Die sinnliche Rache der stolzen Lady

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Wie überaus enervierend! Als strahlende Schönheit ist Lady Caroline Hawke daran gewöhnt, dass ihr alle Gentlemen zu Füßen liegen. Und nun behandelt ausgerechnet der überaus attraktive Prinz Leopold von Alucia sie wie Luft. Umso ärgerlicher, weil er der Einzige ist, der Carolines stolzes Herz zum Beben bringt. Doch Rache ist süß: Caroline schmiedet eine Intrige, die den Prinzen in die Londoner Klatschblätter bringt und seinen Ruf bedroht. Sie ahnt nicht, wie viel sie damit riskiert: eine geheime Mission des Prinzen, bei der er gegen einen Verbrecherring in höchsten Kreisen vorgeht – und ihr eigenes Liebesglück mit ihm …


  • Erscheinungstag 01.02.2022
  • Bandnummer 375
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511001
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Helenamar, Alucia

1846

Die Wahrheit ist doch, dass nichts auf der Welt unsere Herzen so sehr mit Freude erfüllt wie eine Hochzeit. Denn wir alle, Männer wie Frauen, wünschen uns nichts so sehr wie den aufrichtigen Schwur von einem Menschen, der uns bis ans Ende unserer Tage lieben und ehren will.

Die Hochzeit der allseits bewunderten Lady Eliza Tricklebank mit Seiner königlichen Hoheit Sebastian Charles Iver Chartier, Kronprinz von Alucia, gab erst kürzlich Anlass zu solch außerordentlicher Freude.

Die Braut betrat die Pauluskathedrale in der alucianischen Hauptstadt Helenamar um halb ein Uhr mittags. Sie trug ein Kleid aus weißer Seide und Chiffon. Es war nach der alucianischen Mode geschnitten, enganliegend und mit einer traditionellen Schleppe, die dreißig Fuß lang war. Die Schleppe war mit Gold-und Silberfäden handbestickt und trug Symbole der Königreiche Alucia und England, unter anderem die berühmten alucianischen Rennpferde, die Bergbutterblume und das Wappen der Familie Chartier. England war mit der Rose des Hauses Tudor vertreten, sowie dem Löwen und dem königlichen englischen Banner. Das Motto der alucianischen Nation, „Libertatem et Honorem“, war in winzigen Buchstaben in den Saum der Ärmel gestickt.

Die Braut trug einen Schleier, der mit einem mit Brillanten besetzten Diadem festgesteckt war, dessen mittlerer Stein zehn Karat groß war. Das Diadem war eine Leihgabe ihrer Majestät Königin Daria. Um den Hals trug die Braut eine Perlenkette aus dreiundzwanzig Perlen, eine für jede der alucianischen Provinzen, ein Geschenk seiner Majestät König Karl. An der Brust trug Lady Tricklebank eine goldene Brosche mit Saphiren, ein Hochzeitsgeschenk ihres Verlobten Prinz Sebastian.

Der Prinz war mit einem schwarzen Kleid aus feinster Wolle angetan, das ihm bis auf die Wade reichte, und dazu eine weiße Weste, die mit denselben Symbolen im Miniaturformat bestickt war wie die Schleppe der Braut. Um den Hals trug er eine Seidenkrawatte, die mit Silber- und Goldfäden durchwirkt war, und auf dem Kopf die Krone, die ihm bei seiner Einsetzung als Kronprinz verliehen worden war.

Nach der Zeremonie fuhren die Frischvermählten in einer offenen Kutsche durch eine Menge von Gratulanten, die die Straße drei Meilen weit säumten, zum Konstantinspalast.

Der König verlieh dem Prinzen und seiner frischgebackenen Braut die Titel Herzog und Herzogin von Tannymeade. Sie werden sich ihren Wohnsitz in der Hafenstadt im Tannymeade-Palast einrichten.

– aus Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen

Das Versprechen, das zu jeder Hochzeit gehört, war an sich schon wunderschön, aber wenn es um eine königliche Hochzeit ging, liefen all die fröhlichen Gesichter Gefahr, dass das Lächeln dauerhaft in sie eingebrannt blieb, so groß war die Freude. Sie konnte selbst das trägste Herz in Gold verwandeln. Und wenn die selige Braut die eigene liebste Freundin war, brandeten Wogen unendlichen Glücks in einem auf.

Lady Caroline Hawke war überglücklich für ihre liebste Freundin Eliza Tricklebank, die gerade in diesem Augenblick dem Prinzen Sebastian ihre Liebe und Treue schwor. Vor gerade einmal ein paar Monaten war Eliza noch fest entschlossen gewesen, eine alte Jungfer zu werden und sich bis zu seinem Tod um ihren blinden Vater zu kümmern. Sie verbrachte ihre Tage in einfachen Kleidern und Schürzen und las entweder ihrem Vater vor oder vertrieb sich die Zeit mit ihrem seltsamen Hobby, der Reparatur von Uhren. Doch dann wurde Eliza auf einen königlichen Ball eingeladen, auf dem ein Mann ermordet wurde, und ihr kam eine Klatschgeschichte zu Ohren, die einen Hinweis auf den Mörder gab. Ehe Caroline sich versah, war ihre Eliza daraufhin im Begriff, einen Mann zu heiraten, der eines Tages König seines Landes werden würde. Das bedeutete, dass Eliza Königin wurde.

Die ganze Geschichte war so unwahrscheinlich, so unmöglich, dass sie sogar noch über die fantastischsten Märchen hinausging, die Caroline je gehört hatte oder sich auch nur vorstellen konnte.

Sie saß in der ersten Reihe in der Kathedrale auf einem Ehrenplatz, der ihr als Elizas liebster Freundin zugedacht war, und Caroline hatte deswegen ein wenig feuchte Augen. Eliza strahlte vor Glück. Caroline hatte sich nie für besonders sentimental gehalten, aber nun konnte sie nicht leugnen, das sie tief berührt war.

Sie wandte den Blick Prinz Leopold zu, der neben seinem Bruder Prinz Sebastian stand. Sie fragte sich, was er wohl von dem Anlass und dem glücklichen Paar hielt. Er war ziemlich groß und hatte eine kräftige, muskulöse Statur. Sein Jackett war breit an den Schultern und wurde zur Taille hin schmaler. Darunter war es wieder ausgestellt. Er sah majestätisch und so männlich aus, dass Caroline sich einen kleinen Tagtraum gestattete – sie stellte sich vor, wie sie an seinem Arm auf eben diesen Altar zuschritt.

Sie wollte sich diesen schönen kleinen Traum nicht von der Erinnerung an seine furchtbare Begrüßung am Abend des königlichen Banketts verderben lassen. Bei diesem feierlichen Anlass hatte er sie angesehen, als wäre sie eine Dienstmagd, die gekommen war, um seine schmutzige Wäsche abzuholen. Auf einem morgendlichen Ausritt im Klevauten Park, zu dem alle Hochzeitsgäste eingeladen waren, hatte er es schon wieder getan. Als sie an diesem Tag neben ihn und seine Freunde galoppiert war, hatte er die Stirn gerunzelt und gesagt: „Sind Sie vom Weg abgekommen, Madam?“ Als ob sie irgendein Gassenkind wäre, das sich in eine königliche Gesellschaft hineingemogelt hatte!

Er hatte Glück, dass Caroline überhaupt nicht nachtragend war und sich trotz ihres Ärgers ausmalte, wie es wäre, wenn Prinz Leopold ihr zugelächelt hätte wie Prinz Sebastian Eliza zulächelte. Wie schön wäre es, wenn sie in einem Kleid, das ebenso schön war wie das von Eliza, neben ihm zum Altar gehen würde! Caroline hatte der königlichen Schneiderin natürlich dabei geholfen, Elizas Kleid zu entwerfen. Sie hatte einen ausgezeichneten Sinn für Mode.

Neben Eliza stand ihre Schwester, Mrs. Hollis Honeycutt, die, obwohl sie Witwe war, den Platz der Ehrenjungfer eingenommen hatte. Hollis musste gemeinsam mit acht kleinen Engeln auf die kunstvolle Schleppe aufpassen, die zu Elizas Kleid gehörte. Diese Engel waren genauso angezogen wie Eliza, abgesehen von der Schleppe natürlich, denn darin konnten sich nur die erfahrensten Damen bewegen. Stattdessen trugen die Mädchen Blumenkränze im Haar. Es gab sonst keine Brautjungfern.

Eliza hatte ihr erklärt, das sei in Alucia nicht üblich. „Blumenmädchen“, hatte sie gesagt, „die kommen aus allen Teilen des Landes. Es ist eine außerordentliche Ehre, als Blumenmädchen ausgewählt zu werden, soweit ich das verstanden habe.“

„Aber warum bekommst du nicht, was dir gefällt?“, beklagte sich Caroline, die natürlich annahm, dass Eliza dieselben Vorlieben hatte wie sie. Seit dem Tag der Verlobung von Eliza und Prinz Sebastian hatte Caroline außerdem angenommen, fälschlicherweise, dass sie die erste Brautjungfer sein würde. Immerhin gehörten sie, Eliza und Hollis schon zusammen, seitdem sie kleine Mädchen gewesen waren.

„Ich bin mit den Blumenmädchen ehrlich gesagt ganz zufrieden“, sagte Eliza. „Ich wäre auch mit einer einfachen Hochzeit zufrieden. Ich war schon mit der amtlichen Trauung zufrieden. Aber Königin Daria hat andere Vorstellungen.“

„Natürlich hat sie das. Das ist die Hochzeit, bei der dich all die Menschen zu sehen bekommen, über die du eines Tages herrschen wirst.“

Eliza prustete. „Ich werde nicht herrschen, Caroline. Ich bin ja schon froh, wenn ich in diesem riesigen Palast meinen Ehemann wiederfinde.“ Sie zeigte auf die reich geschmückten Wände um sie herum. Das war keine Übertreibung – der Konstantinspalast schien noch größer zu sein als Buckingham Palace.

„Dann lass mich bitte deine Ehrenjungfer sein“, flehte Caroline sie an. „Ich kann mich viel besser um deine Schleppe kümmern als Hollis.“

„Also ich muss doch sehr bitten! Ich bin ihre Schwester“, wies Hollis Caroline zurecht.

