ich gewinnen. Ich gewinne nämlich immer“, fügte er augenzwinkernd hinzu. „Deshalb sollst du dir ganz sicher sein, dass du es so willst.“

Ninas Herz klopfte aufgeregt. Er machte nicht Schluss, sondern bot ihr seine Unterstützung an? Das hatte sie jetzt nicht erwartet … „Ich bin mir sicher“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich möchte meine Familie endlich bei mir haben.“

„Okay. Das kriegen wir schon hin, keine Sorge. Als Erstes musst du jetzt aber bei Janey einen Gang runterschalten. Zwing sie nicht, mit dir zu reden.“

„Aber ich muss doch wissen, was los ist.“

„Das wird sie dir schon erzählen, wenn sie so weit ist. Na gut …“ Er stand auf. „Ich muss jetzt los.“

Nina begleitete ihn zur Haustür. „Kommst du ohne Wagen klar?“, fragte Jack.

„Klar, ich hab doch sowieso kein Auto.“ Nina schmunzelte. „Falls nötig, schaff ich es wohl gerade noch allein, uns ein Taxi zu rufen.“

Auch Jack lächelte, dann gab er ihr einen Kuss. Nur einen von der schnellen Sorte, denn es war wirklich schon fürchterlich spät. „Sonntagnachmittag hole ich euch wieder ab.“

„Wir haben dein ganzes Wochenende ruiniert“, meinte Nina plötzlich schuldbewusst. Seufzend verschränkte sie die Hände in seinem Nacken.

Plötzlich hatte Jack es nicht mehr ganz so eilig. „Da kommt es auf eine halbe Stunde auch nicht mehr an.“ Zufrieden registrierte er das mutwillige Lächeln um ihre Lippen. „Ich kann nicht mit ansehen, wie du frierst …“, hauchte er dicht an ihrem Ohr.

„Es ist so furchtbar kalt“, beklagte sie sich jammervoll.

„Als wahrer Gentleman ist es meine Pflicht, dich zu wärmen.“

Kichernd wie zwei Teenager huschten sie in Jacks Schlafzimmer. So schnell hatten sie sich noch nie die Kleider vom Leib gerissen. Zitternd kuschelte sich Nina unter der Bettdecke an Jack.

„Du riechst nach Knoblauch“, neckte er sie.

„Das war der Plan“, konterte sie augenzwinkernd.

„Hey, davon lasse ich mich nicht abschrecken, ich bin schließlich kein Vampir.“ Er rieb sich an ihrer nackten Haut. „Die beste Methode, sich aufzuwärmen. Glaub mir, ich hab das beim Bergrettungsdienst gelernt.“

Entspannt gab Nina seinen Liebkosungen nach. Es war wie das Paradies: eine Frau und ein Mann auf einer Eisscholle gestrandet, abgeschnitten von der Welt und ihren Problemen und überhaupt nicht scharf darauf, allzu bald von der glorreichen Kavallerie gerettet zu werden. Zwei Menschen, die sich mit der schönsten Methode der Welt warm hielten.

Irgendwann später wieder in der Wirklichkeit angekommen, dankte Nina ihm für seine Hilfe mit ihrer kleinen Problemfamilie. „Ach, Jack, wahrscheinlich übertreibe ich es manchmal mit meiner Fürsorge“, gestand sie seufzend. „Aber du weißt ja, wie das ist mit der Familie …“ Wusste er es wirklich? Sie erinnerte sich an eine frühere Unterhaltung und fragte: „Jedenfalls hab ich mir immer eingebildet, deine Leute und du, ihr kommt super miteinander aus.“

„Das wollen sie ja alle Welt glauben machen. Natürlich posaunen wir nicht laufend hinaus, wie es wirklich um uns steht. Ganz ehrlich, ich hab überhaupt keine Beziehung zu meiner Familie.“

Das sagte er so nüchtern, völlig emotionslos. Bevor Nina etwas dazu bemerken konnte, stellte sie fest, dass er neben ihr eingeschlafen war. Die halbe Nacht lag sie wach und grübelte darüber nach, was es für sie bedeutete, dass seine wundervolle Familie ihm völlig gleichgültig war. Da gab es wohl nur eine logische Schlussfolgerung: Wenn er die Wärme einer Familie nicht kannte, wäre es ihm schlichtweg unmöglich, sich um ihre Familie zu kümmern.

