Ein Kronprinz für Miss Eliza?

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Nie wieder will Miss Eliza Tricklebank an gebrochenem Herzen leiden! Lieber gilt sie mit achtundzwanzig Jahren als alte Jungfer und widmet sich ganz der Veröffentlichung ihres Damenmagazins. Ein harmloses Vergnügen - bis der Sekretär von Kronprinz Sebastian von Alucia ermordet wird und Eliza einen anonymen Hinweis erhält. Kaum hat sie davon berichtet, steht der Kronprinz persönlich vor ihrer Tür! Während sie mit ihm nach dem Täter sucht, fühlt sie sich gegen jede Vernunft immer stärker zu ihm hingezogen. Doch was empfindet er? Kurz lassen sie seine leidenschaftlichen Küsse vergessen, dass eine Frau wie sie niemals seine Braut werden kann …


  • Erscheinungstag 27.04.2021
  • Bandnummer 365
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500876
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London 1845

Ganz London hatte voller Spannung auf diesen Moment gewartet. Alle wollten unbedingt einen Blick auf Kronprinz Sebastian von Alucia werfen, wenn er der Stadt seinen lang ersehnten Besuch abstattete. Ihre Majestät empfing ihn mit einem Bankett auf Schloss Windsor. Es waren einhundertundsechzig geladene Gäste anwesend, die im Georgssaal unter den vielfältigen Wappen des Hosenbandordens speisten. Dabei kamen zweitausend Stücke Silberbesteck und eintausend Kristallgläser und – kelche zum Einsatz. Die Vorspeise und das Hauptgericht, Lamm mit Kartoffeln, wurden auf versilberten Tellern serviert, gefolgt von zarten Früchten auf französischem Porzellan.

Prinz Sebastian übergab unserer Königin Viktoria eine große Vase aus alucianischem Malachit als Geschenk seines Vaters, des Königs von Alucia. Öffnung und Hals der Vase sind mit filigranen Goldfäden verziert.

Die alucianischen Frauen trugen eng anliegende Kleider aus schwerer Seide mit langen Schleppen, die hochgeschlagen und mit Knöpfen befestigt waren, damit sie gehen konnten. Ihr Haar war ihnen im Nacken zu kunstvollen Knoten aufgesteckt worden. Die alucianischen Gentlemen trugen Fräcke aus feiner schwarzer Wolle, die bis zu den Waden reichten, und dazu reich bestickte, hüftlange Westen. Es wurde berichtet, dass Kronprinz Sebastian „ziemlich groß und breitschultrig“ sei, „mit einem kantigen Gesicht, sorgfältig gestutztem Bart und vollem Haar, das die Farbe von Tee habe“, während seine „Augen moosgrün“ seien. Die informierte Leserin mag dabei vielleicht an einen sanfteren Farbton denken. Es heißt, dass er majestätisch wirke, vor allem wegen der vielen Orden und Bänder, die er seiner Stellung entsprechend getragen habe.

– aus Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen

Der höchst ehrenwerte William Tricklebank, seines Zeichens Witwer und Richter der ersten Kammer des Gerichtshofes der Königin im Dienste Ihrer Majestät, war so gut wie blind. Sein Sehvermögen hatte sich mit zunehmendem Alter auf ständig wechselnde und verschwommene Grautöne reduziert. Er konnte kaum noch seine Hände erkennen, deswegen las ihm seine älteste Tochter, Miss Eliza Tricklebank, die Zeitungen vor.

Eliza hatte sich Unterstützung von Poppy, dem Hausmädchen, geholt, die eher ein Familienmitglied als eine Dienstbotin war. Sie war vor über zwanzig Jahren als Waisenmädchen zu ihnen gekommen. Gemeinsam hatten sie Seile und Bänder auf halber Höhe der Wände in ihrem Stadthaus in London befestigt, sodass der Richter diesen bloß mit den Händen zu folgen brauchte, um von einem Raum zum nächsten zu kommen. Unter den Gefahren, die dennoch auf ihn lauerten, waren zwei Hunde, die sich viel zu eifrig darum bemühten, ihm zu helfen, und eine Katze, die ihm offensichtlich nach dem Leben trachtete. Zumindest stellte sie sich dem Richter immer wieder in dem Weg, sprang auf seinen Schoß, wenn er sich hinsetzte, oder lief über die Strickarbeit, mit der der Richter sich gern beschäftigte, während seine Tochter ihm vorlas. Manchmal rollte das Tier auch das Wollknäuel auf, ohne dass der Richter es bemerkte.

Die einzigen anderen Gefahren für seine Gesundheit waren seine Töchter – Eliza, eine alte Jungfer, und ihre jüngere Schwester Hollis, die auch die Witwe Honeycutt genannt wurde. Die beiden verbrachten viel Zeit zusammen, und wenn sie das taten, kam es ihm so vor, als ob in seinem Haus viel über dieses gelacht und über jenes gekreischt würde. Seine Töchter stritten ab, dass sie kreischten und warfen ihm vor, so alt zu sein, dass er sich leicht erschrecke. Doch das Gehör des Richters war im Gegensatz zu seinem Sehvermögen in bester Ordnung, und diese beiden kreischten vor Lachen. Häufig.

Eliza war schon achtundzwanzig, aber noch immer unverheiratet, was dem Richter ein Rätsel war. Es hatte zwar ein unglückliches und ziemlich berüchtigtes Missverständnis mit einem gewissen Mr. Asher Daughton-Cress gegeben, den der Richter für verachtenswert hielt, aber das war schon zehn Jahre her. Eliza war früher einmal eine zurückhaltende und höflich ehrerbietige junge Dame gewesen, aber nachdem ihr das Herz gebrochen worden war, hatte sie jeglichen Anschein von Ehrerbietung aufgegeben. In den letzten Jahren war sie lebhaft und sorglos geworden. Er hätte gedacht, dass eine solche Haltung anziehend auf Gentlemen aus aller Welt wirken müsste, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Seit ihrem allzu öffentlichen Skandal hatte sie nur einen einzigen Verehrer gehabt, einen Gentleman, der etwa fünfzehn Jahre älter war als Eliza. Mr. Norris hatte sie treu jeden Tag besucht, doch dann hatte er eines Tages damit aufgehört. Als der Richter sich nach dem Grund dafür erkundigt hatte, hatte Eliza gesagt: „Es ist nicht die Liebe gewesen, die ihn hergeführt hat, Papa. Ich ziehe mein Leben hier mit dir vor – die Arbeit ist angenehmer und nimmt wahrscheinlich auch viel weniger Zeit in Anspruch, als es eine Ehe mit ihm tun würde.“

Seine Jüngste, Hollis, war tragischerweise nach nur zwei Jahren Ehe ohne Nachkommen verwitwet. Sie hatte zwar nach wie vor ihren eigenen Haushalt, aber sie und ihr köstlicher Witz waren jeden Tag bei ihm zu Besuch. Manchmal sogar zwei- oder dreimal am Tag. Er hätte es gern gesehen, wenn sie wieder geheiratet hätte, aber Hollis bestand darauf, dass es damit keine Eile hätte. Der Richter vermutete, dass sie die Gesellschaft ihrer Schwester der eines Mannes vorzog.

Seine Töchter gingen gemeinsam durch dick und dünn, wie man sprichwörtlich sagte, und hatten sich zu etwas verschworen, was dem Richter überhaupt nicht gefiel. Aber er war blind, und sie waren entschlossen zu tun, was sie wollten, ganz gleich, was er dazu zu sagen hatte. Deshalb hatte er es aufgegeben, die beiden zur Vernunft zu bringen.

Ihre fragwürdige Beschäftigung bestand in der Veröffentlichung eines Magazins für Damen. Tricklebank fand, dass Damen kein Magazin brauchten, vor allem keins, das sich mit so überflüssigen Themen befasste wie Mode, Klatsch und Kosmetik. Aber er konnte sagen, was er wollte, seine Töchter stellten sich ihm gegenüber taub. Sie widmeten sich dieser Aufgabe mit grenzenloser Begeisterung und wenn man den beiden glauben konnte, tat ganz London dasselbe.

Das Magazin war von Hollis’ Ehemann, Sir Percival Honeycutt, gegründet worden. Natürlich hatte Sir Percival ein vollkommen anderes Magazin herausgegeben, eines, das sich den neuesten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen widmete. In den Augen des Richters war das eine nützliche Sache gewesen.

Sir Percivals Tod war ein ausgesprochen tragischer Unfall gewesen. Während heftiger Regenfälle war seine Kutsche von der Straße abgekommen und in einen Hochwasser führenden Fluss gerutscht. Dabei war auch ein schönes Zweiergespann von Grauen umgekommen. Der Unfall hatte sie alle sehr getroffen, und der Richter hatte sich große Sorgen um Hollis gemacht. Er war sich nicht sicher, ob sie mit einem solchen Verlust umgehen konnte. Aber Hollis hatte sich als unermüdlicher Geist erwiesen und hatte aus ihrer Trauer heraus alles darangesetzt, den guten Namen ihres Mannes in Ehren zu halten. Aber da sie eine junge Frau ohne Bildung war, verstand sie nichts von den Einzelheiten politischer oder wirtschaftlicher Fragen. Deshalb hatte sie das Magazin auf den Kopf gestellt, das sich seitdem nur noch mit Themen befasste, die Frauen interessierten, sich also auf die neueste Mode und die aufregendsten Gerüchte innerhalb der vornehmen Londoner Gesellschaft beschränkte. Der Richter hatte den Eindruck, dass sich Frauen kaum für die wichtigen Dinge des Weltgeschehens interessierten.

Aber dennoch kam der Richter nicht umhin zuzugeben, dass Hollis’ Version des Magazins erfolgreicher war, als es das ihres verstorbenen Ehemannes je gewesen war. Es war sogar so erfolgreich, dass Eliza mit großem Nachdruck gebeten worden war, ihrer Schwester dabei zu helfen, das Magazin jede Woche herauszubringen. Tricklebank fand es seltsam, wie viele Mitglieder der vornehmen Welt sich darum rissen, in diesem Magazin erwähnt zu werden.

Heute waren seine Töchter außergewöhnlich aufgeregt, denn sie hatten es geschafft, zwei der begehrten Einladungen zu einem Maskenball zu ergattern, den der Duke of Marlborough zu Ehren des Kronprinzen von Alucia veranstaltete. Man hätte annehmen können, dass die Welt zum Stillstand gekommen wäre, sich der Himmel aufgetan und die Meere sich zurückgezogen hätten, da dieser gottgleiche königliche Prinz sich in London blicken ließ, um sie alle mit seiner Anwesenheit zu segnen.

Unsinn.