„Die Schleppe ist dreißig Fuß lang, Hollis. Wie willst du damit zurechtkommen? Du kommst doch nicht einmal mit deiner eigenen Schleppe klar, seitdem wir in Alucia sind. Und mein Kleid ist wirklich sehenswert. Ich habe dafür keine Kosten gescheut.“

Eliza und Hollis sahen Caroline an.

„Ich meine natürlich abgesehen von deinem Kleid.“

Die Schwestern starrten sie weiter an.

Caroline zuckte fast unmerklich mit den Schultern. „Das ist doch selbstverständlich“, fügte sie hinzu.

„Ich hatte mir schon gedacht, dass du es nicht anders gemeint hast“, sagte Eliza nachsichtig.

Die drei hatten voller Begeisterung die alucianische Mode für sich entdeckt, seitdem sie vor einem Monat in Helenamar angekommen waren. Die englisch geschnittenen Kleider mit ihren vollen Röcken, hochgeschlossenen Oberteilen und langen Ärmeln waren dagegen schwer und viel zu warm. Sie hatten die wunderschönen alucianischen Roben bewundert, die sich den Kurven des weiblichen Körpers anpassten, mit ihren langen, fließenden Ärmeln und vor allem den reich bestickten Schleppen … bis sie herausgefunden hatten, dass die ungewöhnlich langen Schleppen ziemlich schwer zu tragen waren.

„Um mich musst du dir keine Gedanken machen“, meinte Hollis. „Niemand kommt zu dieser Hochzeit, um dein Kleid zu sehen, Caro.“

„Nun ja, das versteht sich doch von selbst, Hollis. Aber sie werden trotzdem begeistert sein, nicht wahr? Und außerdem steht nirgendwo geschrieben, dass der Ehrenplatz der Schwester der Braut vorbehalten ist.“

„Es gibt kein Gesetz, aber sie ist meine Schwester und sie wird meine Ehrenjungfer sein“, sagte Eliza. „Und davon ganz abgesehen würde ich mir dann ohnehin nur während der ganzen Zeremonie Sorgen machen, dass du nur Augen für Leo hast und meiner Schleppe keinerlei Beachtung mehr schenkst, wenn du neben mir stehst.“ Sie sah Caroline direkt an und zog dabei eine ihrer goldblonden Augenbrauen hoch.

Als ob Caroline irgendetwas falsch gemacht hätte.

Das hatte sie auf jeden Fall nicht. „Leo? Nennen wir ihn jetzt so?“, knurrte sie. Leo war Prinz Sebastians jüngerer Bruder. Seine königliche Hoheit Prinz Leopold.

Jeder wusste, dass Prinz Leopold die letzten Jahre in England verbracht hatte. Angeblich um in Cambridge zu studieren, aber in Wirklichkeit war er mehr zu Gast bei Abendgesellschaften, in den Jagdhäusern und den Clubs der Gentlemen gewesen als dass er sich an der Universität hätte blicken lassen. Caroline war ihm letzten Sommer bei einer Landpartie in Chichester begegnet. Sie hatten einen charmanten kleinen Wortwechsel gehabt, an den Caroline sich Wort für Wort erinnern konnte. Prinz Leopold hingegen erinnerte sich überhaupt nicht. Schlimmer noch: Er schien sich nicht einmal an sie zu erinnern.

Der Erzbischof erhob plötzlich die Stimme zu einer Art Gesang und lenkte Carolines Aufmerksamkeit damit wieder auf die Zeremonie. Oh je, sie dachte schon wieder über Prinz Leopold nach, während sie eigentlich zusehen sollte, wie ihre beste Freundin einen Prinzen heiratete. In diesem Augenblick legte Eliza ihre Hand in die von Prinz Sebastian und hielt sie fest, während der Erzbischof sie bat, seine Worte auf Englisch zu wiederholen: „Zu lieben, zu ehren, zu bewahren, zu schützen.“

So romantisch.

Caroline sah nach rechts. Sie saß neben ihrem Bruder, dem Baron Beckett Hawke. Er war ein halbes Dutzend Jahre älter als sie und war schon seit ihrem achten Lebensjahr ihr Vormund. Sie lehnte sich an ihn. „Ist sie nicht wunderschön?“, flüsterte sie.

„Pssst.“

„Ich finde, sie sieht hübscher aus als Königin Viktoria bei ihrer Hochzeit“, flüsterte Caroline. „Ihr Kleid ist wunderschön. Es war meine Idee, Gold und Silber für die Schleppe zu nehmen.“

Beck tat so, als hätte er kein Wort verstanden.

„Weißt du, ich glaube, ich könnte so eine Schleppe auch selbst besticken.“

Ihr Bruder legte die Hand auf Carolines Knie und drückte es. Dann sah er sie mit seinen hellgrünen Augen an. Er runzelte finster die Stirn.

Caroline schob seine Hand weg und sah sich um. Die Pauluskathedrale war riesengroß. Über ihnen schwebte das bemalte Deckengewölbe, auf dem sich Engel und andere göttliche Wesen tummelten. Das ganze Inventar war mit Blattgold ummantelt, vor allem die Kanzel, die eher wie ein Denkmal aussah als wie der Platz für die Bibel. Es gab so viele Fenster aus buntem Glas, dass das Tageslicht, das durch sie hereinfiel, Elizas Schleppe in einen beweglichen Regenbogen verwandelte.

Jeder einzelne Platz in der riesigen Kathedrale war besetzt. Sie war voller wunderschöner Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, die in bunte Gewänder gekleidet waren und sich mit glitzernden Juwelen geschmückt hatten. Caroline wusste, dass sie von überall her angereist waren, einige aus Ländern, von denen sie noch nie gehört hatte.

In einer großen Nische über dem Altar stand ein Chor junger Männer und Knaben, die die Hymnen sangen, die Eliza auf dem Weg durch den Mittelgang zu ihrem Prinzen begleitet hatten. Es hatte geklungen, als ob sich der Himmel aufgetan hätte und die Engel für die Braut gesungen hätten.

Die Zeremonie dauerte jetzt schon fast eine Stunde und war voller Pomp und Pracht. Caroline war sich nicht ganz sicher, was gerade geschah, denn die Zeremonie fand auf Latein und Alucianisch statt. Nur wenn Eliza etwas sagen musste, tat sie das auf Englisch. Es kam ihr so vor, als wäre das alles ein ständiges Auf und Ab für Eliza und Sebastian, die in einem Augenblick knien und den Kopf senken mussten und im nächsten schon wieder standen und einander versonnen in die Augen schauten. Es gab einen feierlichen Moment, in dem Eliza sich ganz allein hinknien musste. Es sah so aus, als würde sie zur Ritterin geschlagen oder zu irgendetwas anderem ernannt. Als das vorbei war, legte der Erzbischof ihr eine Hand auf den Kopf, die Königin und der König erhoben sich und dann half Prinz Sebastian ihr auf und steckte ihr eine entzückende, mit Saphiren besetzte goldene Brosche an die Brust.

„Jetzt ist sie eine echte Prinzessin“, flüsterte Caroline Beck zu.

Wie erwartet, ignorierte er sie.

Eliza sah auch wie eine echte Prinzessin aus, und Caroline wünschte sich, dass Elizas Vater, Richter Tricklebank, hätte dabei sein können. Doch leider machten sein fortgeschrittenes Alter und seine Blindheit ihm die Reise hierher unmöglich. Es hatte eine kleinere standesamtliche Trauung im Familienkreis gegeben – die erste amtliche Eheschließung – bevor Sebastian nach Alucia zurückgekehrt war. Diese Trauung, bei der ihr Vater anwesend gewesen war, war nötig geworden, weil Eliza und Sebastian offensichtlich nicht einmal für ein paar Stunden die Finger voneinander lassen konnten.

Nachdem Eliza in Alucia eingetroffen war, hatte es eine zweite amtliche Trauung gegeben, damit keinerlei Zweifel an der Schicklichkeit aufkommen konnten, während die Leidenschaft zwischen Eliza und ihrem Prinzen immer mehr zu kochen begonnen hatte. Es war geradezu unangenehm.

Aber keine der beiden Trauungen konnte mit dieser hier mithalten. Das hier war ein Schauspiel, ein Fest für die Sinne und Herzen von Romantikern von überall her.

Carolines Gedanken schweiften ab, und sie fragte sich, ob all diese Leute heute Abend auf dem Ball sein würden. Sie hoffte es. Auf sie wartete eine wunderschöne alucianische Robe mit goldener Stickerei, die erstaunlich kleidsam war. Sie hatte die Schleppe selbst genäht. Der Ball sollte ihre Gelegenheit werden zu glänzen … neben Eliza natürlich.

Gestern hatte Eliza nervös die Staatsoberhäupter aufgezählt, die zur Hochzeit und zum Ball kommen sollten, und sie war ein wenig blass geworden, während die Zahl immer größer wurde. Carolines Herz hatte vor Begeisterung einen Sprung gemacht.

„Ich halte das nicht aus!“, hatte Eliza gerufen, eingeschüchtert von der Zahl der Würdenträger, der vielen Könige und Königinnen. „Was, wenn ich etwas Falsches sage? Ihr wisst doch, wie ich bin. Habt ihr eine Ahnung, wie viele Geschenke wir bekommen haben? Muss ich mir die alle merken? Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Kelche aus Gold und silberne Platten und feines Porzellan gesehen! Was, wenn ich stolpere? Was, wenn ich einen Fleck auf mein Kleid mache?“

„Ich würde dir raten, deinen Teller nicht randvoll zu füllen, Liebes“, sagte Hollis geistesabwesend. Sie saß über ein Blatt gebeugt da, auf dem sie sich Notizen für die Zeitschrift machte, die sie herausgab: Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen. Das vierzehntäglich erscheinende Magazin widmete sich Themen wie der neuesten Mode, Haushaltsführung und Ratschlägen für die Gesundheit und – der interessanteste Teil – den verführerischsten Gerüchten, die in der vornehmen Gesellschaft von London kursierten.

Hollis konnte inzwischen kaum noch die Nachfrage nach Klatsch und Tratsch befriedigen. Sie hatte vor, ein Heft in doppelter Länge herauszubringen, sobald sie wieder in London war, das sich der königlichen Hochzeit in allen Einzelheiten widmete. Sie hatte während der ganzen Zeit, die sie in Alucia verbracht hatten, ständig Briefe an ihren Diener Donovan geschrieben, die er bis zu ihrer Rückkehr aufbewahren sollte.

