Ein Jahr im kleinen Brautladen am Strand (3in1)

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DER KLEINE BRAUTLADEN AM STRAND

»Brides by the Sea« ist der niedlichste Brautladen von ganz Cornwall. In dem kleinen Haus an der Strandpromenade werden die geheimsten Wünsche jeder Braut erfüllt: vom perfekten Kleid bis zur leckersten Hochzeitstorte. Und genau für die ist Poppy zuständig - eigentlich. Denn als plötzlich die Hochzeitsplanerin ihrer besten Freundin abspringt, muss Poppy sich um alles kümmern. Nicht zuletzt um den sexy, aber etwas mürrischen Farmer Rafe. Ist Poppy diesem Chaos wirklich gewachsen?

WINTER IM KLEINEN BRAUTLADEN AM STRAND

Vor den Fenstern des kleinen Brautladens fällt Schnee, während Sera in ihrem gemütlichen Atelier Brautkleider entwirft. Zwischen ihren Fingern werden weiße Träume wahr. Nur ihre große Schwester Alice hat Sera noch nicht einmal nach einem Kleid gefragt. Doch dann geht in deren Hochzeitsplanung so einiges schief und Sera beschließt, ihrer Schwester zu der Winterhochzeit zu verhelfen, die sie verdient - auch wenn das bedeutet, dass sie sich mit gleich zwei attraktiven Trauzeugen herumschlagen muss.

SOMMER IM KLEINEN BRAUTLADEN AM STRAND

Lilys Freundinnen aus dem »Brides by the Sea« bieten ihr einen Traumjob an: Sie soll zukünftig Hochzeitslocations im richtigen Glanz erstrahlen zu lassen. Doch es gibt ein Problem: Der selbstgefällige Kip Penryn will das Anwesen seiner Familie in einen Ort zum Heiraten verwandeln und würde damit zu einem ernsthaften Konkurrenten werden. Die Freundinnen sehen nur eine Lösung, ihn wieder loszuwerden: Lily muss Kips Schwachstelle herausfinden - am besten, indem sie bei ihm eine Hochzeit ausrichtet. Aber andererseits haben die Männer der Familie Penryn den Ruf, so umwerfend wie unzuverlässig zu sein. Braucht Lily also nichts weiter zu tun, als sich entspannt zurückzulehnen und dabei zuzusehen, wie Kip ganz von alleine scheitert?

»Witzig und erfrischend leicht«
The Times

»Gefährlich hohes Suchtpotenzial«
BBC Radio

»Erfrischend, humorvoll und romantisch.« Phillipa Ashley, Bestsellerautorin von of Summer at the Cornish Café

»Ein perfekter Urlaubsroman, der ans Herz geht.« Nummer-1-Bestsellerautroin Tracy Bloom

»Lustig und großherzig - Lily und ihre Freunde haben mich verzaubert!« Sunday-Times-Bestsellerautorin Michele Gorman

»Ein rundum gelungenes Lesevergnügen - nicht nur für Rosamunde-Pilcher-Fans.« Fränkische Nachrichten


  • Erscheinungstag 28.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751758
  • Seitenanzahl 1288
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Jane Linfoot

Ein Jahr im kleinen Brautladen am Strand (3in1)

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © 2016 by Jane Linfoot
Originaltitel: »The Little Weddingshop by the Sea«
erschienen bei: HarperImpulse,
an imprint of HarperCollins Publishers, UK

Published by arrangement with
HarperCollins Publishers Ltd., London

Covergestaltung: Bürosüd, München
Coverabbildung: n20artwork, www.buerosued.de
Redaktion: Anne Nordmann
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783955767907

www.harpercollins.de
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Für Anna, Jamie, Indi, Richard, Max, Caroline, M. und Phil.

Das Beste, woran wir uns in diesem Leben festhalten können, ist aneinander.

Audrey Hepburn

1. Kapitel

»Brides by the Sea«, in meiner Wohnung: Weiße Schrift und Tüllgardinen

DICH MAG ICH SEHR,

DOCH SCHOKOLADE NOCH MEHR …

Bei diesem Satz kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Aus hauchdünner Zuckergussglasur steche ich die Buchstaben für die Torte aus, die der Kunde bestellt hat: weiße Schrift vor sattem mokkafarbenem Hintergrund auf zartbitterem Schokobiskuit. Die Biskuitböden kommen frisch aus dem Ofen und stehen nun zum Abkühlen auf dem Rost. Von dem winzigen Tisch, meiner Arbeitsfläche, verströmen Vanillestangen und Kakaopulver ihren Duft. Ich lehne mich vor, um die Fensterluke zu öffnen und frische Luft hereinzulassen. Dabei erhasche ich einen Blick auf das türkisfarbene Meer, das in der Sonne funkelt. Als ich noch mit Brett zusammen war, lebten wir in einem Penthouse. Die Terrasse hatte Meerblick, und die Zimmer waren zur Wasserseite komplett verglast. Doch im letzten halben Jahr habe ich mein kleines Nest hier oben lieben gelernt. Das kleine Schmuckstück unterm Dach, direkt über dem Brautmodengeschäft, ist jetzt mein Zuhause.