9. KAPITEL

„Kommst du oft hierher?“ Träge räkelten sie sich im Bett. Es war früher Morgen, draußen war es noch dunkel. Zärtlich strich Nina mit dem Zeigefinger über Jacks Wange.

Schnell fing er ihre Hand ein und drückte einen zärtlichen Kuss auf die Handfläche. „Als Junge war ich oft hier, da gehörte dieses Haus den Eltern eines Schulfreunds.“

„Besitzen deine Eltern auch eine Villa in den Hamptons?“

„Ja, aber da mochte ich nicht sein. Ich liebte die Sommer hier in diesem Haus. Wir verbrachten fast den ganzen Tag am Strand. Als das Haus letztes Jahr zum Verkauf angeboten wurde, habe ich sofort zugeschlagen. Die Pläne für einen Ausbau liegen schon in der Schublade. Ich möchte gerne aufstocken, um in den Genuss der fantastischen Aussicht zu kommen …“

„Vergiss die Heizung nicht“, erinnerte Nina ihn lachend.

„Auf keinen Fall.“ Schweigend lagen sie einen Moment da, bevor Jack sich zu Nina umdrehte und ihr ins ernste Gesicht sah. Er wusste, sie zerbrach sich schon wieder den Kopf über Janey. „Du musst dich entspannen.“

„Ich weiß.“ Seufzend fügte sie hinzu: „Keine Ahnung, was ich heute mit ihr anfangen soll. Sie wird wohl kaum Lust haben, einen Schneemann zu bauen.“

„Ach, hier lässt sich eine Menge anstellen.“

„Zum Beispiel?“

„Schlittschuhlaufen zum Beispiel. Und es gibt eine Bootstour: Wale beobachten. Das muss fantastisch sein.“

„Woher weißt du das?“

Lieber stellte er sich dem eiskalten Morgen als diesem Thema. Er hatte sowieso schon zu viel gesagt, viel mehr, als klug war. Also schlug er die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. „Ich zünde mal rasch das Feuer im Kamin an und kümmere mich dann um unser Frühstück. Bleib du ruhig noch ein bisschen liegen. Ich bringe dir gleich einen Kaffee.“

Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer begegnete er Janey, die es sich gerade auf der Couch im Wohnzimmer bequem machte.

„Janey ist schon auf, Blake anscheinend noch nicht“, berichtete er, als er Nina ihren dampfenden Becher in die Hand drückte.

Sofort wollte Nina aufstehen, doch Jack hielt sie zurück. „Lass sie in Ruhe.“

„Aber das ist eine gute Gelegenheit, zu reden, bevor Blake auftaucht.“

„Wahrscheinlich wartet sie genau darauf: deine nächste Lektion. Gib ihr die Chance, erst mal ein bisschen runterzukommen …“

„Wenn das so einfach wäre …“

„Das ganze Wochenende liegt noch vor euch. Hör mal, ich bin bald weg, dann habt ihr jede Menge Zeit füreinander. Sie wird schon reden, sobald sie bereit dazu ist, Nina.“

„Und wenn nicht?“

„Dann ist es auch egal. Zwingen kannst du sie sowieso nicht.“

Er arbeitete schon lange genug mit Kindern und Jugendlichen, um zu wissen, dass die Dinge oft ganz anders waren, als sie den Anschein hatten.

Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatten, verließen sie das Schlafzimmer. Als Jack die Tür öffnete, waberten ihnen köstliche Düfte aus der Küche entgegen.

Zum Glück hat Jack mich zurückgehalten, dachte Nina erleichtert. Hätte sie Janey ihrem ersten Impuls folgend gleich vorhin zur Rede gestellt, wären sie nie in den Genuss dieses Anblicks gekommen. Blake und Janey, einträglich nebeneinander in der Küche werkelnd. Sie hatten ein fantastisches Frühstück gezaubert: Pfannkuchen, gebratene Würstchen und Spiegeleier.

„Das sieht ja toll aus“, rief Nina begeistert aus.