Sie war so beschäftigt, dass ihr Rat, mit dem sie nicht hinter dem Berg hielt, ohne großes Nachdenken erteilt wurde, und Eliza nahm Anstoß daran. „Ich muss doch sehr bitten! Ich habe kaum etwas gegessen, seitdem wir in Alucia sind. Die Königin beobachtet mich bei jeder Mahlzeit, als ob sie gegen alles etwas hätte, was ich mache! Ich traue mich kaum noch, überhaupt irgendetwas zu tun, von Essen ganz zu schweigen“, beklagte Eliza sich. „Die werden mich alle beobachten. Entweder warten sie darauf, dass ich einen Fehler mache oder sie spekulieren, ob ich schon einen Erben erwarte. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie groß das Interesse daran ist, ob ich einen Erben zur Welt bringen kann.“

„Aber natürlich!“, sagte Caroline fröhlich. „Erstmal bist du eine Zuchtstute, Liebes, aber wenn du ihnen gegeben hast, was sie wollen, dann kannst du bis ans Ende deiner Tage in ehelicher Gemeinsamkeit leben, umgeben von Reichtum, Privilegien und vielen, vielen Dienstboten.“

„Du wirst nicht von allen beobachtet, Eliza. Die Hälfte des Saals hat nur Augen für deinen gut aussehenden Ehemann“, hatte Hollis augenzwinkernd gesagt.

Caroline wurde zurück in die Gegenwart katapultiert, als der Erzbischof einen schweren, juwelenbesetzten Kelch über die Köpfe von Eliza und Prinz Sebastian hielt. Das musste doch bedeuten, dass sie fast fertig waren? Prinz Sebastian nahm Elizas Hand. Sie kehrten dem Erzbischof den Rücken zu und sahen die Zuschauer mit lächerlich glücklichem Grinsen im Gesicht an. Sie waren verheiratet!

Hollis drehte sich ebenfalls um, und Caroline konnte selbst von ihrem Platz aus noch sehen, dass Hollis’ dunkelblaue Augen vor Freudentränen schwammen. Die Gäste erhoben sich, und der Prinz und seine Braut begannen ihren Zug weg vom Altar. Rosenblüten regneten auf das Paar und seine Gäste herab. Die kleinen Blumenmädchen flatterten hinter Eliza herum wie Schmetterlinge. Dann flankierten sie die Schleppe auf beiden Seiten und folgten dem Paar den Mittelgang hinab. Prinz Leopold bot Hollis seinen Arm, und sie sah strahlend zu ihm auf. Caroline fühlte sich ausgeschlossen. Hollis und Eliza lagen ihr am Herzen, sie waren beinahe Schwestern für sie, und sie sehnte sich danach, bei ihnen zu sein.

Eliza und Prinz Sebastian rauschten an Caroline und Beck vorbei, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Das war nicht anders zu erwarten – die beiden waren ganz hingerissen voneinander. Sie hatten so ausschließlich Augen füreinander, dass Caroline schon Angst hatte, dass sie gegen eine der Marmorsäulen laufen würden, die ihren Weg säumten.

Oh, aber sie war eifersüchtig, sie war randvoll mit Eifersucht. In England verschwendete sie kaum einen Gedanken ans Heiraten, abgesehen von den Gelegenheiten, zu denen Beck sich beklagte, dass sie sich für jemanden entscheiden sollte, irgendjemanden, damit er sie nicht länger am Hals hätte. Aber andererseits hatte er, obwohl er sich ständig beklagte, wohl in Wirklichkeit nichts gegen diese Pflicht. Caroline hatte sogar den Verdacht, dass er sie gern um sich hatte. Und so zog sie von einem Fest zum nächsten, zufrieden damit, die Aufmerksamkeiten der vielen Gentlemen zu genießen, die ihren Weg kreuzten, zufrieden, dass sie die Freiheit hatte zu tun, was ihr gefiel.

Aber wenn sie Eliza ansah, wurde Caroline klar, dass sie sehr wohl eines Tages so in einen Mann verliebt sein wollte, der ihr so ergeben war wie Prinz Sebastian seiner Braut. Sie wollte alles fühlen, was Eliza empfand, um zu verstehen, wie eine solche Liebe einen Menschen verändern konnte.

Prinz Leopold und Hollis kamen an Caroline und Beck vorbei. Hollis’ Wangen waren feucht von Freudentränen. Prinz Leopold sah zufällig zu den Gästen hinüber, als sie vorbeigingen, und lächelte höflich. Sein Blick fiel auf Caroline – also er fiel nicht wirklich, er glitt eher über sie hinweg – aber dennoch lächelte sie strahlend. Sie wollte gerade eine Hand heben, als sie mit einem Ellenbogen einen Schubs in die Rippen bekam. Sie riss die Augen auf und sah ihren Bruder an.

„Hör auf zu gaffen“, flüsterte er. „Wenn du dir weiter so den Kopf verdrehst, knickt dir noch der Hals um.“

Caroline tastete hochmütig mit einer Hand nach den Locken in ihrem Nacken.

Beck richtete den Blick wieder auf die Prozession. Der König und die Königin gingen gerade an ihnen vorbei. Beck beugte sich zu Caroline und flüsterte: „Er ist ein Prinz, Caro, und du bist nur ein englisches Mädchen. Du verlierst dich schon wieder in Märchen. Das steht dir deutlich ins Gesicht geschrieben.“

„Nur ein englisches Mädchen?“ Sie hätte Beck gerne einen Tritt verpasst wie früher, als sie wirklich noch ein kleines englisches Mädchen gewesen war. „Besser man träumt von Märchen als überhaupt nicht zu träumen.“

Beck verdrehte die Augen. Er blieb ungerührt stehen, während der Erzbischof und seine Messdiener dem König und der Königin folgten.

Nur ein englisches Mädchen, na sicher.

2. KAPITEL

Die frischvermählte Herzogin von Tannymeade wird von den Bürgern von Alucia, ebenso wie vom Rest der Welt, sehr verehrt. Im Anschluss an die Trauungszeremonie wurde das Paar in einer privaten Zeremonie gefeiert, zu der nur die Familie des Herzogs und ihre geladenen Gäste zugelassen waren. Bei dieser Gelegenheit bekam die Herzogin ihre Hochzeitsgeschenke überreicht. Darunter befand sich eine Halskette mit Rubinen von Kaiser Ferdinand I von Österreich, eine mit Blattgold belegte Porzellanschatulle von Sultan Abdulmecid und dem türkischen Volk und ein Paar tanzende Pferde von Prinz Florestan I von Monaco. Unsere eigene Königin Viktoria und Prinz Albert haben dem Herzog und der Herzogin Crawley Hall geschenkt, einen Landsitz in Sussex, zu dem die Schlüssel dem Paar vom ehrenwerten Lord Russell überreicht wurden, der in Vertretung der Königin nach Helenamar gereist war.

Der Herzog und die Herzogin von Tannymeade waren nicht die Einzigen, die während der Trauung Aufsehen erregten. Einigen Beobachtern ist aufgefallen, dass ein sehr naher Verwandter des Herzogs seine Aufmerksamkeit zum größten Teil einer weslorianischen Erbin widmete und nicht den Frischvermählten.

– aus Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen

Diese Hochzeit war wahrscheinlich die längste kirchliche Zeremonie in der gesamten Menschheitsgeschichte. Nicht einmal ein griechisches Bacchanal hätte so lange gedauert. Das Tuch um Prinz Leopolds Hals fühlte sich viel zu eng an. Die Orden, die er als Teil seiner offiziellen Uniform trug, schienen den Stoff schwer nach unten zu ziehen. Er musste sich ständig in den Schultern aufrichten, um sein Jackett zurechtzurücken. Um wie viel Uhr hatte Kadro, seine Wache, ihn heute Morgen ins Bett gerollt? Vier? Er hatte nur noch vage Erinnerungen daran. Daran war Leo wirklich nicht selbst schuld. Es war so etwas wie eine Mutprobe gewesen, die „grüne Fee“ zu trinken, wie der schwedische Botschafter den Absinth genannt hatte.

Am Ende des Auszugs der Frischvermählten aus der Kathedrale hatten sie eine kleine Vorhalle betreten, um sich ins Eheregister der Gemeinde einzutragen. Leo, Mrs. Honeycutt und der Erzbischof waren ihnen als Zeugen gefolgt. Leo sah zu, wie sein Bruder mit den vertrauten, dicken und sicheren Federstrichen als Sebastian Chartier unterschrieb. Er stellte fest, dass er ungeduldig mit den Fingern gegen sein Hosenbein tippte, während Eliza die Feder nahm und als Nächste unterschrieb. Ihre Hand zitterte, und sie schaffte es, die Tinte unter dem Schriftzug zu verschmieren, der breit und verschnörkelt den Namen Eliza Tricklebank Chartier bildete. Sobald sie die Feder hingelegt hatte, klammerten sie und Mrs. Honeycutt sich aneinander und lachten wie verrückt. Mrs. Honeycutt presste ihren dunklen Kopf an Elizas blonden.

Sebastian und Leopold wechselten einen Blick. Oder vielmehr sah Leo Bas an und dann über die Schulter seines Bruders hinweg zur Uhr hinüber. Er wollte nicht unhöflich sein, aber sein Kopf brummte, und seine Zunge war ausgetrocknet. Seit vierzehn Tagen gab es eine Zeremonie, eine Festlichkeit, einen Empfang und einen Staatsakt nach dem anderen. Er hatte pflichtgemäß an allen teilgenommen, wie es seiner Rolle als Prinz und Trauzeuge entsprach und was sie sonst noch von ihm erwarteten. Dabei hatte er getrunken, um die Langeweile und den Überdruss zu betäuben. Er wollte endlich mit all dem hier fertig sein und sich unter Freunde begeben.

Leo zog sein Leben weit weg in England, mit Freunden, dem Leben in Alucia als Prinz vor, in dem er zu nichts nütze war außer als Statist bei einer Zeremonie nach der anderen.

„Sie müssen als Zeugin unterschreiben, Mrs. Honeycutt“, sagte Leo, um die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er ergriff den goldenen Federhalter und reichte ihn ihr, falls es Zweifel daran gab, was sie zu tun hatte.

„Ja natürlich“, sagte sie aufgeregt und ließ ihre Schwester los. Dann schrieb sie schnell und geschickt ihren Namen unter Elizas Geschmiere.

