Die Prinzessin im goldenen Käfig

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Nur unter strengsten Schutzvorkehrungen darf Prinzessin Elise den Palast verlassen, denn sie und ihre Familie sind in Gefahr. Doch als die willensstarke Prinzessin bei einem ihrer seltenen Ausflüge ihren Bruder entdeckt, der eigentlich als verschollen gilt, gibt es für Elise kein Halten mehr: Sie muss aus ihrem goldenen Käfig ausbrechen und mit ihm Kontakt aufnehmen! In die Quere kommt ihr dabei Mr. Killian Crewes, der aus irgendeinem Grund alles daran setzt, Elise zu bezaubern. Aber während sie noch überlegt, ob sie seinen exquisiten Verführungskünsten erliegen darf, entdeckt sie sein schockierendes Geheimnis …


  • Erscheinungstag 10.08.2024
  • Bandnummer 406
  • ISBN / Artikelnummer 0871240406
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Charis Michaels

Schon auf der Highschool verschlang Charis Michaels unzählige Romances, und jetzt lebt sie ihren Traum und schreibt Bücher über Leute, die in Kutschen fahren, auf Bälle gehen und sich unsterblich verlieben. Die gebürtige Texanerin lebt mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Washington, D.C.

1. KAPITEL

London, September 1803

Killian Crewes war bekannt als des Königs Mann für alle Fälle.

Er kümmerte sich um alles und fand immer eine Lösung: ob unliebsame Konsequenzen falscher Entscheidungen, Spielschulden, amüsante Freunde, die in Wirklichkeit Betrüger waren – er brachte stets in Ordnung, was nicht erwünscht war. Er verschleierte ungehörige Liebschaften, bestach Richter, damit sie unvorsichtige Verwandte aus dem Gefängnis entließen, und sorgte dafür, dass nächtliche Eskapaden in öffentlichen Springbrunnen nicht in den Tageszeitungen ausgeschlachtet wurden. Mehr als einmal hatte er eine Leiche verschwinden lassen.

Manchmal erfüllte er diese Aufgaben unter dem Titel „Equerry to the King“, ein anderes Mal war er ein namenloser Handlanger. Er war flink und einfallsreich, gelegentlich Furcht einflößend und sprach nur, wenn es nötig war. Kaum jemandem war bekannt, dass er der zweite Sohn eines Earls war.

Der Titel seines verstorbenen Vaters hatte ihm Zugang zum Hofe verschafft, während der Broterwerb seiner verstorbenen Mutter ihn zu dem Mann machte, auf den sich der Palast verließ, wenn es galt, Ungemach zu bereinigen.

Kurzum, er war ein sehr kreativer, sehr diskreter Problemlöser, und am ersten September 1803 wurde Killian Crewes gebeten, das äußerst delikate Problem, das eine gewisse französische Prinzessin verursachte, auf seine unvergleichlich elegante Art aus der Welt zu schaffen.

Sie ablenken … sie beschäftigen … sie verzaubern oder sogar verführen – das waren die Vorschläge des Palastes. Wie er sein Ziel erreichte, schien keine Rolle zu spielen, solange Killian sie in Schach hielt.

Zunächst musste er jedoch herausfinden, wer die französische Prinzessin war.

Oh, Killian kannte den Namen der jungen Frau und wusste, dass sie eine der vielen adligen Damen im St. James’s Palace war. Man nannte sie Ihre Durchlaucht, Prinzessin Regine Elise Adelaide d’Orléans. Sie war ein angesehener Hausgast, der unter dem Schutz der britischen Königsfamilie stand.

Um sich mit ihr bekannt zu machen, brauchte Killian mehr als nur ihren Namen, aber Ihre Durchlaucht war kaum allein anzutreffen. Sie war nie ohne ein kleines Gefolge von Begleiterinnen unterwegs, die alle in den gleichen schwarzen Bombazin gewandet waren. Ebenholzfarbene Kopfbedeckungen. Onyxfarbene Handschuhe. Schwarze Wolltücher. Das Schlimmste aber war, dass sie Schleier trugen, die ihre Gesichter wie ein dichter Dunst verdeckten.

Sie marschierten in Mayfair herum wie vier Amseln, und es war unmöglich zu sagen, wer der Leitvogel war.

„Warum fragen wir nicht die königlichen Dukes, welche sie ist?“, schlug Hodges, Killians Diener, vor, und sprach von den Söhnen König Georges. Sie standen am Rande des Portman Square und sahen zu, wie die noch nicht identifizierte Prinzessin und ihr Gefolge die George Street hinuntergingen.

„Weil die königlichen Dukes es nicht wissen“, sagte Killian und lehnte sich mit einer Schulter an einen Baum. „Ich habe mich bereits erkundigt. Sie haben keine Ahnung von den Freundinnen ihrer Schwestern. Und wir werden einen Teufel tun, dem König oder der Königin zu gestehen, dass keiner von uns auch nur einen blassen Schimmer hat, oder?“

Hodges konnte man als Killians „Diener“ bezeichnen, aber eine genauere Bezeichnung wäre „Mann fürs Grobe“ gewesen. Königliche „Aufräumarbeiten“ wurden selten von einer Person allein erledigt. Aber der ältere Mann vergaß manchmal, dass seine Arbeitsstelle nicht garantiert war; sie waren Angestellte, genau wie die Lakaien und Stallknechte. Als solche konnten sie entlassen werden, wenn ihre Dienste nicht die Erwartungen erfüllten, die ihnen entgegengebracht wurden.

„Wir müssen unseren Wert immer wieder unter Beweis stellen, Hodges – schon vergessen?“ fuhr Killian fort. „Was für einen Eindruck würde ich wohl machen, wenn ich das Mädchen, um das ich mich kümmern soll, nicht identifizieren kann? Nein. Warte. Lass mich es dir sagen: dass ich überflüssig bin.“

Je wertvoller Killian für den König war, desto mehr Aufträge gaben sie ihm – Prinzessinnen, die er ablenken, beschäftigen sollte, zum Beispiel. Je mehr Aufträge, desto mehr Geld, und der König und seine Söhne zahlten reichlich. Geld war jedoch nicht das Einzige, was er verdiente. Seine Rolle bei Hofe ermöglichte ihm auch Zugang zu Informationen aller Art. Und das war wiederum nicht mit Gold aufzuwiegen.

Der Krone gehörte halb England und der größte Teil von London. Von Zeit zu Zeit verkaufte die königliche Familie eine der weniger attraktiven Immobilien. Killian nutzte seine Position innerhalb des Palastes, um diese Immobilien günstig zu erwerben. Er war der Erste, der davon erfuhr, und stets derjenige, der den Zuschlag erhielt.

Der eigentliche Reiz an seiner Tätigkeit für die Krone bestand also für ihn darin, dass er sich auf diese Weise zum Eigentümer abbruchreifer Lagerhäuser, leer stehender Geschäftshäuser und alter Tavernen machen konnte.

Eines Tages, vielleicht schon sehr bald, hoffte er, genug heruntergekommenes Eigentum erworben zu haben, um sich als Vermieter und nicht als Lakai durchzuschlagen. Er hoffte, genug Geld zu verdienen, um die Häuser in angenehme, bewohn- oder nutzbare vier Wände zu verwandeln. Und auch, um weiterhin gut für seinen jungen Neffen sorgen zu können. Und um Hodges eine Rente zu ermöglichen. Und um sein eigener Herr zu sein.

Aber noch war es nicht so weit. Jetzt würde er sein Geld verdienen, indem er diese verdammte Prinzessin ausfindig machte und sie beschäftigte, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten konnte. Was auch immer das für ein Unheil sein sollte, schließlich wusste er nur, was er zu tun hatte, den Grund dafür hatte man ihn allerdings nicht verraten.

Wenn er nur endlich herausfinden würde, welche dieser Frauen sie war. Und warum sie durch London streifte. Und wie er ihre Aufmerksamkeit am besten gewinnen konnte.

Prinzessin Elise war eine französische Adelige, die in Großbritannien im Exil lebte. Killians Nachforschungen hatten nicht genau ergeben, wie nahe sie dem französischen Thron stand. Sie wurde von der königlichen Familie beherbergt und war vor zehn Jahren vor der gefräßigen Guillotine der Französischen Revolution in Sicherheit gebracht worden. Ihre ersten fünf Jahre in England hatte sie bei einer Tante und einem Onkel in Kent verbracht, die letzten fünf Jahre im St. James’s Palace, als Begleiterin der Töchter von König George.

Offensichtlich waren die schwarzen Kleider und Schleier eine neue Ergänzung der Garderobe der Prinzessin. Den Söhnen des Königs zufolge konnte man ihre Anwesenheit bei Hofe früher als „unauffällig“ bezeichnen; jetzt stapfte sie mit ihrer Entourage umher, löcherte die königliche Familie mit bohrenden Fragen und war generell allen im Weg.

„Das ist ja Trauerkleidung“, bemerkte Hodges, als sie dem schwarz gekleideten Trupp der Prinzessin durch das Labyrinth der Gänge am Portman Square folgten.