„Ich sterbe vor Hunger.“ Plötzlich fiel Jack ein, dass Nina Vegetarierin war. Wusste Janey das eigentlich? „Keine Würstchen für deine Schwester bitte.“

„Ist doch …“, setzte Nina an, doch Jack brachte sie mit einem sanften Händedruck zum Schweigen. „Ich deck den Tisch im Wohnzimmer“, sagte sie.

Jack folgte ihr, um ihr zu helfen. „Janey ist fast sechzehn. Es ist völlig normal, dass sie Frühstück macht. Und du darfst sie ruhig darauf hinweisen, dass du Vegetarierin bist und keine Würstchen willst.“ Er sah sie forschend an. „Um sie nicht zu kränken, hättest du die Würstchen glatt gegessen, oder?“

„Natürlich nicht.“

„Jetzt schwindelst du.“ Jack grinste vergnügt. „Ihr zuliebe würdest du gegen all deine Prinzipien verstoßen. Das brauchst du nicht. Du musst ihr nicht die Mutter ersetzen.“

„Das weiß ich ja“, seufzte Nina. „Trotzdem, sie braucht mehr als eine große Schwester.“

„Nein“, widersprach Jack. „Sie braucht dich so, wie du nun mal bist. Und es schadet ihr auch nicht, ein paar Pflichten zu übernehmen. Was hast du in ihrem Alter gemacht?“

„Gearbeitet. Nach der Schule. Wir waren nicht gerade mit Reichtümern gesegnet.“

Das alles ließ Jack nicht kalt, auch wenn man ihm seine Gefühle nicht anmerkte. Besonders bewegte ihn die kleine Anekdote, die Janey erzählte, nachdem sie sich alle um den Esstisch versammelt hatten.

„Ich erinnere mich noch an das letzte Muttertagsfrühstück mit unserer Mom. Nina hat alles ganz allein vorbereitet. Ich brauchte nur noch den Ahornsirup zu verteilen.“

In diesem Moment wurde Jack erst richtig bewusst, was sie durchgemacht hatte, dass Nina nicht sehr viel älter als Janey heute gewesen war, als sie ihre Eltern verloren hatte. Heftiges Mitgefühl erfasste ihn für das einsame, traurige junge Mädchen, das sie damals gewesen sein musste.

Nach dem Frühstück beschloss Jack, die Bootstour sei genau das Richtige für heute. Er brachte den Vorschlag freundlich, aber mit einer gewissen Autorität vor, sodass das übliche Gemurre ausblieb. Es dauerte zwar noch eine kleine Ewigkeit, bis alle abmarschbereit waren. Am längsten blockierte Janey das Badezimmer, bevor sie in voller Kriegsbemalung wieder auftauchte. Blake dagegen musste immer wieder ermahnt werden, sich endlich zu waschen und anzuziehen.

Nina rechnete es Jack hoch an, wie er das alles gelassen hinnahm. So durchorganisiert, wie er war, musste ihn dieses Chaos schrecklich nerven. Aber er ließ sich nichts anmerken.

An Deck des Ausflugsboots hatte man das Gefühl, schon nach wenigen Minuten zu einem Eisklotz zu erstarren. Drinnen dagegen war es mollig warm, und es wurde jede Menge heißer Schokolade serviert. Belohnt wurde ihr Frieren durch den Anblick einer ganzen Walschule. Da vergaßen sogar Janey und Blake, sich über die Kälte zu beschweren. Sie blieben die ganze Zeit an Bord, um die imposanten Tiere zu beobachten, während Nina und Jack sich lieber unter Deck verkrochen.

„Ich danke dir“, sagte Nina. „Die beiden amüsieren sich prächtig.“

„Und du?“

„Ich bin rundum glücklich und zufrieden.“ Sie wagte nicht, Jack zu fragen, ob auch er Spaß hatte. Zwar war er so nett gewesen, sie auf diesen Ausflug mitzunehmen, aber ganz sicher entsprach das nicht seiner Vorstellung von einem gelungenen Wochenende. Allzu oft schien er nicht hierherzukommen, das hatte er selbst erzählt. Und seine kostbare Freizeit damit zu verbringen, zwei unerzogene Teenager zu beaufsichtigen … sicher bereute er längst, sich mit ihr eingelassen zu haben.