Leo fügte seinen ebenfalls hinzu – warf ihn hin, weil er es so eilig hatte weiterzukommen – dann blieb er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stehen, während der Erzbischof noch einen letzten Segen sprach. Wie viele Segnungen brauchte ein einziges Paar eigentlich?

Doch dann verließen sie endlich die Kathedrale, und Bas und Eliza stiegen in eine offene Kutsche. An diesem schönen sonnigen Tag wurde das glückliche Paar auf dem Weg die Allee hinunter zum Palast von der Palastwache begleitet, sodass die Trauben von Menschen, die darauf warteten, einen Blick auf ihre neue Kronprinzessin zu erhaschen, die Gelegenheit bekamen, ihr zuzuwinken. Eliza hatte sich seit ihrer Ankunft in Alucia sehr beliebt gemacht. Die Menschen sahen eine der Ihren in ihr, eine Bürgerliche, die den Kronprinzen mit ihrem Charme erobert hatte, und zwar ohne sich zu verstellen, einfach nur indem sie sie selbst gewesen war. Leo verstand, warum sie so fasziniert waren – es war eine fantastische Geschichte, die Hoffnung schenkte. Ihm war klar, dass die meisten Menschen hart arbeiten mussten, um das Nötigste zum Leben zu haben und dass das Leben in einem Palast nichts als ein Traum für sie war. Eliza war diejenige, die durch die dicken Mauern der Aristokratie und Privilegien gedrungen war, und dafür liebten sie sie.

Für ihn jedoch lag darin keinerlei Faszination. Er mochte den goldenen Käfig nicht, der ihn umgab, wenn er sich in Helenamar aufhielt. Er verabscheute die vielen Regeln, die sein Verhalten betrafen, mit wem er reden durfte zum Beispiel, wo er sitzen durfte und so weiter. In England wussten die Menschen zwar, dass er ein Prinz war, aber die meisten einfachen Leute hatten keine Ahnung, und außerdem erwartete dort niemand etwas Bestimmtes von ihm. Das gefiel ihm, weil er eben auch nichts Besonderes war. Er war nichts weiter als ein Mann mit einem dicken Geldbeutel und zwei Wachen, die ihn beschützten. In England konnte er sich so frei bewegen, wie er wollte, auf die Jagd gehen, wenn ihm danach war, mit seinen vielen Freunden zechen, so viel er wollte, auf seinem Pferd ausreiten, Damen den Hof machen und sitzen, wo er verdammt nochmal wollte. Alles ohne dass ihm jemand auf die Nerven ging.

Oder zumindest hatte er sein Leben dort genossen, bevor sein Bruder nach London gereist war, um über ein Handelsabkommen zu verhandeln und sein Privatsekretär ermordet worden war. Danach hatte plötzlich ganz England davon Wind bekommen, dass zwei unverheiratete Prinzen unter ihnen waren. Sein Leben hatte sich seitdem ziemlich verändert. Jetzt kannten ihn mehr Leute in England. Er hoffte sehr, dass die Aufregung darüber, dass eine Engländerin einen alucianischen Prinzen heiratete, inzwischen verflogen war, wenn er nach England zurückkehrte, und er sein ausschweifendes Leben weiterführen konnte.

Unglücklicherweise war es noch ein langer Weg, bis er an Bord des Schiffes gehen und die Segel setzen konnte. Aber heute, nach dem privaten Empfang für die Familie und schätzungsweise ein paar Hunderten ihrer engsten Freunde, wollte Leo sich mit Freunden aus seiner Jugend treffen und ein wenig entspannen, ehe er heute Abend zum letzten königlichen Ball musste. Nach den Ausschweifungen von gestern Abend war es keine leichte Aufgabe, weiter zu trinken, aber wenn Leo in irgendetwas wirklich gut war, dann im Feiern.

Leo und Mrs. Honeycutt gesellten sich zu seinen Eltern in die goldene Kutsche und fuhren dem frischvermählten Paar hinterher. Mrs. Honeycutt wirkte von all dem Pomp ziemlich eingeschüchtert – sie saß stocksteif da und hatte die Hände so fest ineinander verschränkt, dass er Angst hatte, sie könnte sich einen Finger brechen. Er hätte ihr gerne versichert, dass sie keine Angst zu haben brauchte – seine Eltern kümmerten sich so gut wie gar nicht um sie, und abgesehen von ein paar Nettigkeiten über die Trauung richteten sie den Blick auf die draußen versammelte Menge. Leo wusste, was seine Eltern von Mrs. Honeycutt hielten. Sie war eine Ausländerin, eine Bürgerliche. Sie würde bald nach England zurückkehren. Es gab keinen Grund, sie näher kennenzulernen.

Doch Leo tat sie leid, weil sie so nervös war, und er lächelte ihr zu. Er konnte sich gut vorstellen, dass dieser Tag für sie genauso überwältigend gewesen war wie für ihre Schwester. Wenn er ehrlich war, gab es Tage, an denen solche Menschenmengen selbst ihm immer noch zu viel waren. Wie es wohl sein mochte, wenn man ein Mann war, der einfach nur in der Menge stand und zusah, wie die königliche Kutsche vorbeirollte? Wie es wohl war, danach in einen Pub zu gehen und auf die Hochzeit des Prinzen anzustoßen, ehe man sich wieder auf den Weg nach Hause zu Frau und Kindern und seinem Bett machte?

Er hatte Bas gewarnt, dass Eliza vielleicht Schwierigkeiten haben würde, sich an dieses Leben zu gewöhnen. „Pass gut auf deine Braut auf“, hatte er gestern in einem der seltenen Augenblicke gesagt, als sie allein gewesen waren. „Das ist eine ganz neue Welt für sie.“

„Mache ich“, hatte Bas entgegnet und auch wenn seine Worte beiläufig geklungen hatten, lag eine Heftigkeit in seinem Blick, die zu sagen schien, dass er Eliza mehr liebte als alles andere auf der Welt.

Gott sei Dank dafür, denn sie würde seinen Schutz brauchen. Der alucianische Adel schaute auf sie herab. Der englische Adel, der zur Hochzeit gekommen war, schien ihretwegen entsetzt zu sein. Eliza selbst war abwechselnd entnervt und entzückend fröhlich. Ihre Schwester schien sich die meiste Zeit unwohl zu fühlen.

Der einzige Mensch auf Elizas Seite, den der gesamte Pomp des königlichen Lebens überhaupt nicht zu beeindrucken schien, war Lord Hawkes Schwester. Diese Frau hätte selbst dann noch die Ruhe bewahrt, wenn es Steine gehagelt hätte. Oh, ganz im Gegenteil – sie schien in der ungewohnten und offiziellen Situation nur noch unverfrorener zu werden. Sie segelte mit ihrem breiten, warmen Lächeln, rosigen Wagen und spektakulären blonden Haaren an allen vorbei. Sie blieb nicht unbemerkt – sie war außerordentlich attraktiv und überdurchschnittlich hochgewachsen. Es war unmöglich, sie zu übersehen. Sie war die Sorte von seltenem Schmetterling in der High Society, der sich nichts dabei dachte, mit allen zu plaudern, deren Weg sie kreuzte. Sie genoss es, sich Gehör zu verschaffen und für sie waren alle Freiwild – sei es ein Herzog oder ein Butler, eine Königin oder ein Stubenmädchen. Sie schien es besonders zu genießen, sich in eine Unterhaltung einzumischen, um ihre Meinung zum Besten zu geben, und es war ihr gleich, wer ihr dabei zuhörte.

Die Aufmerksamkeit, die sie erregte, schien sie zu beleben und anzuspornen, ihre Grenzen zu überschreiten. Sie hatte sich auf jeden Fall nicht gescheut, vor zwei Tagen beim königlichen Bankett auf ihn zuzugehen, als ob es gar nichts wäre. Entweder war ihr nicht klar, dass man einen königlichen Prinzen bei einem offiziellen Anlass nicht ohne förmliche Vorstellung ansprechen durfte, oder es war ihr egal – er wusste nur, dass er gerade mitten in einer Unterhaltung gewesen war und sich angenehm berauscht fühlte, als sie plötzlich neben ihm stand und lächelte, als wären nur wenige Leute im Saal. „Guten Abend!“, hatte sie fröhlich gesagt und dabei hatten ihre grünen Augen geleuchtet. „Ist das nicht ein wunderschönes Fest? Ich bin so beeindruckt von dem Empfang, der Eliza hier in Helenamar bereitet worden ist, Sie nicht?“

„Sie ist beliebt“, bestätigte Leo regungslos. Ihn überraschte die Initiative der Dame nicht, aber seine Begleiter, die sämtlich aus den höchsten Kreisen der alucianischen Gesellschaft stammten, starrten sie an wie eine Kuriosität im Zirkus, und ihr Verstoß gegen die Etikette wurde eingehend untersucht und besprochen. Vor allem Lady Brunella Fortengau riss die Augen vor Entsetzen auf und sah Leo an, als ob sie glaubte, dass die Pest über sie hereingebrochen wäre und er etwas dagegen unternehmen müsste.

Tja, es gab dagegen nichts zu unternehmen, so viel war Leo schon lange vor diesem Abend klar gewesen. Unter dem missbilligenden Blick von Lady Brunella nahm Hawkes Schwester sich ein Glas Champagner vom Tablett eines Dienstboten und sagte zu dem armen Mann: „Oh je, soll ich wirklich?“, als ob sie eine Antwort von ihm erwartete. „Ich habe schon beim Mittagessen mit der Braut ein Glas Champagner getrunken und der war zu meinem Entsetzen sauer. Haben Sie diesen hier probiert?“, fragte sie und hielt das Glas an ihre Nase.

Der Diener wurde rot. „Nein, Madam.“

Sie nippte an der perlenden Flüssigkeit, kniff die Augen zusammen und starrte in die Luft, während sie den Champagner kostete. Dann lächelte sie dem Diener strahlend zu und stellte fest, er sei göttlich. Anschließend bot sie Lady Brunella an, ihr ein Glas zu reichen und drängte sie, diesen ausgezeichneten Jahrgang zu probieren.

Danach zu urteilen wie Lady Brunella die Augenbrauen zusammenzog, hatte sie etwas dagegen, dass diese lebhafte Engländerin ihr sagte, sie müsse den Champagner „unbedingt probieren“, und Leo beschloss, die Frau eilig beiseitezunehmen, als sie ihn aufforderte, den Champagner zu trinken.