»Poppy, Poppy! Komm schnell!« Wenn Jess nicht so laut nach mir rufen würde, könnte ich erzählen, wie ich hier gelandet bin, und in allen traurigen Einzelheiten meine Geschichte schildern. Aber wie die Dinge liegen, muss ich schnell ein Stockwerk runter zu Jess. Der Deal ist nämlich, dass ich als Gegenleistung für das mietfreie Wohnen im Dachgeschoss im Brautmodengeschäft aushelfe, wann immer ich gebraucht werde. Also springe ich die Treppe runter, immer zwei Stufen auf einmal, und meine Geschichte muss warten.

Bei Brautkleidern geht’s mit den Leuten oft durch. Zum Glück bewahrt Jess, die Inhaberin von »Brides by the Sea«, meist die Ruhe und trocknet die Tränen, die hier reichlich fließen. Ihr Rufen bedeutet daher nichts Gutes. Ich hechte nach unten, an den dunkelblauen Anzügen für die Bräutigame und den zartrosa Kleidchen für die Brautjungfern vorbei. Alle Abteilungen im Laden haben eigene Namen, die Ecke für die Brautjungfern nennen wir die Strandhütte. Ich rase durch das Schuhzimmer mit der exklusiven Auswahl an hochhackigen Schuhen und vorbei an den Hochzeitstorten und – blumen, bis ich endlich vor Jess im sogenannten Weißen Zimmer auf dem hell lackierten Holzboden lande. Jess steht atemlos vor einem Ständer mit Brautkleidern und ringt die Hände.

»Was ist los?« Schnell wische ich mir an der Schürze den Puderzucker von den Fingern. Man könnte meinen, wir wären langsam daran gewöhnt, da wir jeden Tag inmitten von Bergen von Spitze und Rüschen arbeiten. Doch Tüll, der sich an einer Kleiderpuppe bauscht, lässt mein Herz immer noch höherschlagen. Aber was versetzt Jess jetzt so in Aufruhr?

»Du kennst doch Josie Redman? Die Josie Redman?«

»Du meinst die Josie Redman aus dem Fernsehen, die in jeder Klatschzeitung auftaucht?«, frage ich. Ich weiß nicht, womit sie berühmt wurde, ich weiß nur, dass sie berühmt ist. »Dunkle Haare? Mit Schwalben-Tattoo auf dem Bein?« Keine Sorge, das Tattoo ist weniger trashig, als es klingt. »Die Promi-Frau, die zu berühmt für Big Brother ist?«

Jess nickt wie wild. An dieser Stelle scheint es mir ratsam anzumerken, dass Jess ziemlich normal ist und nicht irgendwie durchgeknallt. Jemand, der wie sie dieses Brautmodengeschäft erfolgreich gründen konnte, muss einigermaßen zurechnungsfähig sein. Angefangen hat sie mit einem Blumenladen im Erdgeschoss. Heute gehört ihr das ganze Haus mitsamt dem Brautmodenimperium, das Kundinnen aus ganz Cornwall und halb England anzieht. Dafür hat sie hart arbeiten müssen, und ein gewisses Maß an Geschäftssinn brauchte es auch.

»Das stand in der Promi-App auf meinem Handy, und auf Twitter steht es auch. Es stimmt also«, sagt Jess und schnappt nach Luft. »Sera ist gerade in ihrem Atelier, sie telefoniert mit Josies Assistentin und bespricht die Einzelheiten.« Während ihr die Worte aus dem Mund purzeln, wedelt sie aufgeregt mit den Händen.

»Welche Einzelheiten? Worum geht es denn eigentlich, Jess?«

Ich befürchte schon, Jess bekommt eine Panikattacke, wie sie sonst eigentlich nur die Brautmütter kriegen. Vorsorglich halte ich auf den Samtsofas und den vergoldeten Beistelltischchen nach Papiertaschentüchern Ausschau. Doch da kommt auch schon Sera auf ihren langen Beinen in den abgewetzten Boots die Stufen aus dem Atelier herunter.

»Das soll sie dir selbst erzählen«, bringt Jess atemlos hervor.

Sera stiefelt die Stufen hinab wie ein Statist in einem Zombiefilm. Sie schwebt den letzten Absatz herab und lässt sich in Zeitlupe in den nächsten Sessel sinken. Ihr Gesicht ist bleicher als ihr gebleichter Blondschopf.

»Was ist los, Sera?«

Da Sera sich an den abgeschnittenen Saum ihrer Shorts klammert und ihren Mund lautlos auf- und zumacht, ohne ein Wort herauszubringen, wende ich mich fragend an Jess.