Auf dem Rückweg zum Strandhaus war er auffallend still und in sich gekehrt.

„Ich bin müde“, nörgelte Blake vom Rücksitz.

„Ins Restaurant hab ich keine Lust“, nörgelte dann auch Janey, als Jack vorschlug, essen zu gehen. „Können wir nicht zu Hause bleiben und da essen?“

Gerade mal eine Nacht hatten sie dort verbracht, und schon bezeichnete Janey sein kleines Stranddomizil als Zuhause.

Genau wie er vor so vielen Jahren.

Ja, Jack war still und in sich gekehrt.

Wieder zurück, heizte er noch schnell den Kamin an und trank einen Kaffee, bevor er sich verabschiedete.

„Wo wollen Sie hin?“, fragte Blake enttäuscht.

„Jack fährt nach Hause.“ Nina lächelte gezwungen. „Schließlich ist Samstagabend!“, fügte sie hinzu und folgte ihm zur Haustür.

„Noch mal vielen Dank“, sagte sie leise.

Er küsste sie sehr viel leidenschaftlicher als bei seinem gestrigen Abschiedsversuch. Legte er es darauf an, noch einmal zum Bleiben überredet zu werden?

„Ich wünsche dir einen tollen Abend.“ Wieder war es Nina, die sich zurückzog.

„Werde ich haben, danke. Euch auch noch viel Spaß.“ Irgendwie fühlte er sich leicht genervt, ohne sagen zu können, warum. „Schon eine Idee, was ihr unternehmen wollt?“

„Mal sehen. Vielleicht gehen wir morgen Schlittschuhlaufen.“ Sanft hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Also, bis dann.“

„Nina …“ Er sollte sich jetzt wirklich umdrehen und verschwinden. Durfte nicht aussprechen, was ihm auf der Zunge lag, aber es war schon zu spät. „Was sollte diese kleine Spitze?“

„Was meinst du?“

„‚Schließlich ist Samstagabend!‘“

„Na ja, ist es doch, oder? Und du hast mir erzählt, dass du seit Ewigkeiten kein freies Wochenende mehr hattest. Es war keine Spitze.“

„Sicher?“

„Jack …“ Auf diese Diskussion wollte sie sich auf keinen Fall einlassen. „Ich wünsche dir einen schönen Abend.“

Also machte er sich auf den Weg zurück in die Stadt. Einen freien Samstagabend angenehm zu füllen, war für Jack kein Problem. Zumindest sagte er sich das, als er seine Lieblingsbar betrat und dort wie erwartet ein paar Kollegen entdeckte. Keine halbe Stunde später belegte ihn eine ungewöhnlich attraktive Brünette mit Beschlag, und er konnte sich kaum auf das Gespräch konzentrieren. Seine Gedanken wanderten ständig zu dem Haus am Strand.

Kurz entschlossen ließ er die enttäuschte Brünette stehen und fuhr weiter zu seinem Apartment. Seine Gereiztheit war nur noch schlimmer geworden.

Nina hatte sich nicht mal nach seinen Plänen für den Abend erkundigt.

Genau so wollte er es doch haben, oder? Das Letzte, was er sich wünschte, war eine feste Beziehung mit Nina Wilson.

Sie hatte zwei schwierige Teenager im Gepäck – ein absolutes No-Go für Jack.

Er wollte es unkompliziert und unverbindlich – völlig inkompatibel mit Nina.

„Jack!“ Als sich die Fahrstuhltür zu seiner Wohnung öffnete, sah er sich einer strahlenden Monica gegenüber.

„Was suchst du denn hier?“

„Muss es denn für alles immer einen Grund geben? Das waren doch deine Worte, oder?“

Das Begrüßungslächeln gefror ihm auf den Lippen. Und er hörte sich sagen: „Ich bin mit jemandem zusammen.“

Es war das erste Mal, das er diese Worte aussprach.

„Wie bitte?“ Monica lächelte verunsichert. „Doch höchstens erst seit zwei Wochen. Das kann ja nicht allzu ernst sein.“ Verführerisch drückte sie ihre Lippen auf seine, strich mit der Hand über seine Brust.