„Liegt es an mir“, fragte Killian und kratzte sich am Kopf, „oder sehen die weniger wie Trauernde aus als vielmehr wie Krähen?“

Hodges schnaubte. „Wenn ihr Vater seinen Kopf durch die Guillotine verloren hat, hat sie vielleicht keine andere Wahl, als sich schwarz zu kleiden.“

„Es wäre mir egal, sollte sie schwarze oder rosa oder geblümte Sofabezüge tragen, aber wenn ich mich ihrer annehmen soll, muss ich wissen, wer sie ist.“

Da es so wenig Informationen über das Gefolge der Prinzessin gab, hatte Killian sich für jede der Frauen einen Namen ausgedacht. In seiner Vorstellung nannte er sie die Große, die Kleine, die Nervöse und die, die wie eine Ente lief.

„Glaubst du, das ist passiert?“, fragte Hodges. „Dass die Eltern der Prinzessin …?“ Er glitt sich mit einer flachen Hand über die Kehle.

„Ich glaube, das ist die allgemein verbreitete Ansicht“, erwiderte Killian. „Sie kam allein in England an, abgesehen von der Nonne, die sie begleitet hat. Der Zeitpunkt würde passen. Mit Ausnahme der Tochter von König Ludwig konnten die französischen Adligen der Guillotine nur entkommen, indem sie aus dem Land flohen.“

Im Moment schienen Prinzessin Elise und ihr Gefolge auf dem Weg zur katholischen Kirche St. James zu sein. Oder zumindest würde die Kirche wahrscheinlich ihr Etappenziel sein. Gestern hatten sie und ihre Krähen die Kirche betreten, waren aber nicht geblieben – nicht zur Messe, nicht einmal lange genug, um ihre schwarz behandschuhten Finger in Weihwasser zu tauchen. Sie waren durch eine Tür hineingegangen, hatten ein paar Minuten gewartet und waren durch eine andere wieder hinausgeschlüpft. Eine Viertelstunde später waren sie in einer Buchhandlung in Camden aufgetaucht.

„Sie gehen hinein“, raunte Hodges und beobachtete, wie die Frauen in die Kirche strömten.

„Das sehe ich“, sagte Killian. „Ich wette zehn Schillinge, dass sie in fünf Minuten wieder draußen sind. Auf der anderen Seite.“

2. KAPITEL

Ihre Hoheit, Prinzessin Regine Elise Adelaide d’Orléans, hatte sich gefragt, wann sie sich zuletzt entspannt gefühlt hatte. Auch die gehobene Bezeichnung „Hoheit“ wollte sich nicht mehr passend anfühlen. In diesem Moment, als sie die George Street hinuntermarschierte und ihre Begleiterinnen sie in ihrer üblichen Formation umgaben, fühlte sie sich weder entspannt noch erhaben. Sie empfand eine seltsame Mischung aus Heiterkeit und Müdigkeit, wie jemand, dem es endlich gelungen war, aus dem Gefängnis auszubrechen. Sie war zwar keine Gefangene (nun ja, nicht im eigentlichen Sinn), aber sie hatte sich aus dem St. James’s Palace geschlichen, als eine der Töchter des Königs eine Maus sah und in Ohnmacht fiel. Die darauffolgende Panik hatte die Routine eines ansonsten langweiligen Nachmittags durcheinandergebracht. Während alle anderen auf die Stühle gesprungen waren, hatte Elise ihre Damen zusammengetrommelt. Jetzt befanden sie sich auf halbem Weg zu einem Quell an neuen Informationen – zumindest hoffte sie auf einen weiteren Hinweis auf den Verbleib ihres vermissten Bruders.

„Juliette!“, rief sie leise und flüsterte ihrer Cousine zu: „Schneller, bitte. Er ist da. Schon wieder.“

„Mr. Crewes?“, fragte Juliette erschrocken. Die jüngere Frau blieb stehen und drehte sich um. Das geschah so abrupt, dass Kirby mit ihr zusammenstieß und auch Marie aus dem Tritt geriet.

Elise verkniff sich einen frustrierten Seufzer und nahm sowohl Kirby als auch ihre Cousine Juliette am Ellbogen und zog sie weiter.

„Ja, das ist Mr. Crewes.“ Elise warf einen raschen Blick über die Schulter. „Wir sind vielleicht gezwungen, heute in der Kirche zu bleiben – zumindest bis zur Predigt. Hoffentlich verliert er das Interesse.“

„Ich denke“, meinte Juliette, „dass wir Mr. Crewes bei unseren Streifzügen außerhalb des Palastes nicht aus dem Weg gehen sollten, sondern dass wir ihn uns vielmehr zunutze machen sollten.“

Elise knirschte mit den Zähnen. Natürlich würde Juliette im Kontakt zu ihm einen Vorteil sehen. Juliettes Leben stand schließlich nicht auf dem Spiel. Außerdem sah Juliette in jedem Mann einen Vorteil, während Elise jeden Mann erst einmal als Bedrohung betrachtete.

„Ist Mr. Crewes nicht seit Jahren ein vertrauenswürdiger Höfling?“, fuhr Juliette fort. „Ist er durch seinen ehrenhaften Schwur der Krone gegenüber nicht verpflichtet, uns zu beschützen? Wie eine Eskorte?“

„Er ist aus Habgier verpflichtet“, korrigierte Elise sie, „auf uns aufzupassen. Wie ein Kindermädchen. Wenn wir Glück haben. Die Gier könnte ihn auch dazu bringen, uns den Kopf einzuschlagen und uns in den Fluss zu werfen. Biegen wir hier ab.“

Mr. Crewes hatte Elises Cousine Juliette verzaubert, seit sie ihn zum ersten Mal bemerkt hatten. Jede neue Sichtung seiner Person veranlasste die jüngere Frau dazu, sich weniger zu fügen und sich mehr aufzuspielen – keine gute Entwicklung, wenn man bedachte, dass sie zu Gereiztheit und Eitelkeit neigte.

Aber Cousine Juliette war schon immer das schwierigste Mitglied von Elises Gefolge gewesen. Elise hätte sie schon vor Jahren nach Hause geschickt, aber …

Nun, erstens gab es nur wenige andere Kandidatinnen, die sich bereit erklären würden, einer fünfundzwanzigjährigen Exilprinzessin als Begleiterin zu dienen.

Und zweitens war Juliette Elises Cousine und damit die einzige Adlige unter Elises Begleiterinnen. Cousine Juliette sollte alle daran erinnern, dass Elise eine echte Prinzessin war (auch wenn sie im Exil lebte), die einen (wenn auch nur imaginären) Anspruch auf einen echten europäischen Thron hatte (auch wenn dieser nicht mehr existierte und in Frankreich männliche Erben in der Thronfolge den Vorrang hatten).

Zum wiederholten Male fragte Elise sich jetzt, wie alles weitergehen sollte. Der Prinz von Wales und Königin Charlotte hatten ihr vielleicht einmal einen sicheren Hafen geboten, aber das war Jahre her, und Elise fühlte sich schon lange nicht mehr willkommen. Mit jedem Tag wurde sie sich ihrer unsicheren Stellung in der königlichen Familie bewusster.

Es war kein schönes Gefühl, eine Zumutung dazustellen. Sie kam sich so nutzlos und müßig vor, so deplatziert. Sie vermisste ihre echte Familie, als hätte man ihr einen Körperteil entfernt.

Das Versteck in England mochte Elise gerettet haben, aber ihr Leben im Exil war eine Art schlafwandlerische Existenz. Sie hatte keine Freiheit und keine Möglichkeit, sie wiederzuerlangen.

Jahrelang hatte sie einfach weitergemacht und in einem Nebel aus Trauer und Angst die Bewegungen des täglichen Lebens nachgeahmt. Dann, vor einem Monat, war sie mit den Töchtern von König George auf dem Rückweg von ihrem Landsitz Gloucester Lodge in Weymouth nach London gewesen. Während der Kutschenfahrt, niedergeschlagen und hoffnungslos, hatte sie zufällig einen Mann gesehen. Einen Mann, dessen Anblick ihr schmerzlich vertraut war.

Ihren Bruder.

Seine Hoheit, Prinz Gabriel Phillipe d’Orléans.

Noch nie in ihrem Leben war sie sich einer Sache so sicher gewesen.

Der Mann war jung gewesen – jünger als Elise, aber kein Kind mehr. Sein Haar war sandbraun wie ihres, aber das war nicht das, was ihr ins Auge fiel. Das Auffällige an dem Mann war, dass er genau wie eine jüngere Version ihres verstorbenen Vaters aussah.

Alles an ihm – seine Haltung, seine Statur und vor allem seine Gesichtszüge – war Elise so vertraut, dass sie sich ruckartig aufsetzte und aus dem Fenster starrte, die Nase und beide Hände an die Scheibe gepresst. Sie schnappte so heftig nach Luft, dass König Georges Töchter aufschossen und sich zum Fenster beugten, um herauszufinden, was es da draußen Aufregendes zu sehen gab. Wie enttäuscht waren sie über den Anblick eines vollkommen unscheinbaren Mannes, der in einem Fleckchen Sonnenlicht auf einem Marktplatz inmitten einer Pferdeherde stand.