„Danke, aber ich warte noch, bis der König und die Königin hier sind.“

Sie lachte. „Dann müssen Sie ja vielleicht noch lange warten, nicht wahr? Gestern Abend haben sie sich sehr verspätet.“

„Wie bitte?“ Mit einem Nicken schickte er den Diener weg, der sich eilig auf den Weg machte.

„Das war nur ein Scherz“, meinte sie. „Aber sie sind wirklich ziemlich hinter dem Zeitplan gewesen.“ Und unter den erstaunten Blicken seiner Freunde, denn wer hätte es schon gewagt, eine Bemerkung über die Verspätung von König und Königin zu machen, verkündete sie: „Wir kennen uns“, und zeigte erst auf Leo und dann auf sich selbst.

„Das kann man so nicht sagen“, widersprach Leo.

„Aus England“, stellte sie mit einem kecken Lächeln klar.

„Vielleicht flüchtig“, räumte er höflich ein, noch immer gekränkt, weil sie diese lächerliche Feststellung aufgrund einer gemeinsamen Einladung nach Chichester gemacht hatte. Wie sollte er sich an irgendjemanden erinnern, den er bei dieser Gelegenheit kennengelernt hatte? Bei der Menge, die er getrunken hatte, war es erstaunlich, dass er sich überhaupt noch an Chichester erinnern konnte. Er winkte den ersten Butler, den er sah, mit einer kleinen, fast unsichtbaren Bewegung seines Fingers herbei, der das Gespräch sofort unterbrach.

„Madam? Darf ich bitten?“, sagte der Butler und deutete dabei vage in Richtung ihres Platzes.

Als die Hochzeitsfeierlichkeiten begonnen hatten, hatte Leo Hawkes Schwester zuerst einfach nur für naiv gehalten, in etwa wie ein Landei, das in eine vornehme Hochzeit geraten ist. Aber je öfter er sie während der Feierlichkeiten sah, desto klarer wurde ihm, dass sich bei ihr Unerschrockenheit mit einem Spritzer Unverschämtheit, einem Tropfen Anmaßung und einer Portion Belustigung über jeden, dem sie begegnete, mischte. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese gerechtfertigt war oder nicht. Es wurde alles mit einem hübschen Lächeln und einer Andeutung von Lachen in ihren grünen Augen serviert.

Sie war genau die Sorte von Mensch, den Höflinge nicht unbedingt gern in ihrer Mitte hatten. Höflinge ärgerten sich typischerweise über jeden, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, die sie so dringend für sich selbst in Anspruch nehmen wollten. Und wenn eine Frau Ausländerin und schön und ärgerlich, wunderschön ärgerlich, war, neigten sie dazu, die betreffende Person allein aus Prinzip zu schneiden.

Endlich traf der Zug von Hochzeitskutschen vor dem königlichen Palast ein, wo eine noch größere Menge mit Fanfaren all die Menschen mit ihren lästigen militärischen Insignien und Orden verschlang. Die königliche Familie und ihre Dutzende von Freunden wurden in ein privates Empfangszimmer geführt, wo Bas und Eliza die ausländischen Würdenträger begrüßen würden.

Als Eliza in diesem Salon unter einem glitzernden Kristallkronleuchter vor den König und die Königin trat, sank sie in einen sehr verbesserten Knicks. Als sie nach Alucia gekommen war, hatte sie zuerst die Tendenz gehabt, sich so weit zu einer Seite zu neigen, dass Leo befürchten musste, sie würde umkippen, wenn sie noch tiefer sänke.

Bas strahlte. Leo hatte seinen unerschütterlichen Bruder noch nie so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick. Er war sonst immer so reserviert und so anständig. Die Höflinge hatten oft festgestellt, dass sich darin der Unterschied in der Ausbildung zwischen dem Bruder zeigte, der König werden sollte, und dem, der das nicht werden würde. Während Bas gelernt hatte, wie er sich zu benehmen hatte, hatte Leo gelernt, wie man Spaß hatte.

Bas packte Leo am Ellenbogen und drückte ihn fest. Dabei grinste er. „Ich bin jetzt ein verheirateter Mann, Leo.“

Je, Bas, ich habe neben dir gestanden, als das passiert ist.“

Bas lachte, als ob Leo einen unglaublich komischen Witz gemacht hätte. Sein Gesichtsausdruck erinnerte ihn an ein Ereignis vor vielen Jahren, als sie noch Kinder gewesen waren und ihr Leben mehr unter den wachsamen Augen von Gouvernanten und Hauslehrern stattgefunden hatte als unter den ihrer Eltern. Sie waren über einen Wurf zappelnder, schlappohriger schwarz-brauner Welpen gestolpert, den jemand in einem Sack zurückgelassen hatte, um die Hunde loszuwerden. Nachdem sie die Welpen befreit hatten, wurden sie von einem Knäuel aus großen Pfoten und heftig wedelnden Schwänzen überfallen. Sebastian war begeistert über ihren Fund gewesen, und bis zu diesem Tag erinnerte sich Leo gut an die rückhaltlose Begeisterung, mit der Bas auf dem Rücken gelegen und die Welpen um sich herum zappeln und strampeln gelassen hatte, während die darum kämpften, ihm als Erster das Gesicht zu lecken.

Die Welpen kehrten mit ihnen zusammen zum Palast zurück, und Bas bestand darauf, dass für jeden einzelnen ein Zuhause gefunden wurde. Einer der Welpen wurde zu Bas’ ständigem Begleiter, bis zum Tod des Hundes vierzehn Jahre später. Bas war Eliza ebenso ergeben wie er es Pontu gegenüber gewesen war.

„Sieh sie dir an“, sagte Bas und zeigte mit einem Nicken auf etwas hinter Leo. Leo drehte sich um, und sein Blick fiel auf eine kleine Gruppe von Frauen, zu denen auch seine frischgebackene Schwägerin Mrs. Honeycutt gehörte, außerdem eine alucianische Erbin, die er ein- oder zweimal getroffen hatte und natürlich Hawkes Schwester. Letztere winkte ihm zu, als ob sie einander im Gedränge auf einem Jahrmarkt verloren hätten.

„Sie ist wunderschön“, fuhr Bas fort. „Kaum zu glauben, dass ich sie gefunden und dann auch noch geheiratet habe.“

Das konnte Leo, wenn er ehrlich war, auch immer noch kaum glauben. Eliza Tricklebank und ihr Gefolge waren so anders als die Art von Frau, die Bas und er ihrer Erziehung entsprechend hätten heiraten sollen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Leo würde nie vergessen, wie er sie das erste Mal getroffen hatte. In einem bescheidenen Stadthaus mit kläffenden Hunden, einer unverschämten Katze und vielen, vielen Uhren.

„Ich hatte immer gedacht, es würde eine Frau aus Alucia werden“, murmelte Bas. Dann grinste er plötzlich. „Die alucianische Braut gehört dann wohl dir.“

„Reden wir nicht darüber“, murmelte Leo und sah sich um. „Ich bin mit meinem Junggesellenleben sehr zufrieden, schönen Dank auch. Ich freue mich ehrlich gesagt schon darauf, nach England zurückzukehren.“

„Ich sage ja gar nichts, aber unser Vater wird garantiert demnächst davon anfangen. Wann willst du in See stechen?“

„In zwei Tagen.“

Bas lächelte immer noch, als er etwas vollkommen Untypisches tat, indem er einen Arm um Leos Schultern legte und ihn liebevoll umarmte. „Wahrscheinlich keinen Tag zu früh für deinen Geschmack. Viel Glück, Leo. Wir fahren nach Tannymeade, wo ich die Flitterwochen wie ein wildes Tier verbringen will.“ Und dann lachte sein wohlanständiger Bruder erstaunlicherweise und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.

Das klang wie etwas, das Leo gesagt hätte, und bevor er Eliza kennengelernt hatte, hätte Bas ihn dafür zurechtgewiesen. „Wird man so als Ehemann? So verdammt lüstern?“, fragte Leo.

Bas lachte laut, und die Leute wandten sich nach ihm um. Sie machten sehr erstaunte Gesichter, und Leo war nicht minder verblüfft.

Niemand freute sich mehr für Bas als Leo, aber er wäre wesentlich zufriedener gewesen, wenn die Feierlichkeiten endlich zu Ende gegangen wären und Bas und Eliza sich der wichtigen Aufgabe gewidmet hätten, einen Erben in die Welt zu setzen. Er selbst konnte es kaum erwarten, sich endlich der lästigen Krawatte und des verfluchten Gewichts dieser Orden zu entledigen und vielleicht ein Kopfschmerzpulver einzunehmen. Aber er musste die Aufmerksamkeit von Eltern und unverheirateten Frauen, die auf eine vorteilhafte Ehe aus waren, noch so lange ertragen, bis die letzte Gratulationsrede gehalten, das letzte Geschenk entgegengenommen, die letzte Torte angeschnitten und der letzte Tanz getanzt war. All diese Menschen wollten für ihre Töchter, was Eliza Tricklebank ganz allein geschafft hatte.

Da er gerade an Eliza dachte, bahnte sie sich mit ihren Begleiterinnen im Schlepptau einen Weg durch die Traube der Gäste. „Du musst den Champagner probieren!“, sagte sie und hielt Bas eine Flöte hin. „Er ist sehr gut.“

„Ah, das Geschenk des französischen Botschafters“, sagte Bas.

„Dieser freundliche Mann? Er hat auch den Wein geschickt, nicht wahr? Wir müssen uns sofort mit ihm anfreunden“, verkündete Eliza und sah sich um, als wäre sie auf der Suche nach dem Gentleman.

Das hier schien heute nicht Elizas erstes Glas Champagner zu sein.

„Jetzt sind alle da wie eine Bande fröhlicher Troubadoure!“, verkündete Hawkes Schwester und schlang Eliza einen Arm um die Schultern. Sie ließ Leo nicht aus den Augen und zwinkerte dabei. Sie sah nach mindestens ebenso viel Champagner aus, wie Eliza getrunken hatte. „Und Sie, Eure Hoheit?“, fragte sie Leo, „was denken Sie? Die Zeremonie war doch absolut perfekt, finden Sie nicht?“

Je, das war sie“, bestätigte er. Er fragte sich, wie lange er noch gezwungen war, Konversation zu machen, bevor er verschwinden konnte.