Alle wussten, dass der Prinz gekommen war, um im Namen von König Karl ein wichtiges Handelsabkommen mit der englischen Regierung zu schließen. Alucia war ein kleines europäisches Land, das im Vergleich mit seiner Größe über beeindruckenden Reichtum verfügte. Es war wahrscheinlich am bekanntesten wegen seiner Konflikte mit dem benachbarten Weslorien – zwischen den beiden gab es so viele Kriege und so viel Misstrauen wie zwischen England und Frankreich.

Der Richter hatte gelesen, dass es der Kronprinz gewesen war, der auf die Modernisierung von Alucia drängte und von dem auch die Initiative zu dem vorgeschlagenen Handelsabkommen ausgegangen war. Prinz Sebastian hatte es auf die Vermehrung des alucianischen Reichtums durch Handel mit Baumwolle, Eisen und Handwerksprodukten abgesehen. Doch wenn man die Töchter des Richters fragte, war das nicht das Wichtigste an den Verhandlungen. Das wirklich Wichtige war, dass der Prinz auf der Suche nach einer Heiratskandidatin war.

„Zumindest sagen das alle“, hatte Hollis erst kürzlich ihrem Vater gegenüber beim Abendessen betont.

„Und wie kann es sein, Liebes, dass alle wissen, was der Prinz vorhat?“, fragte der Richter, während er die Katze Pris streichelte, die auf seinem Schoß saß. Die Katze war Prinzessin getauft worden, weil die Familie geglaubt hatte, sie wäre weiblich. Nachdem der Hausdiener Ben herausgefunden hatte, dass Prinzessin in Wirklichkeit ein Kater war, fand Eliza, dass es zu spät sei, den Namen noch zu ändern. Also kürzten sie ihn mit Pris ab. „Hat der Prinz einen Brief geschrieben? Eine Anzeige in der Times aufgegeben?“

Caro hat das auch gesagt“, erwiderte Hollis, als ob jeder, der nur ein bisschen Verstand hatte, wissen müsste, woher ihre Informationen kamen. „Sie weiß alles über jeden, Papa.“

„Aha. Wenn Caro das sagt, dann muss es natürlich wahr sein.“

„Du musst doch selbst zugeben, dass sie sich fast nie irrt“, sagte Hollis mit einem verärgerten Schniefen.

Caro oder Lady Caroline Hawke, war eine langjährige Freundin seiner Töchter und hatte sich eine Zeit lang so oft im Haus der Tricklebanks aufgehalten, dass es dem Richter so vorgekommen war, als ob er drei Töchter hätte.

Caroline war die einzige Angehörige von Lord Beckett Hawke und auch sein Mündel. Vor langer Zeit hatte eine Choleraepidemie London heimgesucht und sowohl Caros Mutter als auch die Mutter seiner Kinder waren ihr zum Opfer gefallen. Amelia, seine Frau, und Lady Hawke waren beste Freundinnen gewesen. Sie hatten ihre Kinder gemeinsam auf das Sommeranwesen der Hawkes geschickt, nachdem Amelia krank geworden war. Lady Hawke hatte darauf bestanden, sich selbst um ihre Freundin zu kümmern und am Ende waren sie beide verloren gewesen.

Lord Hawke war ein vielversprechender junger Adliger und Politiker, bekannt für die fortschrittlichen Überzeugungen, die er im Oberhaus vertrat. Hollis fand ihn ziemlich gut aussehend. Er war beliebt und bei allen gesellschaftlichen Anlässen ein gern gesehener Gast. Das bedeutete, dass seine Schwester es auch war. Sie war ebenfalls gut aussehend, und der Richter nahm an, dass ihre Gesellschaft deshalb für die vielen Freunde ihres Bruders noch angenehmer war.

Und Caroline schien wirklich jeden in London zu kennen und war ständig bei den Tricklebanks zu Besuch, um die Gerüchte zu verbreiten, die sie in den Häusern von Mayfair gehört hatte. Sie war eine umtriebige junge Frau – sie besuchte bis zu drei Salons am Tag, wenn sie sich auf den Weg machte. Der Richter nahm an, dass ihr Bruder sich kaum Sorgen darum zu machen brauchte, ihre Speisekammern zu füllen, denn die beiden waren fast jeden Abend bei dieser oder jener Gesellschaft zum Abendessen zu Gast. Es war beinahe ein Wunder, dass Caroline inzwischen nicht rund wie ein Kürbis war.

Oder vielleicht war sie das. In Wirklichkeit war sie für den Richter dieser Tage nicht mehr als ein Schatten.

„Und sie ist auf Windsor gewesen und hat mit der Königin zu Abend gegessen“, fügte Hollis hochmütig hinzu.

„Du meinst, Caro war im selben Raum, aber zwischen ihr und der Königin haben noch hundert andere Menschen gesessen“, meinte der Richter. Er wusste, wie es bei solchen vornehmen Abendessen zuging.

„Ja, aber sie war da, Papa, und sie hat die Alucianer kennengelernt und weiß jetzt eine Menge über sie. Ich muss unbedingt herausfinden, für wen der Prinz ein Heiratsangebot machen will und im Magazin darüber schreiben, bevor es jemand anderes tut. Kannst du dir das vorstellen? Dann wäre ich in ganz London Thema Nummer eins.“ Hollis hatte zufrieden genickt.

Genau das gefiel Mr. Tricklebank überhaupt nicht an ihrem Magazin. Er wollte nicht, dass seine Töchter in ganz London Thema Nummer eins waren.

Aber heute war nicht der richtige Tag, um darüber zu sprechen, denn seine Töchter waren rastlos und liefen ungewöhnlich aufgeregt im Haus umher. Heute fand der königliche Maskenball statt, und jedes Mal, wenn sie an ihm vorbeigingen, hörte er ihre Reifröcke und Seide rascheln und roch ihr Parfüm. Seine Töchter warteten ungeduldig auf den Brougham von Lord Hawke, der sie abholen sollte. Sie hatten ihm erklärt, dass ihre Masken bereits in Hawke House angekommen waren, angefertigt, wie Eliza atemlos verkündet hatte, von „Mrs. Cubison höchstpersönlich“.

Er hatte keine Ahnung, wer Mrs. Cubison war.

Und eigentlich hatte er auch keine Ahnung, wie es Caro gelungen war, für seine beiden Töchter Einladungen zu einem Ball auf Kensington Palace zu ergaunern – die Tricklebanks hatten weiß Gott nicht die nötigen Verbindungen für so etwas.

Er konnte ihre Aufregung spüren, ihre Nervosität konnte er darin hören, wie sie kicherten, wenn sie sich unterhielten. Selbst Poppy schien angespannt zu sein. Wahrscheinlich würde das der Ball werden, an dem sich alle anderen Bälle in der Geschichte der Menschheit messen lassen mussten, aber er war froh, dass er zu blind war, um daran teilzunehmen.

Als es an der Tür klopfte, erschrak er vor dem Gekreisch und der fieberhaften Aktivität, die an ihm vorbeirauschten. Er musste annehmen, dass der Brougham eingetroffen war, und es Zeit war, zum Ball zu fahren.

2. KAPITEL

Im Kensington Palace fand am letzten Donnerstag um sieben Uhr abends ein Maskenball zu Ehren des Hofes von Alucia statt. Der Duke of Marlborough war der Gastgeber in Stellvertretung der Königin. Die Alucianer trugen schwarze Masken, mit denen sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, damit der Kronprinz nicht so leicht erkannt werden konnte. Dieser Plan hätte ohne Weiteres aufgehen können, wenn die lange Reihe von jungen Engländerinnen nicht gewesen wäre, die dem Prinzen vorgestellt werden wollten.

Ein gewisses englisches Kätzchen, dessen jeweils mittwochs stattfindende Salons sich großer Beliebtheit erfreuen, war so begeistert von den Punschtassen, dass ein berühmter Fuchs sich ihrer annehmen musste und sie in der Garderobe des Königs zu übervorteilen drohte. Als das Kätzchen erkannt hatte, was der Fuchs vorhatte, forderte sie Wiedergutmachung und kam in den Genuss, von drei uniformierten Lakaien, die sie hinaus zu einer wartenden Kutsche führten. Ihr Kleid und sie selbst waren so schwer zu bändigen, dass die Männer sich große Mühe geben mussten, um sie herum zu manövrieren, wobei sie einem der unglücklichen Jungen beinahe die Perücke vom Kopf geschlagen hätte.

– aus Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen

Wenn man ein so einfaches Leben führte wie Eliza Tricklebank, rechnete man nicht mit einer Einladung zu einem Ball, vor allem nicht zu einem, auf dem man einen Prinzen kennenlernen konnte. Und dennoch hatte sie es irgendwie geschafft, sich in die Reihe derer zu stellen, die dem Prinzen vorgestellt werden sollten, ohne dass es dazu fremder Hilfe bedurft hätte, von einem bisschen Rumpunsch einmal abgesehen.

Sie wusste nicht einmal, welchen Prinzen sie gleich kennenlernen würde oder wie viele es insgesamt waren. Sie hatte gehört, dass es in England im Augenblick mindesten zwei davon gab, aber soweit sie wusste, konnten noch Dutzende von ihnen herumlaufen.

Es kam ihr inzwischen ganz amüsant vor, dass dieser Abend, dieser Augenblick und der Gedanke, dass Eliza vielleicht einem leibhaftigen Prinzen begegnen würde, vor wenigen Tagen erst aufgekommen war, als Caroline im Bedford Square zu Besuch gewesen war, wo Eliza mit ihrem Vater wohnte.

Caroline hatte von Mrs. Cubison, der berühmten Hutmacherin, bei der sie Masken für sie alle drei hatte anfertigen lassen, Neuigkeiten über den Ball erfahren. „Mrs. Cubison sagt, dass sie vor einem Monat schon den Auftrag bekommen hat, Masken für die Alucianer zu machen und dass sie und ihre Angestellten tagelang gearbeitet haben, um ihren Wünschen gerecht zu werden.“ Sie hatte vor Aufregung ganz schnell geredet, obwohl sie sich auf Elizas Bett gerekelt hatte.

Hollis schnappte nach Luft und streckte die Hand nach ihrem Schreibblock aus. „Kein Wort, bis ich meinen Bleistift gefunden habe …“

„Das glaubt ihr mir nie“, sagte Caroline.

„Doch.“

„Die Wahrheit wird noch früh genug ans Licht kommen, glaube ich.“

„Caro, bei allem, was heilig ist, wenn du es uns nicht erzählst, dann presse ich es mit meinen eigenen Händen aus dir heraus“, warnte Hollis sie.

Caroline lachte fröhlich. Sie hatte ihren Spaß daran, Hollis zu provozieren, das hatte Eliza ihrer Schwester mehr als einmal gesagt. Hollis weigerte sich jedoch, auf sie zu hören.