Aber nicht Elise.

Für Elise war seitdem nichts mehr wie vorher.

Sie war davon überzeugt, dass der junge Mann ihr lang vermisster Bruder Gabriel war. Sie hatte ihn gefunden – oder zumindest hatte sie ihn gesehen. Sie war nicht mehr allein und hatte nun einen handfesten Grund weiterzumachen.

Es war zehn Jahre her, dass sie Gabriel das letzte Mal gesehen hatte, in der Nacht, bevor sie aus Frankreich geflohen waren. Er war erst acht Jahre alt gewesen, verwirrt und verängstigt, aber er hatte so sehr versucht, tapfer zu sein. Elise war fünfzehn gewesen und ihre Schwester Danielle noch ein Kleinkind. In der Nacht nach der Hinrichtung ihres Vaters waren die drei getrennt voneinander aus Frankreich herausgeschmuggelt und zu ihrem Schutz ins Exil gebracht worden.

Seit dieser Nacht hatte Elise nichts mehr von ihrem Bruder oder ihrer Schwester gehört, und sie war davon ausgegangen, dass sie nicht überlebt hatten.

Bis zum letzten Monat, als sie irgendwo auf der Straße nach Land’s End, der Route, die der königliche Trupp von Weymouth nach London genommen hatte, einen Mann gesehen hatte, den sie für ihren Bruder hielt.

Die Situation hatte etwas in ihr ausgelöst; das Ereignis hatte sie beflügelt. Der Anblick ihres Bruders war der harte Stoß gegen einen nahezu unbeweglichen Felsen gewesen, der doch schließlich bergabrollte. Zuerst war er langsam gerollt, dann immer schneller; jetzt war er unaufhaltsam.

Sie würde den Mann finden, der mit Sicherheit ihr Bruder war. Sie würde sich aus ihrer erdrückenden, langweiligen Position am britischen Hof befreien. Sie würde versuchen, so etwas wie ein normales Leben zu führen, um nicht aufzufallen. Gemeinsam würden sie und ihr Bruder ihre kleine Schwester aufspüren. Im Zuge dessen würde sie vielleicht auch ihr eigenes Ich wiederfinden.

Der Anblick ihres Bruders hatte eine vergessene Kühnheit in ihr heraufbeschworen, die sie anspornte, aus dem schattenhaften, geborgten Leben, das sie geführt hatte, herauszutreten und ihr Gesicht der Sonne zuzuwenden.

Nur hatte sie ihr Gesicht nicht der Sonne zugewandt. Sie hatte es mit einem Schleier bedeckt, denn obwohl diese neue Kühnheit motivierend war, war sie auch beängstigend. Kühnheit war nicht unbedingt Tapferkeit.

Es half auch nicht, dass der St. James’s Palace ihren Plan weder unterstützen noch fördern wollte.

Man hatte sich fast sofort dagegen ausgesprochen, nach dem Mann zu suchen, der ihr Bruder sein könnte. Mit Nachdruck. Unerbittlich. Der König und die Königin hatten nicht persönlich Einspruch erhoben, aber ihre Minister, die pedantischen Männer, die mit Dossiers an der Brust durch den Palast eilten, hatten es in ihrem Namen getan. Sie kamen zu ihr und sagten auf jede erdenkliche Weise Nein, außer mit den Worten „Es ist verboten“. Sie mochte eine Prinzessin im Exil sein, vergessen und nutzlos, aber sie war königlich. Es wäre unschicklich, ihr einen direkten Befehl zu erteilen, um sie von ihrem unliebsamen Plan abzubringen. Nein, ihr Ziel versuchten sie, auf anderen Wegen zu erreichen.

Sie begannen damit, ihr den Zugang zur Königin zu verwehren. Danach wiesen sie andere Höflinge an, ihre Fragen zu ignorieren. Sie schlossen Türen und die Bibliothek und händigten ihr ihre Post nicht länger aus, genauso wie sie ihre nicht mehr weiterleiteten. Elise wurde nicht mehr zu Veranstaltungen eingeladen, bei denen sie mit hochrangigen Mitgliedern des Hofes zusammentraf. Schließlich wurde ihre alte Freundin und neue Begleiterin Marie aus einem irischen Kloster in der Hoffnung herbeigeordert, eine besänftige Wirkung auf sie auszuüben.

Und dann, was sie am meisten beunruhigte, hatte der Palast diesen … „Aufpasser“ geschickt, um sie zu beschatten.

Killian Crewes.

Innerhalb des Palastes hielt er sich zurück, aber draußen verfolgte er jeden ihrer Schritte. Sie hatte natürlich gewusst, wer er war; die vielen Jahre im Palast hatten ihr reichlich Zeit gegeben, die Schlüsselfiguren zu identifizieren. Im weitesten Sinne war Killian Crewes ein Schulkamerad der königlichen Dukes. Genauer gesagt war er der zwielichtige Mann in feiner Kleidung und mit feinen Manieren, den die königliche Familie rief, wenn im St. James’s Palace etwas schiefgelaufen war.

Als der fünfte Sohn des Königs, Ernest, dubiose, verlustreiche Investitionen getätigt hatte, wurde Killian Crewes hinzugezogen, um das Problem zu beseitigen. Als König Georges siebter Sohn, Adolphus begann, auf Bärenjagd zu gehen, was zu mehreren Unfällen führte, wurde Mr. Crewes beauftragt, die Einzelheiten zu vertuschen, die Verletzten für ihr Schweigen zu bezahlen und die Tiere nach Bayern zu verfrachten.

Er beseitigte unliebsame Personen, ließ verschwundene Diamanten wieder auftauchen und machte aus unehelichen Kindern legitime, lange verschollene Nichten.

Und jetzt war er hier und verfolgte Elise, wohin sie auch ging.

Wie auch immer, dies war nicht ihre erste Erfahrung dieser Art. Sie war schon einmal verfolgt und gefangen genommen worden. Sie hatte miterlebt, wie ihr eigener Vater auf grausame Weise getötet worden war; eine öffentliche Hinrichtung, die sich über einen schrecklichen Nachmittag hingezogen und sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Sie kannte die Gefahr, die an königlichen Höfen lauerte, nur zu gut. Die Angst begleitete sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr, vor allem nachts, wenn sie von Menschenmengen und Männern träumte, die sie verfolgten.

Es war elend, Angst zu haben, aber nicht elend genug, um nicht zu versuchen, auszubrechen.

3. KAPITEL

Zwei Tage später folgte Killian der Prinzessin und ihren Begleiterinnen zu einem Gasthaus in der Tottenham Court Road. Für Frauen, die in den letzten fünf Jahren (praktisch) unter Verschluss gehalten worden waren, waren sie erstaunlich flink unterwegs.

Dass sie die Heilige Messe als Tarnung nutzten, um heimlich ihren Radius in der Stadt zu erweitern, hatte Killian misstrauisch gemacht und dazu geführt, dass er die Damen mit noch mehr Aufmerksamkeit als ohnehin im Auge behielt. Und er musste sich eingestehen, dass er fasziniert war.

„Meinst du, sie bemerken uns nicht?“, fragte Hodges. Die beiden Männer standen am Rande eines Pferdestalls und beobachteten die Krähen aus der Ferne, während sie Äpfel an die Pferde verfütterten.

„Sie wissen, dass wir da sind“, sagte Killian. „Sie sind sich ihrer Umgebung bewusster als der Nachtwächter. Sie sehen mich gewiss als Schutz an, als eine Art Wächter. Sie kennen mich aus dem Palast. Und sie wissen, dass ich ein Freund der königlichen Dukes bin, und fürchten sich daher nicht.“

„Sie eilen nicht gerade herbei, um dich zu begrüßen, oder? Nicht einmal ein Lächeln in deine Richtung.“

„Ich habe die Frau noch nicht kennengelernt, Hodges. Sie können mich nicht begrüßen, ohne dass wir einander vorgestellt worden wären. Wäre ich mit Ihrer Hoheit bekannt gemacht worden, wüsste ich, wer sie ist. Schlaumeier.“

Hodges überlegte einen Moment. Dann fragte er: „Warum glaubst du, wollen sie, dass wir sie beschatten?“

Killian zuckte mit den Schultern. „Mir wurde nur gesagt, dass sie ‚etwas im Schilde führt, aus dem nichts Gutes entstehen kann‘. Kryptisch wie immer. Edward hat gesagt, dass sich ihre Gewohnheiten geändert hätten, und zwar gewaltig, und das passt dem König nicht. Offenbar werden ausländische Besucher in den Palast kommen, und er will nicht, dass sie sich ihnen nähert.“ Killian dachte einen Moment darüber nach und fügte dann hinzu: „Zumindest nehme ich das an.“

Für die königliche Familie war es von Vorteil, wenn sie nicht ausdrücklich angeben musste, wofür sie ihn bezahlte.