„Ich bin froh, dass Sie so denken! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht – Sie haben ziemlich missmutig ausgesehen, wie Sie da neben Ihrem Bruder gestanden haben.“

Er musste einen Augenblick über ihre Worte nachdenken. Er hatte missmutig ausgesehen? „Wie bitte?“

„Caro!“, sagte Eliza mit einem kleinen Lachen. „Wie kannst du so etwas sagen?“

„Weil es wahr ist.“

„Ich bin mir ganz sicher, dass Seine Hoheit ebenso nervös gewesen ist wie ich“, sagte Mrs. Honeycutt. „Es ist Furcht einflößend vor all den Menschen zu stehen.“

Das amüsierte Bas, und er sah seinen Bruder an. „Hattest du Angst, Leo?“, fragte er augenzwinkernd.

Leo hatte keine Angst gehabt. Er hatte sich ehrlich gesagt nur mit Mühe aufrechthalten können. „Ich habe über die Feierlichkeit des Anlasses nachgedacht.“

„Die Feierlichkeit!“ Hawkes Schwester lachte, als ob er das als Witz gemeint hätte. „Aber es ist doch ein freudiger Anlass! Ich habe unsere liebe Eliza noch nie so glücklich gesehen. So glücklich, dass ich mich danach gesehnt habe, dasselbe zu erleben.“

„Dasselbe was?“, fragte Eliza.

„Dasselbe wie du, Liebes! Einen Gang zum Altar in einem atemberaubenden Kleid wie deinem, am Arm eines gut aussehenden Gentleman wie deinem.“ Sie zwinkerte ihr zu.

Alle schwiegen. Leo war erstaunt. Wer redete denn so und legte seine Gefühle so ungeschönt vor allen Leuten auf den Tisch?

Hawkes Schwester sah sich im Kreise um und bemerkte ihr Erstaunen. „Was? Darf ich nicht einmal davon träumen?“ Sie lachte. Bevor sich irgendjemand eine passende Antwort zurechtlegen konnte, sagte sie: „Waren die Blumenmädchen nicht entzückend?“ Sie sah Leo direkt in die Augen, als erwartete sie eine Antwort von ihm.

Was war denn los mit dieser Frau? Warum redete sie mit ihm über solche Dinge? Und jetzt drehten sich alle zu Leo um, als ob sie seine Meinung über junge Mädchen wissen wollten, die er nicht einmal richtig wahrgenommen hatte. Bas lächelte teuflisch. Er genoss es, dass Leo im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.

„Ich, äh … je. Soweit ich mich erinnern kann“, murmelte er und wandte den Blick von Hawkes Schwester ab.

Sie aber ließ sich nicht beirren und plapperte weiter, wie es – das ging ihm langsam auf – ihre Gewohnheit war. „Ich hatte eigentlich zu Eliza gesagt, dass sie Brautjungfern haben muss, aber sie hat gesagt, dass es hier Brauch ist, Blumenmädchen zu haben, und ich habe mich gefragt, wie das wohl in einer so überwältigenden Umgebung wie einer Kathedrale wirkt, aber ich muss schon zugeben, dass ich …“

„Ich bitte vielmals um Verzeihung“, sagte eine tiefe Männerstimme.

Leo hatte gar nicht gemerkt, dass sein Vater sich zu der Gruppe gesellt hatte, bis er direkt hinter Hawkes Schwester stand. Sie hatte wenigstens so viel Verstand, dass sie aufhörte zu reden, als der König sich die Ehre gab. Sie trat zur Seite und sank in einen Knicks. „Eure Hoheit“, sagte sie feierlich.

„Ich möchte die Feierstimmung überhaupt nicht stören, aber ich würde gern ein paar Worte mit meinem Sohn wechseln, wenn es gestattet ist.“

„Selbstverständlich“, sagte Bas.

„Nicht mit dir, Sebastian – genieß deinen Empfang. Mit meinem anderen Sohn“, sagte sein Vater und lächelte Leo zu.

Leo wurde sofort misstrauisch. Er sah seinen Vater neugierig an, der immer noch lächelte. Wahrscheinlich hätte er längst verschwinden sollen. Sein Vater hatte kaum einen Grund, allein mit ihm zu sprechen. Die wichtigen Gespräche hob er sich normalerweise für Bas auf.

„Also, Leopold?“

Je“, sagte er und nickte den anderen zu, bevor er neben seinen Vater trat und sie sich gemeinsam von der Gruppe entfernten.

Beim Lächeln kräuselten sich die Augenwinkel des Königs. Er schien ausgezeichneter Laune zu sein, als sie nebeneinanderhergingen. Wie um das zu bestätigen sagte er: „Das war in jeder Hinsicht ein ausgezeichneter Tag. Deine Mutter und ich sind überglücklich darüber, dass Bas endlich verheiratet ist.“ Er lächelte wieder, wandte dabei aber den Kopf und sah Leo an.

Als er den sehr genau kalkulierten Schwung dieses Lächelns sah, zog sich Leo der Magen zu einem Knoten zusammen. Normalerweise war er sehr geschickt darin, dem Gespräch aus dem Weg zu gehen, das sein Vater jetzt gleich beginnen würde. Aber seine Reflexe hatten wohl unter den ganzen Hochzeitsfeierlichkeiten, dem Alkohol und dieser wunderschön ärgerlichen Frau gelitten, die ausgerechnet über Blumenmädchen faseln musste.

Sein Vater blieb vor einem der großen Fenster stehen. Im Hof wanderten noch immer Trauben von Menschen umher, die hofften, einen Blick auf die Frischvermählten zu erhaschen.

„Nun da der Kronprinz verheiratet ist“, begann sein Vater und trat immer noch lächelnd näher an Leo heran, „können deine Mutter und ich uns um dich kümmern.“

„Was? Um mich?“ Leo fühlte sich bloßgestellt, als ob er ohne Rüstung und sogar ohne Schwert in den Krieg ziehen müsste. „Ich … ich fahre in zwei Tagen nach England“, erinnerte er seinen Vater schnell.

Das Lächeln seines Vaters schien unerschütterlich zu sein. Er winkte einem Lakaien, der gerade vorbeikam, nahm zwei Champagnerkelche von seinem Tablett und reichte einen davon Leo. Leo hatte nicht einmal bemerkt, dass er das Glas ergriff, bis er es in seiner Hand sah. Er war völlig überrumpelt, entsetzt darüber, dass sein Vater die Gelegenheit von Bas’ persönlichem Hochzeitsempfang nutzte, um ihn unter die Haube zu bringen, obwohl die Tinte im Eheregister noch nicht einmal getrocknet war.

„Hör mir zu Ende zu, Leopold“, sagte sein Vater leutselig und zog ihn noch weiter an die Seite. „Ich will das für dich so einfach und schmerzlos wie möglich machen. Es hat bereits Gespräche gegeben.“

Beide Sätze ließen die Alarmglocken in seinem Kopf schrillen. Große Messingglocken, die ohrenbetäubend läuteten. Seine Ehe sollte einfach und schmerzlos sein? Die Worte des Königs hörten sich an, als wäre Leo ein Hund, der von seinem Leid erlöst werden sollte – Leo konnte nichts Einfaches oder Schmerzloses darin erkennen, sich für den Rest seines Lebens an eine Frau zu fesseln, die er kaum kannte. Es hatte bereits Gespräche gegeben? Mit wem? Mit ihm ganz bestimmt nicht. „Ich würde gerne …“

„Wir haben einige Fortschritte mit Weslorien gemacht, nicht wahr?“, fuhr sein Vater schnell fort, ehe Leo Einwände erheben konnte.

Der Knoten in seinem Bauch zog sich fester zusammen. Hatten sie wirklich Fortschritte gemacht? Es war noch nicht einmal ein Jahr her, seitdem ein paar Weslorianer und alucianische Verräter sich verschworen hatten, Bas zu entführen. Die beiden Nationen verband eine lange Geschichte von Krieg und Misstrauen, aber sein Vater meinte die kürzlich begonnenen Versuche, die andauernden Spannungen zwischen den beiden benachbarten Königreichen abzubauen.

Im Zentrum des Konflikts standen zwei königliche Halbbrüder. Als Leos Vater Karl vor beinahe vierzig Jahren den Thron bestiegen hatte, war Onkel Felix aus Alucia verbannt worden … vor allem, weil er glaubte, einen rechtmäßigeren Anspruch auf den Thron zu haben als Karl.

Die Frage der rechtmäßigen Thronfolge hatte ihre Wurzeln in einem Bürgerkrieg im sechzehnten Jahrhundert, als zum ersten Mal ein Chartier den Thron innegehabt hatte. Felix’ Vorfahren, die Oberons, hatten diesen Krieg verloren und sich nach Weslorien zurückgezogen. Währenddessen hatten sie weslorianische Könige und Adlige unterstützt. Die behaupteten seit langer Zeit, dass der Anspruch der Chartiers auf die Herrschaft in Alucia nicht so rechtmäßig sei wie ihrer, und militärische Auseinandersetzungen im Grenzgebiet machten den beiden Ländern schon seit Jahren zu schaffen.

Felix und Karl waren ein Versuch von Leos Großvater gewesen, die beiden Länder zu vereinen, nachdem seine erste Frau gestorben war. Seine zweite Frau, eine entfernte Cousine und eine Oberon, war eine ziemliche Intrigantin gewesen. Sie wollte sich selbst ins Rennen um die Thronfolge bringen, indem sie einen Sohn zur Welt brachte. Das alles hatte für niemanden den erwünschten Erfolg gehabt.

Onkel Felix erregte eine Menge Aufsehen in Weslorien. Es war allgemein bekannt, dass er den weslorianischen König unter seiner Fuchtel hatte. Felix hatte gelobt, Weslorien und Alucia unter einem Herrscher zu vereinen, wenn er es schaffen sollte, den alucianischen Thron zu erobern. Und da es viele Loyalisten gab, die sich der Sache der Oberons verschrieben hatten, hing ständig die Gefahr eines Kriegsausbruches über den Köpfen der beiden Nationen. Die Chartiers versuchten, jeden mundtot zu machen, von dem es hieß, er hege Sympathien für Weslorien. Das hatte viel Zwietracht in beiden Ländern gesät und das wirtschaftliche Wachstum in beiden praktisch gestoppt. Es gab wöchentlich viele neue Gerüchte, welcher Hochadlige oder wohlhabende Kaufmann sich verschworen hatte, König Karl zu stürzen.