„Also gut, hört zu. Alle Masken sind schwarz und sehen genau gleich aus.“

Hollis und Eliza starrten ihre beste Freundin an, die seelenruhig die Hände hinter dem Kopf verschränkte und die Füße übereinanderschlug.

„Aber wieso?“, fragte Eliza. Dieses Detail der Maskierung machte sie doch ein wenig neugierig.

„Damit man den Kronprinzen nicht von den anderen unterscheiden kann!“, hatte Caroline triumphierend gerufen.

Als sie sich jetzt umsah, fand Eliza, dass es sehr vorausschauend von den Alucianern gewesen war, denn es hatte funktioniert – sie konnte einen Alucianer kaum vom anderen unterscheiden. Es waren Scharen von hochgewachsenen Männern anwesend, die schwarz gekleidet waren und identische schlichte schwarze Masken trugen – genau wie der, dem sie vor einer Viertelstunde in einem engen Durchgang begegnet war.

Und das war ein wirklich seltsames Zusammentreffen gewesen. Gentlemen kamen ihr so seltsam vor, jetzt da sie eine alte Jungfer war und Abstand von ihnen gewonnen hatte. Sie waren oft so anmaßend. Jetzt ging ihr auf, dass sie diesen Mann in der Menge von identisch gekleideten Männern nicht mehr hätte wiedererkennen können, selbst wenn sie ihn hätte wiedersehen wollen. Was sie nicht wollte. Und während die alucianischen Frauen anhand ihrer wunderschönen Kleider durchaus voneinander zu unterscheiden waren, trugen auch sie die gleichen schwarzen Masken.

Es schien so, als ob sie Zeit genug hätte, sie alle genau zu beobachten, jetzt da sie zwischen den Damen eingeklemmt war, die für den Maskenball in Seide und Musselin gekleidet waren, die mit perfekten Stickereien geschmückt waren und dazu kunstvoll gefertigte Masken trugen. Eliza war bewusst, dass ihr eigenes Kleid nicht halb so schön war wie die meisten der Kleidungsstücke, die hier zu sehen waren. Es war sogar vergleichsweise schlicht. Sie und Poppy hatten es aus zwei anderen Kleidern genäht. Poppy konnte nämlich zufällig auch sehr gut mit Nadel und Faden umgehen.

Eliza hingegen war seltsamerweise geschickt in der Reparatur von Uhren.

Ihr Kleid war aus weißer Seide und blauem Tarlatan mit blauen Blütenzweigen, die über einen dreistufigen Rock flossen. Ihre Taille und ihre Ärmel waren mit Bändern verziert, die sie teuer in Mr. Keys Geschäft gekauft hatte. Das Dekolleté war skandalös tief ausgeschnitten, aber Hollis sagte, das sei die neueste Mode. An der Spitze, zwischen ihren Brüsten, saß ein kleiner Strauß aus goldenen und blauen Seidenrosetten. „Das Gold passt gut zu Ihren Haaren“, hatte Poppy festgestellt, als sie Eliza früher am Abend das Haar gekräuselt und mit goldenen Bändern eingeflochten hatte.

„Sieht das nicht so aus, als ob man hier einen Lehmklumpen fallen gelassen hätte, aus dem Blumen sprießen?“, fragte Eliza, während sie das tief ausgeschnittene Mieder zurechtrückte.

Poppy legte ihren dunkelhaarigen Kopf zur Seite und dachte über die Frage nach. „Nicht… besonders.“ Ihr Tonfall klang alles andere als überzeugt. Eliza hatte ihr einen vielsagenden Blick zugeworfen, während sie sich im Spiegel ansah, um Poppy zu bedeuten, dass sie ihr kein Wort glaubte.

Hollis war der Meinung, Elizas Maske sei die beste von den dreien, die Caroline bei Mrs. Cubison gekauft hatte, die, wiederum laut Hollis, die beste Hutmacherin von ganz London war. Die Maske bedeckte Elizas Stirn und Nase und um die Augenöffnungen herum waren goldene Schnörkel gemalt. Die Maske wurde auf der rechten Seite ihres Gesichts breiter und formte einen Bogen nach oben über ihrem Kopf. „Das ist der venezianische Stil“, hatte Hollis ihr erklärt.

Eliza hatte keine Ahnung, was das für ein Stil war und hätte es auch nicht wissen können, aber es interessierte sie auch nicht sonderlich. Sie war Caroline dankbar für die Einladung und für das sehr großzügige Geschenk der Maske, aber der praktisch veranlagten Eliza kam das alles wie eine ungeheure Geldverschwendung vor. Sie war von ihnen dreien diejenige, die am seltensten Besuche machte, die kaum Einladungen bekam, die nichts mit ihrem Vater zu tun hatten. Die noch nie bei einem Maskenball gewesen war. So erging es eben alten Jungfern, die Angehörige pflegten – die Gesellschaft verlor sie aus den Augen. Wenn ihre liebe Schwester und ihre unglaublich beliebte beste Freundin nicht gewesen wären, wäre sie überhaupt niemals ausgegangen. Und selbst dann, bei den Gelegenheiten, bei denen sie dabei sein durfte, musste sie immer gleichzeitig an ihren Vater denken.

Doch heute Abend war sie in jemand ganz anderen verwandelt worden. Sie trug Parfüm, während sie normalerweise nach staubigen Büchern und Gerichtsakten roch. Ihr Haar war sorgfältig frisiert und nicht nur irgendwie im Nacken zusammengesteckt. Und die Schuhe, die sie sich geliehen hatte, waren bestickt und nicht abgeschabt wie die, in denen ihre Füße jeden Tag zu Hause steckten. Dank Carolines magischer Fähigkeiten stand sie in einem Abendkleid im Kensington Palace und trug eine exotische Maske. Es wäre eine schreckliche Untertreibung gewesen zu sagen, dass dieser Ball für sie ein echter Luxus war. Sie hatte vor, jeden Augenblick in sich aufzusaugen und die Erinnerung daran bis ans Ende ihrer Tage zu bewahren. Sie hielt sich nicht für Schneewittchen.

Zumindest nicht, bis sie die glitzernde Zauberkraft des königlichen Rumpunsches entdeckt hatte.

Eliza hätte Hollis und Caroline gern von dem Rumpunsch erzählt, aber sie hatte die beiden fast im selben Augenblick in der Menge verloren, als sie den Palast betreten hatten. Eliza hatte versucht, mit ihnen Schritt zu halten, aber sie wurde von drei Damen in alucianischen Kostümen am Vorwärtskommen gehindert, die sich vor ihr aufbauten, und Eliza war so verzaubert von ihren eng auf Figur geschnittenen Kleidern mit Redingote gewesen. Und die Schleppen erst! Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so kunstvoll gearbeitete Schleppen gesehen und staunte darüber, wie sie hinten und an den Seiten befestigt waren. „Was glaubst du, was so ein Kleid wohl kostet?“, fragte sie und sah auf, nur um festzustellen, dass Hollis und Caroline in dem schwindelerregenden Meer aus Ballkleidern und Juwelen, kunstvollen Masken und breiten, schwarzen Schultern der Gentlemen verschwunden waren.

Zuerst gab Eliza sich noch große Mühe, die beiden wiederzufinden. Sie war noch nie auf einem Ball gewesen und erst recht nicht auf einem, auf dem Gerüchten zufolge die Königin und der Prinzgemahl erscheinen würden. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

Aber die Menge war so dicht, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, wurde sie die Ehrfurcht gebietende Königstreppe hinaufgeschoben, an den Wandgemälden vorbei, auf denen Menschen zu sehen waren, die an einer Balustrade standen und den Gästen zusahen, wie sie die Treppe hinaufstiegen. Anschließend ging es einen Gang entlang, an noch mehr Gemälden, kunstvoll geschnitzten Deckenornamenten und kostbaren Porzellanvasen auf französischen Konsolen vorbei. Vorbei an mit Blattgold beschlagenen Spiegeln, die es so aussehen ließen, als ob sogar noch mehr Menschen in den Palast gepfercht worden wären, obwohl es ohnehin schon ziemlich viele waren. Es war unvorstellbar, dass es in London so viele Menschen gab, die zur vornehmen Gesellschaft gehörten, so viele, die würdig sein sollten, zu diesem königlichen Ball eingeladen zu werden.

Die Flut von Menschen, die sie mitgerissen hatte, ergoss sich in den Ballsaal, und Eliza war schon wieder sprachlos. Über den Köpfen der Tänzer glitzerten mindestens fünfzehn Kristallkronleuchter mit jeweils drei Reihen von Kerzen. Die Decke erhob sich hoch über ihnen, gestützt von bis zum Boden reichenden Fenstern. Porträts von Würdenträgern säumten die Wände des Saales. Auf beiden Seiten waren mit rotem Samt bezogene Podeste aufgestellt worden, und Männer und Frauen saßen auf ihnen, als befänden sie sich in einem Park und sähen einer Parade zu, während andere eine Quadrille tanzten. In einer kleinen Nische hoch oben über dem Boden konnte sie die Musiker erkennen, deren Bögen über die Saiten ihrer Instrumente rasten, während unten schwindelerregend schnell Röcke und Masken umherwirbelten.

Es war wie Zauberei. Glitzernde, funkelnde Zauberei. Und Eliza musste sich kneifen, um sicherzugehen, dass sie das alles hier nicht träumte.

Sie hatte eine Tanzkarte bekommen, als sie den Palast betreten hatten und es wäre vielleicht das Beste gewesen, wenn sie kurz zur Seite gegangen wäre, um sie an ihrem Handgelenk zu befestigen. Aber all die Menschen hier lenkten sie ab, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um Hollis oder Caroline wiederzufinden. Aber wegen der Masken waren die Menschen schwer zu erkennen.

Im selben Augenblick rief ein kleine, dicke Frau mit einer schlichten grauen Maske, die zum Grau ihres Haarturmes passte, „Sie da!“, und zeigte auf Eliza.

Eliza sah sich um und da sie niemand anderen entdeckte, der gemeint sein konnte, deutete sie sich fragend auf die Brust.

Die Frau winkte sie ungeduldig heran, schnappte sich ihre Tanzkarte, sobald Eliza in Reichweite war und schnalzte mit der Zunge. „Da steht ja noch niemand drauf! Was soll das denn?“

Eliza wurde mit Schrecken klar, dass die Frau eine der Hostessen auf diesem Ball sein musste, vor denen Caroline sie gewarnt hatte. Sie hatten dafür zu sorgen, dass alle Tänze vergeben waren, und alle unbegleiteten Damen einen Partner hatten. „Wenn ihr nicht mit alten, lüsternen Junggesellen tanzen wollt, geht ihr denen besser aus dem Weg“, hatte Caroline ihnen geraten.