Laut Seiner Gnaden Edward, dem königlichen Duke of Kent, König Georges viertem Sohn, hatte Prinzessin Elise sich in letzter Zeit stark verändert. Sie hatte sich von unbeteiligt und zurückhaltend zu unberechenbar und neugierig entwickelt. Ganz zu schweigen davon, dass Ihre Durchlaucht begonnen hatte, sich heimlich aus dem Palast zu schleichen. Sie und ihre Hofdamen fehlten häufig beim Tee oder beim Abendessen und machten angeblich ein Schläfchen, wenn die Töchter von König George ihren Nachmittagsspaziergang durch den Palast machten. Der König wollte wissen, warum. Was taten sie, wenn sie den Palast verließen? Mit wem trafen sie sich?

Bis jetzt hatte Killians einzige Antwort etwas mit Pferden zu tun. Heute hatten sie die Tottenham Court Road angesteuert und waren dort in einen vollkommen unauffälligen Gasthof gegangen. Vor drei Tagen war es noch ein Buchladen gewesen, der sich auf Werke über Tierhaltung spezialisiert hatte. Dort hatten sie besonders lange vor dem Regal mit Literatur über Pferde verweilt. Das ergab alles keinen Sinn.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Killian weit mehr Fragen in Bezug auf die Prinzessin als Antworten, aber er konnte sich ihr innerhalb des Palastes nicht nähern. Königin Charlotte war streng gegenüber ihren Töchtern und deren Freundinnen, vor allem, wenn es um Männer ging. Der Auftrag lautete klar und unmissverständlich: Prinzessin Elise ablenken, aber nicht auf Kosten der Töchter von König George. Killian sollte nicht der Fuchs im Hühnerstall sein.

„Am Ende haben sie wahrscheinlich Angst, dass sie abhaut“, mutmaßte Hodges.

„Meinst du wirklich?“, entgegnete Killian. „Ich habe nicht den Eindruck, dass es ihnen etwas ausmachen würde, wenn sie wegliefe. Aber sie läuft doch nicht weg, oder? Sie kehrt immer nach St. James’s zurück, nur um sich dann wieder davonzuschleichen. Wenn sie unter dem Schutz des Palastes bleiben will, darf sie nicht …“ Killian brach ab, nicht bereit, die Worte auszusprechen.

„Frei herumlaufen?“ Hodges sah ihn nachdenklich an.

„Fragen stellen“, beendete Killian seinen Satz grimmig. Dass sie angefangen hatte, Fragen zu stellen, schien das Verhalten zu sein, das den Palast am meisten beunruhigte.

„Gewissen Mitarbeitern des Palastes zufolge hat die Prinzessin eine Briefkampagne an alle Verwandten im Exil gestartet, die sie ausfindig machen konnte. Sie stiehlt Zeitungen vom Frühstück. Sie löchert die königliche Familie und deren Minister mit Fragen“, sagte Killian.

„Wonach fragt sie?“

„Nach ihrer Situation. Nach anderen französischen Adligen im Exil. Nach ihren vermissten Familienmitgliedern.“

„Sie wollen sie im Dunkeln lassen“, meinte Hodges, „und zum Schweigen bringen.“

„Wahrscheinlich“, sagte Killian seufzend und zu seiner eigenen Überraschung beunruhigt.

„Was ist los, Kill?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich mag diese Arbeit nicht. Ich mag den Zweck nicht, und ich mag die Mittel nicht. Ich hätte den Auftrag höflich abgelehnt, wenn da nicht die Lagerhäuser wären.“

„Limehouse?“, fragte Hodges.

„Ja. Ich habe den Architekten bereits für die Pläne zur Restaurierung der Häuser bezahlt. Ich kann mir die Chance, sie zu kaufen, nicht entgehen lassen.“

Von allen heruntergekommenen Immobilien, die Killian jemals von der Krone erworben hatte, begehrte er eine bestimmte Ansammlung von leer stehenden Lagerhäusern am Flussufer in Limehouse am meisten. Die Gegend war von Kriminalität heimgesucht, und die Gebäude waren altersschwach; sie galten weithin als zu heruntergekommen, um jemals von Wert zu sein. Aber Killian war anderer Meinung – in der Nähe des Flusses war es immer lukrativ, Geschäftsräume zu haben – daher wollte er diese Lagerhäuser unbedingt in seinen Besitz bringen. Wenn er diesen Auftrag zur Zufriedenheit des Königs erfüllte und für seine Arbeit bezahlt wurde, war er sich sicher, dass er die verdammten Lagerhäuser endlich in Angriff nehmen konnte.

„Es ist ja nicht so, dass sie von dir verlangen, ihr einen Schaden zuzufügen“, meinte Hodges.

„Nein“, erwiderte Killian. „Sie wollen nur, dass ich sie aus dem Verkehr ziehe, wie auch immer. England befindet sich im Krieg mit Frankreich. Es ist keine gute Zeit für König George, eine neugierige französische Prinzessin zu beherbergen.“

Hodges stieß einen leisen Pfiff aus.

In der Tat, dachte Killian.

„Sie muss aufhören, Fragen zu stellen. Sie kann nicht einfach so durch London marschieren. Sie darf keine Last darstellen. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass sie Ruhe gibt. Ob es mir nun gefällt oder nicht.“

„Indem du sie verführst“, sagte Hodges.

„Etwas in dieser Art.“ Killian seufzte und starrte die Frauen an, die ihm Kopfschmerzen bereiteten. „Offenbar ist sie zu hochrangig, um sie einzusperren. Stattdessen wollen sie sie ablenken. Also werde ich sie umwerben. Ich werde ihr Herz erobern, damit sie ein braves Mädchen wird. Oder so ähnlich.“

„Kein Wunder, dass sie dich auf sie angesetzt haben.“

„Ja“, sagte Killian. „Kein Wunder.“ Wobei er sich nicht sicher war, wie weit zu gehen ihm tatsächlich gestattet war.

4. KAPITEL

„Ich glaube, Mr. Crewes ist ein sehr guter Freund der königlichen Dukes“, sagte Cousine Juliette und warf einen Blick auf Killian Crewes auf der anderen Seite der Pferdekoppel, an der sie standen und die Pferde streichelten. „Jemandem, der mit den Söhnen des Königs befreundet ist, müssen wir sicher nicht ausweichen.“

Er ist heute näher herangekommen, dachte Elise. Marie und Kirby standen pflichtbewusst daneben und hörten sich Juliettes Beschwerden an; sie warteten auf ein Stichwort von Elise. Sie sah zu Marie. „Er wird immer dreister.“

Wenn der Palast vorhatte, sie in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, wünschte sich Elise fast, man würde sie einfach einsperren. Sie hasste es, verfolgt und überwacht zu werden. Als sie vor all den Jahren aus Frankreich geflohen war, war sie unerbittlich von Männern auf Pferden, Männern mit Hunden und Männern verfolgt worden, die ihr wie Gespenster im Wald auflauerten. Fünf schreckliche Tage lang hatten sie und Marie in Kutschen gekauert und sich in Booten versteckt, um ihr Leben zu retten.

Die Angst aus jenem Sommer steckte Elise tief in den Knochen und in der Seele. Wann immer sie sich verfolgt, beobachtet oder, Gott bewahre, gejagt fühlte, brach Panik in ihr aus. Das war einer der Gründe, warum sie es so lange am britischen Hof überhaupt ausgehalten hatte. Im St. James’s Palace wurde sie weitgehend ignoriert. Sie hatte sich einigermaßen sicher gefühlt. Man hatte sie in Ruhe gelassen. Bis jetzt. Bis der Palast aufgehört hatte, sie zu ignorieren, und diesen Mann damit beauftragt hatte, sie zu ….

Nun, sie konnte seine Aufgabe nicht genau benennen, aber sie konnte kaum etwas Gutes beinhalten.

„Bitte sehr, Juliette“, sagte Elise und reichte ihrer Cousine einen Apfel. „Schau, hiermit kannst du die Stute füttern, während wir warten.“ Sie wies auf ein weißes Pferd auf der anderen Seite des Weidezaunes.

„Ich finde, Mr. Crewes sieht sehr gut aus“, bemerkte Juliette und schob den Apfel unter ihren Schleier, um einen Bissen zu nehmen. „Findest du nicht auch, dass er gut aussieht?“

„Ich habe bislang nicht über sein Aussehen nachgedacht, Juliette“, sagte Elise. Das war eine Lüge, und das ärgerte sie. Elise hatte in den vielen Jahren, die sie inzwischen am Hof verbracht hatte, reichlich Zeit gehabt, das Aussehen von Killian Crewes zu studieren. Warum er? Elise konnte es nicht sagen; ihr Blick war einfach immer wieder wie von selbst zu ihm gewandert. Und an ihm hängen geblieben. Sie hatte ihn beobachtet. Welch eine Ironie, dass er jetzt sie beobachtete. Wenn nun das seltsame Kribbeln in ihren Bauch zurückkehrte – das sie vorher kaum bemerkt hatte, das sich aber jetzt so vertraut anfühlte wie sein Gesicht –, dann gab es dafür keine Erklärung. Sie konnte nichts dagegen tun.