Sebastian hatte ebenfalls vorgehabt, Weslorien und Alucia zu vereinen. Aber sein Plan war gewesen, ein Handelsabkommen mit England zu schließen. Er wollte, dass die Chartiers und die Oberons und ihre Landsleute sich durch die gewinnbringende Industrialisierung und gemeinsamen Wohlstand vereinten – nicht durch die verheerende Wirkung des Krieges.

Unglücklicherweise schien niemand seine Sehnsucht nach Frieden zu teilen. Während Sebastian in England gewesen war, hatte sich eine Verschwörung bis in die höchsten Kreise der alucianischen Regierung hinein ausgebreitet und zu dem Mord an Sebastians Privatsekretär geführt. Aber wie so oft bei Tragödien war auch dieser ein Silberstreif am Horizont gefolgt, denn sein Bruder hatte Eliza kennengelernt und sich in sie verliebt.

Heute war ein unvorstellbar glücklicher Tag, aber die Gefahr des Krieges und Bestrebungen für einen Staatsstreich schwelten nach wie vor außerhalb der efeubewachsenen Mauern dieses Palasts. Das hatte niemand vergessen, vor allem der König nicht.

„Wir können in Alucia größere Fortschritte machen, wenn wir uns mit den richtigen Weslorianern verbünden“, erklärte sein Vater und sah sich dabei über die Schulter hinweg um.

„Den richtigen Weslorianern?“

„Denen, die kein Interesse an einer Vereinigung haben“, sagte sein Vater und sah sich um. „Es hat viele Vorteile, wenn wir unsere Grenzen und unsere Souveränität behalten.“

Leo wusste nicht, was das für Vorteile sein sollten und hatte auch wirklich keine Lust, es herauszufinden. Er hatte nichts dagegen, nichts über die Vorteile von Souveränität zu wissen. Ihm kam das alles unnötig kompliziert vor.

„Ein hochrangiger Minister im weslorianischen Kabinett ist sehr an besseren Handels- und Wirtschaftsbeziehungen interessiert. Er ist Arbeitsminister, und es gibt genügend Gründe zu der Annahme, dass er der nächste weslorianische Premierminister sein wird.“ Sein Vater wackelte mit den Augenbrauen. „Eine Heirat mit seiner Tochter wäre wirklich ein großer Vorteil für uns.“

„Für uns.“ Sein Vater sagte das Wort ohne zu zögern und ohne eine Spur von Ironie, als ob seine Eltern und sogar Bas und Eliza mit ihm gemeinsam vor den Altar treten würden. „Ich verstehe“, sagte Leo, während er fieberhaft überlegte, wie er aus dieser Ecke wieder herauskommen sollte. „Aber ich will nicht …“

„Du lernst sie heute Abend kennen, auf dem Ball. Das Treffen muss unbedingt in der Öffentlichkeit stattfinden, wo alle es sehen können. Tanz mit ihr.“

Leo konnte spüren, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Also war wirklich schon alles vorbereitet.

Das schmerzte ihn in gewisser Weise ziemlich. Als Leo noch jünger gewesen war, hatte er sich diese Art von Verantwortung gewünscht. Er wollte ein Prinz mit einem Anliegen sein und hatte darum gefleht, sich nützlich machen zu dürfen. Aber sein Vater hatte Bas jegliche echte Verantwortung übertragen. Leo erinnerte sich noch genau daran, wie ihm verweigert worden war, der Kavallerie beizutreten, weil Bas eintreten sollte. Er war noch immer verbittert, weil er seinen Vater um ein Amt gebeten hatte und dann zum Schirmherrn der Stadtausrufer erklärt worden war. Den verdammten Stadtausrufern.

Es hatte noch mehr solcher Anlässe gegeben, und irgendwann hatte Leo aufgehört, sich um eine Aufgabe zu bemühen. Er hatte eingesehen, dass Aufgaben von Bedeutung nur etwas für Bas waren.

„Willst du denn gar nicht wissen, wer sie ist?“, fragte sein Vater fröhlich.

Der König war wegen dieser Vereinbarung stolz auf sich, und es war ganz offensichtlich gleichgültig, wie Leo dazu stand. Er zuckte mit den Schultern.

„Lady Eulalie Gaspar.“

Leo kannte keine Gaspars und schon gar keine Eulalie.

Sein Vater lächelte kühl über Leos mangelnde Begeisterung und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er drückte sie, als ob Leo ein ungezogenes Kind wäre. „Es ist schon alles vorbereitet, Leopold. Wir werden noch vor Ende des Sommers die Verlobung bekannt geben, sobald du mit all deinen Sachen aus England zurückgekommen bist. Du machst ihr ein paar Wochen lang den Hof, wie es sich gehört, und wenn der Sommer zu Ende ist, wird es eine amtliche Verkündung geben. Soweit man das im Augenblick sagen kann, kannst du dich als verlobt betrachten.“

„Ich soll mich als verlobt betrachten, bevor ich sie überhaupt kennengelernt habe? Bevor ich sie wenigstens geküsst habe?“, fragte Leo fassungslos.

Sein Vater seufzte und ließ die Hand sinken. „Du weißt doch genau, wie solche Vereinbarungen geschlossen werden. Deine Mutter und ich bitten dich so gut wie nie um etwas, und das ist etwas, was du für mich tun musst.“

Dass sie ihn selten um etwas baten, war genau der Grund seiner Unzufriedenheit. „Es ist ja nicht so, dass du mich bitten würdest, deinen Hund auszuführen“, sagte Leo.

„Sohn“, erwiderte sein Vater streng, „du wusstest doch immer, dass dieser Tag einmal kommen würde. Du brauchst mich nicht so anzusehen, als ob ich gerade befohlen hätte, dass du einen Kopf kürzer gemacht wirst. Es geht doch nur um eine Frau, um Gottes Willen.“

„Nur eine Frau.“ Keine Ehefrau, keine Vertraute. Nur eine Frau.

„Und jetzt sei so gut: Geh und unterhalte dich mit dem Botschafter von Weslorien.“ Er wies mit einem Nicken auf den besagten Mann. „Frag ihn nach seinem Pferd – er behauptete, er hätte einen Wallach, der schneller läuft als jedes Pferd, das in diesem Teil der Welt je gesehen wurde.“ Sein Vater zwinkerte auf für ihn vollkommen ungewohnte Weise und setzte sich in Bewegung. Dabei nippte er an seinem Champagner, ehe er von der Traube von Menschen verschluckt wurde, die alle um seine Aufmerksamkeit wetteiferten.

Leo blieb an der Stelle stehen, an der sein Vater ihn verlassen hatte, gekränkt und empört. Sein Vater hatte recht – er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Aber er hatte angenommen, dass es zumindest so etwas wie ein Gespräch über diese Frage geben würde, dass seine Wünsche berücksichtigt werden würden.

Er brauchte etwas zu trinken, und er sah sich nach einem Lakaien um. Keinen Wein, vielen Dank. Etwas Stärkeres. Gin. Brandy.

Er drehte sich um, um zu sehen, wo der weslorianische Botschafter stand und entdeckte ihn in einer lebhaften Unterhaltung mit Hawkes Schwester. Oder vielmehr gewährte sie ihm eine Audienz, bei der sie mit ihren schmalen Händen die Geschichten unterstrich, die sie dem Kreis von Gentlemen, die sie umringten, zu erzählen hatte. Diese Frau zog wirklich immer Publikum an. Plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken und fing laut zu lachen an.

Der Botschafter schien schockiert darüber zu sein.

Diese Frau lag! Gesellig und laut. Sie lachte sorglos, sie erzählte Geschichten, die offenbar den umfangreichen Gebrauch ihrer Hände verlangten. Sie berührte hier einen Arm, dort einen Rücken. Sie befand sich in einem königlichen Palast auf einem königlichen Empfang und hatte den Spaß ihres Lebens, ohne sich auch nur im Mindesten darum zu kümmern, wie sie nach außen wirkte. Er hingegen war ein machtloser Prinz, für den die Regeln der Gesellschaft darüber entschieden, was er sagen, essen und sogar wen er heiraten durfte. Er war derjenige, dem man befohlen hatte, mit jemandem, den er kaum kannte und auch nicht kennenlernen wollte, Konversation über ein verdammtes Pferd zu machen, während sie unbekümmert über Gott weiß was plauderte.

Leo musste zu lange dort gestanden und sie angestarrt haben – er wurde sich langsam bewusst, dass die Leute in seine Richtung blickten. Menschen, die aussahen, als würden sie „auf ein Wort“ zu ihm sagen wollen. Ein solches „Wort“ führte normalerweise zu unangemessenen Bitten und Bekanntschaften, die er nicht machen wollte.

Nein. Leo wollte diesem Palast und allem, was mit ihm zusammenhing, entkommen. Aber da er das nicht konnte, beschloss er, sich wie geplant aus dem Staub zu machen und sich mit seinen Freunden zu treffen.

In einem kümmerlichen Versuch, sich selbst gut zuzureden, sagte er sich, dass er nur etwas Zeit brauchte. Er brauchte nur ein bisschen mehr Zeit, um sich zu überlegen, wie er sein unausweichliches Schicksal noch ein wenig herauszögern konnte.

3. KAPITEL

In der gesamten Stadt Helenamar wurde die königliche Vermählung gefeiert, einschließlich des Pubs Zum Foxhound, eines einzigartigen Treffpunkts im Zentrum der Altstadt von Helenamar, wo sich Gerüchten zufolge sogar Prinz Leopold sehen lassen hat. Monsieur Bernard, ein berüchtigter Franzose, der nach Ansicht einiger Alucianer zu einer Gruppe von weslorianischen Verschwörern gehört, wurde in Gesellschaft von Prinz Leopold ebenfalls im Foxhound gesehen.

Am Abend sieht man an den Füßen aller modebewussten alucianischen Frauen weiße Satinstiefel. Diese sind oft mit Perlen und Schleien geschmückt, die zur Robe passen und ihre Absätze sind so hoch, dass die ungeübte Betrachterin Angst bekommt, dass die Lady einfach umfallen könnte.

– aus Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen

Kurz nachdem Eliza und Bas sich von dem privaten Empfang am Nachmittag fortgestohlen hatten – zweifellos auf der Suche nach einem Zimmer, in dem sie ungestört sein konnten, denn ihre Zuneigung zueinander war inzwischen im gesamten Palast, wenn nicht so gar in der ganzen Stadt, berüchtigt – gelang es Leo ebenfalls zu entkommen.