Die Frau schnaubte entrüstet und befahl Eliza, ihr Handgelenk auszustrecken, sodass sie ihre Karte daran befestigen konnte. Dann wies sie auf eine Gruppe junger Frauen. „Warten Sie dort“, sagte sie und wandte sich ab, wahrscheinlich um sich auf die Suche nach einem alten, lüsternen Junggesellen zu machen.

Eliza sah die kleine Gruppe von Frauen an, die sich in einer Ecke zusammendrängten. Also, das war ja ein schönes Grüppchen von Mauerblümchen. Eine von ihnen zupfte an ihrem Ärmel, bis sich ein Faden löste. Die Maske einer anderen war so groß geraten, dass sie ständig den Kopf nach hinten werfen musste, um sie nicht zu verlieren. Eliza war vielleicht eine alte Jungfer, aber zu dieser Gruppe würde sie sich nicht gesellen.

Sie sah sich vorsichtig nach der Hostess um, die gerade dabei war, eine andere junge Frau zu schelten, die das Pech hatte, sich von ihr ohne Tanzpartner erwischen zu lassen. Es war ihr seltsam vorgekommen, wie sich ein Mensch mithilfe eines Kleides und einer Maske von einem Augenblick zum nächsten so komplett verändern konnte, aber Eliza kam sich tatsächlich verändert vor. Früher einmal war sie schrecklich folgsam gewesen und hatte sich Mühe gegeben, es allen recht zu machen. Sie hatte geglaubt, dass gute junge Damen, die später einmal gute Ehefrauen werden wollten, sich so verhalten müssten. Aber wenn sie ihr Leben Revue passieren ließ, fand sie, dass sie sich zu viel Mühe gegeben hatte, es allen recht zu machen, denn als Mr. Asher Daughton-Cress sie gebeten hatte, Geduld zu haben und auf den Antrag zu warten, den er ihr auf jeden Fall machen würde, hatte sie seine Worte nicht bezweifelt, so naiv war sie gewesen. Sie hatte ihm vertraut, weil er sie darum gebeten hatte. Und außerdem hatte er ihr versichert, dass er sie verzweifelt lieben würde. Aber sie hatte viel zu spät herausgefunden, lange nachdem die Situation nicht mehr wiedergutzumachen gewesen war, lange nachdem alle ander schon längst erfahren hatten, was sie nicht wusste, dass er einer anderen Frau den Hof gemacht hatte.

Einer Frau, die zwanzigtausend Pfund im Jahr zur Verfügung hatte, herzlichen Dank auch.

Mit der er inzwischen verheiratet war und mit der er drei entzückende Kinder hatte.

Dieser Vorfall, über den in ganz London offenbar wochenlang geredet worden war, hatte Eliza einige wertvolle Lektionen erteilt. Erstens wollte sie nie wieder an gebrochenem Herzen leiden, denn dieser Schmerz war einfach nicht zu ertragen – sie wäre am liebsten gestorben. Sie hatte einfach nicht begreifen können, wie ein Mensch einen anderen so von Grund auf und ohne jeden Skrupel belügen konnte. Zweitens wollte sie es anderen nie wieder rechtmachen, nur damit diese zufrieden mit ihr waren. Und von diesem Prinzip wollte sie heute Abend ganz bestimmt keine Ausnahme machen. Sie hatte vielleicht nie wieder die Gelegenheit, an einem königlichen Ball teilzunehmen, und sie weigerte sich, sich an eine Gruppe von unattraktiven Mauerblümchen zu binden, mit denen die Herren nur aus Rücksicht auf die Etikette tanzten oder, schlimmer noch, um die sich lüsterne alte Kerle versammelten.

Also blickte sie sich schnell im Saal um und bemerkte, wie ein Lakai durch eine Tür schlüpfte, die als Teil einer Wand getarnt war. Sie folgte ihm mit einem Hüpfer und entkam so dem Adlerblick der Hostess. So konnte sie durch die Tür huschen, durch die der Lakai verschwunden war, ehe jemand sie aufhalten konnte.

Sie fand sich in einem Gang wieder, der vielleicht zwei Meter lang und einen Meter breit war. Am anderen Ende befand sich eine ebenso versteckte Tür. Die Wände im Inneren des Ganges waren mit Holz verkleidet und wurden von einer einzelnen Kerze in einem Wandhalter erleuchtet.

Mit anderen Worten: Eliza war nur zehn Minuten nachdem sie Kensington Palace betreten hatte, in einen Dienstbotengang geraten. Kein Wunder, dass Caroline darauf bestanden hatte, dass sie zusammenbleiben mussten damit sie nichts Ungehöriges anstellte.

Sie wollte hier nicht lange bleiben. Sie wollte nur der Hostess aus dem Weg gehen, bis die ein anderes Opfer gefunden hatte. Während Eliza darüber nachdachte, wie lange das wohl dauern konnte, wurde plötzlich die Tür am anderen Ende des Durchgangs geöffnet. Ein Diener mit einem Tablett voller Getränke auf der Schulter kam herein. Er sah sie an, als er sich auf die Tür zubewegte, durch die sie gerade hereingekommen war. „Sie sollten nicht hier sein, Madam.“

„Ich bitte um Verzeihung. Aber es herrscht so ein Gedränge im Saal, nicht wahr? Ich musste einen Augenblick allein sein.“ Sie fächelte sich mit einer übertriebenen Geste Luft zu. „Ich rühre mich nicht von der Stelle, ich schwöre.“

Der Diener zuckte mit den Schultern und nahm eins der Gläser von seinem Tablett. „Dann trinken Sie doch derweil eins von denen hier.“

„Was ist das?“

„Punsch.“

Er stieß die Tür auf, die zum Ballsaal führte, und der kleine Raum wurde von einem schrecklichen Getöse aus Stimmengewirr und Musik überflutet, ehe die Tür hinter ihm zufiel, und alles nur noch gedämpft zu hören war.

Eliza schnupperte am Punsch. Dann nippte sie daran. Dann trank sie ihn unbesonnen in einem Zug aus, das ganze Glas, denn der Punsch war köstlich. Und wie er kribbelte!

Wenige Augenblicke später kehrte der Lakai plötzlich zurück und hielt ihr sein beinahe leeres Tablett hin, sodass sie ihr Glas abstellen konnte. „Vielen Dank“, sagte Eliza kleinlaut. „Das war sehr gut.“ Sie schnappte sich das letzte Glas von seinem Tablett.

„Aye, Madam. Es ist nicht am Rum gespart worden.“ Er setzte seinen Weg fort, durch die andere Tür, hinter der Eliza das tiefe Brummen von Männerstimmen hören konnte. Und dann war es wieder still.

Wer hätte gedacht, dass Rum so köstlich war? Sie mit Sicherheit nicht. Die sanfte, verschwommene Wärme, die sich in ihr ausbreitete, gefiel ihr. Es war dieselbe Wärme, die sie abends verspürte, bevor sie einschlief oder in einem warmen Schaumbad. Aber trotzdem war es ganz anders.

Als der Lakai wenige Augenblicke später mit einem vollen Tablett zurückkam, nahm sich Eliza gerne noch ein Glas. Sie verdrehte die Augen, als er sie mit vorwurfsvoll hochgezogener Augenbraue ansah, bevor er wieder hinausging.

Sie trank einen Schluck und schloss die Augen, um das herrliche Getränk in vollen Zügen zu genießen, und dann erklärte sie sich selbst voller Begeisterung: „Der ist wirklich sehr gut.“

Wahrscheinlich war sie wegen der kribbelnden Wärme des Rums auch weniger nervös, als die Tür am anderen Ende des Durchgangs einen Spalt breit geöffnet wurde, so, als wäre derjenige stehen geblieben, der hatte hindurchgehen wollen. Sie lauschte neugierig auf die Männerstimmen, die alle die alucianische Sprache sprachen, und dann wurde die Tür plötzlich ganz aufgestoßen, und ein alucianischer Gentleman betrat den Durchgang.

Die Tür fiel hinter ihm zu.

Eliza und der maskierte Mann waren allein.

Er neigte den Kopf ganz leicht nach links, als wäre er nicht sicher, womit er es gerade zu tun hatte. Sie erwiderte neugierig seinen Blick. Er war so groß und der Durchgang so schmal, dass es ihr so vorkam, als würde sie an die Wand gedrückt. Aber dem Rum sei Dank fühlte sie sich beschwingt und war nicht besorgt, und mithilfe der Wand gelang es ihr sogar, einen Knicks zu machen und zu sagen: „Wie geht es Ihnen?“

Der Alucianer antwortete nicht.

Wahrscheinlich sprach er gar kein Englisch. Oder vielleicht war er schüchtern. Wenn er schrecklich schüchtern war, hatte er Mitleid verdient. Sie hatte früher einmal eine Freundin gehabt, die jedes Mal tagelang unter fürchterlichen Bauchschmerzen litt, wenn sie gezwungen war, sich in Gesellschaft zu begeben. Inzwischen war sie verheiratet und hatte sechs Kinder. Offensichtlich war sie außerhalb gesellschaftlicher Anlässe nicht schüchtern.

Eliza hob ihr Glas und bewegte es hin und her wie ein Uhrenpendel. „Haben Sie schon den Punsch probiert?“

Er sah ihr Glas an.

„Er ist köstlich“, verkündete sie und trank noch mehr davon. Sie trank ihn beinahe zur Hälfte aus. Und dann kicherte sie über ihre eigene Dreistigkeit. Sie hatte das meiste wieder vergessen, was sie über die guten Sitten gelernt hatte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass allgemein die Nase gerümpft wurde, wenn jemand zu viel trank. „Ich wusste gar nicht, dass ich so durstig bin.“

Er stand schweigend da.

„Es muss an der Sprache liegen“, murmelte sie in sich hinein. „Sprechen Sie Englisch?“, fragte sie und gab sich dabei Mühe, jedes Wort möglichst deutlich auszusprechen, während sie auf ihren Mund zeigte.

„Aber natürlich.“

„Oh.“ Na gut. Sie hatte keine Ahnung, was einen Gentleman dazu veranlassen mochte, kein Wort über die Lippen zu bringen, wenn er genau verstanden hatte, was zu ihm gesagt wurde, aber Eliza war im Grunde genommen besorgter darüber, was aus dem Lakaien geworden war als wegen des alucianischen Fremden. „Wollten Sie hineingehen?“, fragte sie und zeigte auf die Tür zum Ballsaal.

„Noch nicht.“

Der glatt rasierte, hochgewachsene Mann hatte dichtes tabakbraunes Haar und trug eine makellose Krawatte. Er sprach mit einem wunderbaren Akzent. Sie fand, es klang wie eine Mischung aus Französisch und etwas anderem. Spanisch vielleicht? Nein, etwas ganz anderes. „Wie gefällt Ihnen London?“ Es war ihr im Grunde genommen gleich, aber es erschien ihr noch merkwürdiger, einen Gentleman anzusehen, wenn man sich allein mit ihm in einem engen Durchgang befand, ohne sich zumindest Mühe zu geben, eine Unterhaltung mit ihm zu führen.