Neben seinem Aussehen war ihr eine andere Eigenschaft an Killian Crewes aufgefallen, die sie deutlich spannender fand. Der Mann war klug. Gewieft. Und in gewisser Weise … geschäftstüchtig? Er schien sich im Palast nie zu amüsieren, nicht wie die anderen Mitglieder des königlichen Hofes. Es war eher so, als wäre er in den Palast gekommen, um zu überleben.

Wenn Elise den Palast auch als Mittel zum Überleben betrachtete, nun … vielleicht erkannte er, dass sie durchaus etwas gemeinsam hatten.

Und vielleicht wäre ihr das alles nicht aufgefallen, wenn er sich nicht so sehr von den anderen Männern am Hof unterscheiden würde. Während die anderen Freunde der königlichen Dukes jovial oder respektlos waren – schließlich sollten Höflinge unterhaltend sein –, sprach Mr. Crewes kaum und lächelte noch weniger. Er schlich durch den Ballsaal mit einer fast … grimmigen Miene, die den Eindruck vermittelte, als verfügte er über ein geheimes Wissen, zu dem die anderen niemals Zugang finden würden. Wenn Elise sich nicht irrte, sah er aus wie ein Mann, der wünschte, er wüsste nicht so viel.

Auch hier spürte Elise eine gewisse Verwandtschaft. Auch sie war gezwungen worden, viele tragische Dinge zu erfahren – Dinge, unter denen sie litt, die sie am liebsten nie erlebt hätte. Ihr Leben war auf den Kopf gestellt worden, um all diesen schrecklichen Dingen zu entkommen.

Im Allgemeinen genossen die Söhne von König George und ihre lärmenden Freunde eine angeborene Selbstsicherheit, da sie ihren privilegierten Platz in der Welt genau kannten, aber Killian Crewes war auch in dieser Hinsicht anders. Er mied das Licht. Stets hielt er sich in der Nähe einer Tür, eines möglichen Verstecks oder eines Schattens auf.

Und natürlich war er in letzter Zeit auch nie weit von ihr entfernt gewesen. Nicht so nah, dass er sie angesprochen hätte – noch nicht –, aber nah genug, um von ihr gesehen zu werden.

„Auch wenn du ihn nicht schön findest“, sagte Juliette jetzt und schwang das Apfelkerngehäuse am Stiel hin und her, „kannst du nicht bestreiten, dass er gute Verbindungen hat. Zu den Söhnen des Königs.“

„Die königlichen Dukes haben einen großen Freundeskreis, Juliette“, sagte Elise und hielt jetzt selbst der Stute einen Apfel hin. „Und einige von ihnen sind zum Abendessen, zum Nachmittagstee und zur Kirche am Sonntag willkommen. Andere hingegen – darunter auch Mr. Crewes – sieht man nur selten bei Tageslicht. Stattdessen kommen sie in der Dunkelheit der Nacht durch die Hintertüren und tun Gott weiß was, nachdem die ganze anständige Gesellschaft zu Bett gegangen ist. Die Königin würde es nie begrüßen, wenn Mr. Crewes ihren Töchtern vorgestellt würde. Er wird nie auf Bällen angekündigt. Er reist nicht mit der Familie. Es ist ihm nicht gestattet, sich mir im Palast zu nähern, und doch belästigt er mich hier draußen? Ich könnte immer so weitermachen, aber verstehst du, was ich meine? Er bewegt sich am Rande der Legalität. Es ist das Vorrecht der königlichen Dukes, sich mit jedem zu verbrüdern, den sie mögen, und es ist mein Vorrecht, Killian Crewes zu meiden.“

„Bewegen wir uns nicht auch am Rande der Legalität, wenn wir bei jeder Gelegenheit aus dem Palast fliehen?“

„Wir fliehen nicht, Juliette. Wir haben lediglich außerhalb des Palastes zu tun und nicht viel Zeit, dies zu erledigen. Gabriel ist nicht nur mein Bruder, sondern auch dein Cousin. Erkennst du nicht die Notwendigkeit unserer Erkundungstouren?“

„Ich weiß, dass er mein Cousin ist. Was ich damit sagen wollte, ist, dass ich kaum glaube, dass wir über ihn stolpern werden, während wir durch die Stadt huschen und Stallburschen verhören.“

Elise holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Der Plan lautet nicht, über ihn zu stolpern, wie du sagst. Wir versuchen, mehr über die Pferdehändler zwischen hier und Weymouth zu erfahren. Und wer könnte uns besser von Pferdehändlern erzählen als Männer, deren Aufgabe es ist, sich um Pferde zu kümmern? Ich habe das doch bereits erklärt. Wieder und wieder. Wenn du dich nicht auf die Suche nach meinem Bruder einlassen kannst, kannst du dann nicht einfach das Gefühl genießen, dich außerhalb des Palastes frei zu bewegen?“

„Vielleicht könnte ich das, wenn wir einmal ein Geschäft oder eine Teestube aufsuchen würden. Irgendwas, wo es Abwechslung gibt oder interessante Menschen. Aber nein. Bis schließlich Mr. Crewes auftaucht, und der ist interessant, auch wenn du ihn nicht respektabel findest. Aber auch hier: nein.“

„Es ist nicht Mr. Crewes’ mangelnde Seriosität, die mich beunruhigt“, erwiderte Elise seufzend. „Es ist die Tatsache, dass er offenbar damit beauftragt wurde, mich zu überwachen. Und das mag ich nicht, Juliette. Das, was nach der Überwachung kommt, ist die Reglementierung. Und was nach der Reglementierung passiert, kann alles sein, von der Gefangenschaft bis zum Tod. Bitte, ich flehe dich an, ignoriere Killian Crewes.“

5. KAPITEL

Es war der Besuch der Prinzessin bei Tattersall’s, der Killian schließlich dazu veranlasste, sich ihr zu nähern.

Tattersall’s war ein städtischer Pferdemarkt, der sich am Hyde Park befand. Es wimmelte nur so von Pferden mit glänzendem Fell, uniformierten Stallknechten und Jagdhunden. Und Gentlemen. So viele Männer. Gut betuchte Käufer sahen sich Vollblüter und Zuchtstuten an, während Rennbegeisterte Geschichten über ein um eine Nasenlänge verlorenes Vermögen austauschten. Die Kombination aus Geld und Sport war so verlockend, dass sich die Herren auf dem Gelände versammelten, auch wenn der Markt nicht geöffnet hatte. Vor allem im September, wenn das Wetter noch schön war und die Pferdebesitzer die Verpaarungen für die kommende Saison planten, herrschte auf dem Markt ein dichtes Gedränge von elegant gekleideten Männern und reinrassigen Pferden.

Es gab jedoch nur wenige Frauen, und schon gar keine Frauen, die in einem Vierergespann in Trauerkleidung herumliefen. Bei all ihren Streifzügen hatte Killian nicht ein einziges Mal das Gefühl gehabt, dass die Frauen in Gefahr gewesen wären. Jetzt allerdings begann er, sich Sorgen zu machen.

„Und du gehst direkt auf sie zu, ja?“, fragte Hodges und eilte ihm durch eine überdachte Gasse in der Nähe der Ställe hinterher. Sie folgten der Prinzessin und ihren Damen in einigen Metern Entfernung. Ein schwerfälliger Ochsenkarren rumpelte über eine Querverbindung und versperrte Killian die Sicht. Er fluchte und umrundete rasch den Wagen.

„Das ist die Idee“, murmelte er und suchte den Markt nach den vier Frauen ab. Sie waren hier verwundbar. Er sollte sie nicht aus den Augen lassen. „Wir können sie nicht ewig beschatten. Ich soll ihre Aufmerksamkeit gewinnen und sie ablenken und nicht von vier Frauen, von denen eine sie sein könnte, kreuz und quer durch London gehetzt werden. Es ist wirklich ein bisschen erbärmlich, was wir hier veranstalten.“

„Was haben die Bediensteten über sie gesagt?“ Hodges überlegte. „Haselnussbraune Augen? Wie willst du die Farbe ihrer Augen durch den Schleier erkennen?“

„Ich habe zu viele widersprüchliche Beschreibungen gehört, um mich auf die Aussagen der Dienerschaft zu verlassen. Ich beabsichtige, sie an ihrer königlichen …“, er atmete ein wenig angestrengt aus, „… Haltung zu erkennen.“

„Ihre was?“

Killian entgegnete nichts. Die Wahrheit war, dass er keine Ahnung hatte, wie er sie identifizieren sollte. Normalerweise würde er einfach fragen, aber eine erfolgreiche Eroberung begann damit, einer Frau das Gefühl zu geben, dass sie bekannt und auserwählt war, nicht … erraten.