Er freute sich schon auf dieses Wiedersehen mit seinen alten Freunden, seitdem er in Helenamar eingetroffen war. Es war unvermeidlich, dass so viele Formalitäten für ein Ereignis notwendig waren, an dem die königliche Familie beteiligt war, und es war unvermeidlich, dass ihm das alles auf die Nerven ging. Aber zu seinem Glück gab es zwei Palastwachen, die schon seit vielen Jahren bei ihm waren und daran gewöhnt waren, solche Streifzüge für ihn zu organisieren.

Das Foxhound befand sich zwischen zwei ehrwürdigen Wohnhäusern mit hohen Gitterzäunen und gegenüber von einem öffentlichen Pferdestall. Hier traf sich eine seltene und bemerkenswerte Mischung von Gästen – es war der einzige Ort in ganz Helenamar, an dem sich Hochadel und die gewöhnlichen Bürger der Stadt begegnen konnten. Es war der einzige Ort, an den Leopold gehen konnte, ohne dass er von Männern oder Frauen belagert wurde, die etwas von ihm wollten. Es war der einzige Ort, an dem er Neuigkeiten aus dem ganzen Land erfuhr, ohne dass das Personal des Palasts sie für ihn auswählte oder in einem angenehmeren Licht erscheinen ließ. Im Foxhound gewann die Wahrheit immer die Oberhand.

Seine Freunde waren alle zur Stelle und hatten bereits drei Krüge Bier Vorsprung. Als er eintrat, brandeten Freudenrufe auf.

„Was ist mit den Festlichkeiten des Abends?“, fragte Leo lachend und zeigte auf die leeren Krüge, die überall auf dem Tisch verteilt standen.

„Wir haben noch genug Zeit, um wieder auszunüchtern und wieder gesellschaftsfähig zu werden“, sagte Francois und legte Leo freundschaftlich einen Arm um die Schultern, während er den Barfrauen zurief, sie sollten mehr Bier bringen.

Francois war Franzose und war als sehr kleines Kind mit seinen Eltern nach Alucia ausgewandert. Er hatte seine Erziehung in denselben ehrwürdigen Hallen erhalten wie Leo und Bas. Der Pony seines dunkelroten Haares hing ihm in die Augen. Er war charmant und immer zum Lachen aufgelegt. Er war außerdem ein Draufgänger, und heute hatte er eine unterhaltsame Geschichte von einer Begegnung mit einem Tanzmädchen zu erzählen.

Leo und seine Freunde tranken mehr Bier, stießen auf seinen Bruder und seine Braut an, schwelgten in Erinnerungen an ihre Schulzeit und lachten schallend über schlüpfrige Witze. Irgendwann im Laufe des Nachmittags hatte Leo eine der Barfrauen auf dem Schoß. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie es dazu gekommen war, aber da war sie und strich ihm in aller Seelenruhe die Haare hinters Ohr.

Es sieht wohl so aus, dachte er benommen, als ob ich zu viel getrunken hätte. Wieder einmal.

Offensichtlich war Harvel, ein anderer seiner Schulfreunde, der gleichen Ansicht. „Pass mal auf, Hoheit, solltest du dich nicht langsam auf den Weg machen? Du bist doch sicher verpflichtet, an dem Ball teilzunehmen.“

„Das bin ich, allerdings“, sagte Leo und stellte seinen Bierkrug mit einem lauten Knall auf den Tisch. „Als Bruder des frischgebackenen Herzogs, als Sohn des Königs, als …“ Er versuchte nachzudenken.

„Beschickert wie ein verdammter Prinz!“, rief Voltan.

„Beschickert wie ein verdammter Prinz!“, wiederholte Leo aus vollem Halse und hob seinen Krug. Dabei schwappte ein größerer Teil des Bieres auf die Tischplatte. Er war allerdings nicht mehr nüchtern. Er brauchte zwei Anläufe, das Mädchen von seinem Schoß zu schieben und auf die Füße zu kommen. Er stand auf, klopfte sein Jackett und seine Hosen ab, um Münzen zu finden, hatte aber keine. Ach ja, natürlich, in Alucia brauchte er kein Geld.

Ihm war ein wenig schwindelig, und er bereute, dass er so viel getrunken hatte, aber seine Freunde amüsierten sich königlich über seine vergebliche Suche nach dem Geldbeutel. Sie winkten ihm hinterher. „Mach dir keine Gedanken, Chartier“, sagte Francois. „Wir bezahlen dein Bier. Nimm es als unser letztes Geschenk an einen freien Mann.“

„Was sagst du denn da?“, fragte Leo. Er stürzte auf ihn zu und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. „Weißt du irgendetwas, das ich wissen sollte?“

„Nur was ganz Helenamar schon weiß, mein Junge“, sagte Francois. Er zwinkerte, und alle am Tisch lachten. „Geh schon, genieß den Abend und das königliche Mahl, so wie es dir zusteht. Deine getreuen Untertanen bezahlen in der Zwischenzeit deine Zeche.“

„Ich schulde euch was“, sagte er und verneigte sich mit einer übertriebenen Handbewegung. „Wo sind meine Wachen? Ich bin mir ganz sicher, dass ich Wachen dabeihatte, als ich gekommen bin.“

„Hier, Eure Hoheit“, sagte Kadro und legte Leo eine Hand auf den Arm, um ihn umzudrehen. Seine andere Wache, Artur, stand ungerührt daneben.

Leo lächelte. Nein, er lachte. „Da sind Sie ja!“, rief er ausgelassen. Jmil, war er betrunken. Wenn er nicht ganz schnell wieder nüchtern wurde, würde der Abend heute die Hölle werden. Das Missfallen seines Vaters konnte man am ganzen Leibe und bis ins Mark spüren.

Leo verabschiedete sich wortreich von seinen alten Freunden und hatte bei Gott sogar ein paar Tränen in den Augen. Er lud sie alle ein, ihn in England zu besuchen, und sie alle versprachen voller Ernst, auch zu kommen.

Leo trat zwischen Kadro und Artur hinaus auf die menschenleere Straße. Er blinzelte in der Nachmittagssonne, schaffte es aber, auf ziemlich geradem Weg bis zum Rinnstein zu gehen. „Gucken Sie mich an, Jungs“, sagte er lachend. „Der König macht mich einen verdammten Kopf kürzer, oder?“ Er war nicht so betrunken, dass ihm nicht auffiel, dass keiner der beiden Männer ihm zustimmte.

Er sah die Straße hinauf und hinab. Er hatte damit gerechnet, dass die Kutsche auf ihn warten würde – Leo war es gewöhnt, dass er in Helenamar aus der Tür trat und direkt in ein bereitstehendes Transportmittel einsteigen konnte. Wegen der ganzen Unruhe an der Grenze zu Weslorien wurden strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen, wann immer ein Mitglied der königlichen Familie die Mauern des Palastes verließ. „Die Kutsche“, sagte er, als ob seine Wache nicht bemerkt hätte, dass sie fehlte, „wo ist die?“

Es gab eine Auseinandersetzung zwischen den Wachen – offensichtlich war der Kutscher angewiesen worden, etwas weiter entfernt zu warten, damit nicht jeder sofort wusste, dass der Prinz sich in dem Pub aufhielt – und dann sagte Kadro: „Ich sehe mal um die nächste Ecke, Eure Hoheit, wenn Sie erlauben?“

„Schauen Sie doch, wohin Sie wollen“, sagte Leo und sah ziemlich belämmert zu, wie Kadro um die Ecke verschwand. Hinter ihm ertönte ein seltsames Geräusch, es klang beinahe wie das Abfeuern eines Gewehrs. Artur stürzte in diese Richtung. „Bitte, Eure Hoheit, bleiben Sie hier stehen“, sagte er und eilte auf das Geräusch zu.

Sogar in seinem betrunkenen Zustand fand Leo das alles ausgesprochen ungewöhnlich; er wurde mitten auf der Straße stehen gelassen, ohne dass jemand bei ihm war. Er sank an die Hauswand und lächelte in sich hinein. Alles in allem war es ein guter Tag gewesen. Also abgesehen von den verfluchten Kopfschmerzen, mit denen sein Tag begonnen hatte. Und der Ankündigung seines Vaters. Leo war es gelungen, diese Unannehmlichkeit für ein paar Stunden zu vergessen, aber jetzt musste er plötzlich wieder daran denken und sie störte die berauschte Ruhe, die er in Gesellschaft seiner Freunde gefunden hatte.

Er dachte an alles das, was er seinem Vater gerne gesagt hätte, anstatt einfach durch das Gespräch hindurchzustolpern. Dabei bemerkte er die beiden Männer gar nicht, die über die Straße auf ihn zugeschossen kamen, bis sie bei ihm waren. Als ihm klar wurde, dass sie nicht an ihm vorbeigehen wollten, war es unglücklicherweise bereits zu spät, denn sie zogen ihn in eine Gasse neben dem Pub, aus dem er gekommen war. Als er begriff, was gerade geschah, versuchte er, nach seinen Wachen zu rufen, aber er war so verwirrt, dass er kaum zu verstehen war, und er konnte seine Füße nur mit Mühe dazu bringen, sich unter ihm ordentlich zu bewegen.

Ehe er wusste, wie ihm geschah, war er in einer Gasse mit zwei Männern gefangen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Die Furcht traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube, und ihm wurde übel. Er hätte beinahe das ganze Bier wieder von sich gegeben, das er so rücksichtslos in sich hineingeschüttet hatte.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte er wütend auf Alucianisch.

„Bitte bleiben Sie ruhig, Eure Hoheit“, sagte einer der beiden, während er ihn ans andere Ende der Gasse zerrte und dann versuchte, ihn dort an eine Mauer zu lehnen.

„Ruhig?“ Er fuchtelte mit den Armen, um die beiden abzuschütteln. „Wer sind Sie? Ich habe ein Recht zu erfahren, wer oder was mir bevorsteht.“ Plötzlich kursierte ein ganzer Strudel von unklaren Gedanken und Gefühlen in ihm – Angst, Bedauern, Ungeduld – und das alles brachte ihn ziemlich schnell zu ein und derselben Schlussfolgerung: der Unausweichlichkeit dieser ganzen Sache.

„Ich passe auf“, sagte einer der Männer zum anderen auf Alucianisch. Er drehte sich um und machte ein paar Schritte auf den Anfang der Gasse zu.

Der andere Mann trat vorsichtig auf Leo zu.

Autor

Julia London

Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA...

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