„Sehr gut, danke der Nachfrage.“

Die Tür hinter ihm wurde aufgestoßen und hätte den Gentleman beinahe in den Rücken getroffen. Der Lakai trat ein. „Verzeihung“, sagte er und verneigte sich ehrerbietig vor dem alucianischen Gentleman. Eliza fand es seltsam, dass der Lakai dem Alucianer gar keinen Punsch anbot, sondern an ihm vorbeiging, um Eliza von ihrem Glas zu befreien und ihr ein weiteres anzubieten. „Oh je. Ich sollte eigentlich nicht.“ Aber sie nahm es trotzdem.

Der Lakai verschwand in den Ballsaal.

Währenddessen beobachtete der alucianische Gentleman Eliza, als wäre sie einer der sprechenden Vögel, die man von Zeit zu Zeit auf dem Markt in Covent Garden sah.

Vielleicht war er neugierig auf ihr Getränk. „Möchten Sie einmal probieren?“, fragte sie.

Der Blick des Mannes fiel auf ihr Glas. Er kam näher. Nahe genug, damit der Rock ihres Kleides seine Beine streifte. Er beugte sich leicht vor, als ob er herausfinden wollte, was sich in ihrem Glas befand.

„Rumpunsch“, sagte sie. „Ich habe bis heute Abend noch nie Rumpunsch getrunken, aber ich habe vor, dieses Versäumnis sofort zu korrigieren. Sie werden sehen.“ Sie hob das Glas, um ihn zu necken.

Er sah sie an, und sie stellte fest, dass er erstaunlich grüne Augen hatte – ein blasses Grün wie das Eichenlaub in ihrem Garten im Herbst. Seine dunklen Wimpern waren lang und dicht. Sie hob das Glas ein Stück höher und lächelte amüsiert, weil sie felsenfest davon ausging, dass er zu gute Manieren hatte, um es zu nehmen.

Aber der Gentleman überraschte sie. Er nahm das Glas und streifte ihre Finger dabei mit seinen. Sie sah fasziniert zu, als er sich das Glas an die Lippen setzte und einen Schluck trank. Er holte ein Taschentuch aus seiner Jackentasche, wischte das Glas an der Stelle ab, an der er es mit den Lippen berührt hatte und gab es ihr zurück. „Je, der ist sehr gut.“

Seine Stimme umgab sie wie ein Schal und lag schwerelos auf ihrer Haut. „Hätten Sie gern ein eigenes Glas? Dieser Lakai und ich haben eine Abmachung.“ Sie lächelte.

Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Er schüttelte ganz leicht den Kopf.

Während sie weiter am Punsch nippte, musterte sie diese wunderbare Gestalt. „Warum sind Sie hier und nicht dort draußen?“

Er ließ eine dunkle Augenbraue über den Rand seiner Maske schnellen. „Dasselbe könnte man Sie fragen.“

„Nun ja, Sir, zufällig habe ich sehr gute Gründe hier zu sein. Eine der Hostessen war mit meiner Tanzkarte unzufrieden.“

Beiläufig blickte er zu ihrem Dekolleté, und Eliza wurde flau unter seinem Blick.

„Ich bin keine besonders gute Tänzerin“, gab sie zu. „Wahrscheinlich hat jeder Mensch so seine Talente, aber das Tanzen gehört nicht zu meinen.“ Sie lachte, weil es ihr amüsant vorkam, dass sie einem Fremden diese unverzeihliche gesellschaftliche Sünde gestand. Dieser Rumpunsch hatte wirklich eine magische Wirkung.

Der Alucianer rückte näher an sie heran – ihr Reifrock raschelte, als er sein Bein an ihres drückte. Sein Blick glitt über ihre Maske und folgte ihrem Schwung über ihrem Kopf. „Ich vermute, dass Sie nichts dagegen hätten, mir Ihr persönliches Talent zu verraten“, sagte er mit überdeutlicher Betonung.

Eliza wusste nicht, ob es am Rum lag oder am männlichen Brummen seiner Stimme bei dieser Frage, aber ihr wurde schwindelig und noch wärmer als ohnehin schon. Sie musste einen Augenblick lang nachdenken. Was hatte sie für Talente? Uhren reparieren? Stickerei? Oder war ihr Talent etwas so Gewöhnliches wie sich um ihren Vater zu kümmern? Sie war sich sicher, dass ihre Schwester und ihre Freundin entsetzt gewesen wären, wenn sie einem Gentleman gegenüber irgendetwas davon verraten hätte. Das durfte sie nicht, aber sein Blick war so durchdringend, dass sie vorübergehend sprachlos und ein kleines bisschen rührselig wurde.

Nein, das war nicht richtig. Der Punsch sorgte dafür, dass sie rührselig wurde.

Sein Blick war suchend. Er ließ ihn vom oberen Teil ihrer Maske zu ihrem Mund und dann weiter zu ihrem Dekolleté und den lächerlichen Blütenzweigen wandern und zu ihrer Taille. Als er den Blick wieder hob, waren seine Augen dunkel geworden, und der Glanz darin verwandelte ihr Blut in einen brennenden Fluss. Auf einmal kam es ihr so vor, als wäre die Luft aus dem Durchgang gesogen worden, und sie versuchte, sich hinter ihrem Glas zu verstecken und kurze, kleine Atemzüge zu machen, weil sie sich plötzlich selbst nicht mehr zutraute, nichts sehr Dummes zu tun. Wie zum Beispiel sein Gesicht zu berühren. Sie verspürte das verrückte Bedürfnis, ihre Fingerspitzen auf seine hohen Wangenknochen zu drücken.

Er sah ihren Mund an und sagte: „Wollten Sie mir nicht von Ihren Talenten erzählen?“

„Nein, ganz und gar nicht“, entgegnete sie, und dabei schien ihre eigene Stimme von irgendwo außerhalb zu kommen.

Er senkte den Blick, der an dem kleinen goldenen Blumenstrauß zwischen ihren Brüsten hängen blieb. „Sind Sie ganz sicher? Es interessiert mich sehr.“

Er hatte vor, sie zu verführen. Das war aufregend und amüsant und so schrecklich albern. „Ihre Bemühungen sind sicherlich bewundernswert, aber Sie werden damit keinen Erfolg haben“, verkündete sie stolz. „Ich bin nicht so leicht zu verführen.“ Nur war das nicht ganz richtig. Sie mochte auf jeden Fall das Gefühl, verführt zu werden. Es war lange her, dass irgendjemand auch nur daran gedacht hatte, es zu versuchen, und auch wenn sie in diesem schmalen Durchgang zusammengepfercht waren, und sie sich mit Sicherheit einen anderen Platz ausgesucht hätte, um verführt zu werden, gefiel ihr der Gedanke, dass dieser Ball so anfangen sollte. Die Spannung knisterte in ihr.

Wahrscheinlich war es ein Glück, dass sie zumindest noch so geistesgegenwärtig war, zu bemerken, dass sie eigentlich nicht zulassen durfte, dass ein vollkommen Fremder sie verführte.

Der Gentleman kam kaum merklich näher, und seine männliche Ausstrahlung, die sie mit unverkennbarer Macht spürte, hielt sie gefangen. Er hob die Hand und fuhr ihr schamlos und sehr langsam mit dem Finger übers Schlüsselbein. Dabei überliefen sie wohlige Schauer. „War es nicht das, was Sie vorhatten? Sich einfach so in einem dunklen Durchgang verführen zu lassen?“

Sie schnaubte vor Lachen. Das lächerliche Selbstvertrauen von Männern, die glaubten, dass jede Frau, die in ihre Nähe kam, von ihnen verführt werden wollte! „Ich habe vor, Punsch zu trinken und der Hostess im Ballsaal aus dem Weg zu gehen.“ Sie schlang ihm die Finger fest ums Handgelenk und schob seine Hand weg. „Sie sind sehr überzeugt von sich, Sir. Aber ich muss Sie darüber aufklären, dass eine Frau es nicht unbedingt auf Ihre Annäherungsversuche anlegt, nur weil sie in einem Durchgang steht und ein bisschen Rum getrunken hat.“

Er lächelte selbstzufrieden. „Sie wären überrascht. Was sollte eine Frau sonst für einen Grund haben, in diesem Durchgang zu lauern?“

„Ich kann mir Hunderte von anderen Gründen vorstellen.“ Sie konnte sich nur einen vorstellen. „Und ich kenne mich selbst sehr gut, ich würde mich nie in einem dunklen Gang verführen lassen. Wenn Sie also bitte Abstand von mir halten würden.“

Er musterte sie beiläufig von Kopf bis Fuß und trat dann zur Seite.

Eliza nippte noch einmal am Punsch, als ob ihr das alles überhaupt nichts ausmachte, aber in Wirklichkeit hatte sie das Gefühl, ihre Haut stünde in Flammen. Ihr Puls flatterte. Und ein Gedanke ließ sich nicht abschütteln. Der alucianische Gentleman war groß und hatte wunderschöne Augen. Er war ziemlich anziehend. Wer sollte schon davon erfahren? Ihr hätte es überhaupt nichts ausgemacht, auf einem königlichen Ball geküsst zu werden… aber sie wollte auch nicht das Risiko eingehen, entdeckt und hinausgeworfen zu werden, ehe sie die Bekanntschaft des Prinzen gemacht hatte.

Wie der Zufall es wollte, wurde die Tür geöffnet, und ein weiterer Alucianer trat herein. Er blieb stehen und starrte sie erschrocken an. Er sah an ihr vorbei den fremden Gentleman an und sagte etwas in ihrer eigenen Sprache zu ihm. Der Gentleman antwortete ruhig und ging an Eliza vorbei, als ob sie kein Wort miteinander gewechselt hätten. Dann verschwand er in den Ballsaal, ohne auch nur guten Abend zu sagen.

Die Tür fiel hinter den beiden zu.

Die Tür am anderen Ende wurde geöffnet, und der Lakai kam noch einmal mit einem Tablett mit Getränken herein. „Madam, Sie sollten wirklich nicht hier sein“, sagte er noch einmal.

„Schon gut, ich gehe“, entgegnete sie und folgte mit ihrem Glas in der Hand den Alucianern in den Ballsaal.

Sie sah sofort die Hostess, die den Saal beobachtete wie ein Adler aus großer Höhe ein Tal betrachtet. Also drehte Eliza sich um und entfernte sich schnell von der Gruppe von unerwünschten Tanzpartnerinnen. Sie umrundete die Tanzfläche, und als sie schließlich stehen blieb, um sich umzusehen, stellte sie fest, dass sie sich zu einer Gruppe von Frauen gesellt hatte. Das hier war so etwas wie eine Versammlung. Zwei ältere Frauen waren sogar dabei, die jungen Frauen zusammenzutreiben wie zwei Hütehunde.