Er runzelte die Stirn, nahm seinen Hut ab und benutzte ihn, um sich die Augen zu beschatten. „Siehst du sie? Ich kann sie nirgendwo entdecken. Wie konnten wir vier Frauen in Trauerkleidung inmitten einer wogenden Menge von Herren und Pferden verlieren?“

„Da“, sagte Hodges und machte ein erschrockenes Gesicht. „Da ist sie.“

Killian folgte seinem Blick zu einer Reihe von leeren Wagen und Karren, die am Rande des Marktes geparkt waren. Es waren die Transportmittel der Händler, die vom Land nach London gereist waren. Die vier Frauen standen zusammengedrängt in einer Lücke zwischen zwei Wagen, und daneben stand ein großer, schlanker Mann in einem schäbigen Mantel und ausgetretenen Stiefeln. Sein Kopf war kahl, und in einer Hand hielt er einen zerbeulten Zylinder. Er benutzte den Hut, um die Frauen zwischen den geparkten Fahrzeugen hindurchzuwinken. Sein dünner, schlaksiger Körperbau erinnerte Killian an ein langes Ofenrohr, weshalb er ihn für sich „Stovepipe“ taufte.

Killian blieb stehen. Er hatte sie für zwei Minuten nicht im Blick gehabt, und sie hatten es geschafft, mit dem zwielichtigsten Kerl auf dem Markt ins Gespräch zu kommen. Der Mann war Killian unbekannt, aber er hatte genug Zeit mit derartigen Gestalten verbracht, um eine Bedrohung zu erkennen, wenn er sie sah. Kriminelle waren, anders als Prinzessinnen, leicht als solche auszumachen.

„Tun Sie das nicht …“, murmelte Killian erschöpft und sah frustriert zu, wie sich ein Mitglied des Gespannes – die Kleine – aus der Vierergruppe löste und einen Schritt zwischen die beiden Wagen machte.

„Aber was könnten sie mit einem wie ihm wollen?“, fragte Hodges schnaufend, als er zu Killian aufschloss.

„Das weiß nur Gott allein.“

Killian setzte sich wieder in Bewegung. Inzwischen war die Kleine zwischen die Wagen getreten, blickte zurück und sagte etwas zu der Großen. Zwischen den beiden Frauen kam es zu einem angespannten Wortwechsel. Eine Reihe von Männern, die Arm in Arm gingen, geriet vor Killian, und wieder konnte er nichts sehen. Er fluchte und zwängte sich an ihnen vorbei, und nun folgte die Große der Kleinen zwischen die Wagen. Die Kleine ließ das nicht zu, und die Große kehrte zu den anderen beiden zurück.

Killian wurde die Sicht wurde erneut von einem Jungen behindert, der ein Pferd an einem Strick hinter sich herzog. Als der den Weg frei machte, stand Stovepipe neben der Kleinen und schwenkte seinen Hut wie ein Vater, der sein Kind die Straße hinunterscheucht.

Die Große rief etwas, aber die Kleine hielt sie mit einer Geste auf und schwenkte auf den schlammigen Weg zwischen den Wagen ein.

„Nein, nein, nein …“, flüsterte Killian, der nun seine Schritte beschleunigte.

Der zwielichtige Mistkerl hatte es derweil nicht eilig. Er ließ sich Zeit und genoss den Anblick, wie sie sich mit gerafften Röcken durch den Schlamm kämpfte. Sein Gesicht leuchtete vor Gier, der atemlose Ausdruck eines Jägers, der beobachtet, wie ein Kaninchen in seine Falle tappt.

Als die Kleine aus dem Blickfeld verschwand, schaute Stovepipe nach rechts und links, zog seine Handschuhe an und setzte ihr nach.

Killian fluchte erneut, wich einem alten Mann aus, der einen Eimer mit schwappendem Wasser trug, und rannte los.

„Guten Tag!“, rief Killian, als er die drei verbliebenen Mitglieder des Gefolges erreichte. Vielleicht antworteten sie, vielleicht auch nicht, Killian wusste es nicht, denn er blieb nicht stehen.

Er rief über die Schulter: „Verzeihen Sie mir meine Eile. Killian Crewes. Ich werde nur mal kurz nachsehen …“

Er sprach nicht zu Ende, denn er hatte keine Ahnung, wen oder was er inmitten der Wagen sehen würde, und war es wirklich so wichtig? Die Kleine konnte die Prinzessin sein oder eine Hofdame; auf jeden Fall würde er dafür sorgen, dass der Frau, wer auch immer sie sein mochte, nichts Schlimmeres geschah.

Als Killian das Heck des ersten Wagens erreichte, war sie natürlich schon weg. Er legte den Kopf schief und lauschte. Es war ein windiger Tag, und Gesprächsfetzen wehten aus allen Richtungen zu ihm herüber.

Fluchend ließ er sich auf den schlammigen Boden auf alle viere nieder und suchte unter den Fahrzeugen nach einem schwarzen Rock und ausgetretenen Stiefeln.

Er entdeckte sie beinahe sofort, zwei Reihen weiter. Sie waren in Hörweite, aber er wagte noch nicht zu rufen. Er wollte sie nicht dazu bringen, sich noch weiter zu entfernen. Er wollte keine Verfolgungsjagd. Er wollte keinen Kampf.

Ich will diese Aufgabe nicht, dachte er und sprang auf.

Er bewegte sich leise und schnell, bog vorsichtig um die Ecke und näherte sich dem Gauner von hinten. Es dauerte weitere zehn Sekunden, und Killian bog um den letzten Wagen herum und sah, wie die Kleine im Begriff war, in einen Wagen zu steigen, dessen Ladefläche von Wänden aus Holz umgeben war.

„Auf ein Wort, wenn ich bitten darf!“, rief Killian mit ruhiger, fast gelangweilter Stimme.

Die Kleine war jetzt bereits in den Wagen gestiegen, aber Stovepipe stand auf der obersten Stufe.

„Verpiss dich!“, rief der Mistkerl, bevor er ebenfalls in dem Wagen verschwand.

„Du machst wohl Witze“, murmelte Killian.

Einen Moment später war er die Stufen hinauf und trat mit einem bestiefelten Fuß die Tür ein, durch die man auf die Ladefläche gelangte.

Zwei Köpfe wandten sich ihm gleichzeitig zu. Das Gesicht der Kleinen war noch immer verschleiert, Stovepipes Gesichtszüge waren rot und verzerrt.

„Da ich nun die Aufmerksamkeit aller habe“, fuhr Killian fort, „möchte ich Sie bitten, sich von der Dame zu entfernen. Hände gut sichtbar.“

Der Gauner sah zwischen der Frau und Killian hin und her und wog seine Optionen ab. Er schaute sich um und überlegte, ob er fliehen sollte. Das Gefährt hatte keine Abdeckung, aber die Wände waren hoch.

Er blickte zurück zu Killian. Stovepipe hatte einige Zentimeter Vorsprung vor Killian, aber der Wagen war sehr eng, und es war eine Frau dabei. Trotz seiner feinen Kleidung war Killian ein erprobter Kämpfer und wusste, dass die Bedingungen ungünstig waren.

Der Mann wich zwei Schritte zurück. Er blickte wieder zur Seite des Wagens. „Bleib zurück“, knurrte er und betrachtete die Frau, als ob er überlegte, sie als Schild zu benutzen.

„Du wirst es bereuen“, sagte Killian, „wenn du sie anfasst. Verlass dich darauf.“

„Arrêtez. Stopp.“ Dies kam von der Frau. Sie sagte es zweimal, einmal auf Englisch und einmal auf Französisch.

Killian blinzelte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sprechen würde und nur daran gedacht, sie zu retten. Er wollte sie gerade fragen, ob sie verletzt war, als Stovepipe nach rechts sprang.

Killian stürzte sich auf den Mann und wollte ihn am Handgelenk packen.

Stovepipe war jedoch schneller und duckte sich hinter die Frau, um sich zu schützen. Killian würde nicht auf die Frau losgehen, und das wusste dieser Feigling offenbar auch. Killian war gezwungen, sich zurückzuziehen.

Stovepipe nutzte den Moment, um sich mit seinen kräftigen Armen an einer Wand des Wagens hochzuziehen. Er hangelte sich hinauf, schwang sich über die Wand und verschwand auf der anderen Seite wie ein Eichhörnchen.

Die Frau stieß einen frustrierten Laut aus, schob sich an Killian vorbei und lehnte sich aus der Tür des Wagens. Sie schaute nach rechts und links, aber Killian wusste es bereits. Stovepipe war weg.

„Sind Sie verletzt?“, fragte er, als er neben sie trat.

„Nein“, antwortete sie abweisend. „Er ist verschwunden. Sie haben ihn verscheucht.“

„Ich habe ihn verscheucht?“

„Ja, natürlich. Er ist Gott weiß wohin gelaufen. Und zwar, bevor er mir die Informationen verkauft hat.“

„Verzeihen Sie – er sollte Ihnen was verkaufen?“

„Nichts“, sagte sie. „Machen Sie sich keine Gedanken, und es geht Sie auch nichts an.“ Sie raffte ihre Röcke und stieg die Treppe hinunter.