„Doch, es ist was Ernstes.“

„Egal …“, schnurrte Monica.

Als er ihren Kurs erwiderte, wurde ihm bewusst, es war absolut nicht egal, dass er es zum ersten Mal in seinem Leben wirklich ernst meinte. Und zum ersten Mal ließen ihn die Verführungskünste einer attraktiven Frau völlig kalt.

„Sorry, es ist nicht egal.“

Nachdem er Monica hinauskomplimentiert hatte, checkte er als Erstes sein Handy. Nein, natürlich hatte Nina nicht angerufen.

Und auch er meldete sich nicht bei ihr. Dazu war er viel zu durcheinander. Er hatte sich in Nina verliebt, eine echte Premiere für Jack Carter.

Aber was empfand Nina eigentlich? Ihr schien eine unverbindliche Affäre ganz recht zu sein. Auf jeden Fall hatte es sie nicht interessiert, wo er den heutigen Abend verbrachte.

Jack hatte keine Ahnung, was er davon halten sollte.

„Jack!“, begrüßte Blake ihn am nächsten Tag aufgeregt. „Janey hat sich verletzt!“

„Halb so wild“, wiegelte das junge Mädchen ab. „Ich hab mich beim Schlittschuhlaufen langgelegt.“ Sie krempelte den Ärmel hoch, um ihm eine in sämtlichen Regenbogenfarben schillernde Prellung zu präsentieren. In diesem Moment kam Nina aus dem Wohnzimmer. Sofort registrierte er die Anspannung in ihrem Gesicht.

„Super, oder? Ich liefere sie grün und blau geschlagen bei ihrer Pflegemutter ab.“

„Es war ein Unfall, so was kann passieren“, versuchte Jack sie zu beruhigen.

„Nicht so schlimm, Nina“, bestätigte Janey. Ein seltener Anflug von Zärtlichkeit schwang in ihrer Stimme mit. Plötzlich erkannte Jack, dass sie Nina aufrichtig liebte – trotz all der schrecklichen Dinge, die sie ihr manchmal an den Kopf warf.

„Wie ist es gelaufen?“, erkundigte sich Jack, als er Nina ins Schlafzimmer folgte, wo sie ihre Sachen packte.

„Ganz gut eigentlich. Janey hat sich allerdings schon um acht ins Bett verzogen, und heute Morgen wollte sie auch nicht reden. Beim Schlittschuhlaufen hatten wir ziemlich viel Spaß – bis Janey gestürzt ist. Und wie war dein Abend?“

„Okay, danke.“ Genaueres schien sie nicht wissen zu wollen, denn sie hakte nicht weiter nach.

Jeder versuchte auf seine Art zu verdauen, dass der Kurzurlaub unwiderruflich vorbei war. Schließlich war es Blake, der aussprach, was alle dachten: „Keine Böcke, jetzt zurückzufahren.“

„Ich weiß“, erwiderte Nina leise. Blake wollte nie zurück, aber diesmal war es besonders schlimm.

„Können wir nicht noch eine Nacht bleiben?“, fragte Janey hoffnungsvoll.

„Unmöglich.“ Nina schüttelte den Kopf. „Blake muss morgen früh zur Schule, und wir beide haben einen Termin beim Jugendamt.“

Während der Rückfahrt nach New York herrschte bedrücktes Schweigen, nur unterbrochen von einer außergewöhnlich redseligen Janey. „Was liegt heute Abend an?“

„Schlafen“, beschied Nina sie knapp. „Wenn du willst, bauen wir vorher noch die Möbel in deinem Zimmer zusammen.“

„Das kann Jack doch machen!“, schlug Janey hoffnungsvoll vor.

„Sorry, ich muss gleich nach Hause, sobald ich euch bei Nina abgeliefert habe.“ Im Rückspiegel bemerkte er Janeys Stirnrunzeln, maß dem aber weiter keine Bedeutung bei.

„Eigentlich könnte ich ja heute Abend schon zu Barbara gehen“, verkündete Janey plötzlich.