Und so war Eliza in die Schlange derjenigen geraten, die dem Prinzen vorgestellt werden sollten.

Das war ihr zuerst gar nicht klar gewesen – sie war zu gefesselt von der Jugend und Schönheit der Damen. Jede von ihnen trug eine hübsche Maske und ein schönes Kleid, und ihre Haltung war voller spürbarem Selbstvertrauen, ganz anders als die Mauerblümchen auf der anderen Seite des Saales. Hier gehörte sie hin.

Eliza hielt es für das Beste, wenn sie ihr viertes Glas Rumpunsch loswurde, damit das prickelnde Gefühl sich nicht bis hin zu ihrer Zunge ausbreiten konnte – falls das nicht schon zu spät war –, und als sie sich vorbeugte, um sich im Kreise der Damen umzusehen, bemerkte sie eine Gruppe alucianischer Männer. Neugierig tippte Eliza einer schlanken, großen Frau, die vor ihr stand, auf die makellose Schulter.

Die Frau drehte sich um. Sie hatte dunkles Haar und hatte eine kunstvoll gefertigte Maske auf, um deren Augenlöcher herum Pfauenfedern arrangiert worden waren. Das Blau und Grün der Pfauenfedern passten zum Blau ihres Kleides. Die Frau blinzelte durch ihre Maske, als sie Eliza ansah.

„Ich bitte um Verzeihung, aber wer ist das?“, fragte Eliza und zeigte mit einem Nicken auf die Gentlemen.

Die Frau blinzelte. „Ich würde sagen, die eigentlich Frage ist, wer sind Sie?“, erwiderte sie schnippisch.

„Eliza Tricklebank.“ Sie sank in einen kleinen Knicks. „Es freut mich sehr, Sie …“

„Sie haben nichts in dieser Schlange zu suchen“, unterbrach die Frau sie. „Diese Schlange ist nur ausgewählten Gästen vorbehalten. Sie brauchen eine Einladung von Lady Marlborough. Hat Lady Marlborough Sie eingeladen?“

Der Punsch verlieh Eliza genug Dreistigkeit, um zu lachen. Man brauchte eine Einladung, um Schlange zu stehen? Aber der Pfau sah sie mit gerunzelter Stirn an, deswegen sagte Eliza: „Aber natürlich!“ Und dann schnaubte sie, als ob es vollkommen lächerlich wäre, ihr überhaupt diese Frage zu stellen.

„Wirklich“, meinte die Frau kühl.

„Wirklich.“ Eliza nickte nachdrücklich. „Sie hat zu mir gesagt, dass ich mich hier hinter Sie stellen soll.“

Der Pfau schien ihr kein Wort zu glauben, aber sie fragte nicht noch einmal nach. Sie wandte Eliza den Rücken zu und flüsterte mit ihrer Begleitung.

Brauchte man wirklich eine Einladung, um Schlange zu stehen? Und wofür eigentlich? Eliza konnte sich eigentlich nicht vorstellen, warum irgendjemand Schlange stehen sollte, um jemand anderen kennenzulernen, es sei denn, es ginge um jemand, der schrecklich wichtig war. Oder reich. Wichtig und reich und gerade dabei, Säcke mit Geld zu verteilen. Das war eine Schlange, in die sie sich bereitwillig gestellt hätte.

Oder wenn es die Schlange war, um die Königin kennenzulernen oder irgendeinen anderen Adligen …

Plötzlich wurde Eliza so klar, was ihr bevorstand, als ob ein himmlisches Leuchtfeuer ihren Weg erhellt hätte. Natürlich! Sie beugte sich noch einmal vor. Die alucianischen Gentlemen, die alle in feinste schwarze Wolle, weiße Westen und absolut gleich aussehende Masken gekleidet waren, waren nur der Haarfarbe nach zu unterscheiden. Die bei näherem Hinsehen ziemlich ähnlich war, denn bei ihnen allen war es ein dunkelgoldenes Braun, genau wie bei dem Gentleman im Durchgang. Sie waren auch alle ähnlich groß. Einer von ihnen war möglicherweise ein paar Zentimeter größer als die anderen. Ein anderer ein paar Zentimeter kleiner. Und seltsamerweise waren sie alle glatt rasiert. Caroline hatte gesagt, der Kronprinz habe einen Bart.

Es musste der Jüngere sein! Sie stand in der Schlange, um einen der beiden alucianischen Prinzen kennenzulernen! Eliza war außer sich vor Übermut. Sie hätte kichern können und fühlte sich rastlos und sah sich noch einmal in der Hoffnung um, ihre Schwester zu entdecken, die es Eliza nie verziehen würde, wenn sie einen Prinzen kennengelernt hätte, sie selbst aber nicht.

Doch Hollis war nirgendwo zu sehen, also nippte Eliza an ihrem Punsch und tippte der Frau noch einmal auf die Schulter. Die Frau wandte sich ungehalten um. „Was ist denn?“

„Geht es um den Prinzen?“

Die hübsche Maske konnte nicht verdecken, dass die andere die Augen verdrehte.

„Du lieber Gott, Miss Tricklebank. Sie haben wirklich unmissverständlich klargemacht, dass sie in dieser Schlange nichts verloren haben. Sie sollten lieber verschwinden, bevor Lady Marlborough Sie sieht.“ Und dann drehte sie sich abrupt um und kehrte Eliza den Rücken zu.

Eliza hatte nicht vor ihren Platz zu räumen, nicht jetzt, da der Prinz nur wenige Meter von ihr entfernt war. Und da sie nichts gefunden hatte, um ihren Rumpunsch abzustellen, trank sie weiter davon, während die Schlange sich langsam voranbewegte, und machte sich einen Spaß daraus, sich auszumalen, wie man sie wohl vorstellen würde. Miss Eliza Tricklebank. Miss Eliza Tricklebank. Miss Eliza Tricklebank von den Tricklebanks am Bedford Square. Nicht zu verwechseln mit den Tricklebanks aus Cheapside, denn nach dem Tod ihres Großvaters war ein Riss durch die Familie gegangen.

Sie beugte sich wieder vor, um an den Damen vorbeischauen zu können und musterte die Gentlemen. Der in der Mitte kam ihr seltsam bekannt vor.

Nein. In ihrem Magen begann es unangenehm zu flattern. Das war doch nicht möglich! War das möglich? Du lieber Gott, es war natürlich möglich. Das war genau der Gentleman, dem sie in dem Durchgang begegnet war. War es der Prinz, der versucht hatte, sie zu verführen? Hollis würde in Ohnmacht fallen vor Schreck. Eliza vielleicht auch. Er hatte an ihrem Punsch genippt. Der Prinz! Der jüngere Prinz …

Nein. Nein, das konnte nicht sein, ging ihr plötzlich auf. Es war der Kronprinz, der auf der Suche nach einer Ehefrau war. Er musste es sein – warum sonst hätten sich all diese Frauen aufgereiht wie die Kälber, um ihn kennenzulernen?

Sie schien plötzlich nicht mehr atmen zu können. Wenn sie nur daran dachte, wie nah sie dem Kronprinzen gekommen war. Sie hätte ihn küssen können! Sie hätte es beinahe getan! Er war der Kronprinz!

Sie atmete tief ein und zwang sich, sich zu beruhigen.

Er kam ihr jetzt sogar ein bisschen steif vor. Er strahlte nicht mehr dieselbe Hitze aus wie in dem Durchgang, sprudelte nicht mehr vor verführerischer Kraft. Im Augenblick sah er so aus, als ob er vor Langeweile gleich sterben würde. Eliza fand, er könnte zumindest freundlich tun, wenn er auf der Suche nach einer Ehefrau war. Aber sie nahm sich dennoch großzügig vor, ihn nicht vorschnell zu verurteilen – vielleicht war seine Steifheit einem schmerzenden Rücken geschuldet, den er sich beim Reiten zugezogen hatte. Oder im Krieg. Hatte ihr Vater nicht gesagt, dass es Gefechte mit den Weslorianern gegeben hätte?

Was auch immer der Grund sein mochte, er war auf jeden Fall nicht begeistert von der Situation. Vor allem nicht so begeistert wie der schlanke junge Mann, der immer wieder junge Damen zu ihm geleitete. Also dieser Mann lächelte jeder einzelnen Dame bereitwillig zu. Er bewegte sich merkwürdig, und ihr fiel auf, dass er sich mit einer behandschuhten Hand die Seite hielt. Sie schien missgebildet zu sein, offenbar benutzte er ausschließlich seine rechte Hand.

Eine nach der anderen brachte der kleinere Gentleman die Damen nach vorne, und eine nach der anderen knickste vor dem Prinzen. Er schien kein Wort zu sagen, sondern nur höflich mit dem Kopf zu nicken und sich dann abzuwenden, um das Gespräch mit den anderen Alucianern fortzusetzen. Das kam Eliza erschreckend unhöflich vor.

Sie fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn er sie sah. Ob er das Ganze amüsant finden würde? Vielleicht konnte sie ihm den Rest von ihrem Punsch anbieten. Oder vielleicht machte er eine Bemerkung über ihren Durst danach und bot ihr seinerseits einen Punsch an. Vielleicht lachten sie gemeinsam. „Oh je, ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie das in dem Durchgang gewesen sind!“

Dem Pfau würde das nicht gefallen.

Eliza malte sich aus, wie sie vor ihm in einen tiefen Knicks sank. Sie würde „Enchanté“ sagen, weil er mit Sicherheit Französisch sprach, die Sprache der königlichen Höfe. Er würde die Hand ausstrecken, um ihr aufzuhelfen, und vielleicht würde er lächeln und in perfektem Französisch sagen, dass der Ball sehr schön sei und fragen, wie er ihr gefalle? Und sie würde, ebenfalls in perfektem Französisch, das ganz plötzlich viel besser geworden war, sagen, dass es ihr sehr gut gefalle. Er würde fragen, ob sie schon Einträge auf ihrer Tanzkarte habe, und wenn sie zugab, dass sie keine hatte, würde er sie an allen anderen Damen vorbei auf die Tanzfläche führen.

„Weiter!“, zischte jemand hinter ihr.

„Oh! Verzeihung“, sagte sie und hüpfte nach vorn, als ob sie ein Kinderspiel spielen würde.