„Warten Sie!“, rief Killian, aber sie ignorierte ihn und eilte davon.

„Ich würde Ihnen gern helfen“, versuchte Killian es erneut und folgte ihr.

„Oh, das verstehen Sie also unter ‚Hilfe‘?“, rief sie über die Schulter und bog neben einem klapprigen Wagen nach links ab.

„Ja, natürlich. I…“

Sie schien ihm nicht mehr zuzuhören und blickte sich auch nicht mehr nach ihm um. Sie schlängelte sich zwischen den Gefährten hindurch zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Als sie den letzten Wagen hinter sich gelassen hatte, kam die wartende Entourage in Sicht. Die letzten Meter rannte sie, bis sie bei ihren Gefährtinnen angekommen waren, die sie sogleich umringten.

„Warten Sie!“, rief Killian erneut, jetzt halb lachend. Wie hatte er es geschafft, als die Bedrohung betrachtet zu werden? Er? Sie fühlte sich von ihm bedroht?

Wenn es sich bei dieser Frau zufällig um Prinzessin Elise handelte, hatte er so was von verloren. Auftrag vergeigt. Auszahlung nicht verdient. Lagerhäuser unerreichbar.

Er blieb neben den vier Frauen stehen und hob die Hände. „Bitte“, sagte er. „Ich flehe Sie an. Könnten wir … noch einmal von vorn beginnen? Ich möchte mich Ihnen gern vorstellen.“

Vier Köpfe mit schwarzen Schleiern vor den Gesichtern drehten sich in seine Richtung.

„Und ich würde mich gern vergewissern, dass alle unversehrt sind.“

Nichts.

Er fuhr fort: „Dieser Mann war … kein guter Mann.“

Keine Reaktion.

„Würden Sie mir sagen, was er mit Ihnen zu tun hatte? Wie hat er Sie dazu gebracht, ihm zu folgen?“

Keine Antwort.

„Ich bin es, Eure Hoheit“, sagte Killian und sprach zu allen, „Mr. Killian Crewes, Equerry des Königs. Königin Charlotte würde mir nicht verzeihen, wenn sie wüsste, dass wir uns über den Weg gelaufen sind und ich mich nicht in Euren Dienst gestellt habe. Eine lächerliche Vorstellung, ich weiß, aber ich würde mich gern nützlich machen.“

„Nützlich machen?“, wiederholte eine der Frauen auf Französisch.

Killian musterte die verschleierten Gesichter in der Hoffnung, die Fragestellerin zu identifizieren. Die Kleine. Ja, natürlich. Gott schütze mich, dachte er, vor der Kleinen.

„Ja“, entgegnete er vorsichtig. „Nützlich. Und ich möchte Ihre Bekanntschaft machen.“

„Sie haben schon genug getan, denke ich“, erwiderte sie. „Ehrlich gesagt bin ich schockiert, dass Sie sich uns auf diese Weise nähern.“

„Schockiert, weil …?“ Verwirrt brach er ab.

Sie seufzte, hob eine behandschuhte Hand und schlug den Schleier zurück.

Der unerwartete Anblick ihres Gesichts machte ihn für einen Moment sprachlos. Die schattenhaften Züge, die er nur andeutungsweise gesehen hatte, waren … menschlich geworden. Sie war ein ausdrucksstarkes, lebendiges, kühnes, schönes Wesen. Und sie war wütend.

Ihre Augen waren haselnussbraun, groß und wach, ihr Gesicht war herzförmig. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihren Lippen waren voll und herrlich geschwungen.

Killian verspürte einen seltsamen Funken in seiner Brust; es war, als hätte jemand ein Streichholz entzündet in einem Raum, in dem es lange dunkel gewesen war.

Er trat einen Schritt zurück.

„Warum …“, fragte die Frau auf Französisch, „… in Gottes Namen sollten wir Sie kennenlernen wollen?“

„Mich?“, wiederholte er dümmlich.

„Ja.“ Spöttisch zog sie eine Augenbraue hoch. „Sie.“

Und dann wusste Killian es.

Sie war die Prinzessin. Man konnte es leicht an einer einzigen Verhaltensweise erkennen: ihrer Verachtung.

Killian erlebte Verachtung so häufig, dass sie so selbstverständlich geworden war wie das Einsetzen der Dämmerung. Sein Vater mochte ein Earl gewesen sein, aber seine Mutter war eine Tänzerin gewesen. Sie hatten schließlich geheiratet, aber das machte es fast noch schlimmer. Das Einzige, was weniger angesehen war als eine Tänzerin, war eine Tänzerin, die es geschafft hatte, eine Countess zu werden.

Gab es Fälle, in denen der Sohn eines Earls und einer Tänzerin die sozialen Hürden seiner Herkunft überwinden konnte? Ja, möglicherweise, aber das war nicht Killians Erfahrung. Dafür hatte sein Halbbruder gesorgt. Solange Killian sich erinnern konnte, hatte die höfische Gesellschaft ihn mit Verachtung gestraft; eine ausgesprochen schmerzhafte Sache.

Oh, er hatte die Gunst der königlichen Familie, aber sie betrachteten ihn nur als zuverlässigen wiewohl nützlichen Gefolgsmann oder als stets zur Verfügung stehenden Freund, der ihnen das Leben leichter machte. Das war auch eine Art von Verachtung, wenn auch nicht so direkt. Wie auch immer, eine Prinzessin im Exil würde es nicht begrüßen, seine Bekanntschaft zu machen. Natürlich würde sie das nicht. Sie würde die Ungleichheit zwischen ihnen erkennen, und sie würde nur Verachtung empfinden.

Das ist ein Irrweg, dachte er. Der Palast ist verrückt, wenn sie glauben, ich könnte die Aufmerksamkeit einer Prinzessin erringen oder sie gar erobern, wenn es tatsächlich das ist, was sie wollen.

Denn er war niemand, dem sie vorgestellt werden wollte.

6. KAPITEL

Elise hatte vergessen, wie sehr der Schleier ihre Sicht beeinträchtigte. Wenn sie ihn lüftete, sah selbst die banalste Szene … nun ja, ein wenig prächtig aus.

Sicherlich war dies der einzige Grund, warum Mr. Killian Crewes so etwas wie „prächtig“ aussah – was er zweifellos tat, als er sie mit warmen braunen Augen und langen schwarzen Wimpern und einer gewiss vorgetäuschten überschwänglichen Galanterie anstarrte. Elise wusste nicht, was sie mit den braunen Augen oder den langen Wimpern anfangen sollte. Bis jetzt war er ihr immer – aus der Ferne – ausgesprochen uncharmant vorgekommen. Bei Hofe war er für seine Ernsthaftigkeit und Schweigsamkeit bekannt. Er war weder herzlich noch leutselig – daher war sie davon überzeugt, dass er ihr gerade etwas vorspielte. Es war wirklich erschreckend, wie gut es ihm gelang, Besorgnis vorzutäuschen.

„Machen wir uns nichts vor, Mr. Crewes“, sagte sie zu ihm. „Es ist vollkommen überflüssig, sich jetzt vorzustellen, nachdem wir Ihre Überwachung fast einen Monat lang ertragen mussten. Es wäre geradezu lächerlich.“

„Überwachung“, wiederholte er hohl.

„Ja. Und Verfolgung. Ihre ständige lauernde Anwesenheit war uns ehrlich gesagt überaus unangenehm. Wir haben uns regelrecht terrorisiert gefühlt.“ Bei diesen Worten kochte in Elise die Wut hoch. Was für eine Frechheit! Dieser Mann hatte offenbar die Tatsache vergessen, dass er einen möglichen Informanten verjagt hatte. Zugegeben, Mr. Latchfoot war ein zwielichtiger, wahrscheinlich unzuverlässiger Informant gewesen, aber trotzdem. Jetzt würden sie nie erfahren, was er ihr zu sagen gehabt hätte. Er war weg, und an seiner Stelle: Killian Crewes. Vorgetäuschte Ritterlichkeit, vorgetäuschte Besorgnis, und obendrein tat er auch noch so, als wüsste er, wer von ihnen die echte Prinzessin war.

Ha.

Elise hatte ihren Schleier nur deshalb abgenommen, weil es klar war, dass er keine Ahnung hatte, wer sie war (oder nicht war). In diesem Punkt hatten die Trauerkleider funktioniert. Die gab ihr ein kleines Maß an Freiheit.

Als Nächstes lüftete Cousine Juliette ihren Schleier. Danach nahm Marie ihren Schleier ab. Und schließlich, mit zittrigem Widerwillen, Kirby. Der Plan war immer gewesen, dass sie gemeinsam handeln sollten. Wenn sie sich gleich verhielten, war es schwieriger herauszufinden, wer wer war.

„Aber Sie werden es doch nicht leugnen“, fuhr Elise fort. „Haben Sie uns nicht wochenlang verfolgt und beobachtet?“

„Es ist doch gar nicht notwendig, etwas zu leugnen“, entgegnete er barsch.

„Und was ist mit Mr. Latchfoot?“, fuhr sie fort.