Nina fuhr herum. „Ich dachte, die ganze Weglaufaktion drehte sich darum, dass du nie wieder dorthin willst?“

„Na ja, dann hab ich eben meine Meinung geändert.“

„Janey …“ Nina hatte Mühe, sich zusammenzureißen. „Lassen wir das Thema jetzt, okay? Heute Abend sprechen wir beide uns mal in Ruhe aus.“

Ein weiterer Blick in den Rückspiegel signalisierte Jack, dass Janey auf diese gemütliche Aussprache zu zweit absolut nicht scharf war. Mit trotziger Miene starrte sie stumm aus dem Fenster.

Was war nur los mit ihr? Warum wollte sie nicht mit ihrer Schwester allein sein? Jack versuchte ganz nüchtern, aus der Sicht des Arztes, an diese Frage heranzugehen. Vergeblich. Zum einen schaffte er es nicht, seine Gefühle herauszuhalten, zum anderen fand er einfach keine logische Antwort.

Als das Haus der Deans in Sicht kam, fing Blake an zu weinen. Janey sagte immer noch nichts, nur ihre Miene hatte sich von Trotz in Zorn verwandelt.

„In zwei Wochen sehen wir uns ja wieder“, brachte Nina mit rauer Stimme hervor. Mehr wollte sie Blake nicht versprechen, um nicht noch eine Enttäuschung vorzuprogrammieren. Die Mühlen der Behörden arbeiteten langsam, wenn nicht gerade Gefahr im Verzug war.

Jack schwieg, hätte auch gar nicht gewusst, wie er die Situation entspannen sollte. Tiefes Mitgefühl für Nina erfasste ihn. Wie ertrug sie es bloß, immer wieder von Neuem Abschied nehmen zu müssen?

Nachdem er seinen Wagen am Straßenrand geparkt hatte, holte Jack Blakes Tasche aus dem Kofferraum. Blake klammerte sich schluchzend an seine große Schwester.

„Ich bringe ihn noch eben rein und schau mir sein neustes Hockey-Poster an“, meinte sie mit einem hilflosen Achselzucken zu Jack. „Es könnte ein Weilchen dauern.“

„Kein Problem.“

„Darf ich Jack das Poster auch zeigen?“ Hoffnungsvoll blickte Blake zu Nina auf.

Jack schüttelte den Kopf. „Sorry, Kumpel, aber ich bleibe im Wagen.“

Nina nahm es ihm nicht übel. Immerhin hatte sie ihn selbst darum gebeten, sich bei Blake zurückzuhalten. Trotzdem traf seine Abfuhr sie wie ein Stich, und ihr wurde bewusst, dass sie die Affäre mit ihm so schnell wie möglich beenden musste. Ein Wochenende hatte genügt, und Blake betrachtete Jack schon als großen Helden. Der Junge hatte genug Verluste in seinem kurzem Leben erlitten. Unnötig, dass er jetzt auch noch sein Herz an Jack verlor, um dann doch nur wieder enttäuscht zu werden.

Tatsächlich hätte Jack dem Jungen gerne den Gefallen getan, hätte gerne sein neustes Hockey-Poster bewundert. Doch es gab hier noch jemanden, der dringend etwas auf dem Herzen hatte, das spürte er.

Und sein Instinkt täuschte ihn so gut wie nie.

„Na, jetzt zufrieden?“, fauchte Janey, kaum hatte Jack sich wieder in den Wagen gesetzt. „Bilden Sie sich etwa ein, Sie hätten ihm wer weiß was für einen Riesengefallen getan, indem Sie ihn in Ihrem Luxusschlitten herumkutschiert haben? Nur, um ihn schließlich wieder in seinem alltäglichen Elend abzuliefern, Dr. Gutmensch?“

Schweigend ließ Jack ihre Vorwürfe über sich ergehen: dass er sich für was Besseres hielt und ja doch nur mit Nina spielte – was Janey mit weit drastischeren Worten ausdrückte.

Damit war sie zu weit gegangen, das sagte Jack ihr auch. Was dazu führte, dass Janey in haltloses Schluchzen ausbrach. Am Ende wurde es dann gar keine lange Unterhaltung – Jack brauchte eigentlich nur zuzuhören.

„Kannst du Nina das nicht erzählen?“, fragte er schließlich.