Die Vorstellungen liefen weiter wie am Schnürchen. Es war jedes Mal dasselbe – der begeisterte Alucianer stellte eine Dame vor, die Dame machte ein paar aufgeregte Bemerkungen und der Prinz nickte und wandte sich dann ab. Dann musste der arme Mann, der die Damen vorstellte, sich Mühe geben, erneut seine Aufmerksamkeit zu erregen. Einige der Damen waren das Warten leid und zogen von dannen, um zu tanzen. Andere warteten brav, bis sie an der Reihe waren, Eliza unter ihnen. Warum auch nicht? Sie war erfüllt von einem so sprudelnden Gefühl, dass sie nicht aufhören konnte zu lächeln, vor allem wenn sie sich in dem reich geschmückten Ballsaal mit all seinen wunderschönen Menschen umsah – wunderschönen Masken zumindest. Sie war im Kensington Palace auf einem königlichen Ball. Der Kronprinz von Alucia hatte an ihrem Punsch genippt!

Aber gerade, als Eliza beinahe beim Prinzen angekommen war und sich die passenden Worte zurechtgelegt hatte – nur der Pfau stand noch vor ihr – da sagte der Prinz etwas zu dem Mann, der ihm die Damen vorstellte und wollte sich zurückziehen. Der Pfau erstarrte unentschlossen. Ihre Begleiterin sah sie an, und hinter ihrer Maske war deutlich zu erkennen, wie erschrocken sie war. Eliza war klar, was die beiden dachten – dass eine der beiden Freundinnen vorgestellt wurde, die andere aber nicht, das war undenkbar.

Eliza stieß sie an. „Gehen Sie! Wir können ihn vielleicht doch noch kennenlernen …“

Da wirbelte der Pfau plötzlich zu ihr herum. „Schubsen Sie mich nicht, Miss Tricklebank. Ist Ihnen denn nicht bewusst, dass sie viel zu alt für diese Schlange sind?“

„Was?“ Ein Höchstalter gab es auch noch? Es war keine Zeit, darüber zu streiten – der Prinz ging weg, ohne sich noch einmal nach ihnen umzublicken, und Eliza musste dabei zusehen, wie ihre Chance ihr durch die Finger glitt. Sie hatte ausreichend Rumpunsch getrunken und war mutig genug, um an der erstarrten Frau vorbeizuspringen und herauszuplatzen: „Willkommen in England!“, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Später war Eliza überzeugt davon, dass Prinz Sebastian sie nie auch nur wahrgenommen hätte, wenn sie sich ihm nicht quasi in den Weg geworfen hätte, als er sich mit langen Schritten in Bewegung setzte und ihr unglücklicherweise heftig auf den Fuß trat.

Eliza schnappte vor Überraschung und Schmerz nach Luft.

„Ich bitte um Verzeihung, ist alles in Ordnung?“ Er nahm so schnell er konnte seinen sehr großen und schweren Fuß von ihrem.

„Schon gut“, sagte sie atemlos und streckte die Hand aus, als wäre er nur der Schlachter, der ihr gerade ein besonders gutes Schweinekotelett angeboten hatte. „Miss Eliza Tricklebank.“

Er sah ihre behandschuhte Hand an, als ob er nicht die leiseste Ahnung hätte, was er damit anfangen sollte. Eliza lächelte hoffnungsvoll. Zögernd und vorsichtig ergriff er ihre Hand, die ihr riesengroß vorkam und verneigte sich darüber. „Madam.“

Als sie spürte, wie seine starke Hand ihre so vorsichtig festhielt, wurde ihr ganz warm. Es war der Reiz des erreichten Ziels, die Aufregung, einen echten Prinzen kennenzulernen und das gleich zweimal. „Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Eure Majestät. Eure königliche Majestät.“ Sie lächelte strahlend. „Offiziell. Wir haben uns ja vorhin schon getroffen.“ Sie strahlte ihn an.

„Sir“, sagte einer der Alucianer, und der Prinz ließ ihre Hand los und wandte sich von ihr ab. Ehe Eliza überhaupt Luft schnappen konnte, war er schon in der Gruppe von Alucianern verschwunden und weitergegangen.

Der Mann, der dem Prinzen die Damen vorgestellt hatte, tauchte plötzlich neben Eliza auf. „Sind Sie verletzt, Madam? Soll sich jemand Ihren Fuß ansehen?“

„Wie bitte? Oh, nicht nötig, ich bin nicht verletzt.“ Sie lachte ein wenig zu schrill. „Ich habe den Prinzen kennengelernt“, sagte sie zu ihm.

Der Mann lächelte. „Das haben Sie allerdings.“ Er beugte sich vor und sagte: „Sie und Ihr Fuß haben vielleicht bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen.“

Eliza lachte erfreut. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Ein strahlendes, stolzes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie drehte sich um, um den Pfau anzusehen. Die Frau starrte sie mit offenem Mund an und konnte sich noch immer nicht rühren.

„Ich habe den Prinzen kennengelernt!“, wiederholte Eliza und nickte mit einem fröhlichen Lachen dem netten Alucianer zu, ehe sie wegging. Sie wusste genau, dass sich der Blick des Pfaus in ihren Rücken bohrte.

Das war noch etwas, was passierte, wenn man eine alte Jungfer war, die sich um Angehörige kümmerte. Man machte sich keine Gedanken mehr darüber, was andere von einem hielten.

3. KAPITEL

Die Gäste des königlichen Maskenballs kamen in den Genuss von Darbietungen dreier alucianischer Tänze, die allesamt eine kunstvolle Schrittfolge und dazu eine Beweglichkeit und Präzision verlangten, die ein gewisser Minister nachweislich nicht mehr besaß, von dem viele glauben, er hätte seine besten Tage hinter sich.

Meine Damen, wenn Ihr wunderschönes Ballkleid in Mitleidenschaft gezogen worden sein sollte, denken Sie daran, dass ein Teelöffel Madeirawein auf eine Gallone Wasser hilft, den Fleck zu entfernen.

– aus Honeycutts Mode- und Haushaltsmagazin für Damen

Sebastian Charles Iver Chartier, Kronprinz des Königreiches Alucia und Herzog von Sansonleon war warm unter dieser verdammten Maske, und er brauchte dringend noch mehr von diesem exzellenten Rumpunsch. Aber er hätte alles genommen, womit er seinen Durst hätte stillen können.

Was ihm an Bällen und Versammlungen und Staatsbanketten überhaupt nicht gefiel, waren die vielen Erwartungen, die er erfüllen musste, die vielen Menschen, die zufriedengestellt werden wollten. Und offensichtlich, wenn man dem Kapitän seiner Leibgarde glauben durfte, zu viele Gefahren, die um ihn herum unter Reifröcken und Frackschößen lauerten. Er durfte von keinem der Diener etwas zu trinken annehmen. Das Protokoll wollte, dass er etwas zu trinken oder zu essen nur von einem Alucianer akzeptieren durfte. Nachdem es von einem Alucianer vorgekostet worden war. Und die Alucianer waren so pflichtbewusst, dass selbst ein vernünftiger Mensch auf den Gedanken kommen konnte, dass hinter jeder Ecke ganze Horden von Rebellen nur darauf warteten, ihn vergiften zu können.

Sebastian hatte ebenfalls etwas dagegen, dass unbedingt getanzt werden musste. Er war kein schlechter Tänzer, ganz im Gegenteil. Seine Stellung in der Welt verlangte von ihm, dass er ein geschickter Tänzer war, und um sicherzugehen, hatten seine Eltern für ihn die besten Tanzlehrer engagiert, als er noch ein Kind gewesen war. Aber es machte ihm trotzdem keinen besonderen Spaß. Er war nicht besonders gut darin, oberflächliche Gespräche zu führen und wurde einsilbig, wenn er immer wieder dieselben Fragen beantworten musste, während er versuchte, sich alle Namen zu merken. Er war ganz und gar kein guter Gesellschafter, nicht wie sein Bruder Leopold.

Sebastian saß lieber auf dem Rücken eines Pferdes. Oder in einem Spielsalon mit ein paar engen Freunden. Oder er schrieb. Im Augenblick befasste er sich mit der sorgfältigen Aufzeichnung der alucianischen Militärgeschichte. Das Thema war spannend, aber seine Bekannten teilten sein Interesse an der Vergangenheit nicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre Sebastian zufrieden gewesen, in seinem Arbeitszimmer zu bleiben und seine Dokumente und Bücher zu lesen. Er kam lange ohne Gesellschaft aus. Zumindest glaubte er, dass es so war. Er wusste nicht so genau, ob es sich wirklich so verhielt, denn als Erbes des alucianischen Throns war er dazu gezwungen, ein widersprüchliches Privatleben zu führen, bei dem ständig verschiedene Menschen anwesend waren. Dienstboten. Sekretäre. Berater. Wachen.

Und unter Beobachtung der Öffentlichkeit, von der er doch eigentlich abgeschirmt werden sollte. Die Menschen waren gut darin, hinter die Kulissen zu blicken. Jeder seiner Schritte wurde aufgezeichnet.

Das erklärte vielleicht auch seine Abneigung gegen Veranstaltungen wie diese hier. Er war von Menschen umgeben, die er nicht kannte und die sich darum rissen, in seiner Nähe zu sein. Menschen, die dieselbe Luft atmen wollten wie er und ihm viel zu nahe kamen. Es war ärgerlich und manchmal richtiggehend angsteinflößend. Einmal, als er zur Taufe ihres neuesten Kriegsschiffes geschickt worden war, waren zwei Männer wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatten ihm die Hände auf die Schultern gelegt und versucht ihn gefangen zu nehmen oder ins Meer zu werfen, ehe die alucianische Wache sich auf sie gestürzt und sie aufgehalten hatte.

In großen Gruppen kam er sich wie ein Tier im Käfig vor, ein seltenes Wesen, das ständig zur Schau gestellt wurde.

Dieser spezielle Ball war geplant worden, bevor er überhaupt einen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, ein Gefallen der englischen Krone an die alucianische Krone. Die Verhandlungen waren von Sebastians Privatsekretär Matous Reyno geführt worden. Matous war auch auf die Idee mit den Masken gekommen.

Matous war schon seit vielen Jahren bei Sebastian, er diente ihm seit seinem fünfzehnten Geburtstag und der Ernennung zum Kronprinzen. Das war jetzt siebzehn Jahre her.

Abgesehen vom engsten Familienkreis, vertraute Sebastian keinem so sehr wie Matous. Das sagte eine Menge über den Mann aus, denn die Chartiers hielten ansonsten niemanden am alucianischen Hof für vertrauenswürdig. Seit dem Zerwürfnis zwischen Sebastians Vater König Karl und seinem älteren Halbbruder Felix, dem Herzog von Kenbulrook, herrschte eine Atmosphäre, die von Misstrauen und Betrug geprägt war und ihn bis nach England verfolgt hatte.

Sebastian hatte keine wirkliche Angst davor, betrogen zu werden – er glaubte an das Gute in den Menschen und hatte seinem Vater gegenüber mehr als einmal angedeutet, dass das Zerwürfnis zwischen ihm und seinem Halbbruder durchaus geklärt werden konnte. Manchmal täten Männer, wenn sie jung waren, eben Dinge, die unklug seien, hatte er erklärt.