„Mit wem?“

„Der Mann im Wagen, den Sie verscheucht haben und von dem ich wahrscheinlich nie wieder etwas hören werde? Und das, bevor wir auch nur eine der versprochenen Informationen bekommen haben.“

„Was für Informationen?“

„Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Angelegenheiten der Prinzessin gehen Sie nichts an, Mr. Crewes.“

„Verzeihen Sie bitte. Ich habe mich bemüht, über Prinzessin Elise zu wachen. Um ihrer Sicherheit willen.“

Elise zog ihren Umhang fester um sich. „Die Prinzessin hat sich nicht sicher gefühlt. Die Prinzessin hat sich gejagt gefühlt.“

Er öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder. Er korrigierte seine Haltung, verschränkte die Arme vor der Brust und neigte leicht den Kopf. „Ich bitte abermals um Verzeihung.“

Und nun war Elise an der Reihe, sprachlos zu sein. Seine Bitte um Vergebung hatte fast aufrichtig geklungen. Er wirkte so, als täte es ihm wirklich leid, ihr Unannehmlichkeiten bereitet zu haben.

Und dann wiederholte er die Worte. „Bitte verzeihen Sie.“ Er lächelte nicht. Er sah … gelangweilt aus.

Elise kniff die Augen zusammen und wunderte sich über sein seltsames Verhalten. Jetzt war er gelangweilt? Er hatte sie quer durch London verfolgt, und jetzt trafen sie sich endlich, damit er ihr demonstrieren konnte, wie sehr ihn das alles langweilte?

Außerdem wirkte er irgendwie distanziert. Vorher hatte er sie beobachtet, als interessierte es ihn, was sie tun würde. Jetzt sah er sie an, als wäre es ihm egal.

„Ich fürchte, ich kann Ihre Entschuldigung nicht annehmen, Sir“, sagte Elise. Die Worte waren ihr über die Lippen gekommen, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Es war ihr Stolz, der da aus ihr sprach. Sie langweilte ihn? Nun gut. Entschuldigung abgelehnt.

Wie alt ist er wohl? Die Frage schoss ihr unvermittelt durch den Kopf. Er hatte aufgehört, ihr besondere Beachtung zu schenken, und damit war ihre Aufmerksamkeit geweckt.

In seinen Augenwinkeln waren Falten zu sehen, aber sie schienen vom Aufenthalt im Freien zu stammen, nicht vom Alter. Seine Gesundheit schien in der Tat recht robust zu sein. Er war groß und breitschultrig. Mit athletischer Anmut war er in den Wagen gesprungen. Mühelos war er ihr überallhin gefolgt. Sein Blick schien scharf zu sein. Sie fühlte sich von Mr. Crewes voll und ganz gesehen. Nicht beobachtet, sondern gesehen.

Er ist noch jung, dachte sie. Elise selbst war fünfundzwanzig, zu alt für eine Debütantin, etwas jünger als eine alte Jungfer. Trotzdem fühlte sie sich oft wie fünfzehn, ihr Alter bei der Hinrichtung ihres Vaters. Es kam ihr manchmal so vor, als würden Trauer und Angst sie zu ewiger Jugend verdammen. Zu anderen Zeiten fühlte sie sich so alt wie eine Greisin, müde, ziellos, erschöpft. Sie war die Einzige, die übrig geblieben war. Zumindest hatte sie das viele Jahre geglaubt.

Es spielte keine Rolle, wie alt oder jung sie sich fühlte. Die Wahrheit war, dass sie eine erwachsene Frau war und er ein erwachsener Mann. Plötzlich sehnte sie sich danach, sich hinter ihrem Schleier verbergen zu können, um sich vor ihm und seiner seltsamen Wirkung auf sie schützen zu können.

„Ich fürchte, wir müssen aufbrechen, Mr. Crewes“, hörte Elise sich sagen. Sie war nicht auf das vorbereitet gewesen, was er in ihr auslöste. Und ihr Vorhaben, ihren Bruder zu finden, war wichtiger als das verlockende Rätsel, das Mr. Killian Crewes darstellte.

„Wir müssen die Prinzessin vor dem Tee nach Hause bringen“, fügte sie hinzu.

„Erlauben Sie mir, eine Droschke zu rufen“, sagte er. „Oder lassen Sie mich meinen Diener schicken, um eine Kutsche zu holen.“

„Das ist nicht nötig.“

„Ich bestehe darauf.“ Es hörte sich an, als ob es ihm in Wahrheit vollkommen gleich wäre und er nur der Konvention Genüge täte.

Das hatte den merkwürdigen Effekt, dass sie wollte, dass es ihm etwas bedeutete. Elise schob das irritierende Begehren beiseite, griff nach ihrem Schleier und zog ihn sich vor das Gesicht. Die anderen Frauen taten es ihr gleich.

„Die Prinzessin zieht es vor, zu Fuß zu gehen“, erklärte sie.

„Ich werde Sie begleiten“, entgegnete er.

„Nein, das ist nicht erwünscht.“

Ihr Herz pochte wie wild. Sie hatte den irrigen Gedanken, dass sie das den ganzen Tag tun könnte. Er konnte das eine sagen, und sie würde das Gegenteil behaupten. Sein Tonfall konnte den Eindruck erwecken, dass es ihn nicht interessierte, und sie würde sich dann unerklärlicherweise brennend dafür interessieren, dass er sich eben doch interessierte.

„Die Prinzessin ist ohne Begleitung nicht sicher“, sagte er. „Dieser Mr. Latchfoot, wer auch immer er ist, meint es nicht gut mit Ihnen.“

„Kümmern Sie sich nicht um die Absichten von Mr. Latchfoot. Kümmern Sie sich nicht um irgendetwas, das mit Ihrer Durchlaucht …“ Sie verabscheute es, ihren eigenen Titel zu erwähnen.

Er starrte sie an, entgegnete aber nichts.

Elise wich langsam zurück und ließ ihn dabei keinen Moment aus den Augen. Sein Gesicht und seine Gestalt waren trotz des Schleiers deutlich zu erkennen. All die markanten Merkmale, wie seine langen Wimpern und die Narbe neben seinem Mund, hatten sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Sie wollte es nicht, aber auch die Stoppeln an seinem Kinn oder die Haarsträhnen, die sich unter seinem Hut hervorstahlen, fielen ihr auf.

Sie wandte sich um und ging davon. Ihre Entourage formierte sich hinter ihr. Zum ersten Mal, seit sie bemerkt hatte, dass er ihr folgte, verspürte sie den starken Drang, sich umzudrehen, um zu sehen, ob er hinter ihnen war. Aber sie wagte es nicht. Sie wollte es, aber sie tat es nicht.

„Wie Sie wünschen!“, rief er ihr nach, seine Stimme war schneidend. Nach einem kurzen Augenblick fügte er hinzu: „Hoheit.“

Elise geriet ins Stolpern. Marie eilte an ihre Seite, um sie festzuhalten.

Hoheit? Erschrocken blickte sie ihre Freundin an. Hatte er Elise mit „Hoheit“ angesprochen?

Sie konnte Maries Gesichtsausdruck hinter deren Schleier nicht sehen, aber sie war sicher, dass ihre Freundin eine Augenbraue hochzog.

Das Verlangen, zurückzublicken, war wie eine unsichtbare Hand, die ihr Kinn umfasste und ihren Kopf herumdrehte. Hatte er die ganze Zeit gewusst, dass sie die Prinzessin war? Hatte sie sich verraten? Hatte er es erraten?

Elise gelang es, den Blick stur geradeaus gerichtet zu halten. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie atmete aus. Den Kopf hoch erhoben, schritt sie zwischen Pferden, Männern und Hunden hindurch. Sie konnte seinen Blick auf ihrem Rücken spüren, als hätte er eine Zielscheibe an ihren Umhang geheftet. Es brannte und kribbelte. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.

Sie war verunsichert – das musste sie sich eingestehen. Es war ein beunruhigender Tag gewesen. Alles an der Begegnung mit Mr. Crewes war verwirrend, unerwartet und beunruhigend gewesen.

Aber erstaunlicherweise war es eines nicht gewesen: beängstigend.

Elise hatte keine Angst gehabt.

Zum ersten Mal, seit er begonnen hatte, ihr zu folgen, hatte sie keine Angst verspürt.

7. KAPITEL

Killian wartete drei Tage, bis er bereit war, sich seiner Entlassung zu stellen. Er lief in seinem Haus herum, starrte auf Dokumente, die er nicht las, entfaltete Karten, die er nicht studierte, und bedauerte … alles.

Er war angeheuert worden, um eine Aufgabe zu erledigen – angeheuert von niemandem Geringeren als dem verdammt...

Autor

Charis Michaels
<p>Schon auf der Highschool verschlang Charis Michaels unzählige Romances, und jetzt lebt sie ihren Traum und schreibt Bücher über Leute, die in Kutschen fahren, auf Bälle gehen und sich unsterblich verlieben. Die gebürtige Texanerin lebt mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Washington, D.C.</p>
Mehr erfahren