„Nein.“ Janey schniefte. „Sie kriegt immer sofort voll die Panik und fühlt sich für alles verantwortlich. In ihrem Job ist sie ja vielleicht ganz cool, aber wenn es um uns geht, rastet sie gleich aus. Sie dreht durch, wenn sie erfährt … Außerdem hab ich Angst, dass sie Ärger kriegt und ihren Job verliert oder so.“

„Deine Schwester bekommt keinen Ärger“, beruhigte Jack sie, „und du auch nicht. Du hast nichts Falsches getan.“ Davon war er überzeugt. „Soll ich vielleicht mit Nina reden? Ich könnte ja heute Abend bei euch vorbeischauen, dann klären wir das …“

„Nein!“ Janey sah ihn aus weit aufgerissenen Augen flehend an. Ihre Hand flog zum Türgriff.

„Rühr dich nicht von der Stelle, Janey!“, ermahnte Jack sie streng. Das junge Mädchen schrumpfte auf seinem Sitz förmlich zusammen. „Weglaufen bringt dich auch nicht weiter.“

In diesem Moment tauchte Nina in der Auffahrt auf. Man sah ihr deutlich an, wie sehr sie sich zusammenreißen musste, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Jack nahm sich vor, die Sache irgendwie in Ordnung zu bringen, hatte allerdings keinen Schimmer, wie er es anfangen sollte. Nina würde ausflippen, das ahnte er. Und dann würde Janey wieder weglaufen …

„Bitte verraten Sie mich nicht“, zischte Janey ihm zu, als Nina die Beifahrertür öffnete, um einzusteigen.

„Da bin ich“, verkündete Nina mit gespielter Munterkeit. „Wir können fahren.“

Ja, aber wohin? Unmöglich konnte Jack die beiden Schwestern jetzt bei Nina absetzen.

„Kommt doch noch mit zu mir“, schlug er also vor.

„Nein, danke, auf keinen Fall“, erklärte Nina energisch. „Janey und ich haben noch einiges zu klären, bevor ich sie morgen zu ihrer Betreuerin bringe.“

Hm, was tun? Einer spontanen Eingebung folgend, bog er in die Zufahrt zum Krankenhaus ein.

„Musst du noch zu einem Patienten?“, erkundigte Nina sich irritiert.

„Nein, ich möchte, dass sich mal jemand Janeys Ellbogen anschaut“, erwiderte er geistesgegenwärtig.

„Das ist nur eine Prellung. Nicht nötig, so einen Aufstand zu veranstalten …“

„Du weißt ja selbst, wie Sozialarbeiter ticken“, gab er mit hochgezogenen Brauen zurück. „Besser, wir lassen hier alles hübsch dokumentieren, damit es morgen keinen Ärger gibt, wenn Janey grün und blau bei ihrer Betreuerin auftaucht.“ Echt gut, Mann, gratulierte er sich im Stillen. Du hast Nina mit ihren eigenen Waffen geschlagen.

Leicht verwundert registrierte Nina, dass Janey brav aus dem Auto stieg und sich lammfromm in die Notaufnahme führen ließ.

„Den Chefarzt brauchen wir damit nun wirklich nicht zu belästigen“, protestierte Nina, als Jack nach Lewis fragte.

„Er ist ein großartiger Diagnostiker“, widersprach Jack. „Ich vertraue ihm ohne Wenn und Aber.“ Mit einem Lächeln in Janeys Richtung fügte er hinzu: „Ich gehe ihn mal schnell holen. Nina, besorg du Janey inzwischen bitte ein Krankenhaushemd, ja? So kann Lewis die Beweglichkeit des Ellbogengelenks besser beurteilen …“

Jack wollte, dass Lewis sich Janey anschaute, und das aus gutem Grund. „Ich ziehe es vor, wenn Janey dir selbst alles erzählt.“ Jack sah seinen Kollegen ernst an. „Vorausgesetzt, sie ist bereit zu reden. Jedenfalls sind wir nicht wegen des Ellbogens hier.“

„Okay.“ Lewis nickte ernst.