Sein Vater hatte nicht geantwortet und ihm einen mörderischen Blick zugeworfen.

Die Angst seines Vaters, dass alle Männer von Felix geschickt worden sein könnten, um ihnen etwas anzutun, war allen Mitgliedern der königlichen Familie in Fleisch und Blut übergegangen. Während sie sich also in England aufhielten, galten alle und alles als verdächtig.

Dieses allumfassende Misstrauen hatte auch dazu geführt, dass Matous vorgeschlagen hatte, dass sie alle Masken und zwar die gleichen tragen sollten, sodass Sebastian so etwas Ähnliches wie Privatsphäre genießen konnte. Matous hatte zugegeben, dass es nicht viel war, aber es war immerhin besser als die Schärpen, Orden und Ringe der Rittergarde zu tragen, die Sebastian normalerweise anlegen musste, wenn er einen offiziellen Ball besuchte. „Ich glaube, das ist für Sie die einzige Möglichkeit, teilzunehmen, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen. Man kann Sie nicht so leicht erkennen. Und den Engländern gefällt der Plan.“

Sebastian hatte gelacht. „Eine Seidenmaske schützt mich doch nicht vor all den Attentäter, die angeblich überall auf mich lauern.“

„Nein, Eure Hoheit, die wird Sie nicht schützen, aber Ihre Leibgarde schon. Und das Ganze könnte nützlich sein, weil es Feinde und Bedrohungen ablenkt.“

Sebastian hielt seine Feinde für zu gerissen, als dass sie sich von so einem Manöver in die Irre führen ließen, aber andererseits kam es nicht darauf an, was er glaubte. Die Krone bezahlte Männer dafür, sich mit solchen Problemen zu befassen, und deren Nervosität machte Sebastian seit seiner Ankunft vor etwa einer Woche unruhig.

Das Handelsabkommen, über das er verhandeln sollte, war überlebenswichtig für sein Land, aber vielleicht noch wichtiger für ihn. Sein Vater wollte die Sache aufgeben. Der Premierminister von Alucia hatte etwas dagegen, dass Sebastian sich in komplizierte Staatsangelegenheiten einmischte und bestand darauf, ans Militär zu denken. „Wir sollten uns auf einen Krieg mit Weslorien einstellen“, hatte er dem König geraten, „anstatt zu versuchen, ein Handelsabkommen mit einem Land abzuschließen, das so weit weg von unseren Grenzen liegt.“

Sebastian sah das anders. Die Reibereien zwischen Alucia und Weslorien hatten die Wirtschaft des Königreichs in Mitleidenschaft gezogen. Grenzkonflikte waren nicht billig und hatten ein Loch in die Staatskasse gerissen. In der Zwischenzeit hatte die alucianische Wirtschaft keinen vergleichbaren Fortschritt gemacht wie andere Länder, sie hatten nicht angefangen, Waren zu produzieren wie England oder Amerika. Ihre Wirtschaft müsse gestärkt werden, hatte er immer betont. Alucia war vielleicht nur ein kleines europäisches Königreich, aber es war reich an Bodenschätzen. Sie brauchten die Werkzeuge der Industrialisierung, die sich in England weiterentwickelt hatten als überall sonst. Die Rohstoffe, die in Alucia gewonnen wurden – Eisenerz und Kupfer zum Beispiel – konnten ihnen Englands Unterstützung einbringen, wenn es darum ging, neue, vielversprechende Wirtschaftszweige zu erschließen. Baumwolle und Weizen konnten gegen Tabak und Zucker getauscht werden.

Die Industrialisierung würde Alucia einen Vorteil verschaffen, falls es zum Krieg mit Weslorien kommen sollte, wo Onkel Felix immer weiter Zwietracht säte.

Der springende Punkt bei dem Streit zwischen den beiden Halbbrüdern war, dass Onkel Felix vor vierzig Jahren, als Karl den Thron bestiegen hatte, auf seinen Familiensitz in Weslorien verbannt worden war, aber trotzdem glaubte, dass sein Anspruch auf die Thronfolge den Vorrang vor Karls hatte.

Die Frage nach der Thronfolge war auf einen Bürgerkrieg im sechzehnten Jahrhundert zurückzuführen, als zum ersten Mal ein Chartier auf dem Thron gesessen hatte. Felix’ Familie, die Oberons, hatten diesen Konflikt verloren und sich nach Weslorien zurückgezogen und dabei die weslorischen Könige unterstützt. Sie beharrten darauf, dass der Anspruch der Chartiers auf die Macht in Alucia nicht so rechtmäßig sei wie der ihre.

Felix hatte versprochen, die Königreiche Weslorien und Alucia unter einem König zu vereinen, falls es ihm gelang, die alucianische Krone zu bekommen, und da so viele Königstreue inzwischen auf Seiten der Oberons waren, mussten die Chartiers befürchten, dass sie in einen Krieg hineingezogen werden könnten.

Sebastian wollte Weslorien und Alucia ebenfalls vereinen. Er wollte, dass die Chartiers und die Oberons und ihre Landsleute Einigkeit in der Macht der Industrialisierung und im allgemeinem Wohlstand fanden. Nicht durch die Verwüstungen des Krieges.

„Der Premierminister hält das alles für eine Dummheit“, hatte sein Vater eines Abends in seinem Arbeitszimmer zu Sebastian gesagt, als sie bis auf die beiden Lakaien, die schweigend auf Anweisungen warteten, allein gewesen waren.

„Der Premierminister sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht“, erwiderte Sebastian. „Wir können einen Krieg nur überstehen, wenn wir mit der Zeit gehen.“

Sein Vater schnaubte, sagte aber dann: „Ich bin mit deinen Plänen einverstanden, aber damit stelle ich mich gegen den Premierminister. Er hat gedroht, dass das Parlament das Handelsabkommen nicht absegnen wird, das du aushandeln willst, falls Alucia davon nicht wirklich profitiert.“

„Ich verstehe.“

„Du darfst bei den Verhandlungen auf keinen Fall die Oberhand verlieren“, sagte sein Vater warnend.

Das war Sebastian sehr bewusst. War das nicht das Ziel jeder Verhandlung?

„Aber es gibt eine Möglichkeit, wie du mich und den Premierminister zufriedenstellen und gleichzeitig einen Weg zur Unterzeichnung sichern kannst.“

„Oh? Und wie?“, fragte Sebastian neugierig.

„Bring eine Ehefrau mit nach Hause.“

„Wie bitte?“ Sebastian lachte kopfschüttelnd.

Sein Vater lachte nicht. „Wir haben lange genug gewartet. Wir müssen die Thronfolge sichern – Felix’ Sohn Arman hat zwei Kinder. England glaubt vielleicht an unseren Anspruch auf den Thron, aber Königin Viktorias Gatte, Prinz Albert, vertritt denselben Standpunkt wie sein Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha, das Felix vorzieht. Du weißt ja, dass sie, was das Eisenerz angeht, von Weslorien abhängig sind. Wir können dein Handelsabkommen und Englands Verpflichtungen uns gegenüber eher sichern, wenn du dir eine englische Braut suchst.“

Daran hatte Sebastian überhaupt nicht gedacht, aber anstatt über diesen Punkt zu diskutieren, hatte er geschwiegen. Er musste darüber nachdenken.

Sein Vater hatte ihn mit einem durchdringenden Blick angesehen. „Du bist kein junger Mann mehr. Du bist zweiunddreißig. Wir müssen die Thronfolge sichern – so einfach ist das, mein Sohn. Wenn du das nicht fertigbringst, dann steht es dir vielleicht wirklich nicht zu, dich in diese Angelegenheiten einzumischen.“

„Ich verstehe.“

„Das hoffe ich. Denk dran, dass ich eine Heiratskandidatin für dich aussuchen werde, falls du dich bis zu deiner Rückkehr noch nicht entschieden hast. Eine Braut aus Sachsen-Coburg und Gotha vielleicht.“

Sebastian hatte keine Wahl. Er musste zustimmen.

Jetzt war er in London, und die Gerüchte über einen Aufstand fühlten sich erschreckend real an, während ihm alle Bedrohungen in Alucia immer wie weit entfernt vorkamen. Seine Leibgarde war die beste des ganzen Landes, und trotzdem fühlte Sebastian sich in London schutzlos. Er hatte keine Ahnung, wie sein jüngerer Bruder Leopold so völlig unbesorgt in Cambridge studieren konnte.

„Das sind doch nur Gerüchte“, hatte Leopold schulterzuckend gesagt, als Sebastian ihn danach fragte.

Vielleicht hatte Leopold noch nichts davon gehört, dass der Rückhalt, den ihr Vater bislang genossen hatte, durch die unbarmherzige Propaganda von Felix langsam ins Wanken geriet. Das war noch etwas, das Sebastian antrieb – er glaubte, dass er Unterstützung für seinen Vater mobilisieren konnte, wenn es ihm gelang, das Land zu modernisieren.

Andererseits war es gut möglich, dass die Gerüchte gegenstandslos waren und Sebastian nur deswegen auf einmal so beunruhigend erschienen, weil er sich fern der Heimat aufhielt, und Prinz Albert Felix und Weslorien unterstützte.

Sebastian musste in dieser regelrechten Flut unverheirateter englischer Frauen die eine Frau für sich finden. Es mussten Allianzen gebildet werden, und die Minister von Alucia waren der Meinung, dass die richtige englische Braut, die starke Verbindungen zum englischen Parlament mitbrachte, zwar Unterstützung für Alucia bedeuten, aber auch den Graben zwischen Weslorien und Alucia vertiefen würde. Welche mögliche Braut die Beste war, war jedoch ein endloser Streitpunkt zwischen den Ministern, die ihn begleiteten.

Sebastian wusste, was seine Pflicht war. Der Teil der Vereinbarung mit seinem Vater, der auf eine Ehe hinauslief, bereitete ihm keine großen Sorgen. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, dass die Ehe mit einer Frau allein auf Gemeinsamkeiten und Zuneigung basieren könnte. Er hatte immer gewusst, dass es in seinem Fall um eine politische Verbindung gehen würde, genau wie bei seinen Eltern. Sie hatten ihre Pflicht dem Königreich gegenüber erfüllt und hatten den obligatorischen Erben und dann noch einen weiteren Nachfolger in die Welt gesetzt. Inzwischen lebten sie beide ihr eigenes Leben. Seine Mutter verbrachte die meiste Zeit in den Bergen auf dem herzoglichen Anwesen, und sein Vater hatte sich in der Hauptstadt Helenamar im Schloss eingerichtet. Sebastian ging davon aus, dass seine Ehe sich ähnlich entwickeln würde.

Autor

Julia London

Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA...

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