„Falls sie es vorzieht zu schweigen, schlage ich vor, sie eine Nacht zur Beobachtung hierzubehalten, um ihren Ellbogen den Orthopäden vorzuführen.“

„Warten wir mal ab, wie es läuft. Sie ist mit ihrer Schwester hier?“

„Ja, Nina Wilson aus der Sozialabteilung.“

„Na dann, auf in den Kampf.“ In Begleitung einer Oberschwester betraten die beiden Ärzte die Untersuchungskabine.

Nachdem Lewis sich der aufgeregten Janey vorgestellt hatte, meinte Jack wie selbstverständlich: „Tja, Nina und ich gehen inzwischen mal einen Kaffee trinken. Lewis ist ein guter Freund von mir, du bist also in besten Händen, Janey.“

In diesem Moment dämmerte es Nina, dass sie hier an der Nase herumgeführt wurde. Sie wollte schon protestieren, sich weigern, Janey allein zu lassen. Doch im selben Moment wurde ihr bewusst, dass es sicher einen besonderen Grund gab, weshalb Jack ihre Schwester hergebracht hatte. Also spielte sie die Ahnungslose, um Janey Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen.

„Kaffee klingt super!“ Nina schluckte die Tränen herunter, die plötzlich in ihr aufzusteigen drohten. Nachdem sie die Kabine verlassen hatten und außer Hörweite waren, zischte sie: „Was geht hier vor, Jack?“

„Komm mit, Nina.“ Er zog sie in einen freien Untersuchungsraum. „Setz dich.“

„Du glaubst, ich hab es getan.“

„Nina.“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht eine Sekunde habe ich angenommen, dass du deine Schwester geschlagen hast. Klar hab ich mich gewundert, dass sie partout nicht mit dir allein sein will“, fügte er hinzu. „Aber du weißt genau, dass es nicht meine Art ist, voreilige Schlüsse zu ziehen, oder?“

Sollte er es ihr jetzt sagen? Während er noch überlegte, steckte eine Schwester den Kopf zur Tür herein. „Jack, Janey möchte, dass Sie kommen.“

Sofort sprang Nina auf.

„Sie möchte, dass ich komme“, erinnerte Jack sie sanft.

„Warum nicht ich? Weshalb kann sie nicht mit mir reden?“

„Weil sie deine Gefühle schonen möchte. Weil ich ihr nicht so wichtig bin und sie weiß, dass ich nicht sauer oder traurig werde oder irgendwas Unüberlegtes tue. Bleib einfach hier sitzen, Nina. Ich bin so schnell wie möglich zurück. Vorhin im Wagen hat sie mir etwas anvertraut, das ich nicht einfach ignorieren kann. Vertrau mir einfach, ja?“

Was blieb ihr schon anderes übrig? Es brachte Nina fast um, doch sie wartete geduldig. Ihre überbordende Fantasie produzierte ein Schreckensszenarium nach dem anderen: Janey, die gedroht hatte, sich etwas anzutun, Janey drogensüchtig … oder schwanger …

Als Jack nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zurückkehrte, schob er sich mit grimmiger Miene einen Stuhl zurecht und setzte sich. „Es geht ihr gut.“

Nina stieß erleichtert den Atem aus. „Aber?“

Sie war ja ein totales Nervenbündel! Kein Wunder, dass Janey es ihr nicht selbst sagen konnte …

„Barbara hat einen neuen Freund, Vince …“

„Oh, nein!“ Nina schoss von ihrem Stuhl hoch. Sie musste hier raus, musste zu Janey. Jack hielt sie zurück.

„Setz dich, Nina. Zu deiner Beruhigung, es ist nichts passiert, jedenfalls nicht das, was du befürchtest. Trotzdem musst du mir jetzt in Ruhe zuhören und dich erst mal beruhigen. Dann kannst du zu Janey und mit ihr reden.“

„Er hat sie also nicht angefasst?“, hauchte sie tonlos.

Autor

Laura Iding
Laura Iding hat zwei aufregende Leben: Tagsüber arbeitet sie als Krankenschwester und nachts ist sie Autorin. Schon als Teenager fing sie an zu schreiben - und hat bis heute nicht damit aufgehört. Ihr absolutes Lieblingsgenre ist, wie könnte es anders sein, der Arztroman.
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