»Josie Redman will, dass Seraphina East …«, mitten im Satz hört Jess auf zu quietschen und fällt in ihre normale Stimmlage zurück, »… sie will, dass Sera ihr Kleid entwirft.«

Es dauert eine Weile, bis ich begreife, was Jess gesagt hat. Tonlos bewegen sich meine Lippen zu einem »Oh mein Gott!«. Das sind unglaubliche Neuigkeiten.

Unsere Sera, die junge Frau aus dem Dorf in ihren abgerissenen Jeans, die, kaum dass sie ihr Studium beendet hatte, mit ihren Entwürfen bei Jess im Laden erschienen war. Seitdem ist viel passiert, nur die Shorts trägt sie immer noch.

Etwa zur selben Zeit hatte ich meinen festen Job in London aufgegeben und war mit Brett zusammengezogen. Ich hatte Jess gefragt, ob sie meine Hochzeitstorten in ihr Programm aufnehmen wolle. Jess hatte Sera und mich unter ihre Fittiche genommen und uns unterstützt, und sie tut das auch heute noch. Doch anders als ich mit meinen Torten, die neben Brett und seiner steilen Karriere nur eine Zweitbeschäftigung waren, ist Sera schon immer voll und ganz in ihren Kleidern und Entwürfen aufgegangen.

Seras Atelier liegt im Dachgeschoss, neben meiner kleinen Wohnung. Seit mittlerweile sieben Jahren vertreibt »Brides by the Sea« Seras Kollektionen exklusiv. Und jetzt scheinen sich ihre Arbeit und Jess’ finanzielle Unterstützung auszuzahlen. Weil sie das große Los mit dem Promi Josie Redman gezogen haben.

»Ooooooh …!«, höre ich mich diesen lang gezogenen Ton ausstoßen, wie immer, wenn ich aufgeregt bin. Und wie immer ist es mir ein bisschen peinlich. »Wie toll ist das denn, Sera?« Und wie toll ist das erst für Jess und ihren Laden! Bräute aus dem ganzen Land werden ihr die Bude einrennen, weil sie dasselbe Keid wie ihr Lieblings-Promi haben wollen. Traumhaft! »Glückwunsch euch beiden!« Ich drücke Sera. Ihre Wangen sind feucht von Freudentränen.

Gerade will ich ihr ein Taschentuch reichen, da klingelt das Telefon im Nebenzimmer. Ich werfe Jess einen wissenden Blick zu.

»Aha, ich wette, das sind die ersten Anfragen«, sage ich, ohne es selbst richtig zu glauben. Josie Redman will ein Kleid von Seraphina East, und eine Horde Bräute folgt ihr auf dem Fuße. »Dass das so schnell geht!« Doch es geht tatsächlich so schnell. In den nächsten zwei Stunden sind wir damit beschäftigt, Telefonanfragen und erste Bestellungen entgegenzunehmen. Als wir nicht mehr können und das Telefon ausstellen, ist das Auftragsbuch für das kommende halbe Jahr voll, und draußen dämmert es bereits. »Wir brauchen einen zusätzlichen Umkleideraum. Allerdings kommt es nicht nach jeder Anprobe zu einer Bestellung …« Jess denkt laut nach, während sie erschöpft in einen Lehnstuhl sinkt und sich ihre Schuhe von den Füßen streift. Sera sieht jetzt ein bisschen weniger wie ein Zombie aus. »Wie soll ich das bloß schaffen?«, fragt sie mich. Aus ihrer piepsigen Stimme sprechen neunzig Prozent Verzweiflung und zehn Prozent echte Panik. »Wir helfen dir«, versichere ich ihr, und das müssen wir auch. Sera ist eine exzellente Verkäuferin, wenn es um fremde Kleider geht, aber bei ihren eigenen versagt sie regelmäßig. Sera seufzt. »Mir fehlen doch schon bei normalen Kunden die Worte. Was, wenn es ein Promi ist?«

»Vergiss, was in der Zeitung steht. Josie ist bestimmt gar nicht so eine schlimme Zicke …« Zu spät merke ich, dass ich mich verrannt habe. »Eine Zicke?«, kreischt Sera. Mist. Manchmal scheint sie echt hinterm Mond zu leben. Kommt sie denn überhaupt nicht raus, außer mal an den Strand? »Ach, Josie wird nicht so schlimm sein, wie man sagt«, behaupte ich und hoffe, dass ich recht habe. Jess redet weiter, als hätte sie Seras Anfall nicht mitbekommen. »Solange wir mit der Herstellung und dem Nähen nachkommen … Wir brauchen einen eigenen Raum für deine Kollektion, Sera.« Platz genug haben wir. Das Gebäude hat vier Stockwerke. Deshalb konnte mir Jess auch nach der Trennung von Brett die Wohnung unterm Dach anbieten. Jess wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Poppy, sei so lieb, und hol uns was zum Anstoßen.« In Brautläden wird bevorzugt Sekt getrunken. Sekt hebt die Laune und macht keine Flecke. »Prosecco?«, frage ich. Der Kühlschrank ist voll davon. Jess sagt immer, angesäuselte Bräute sind gute Bräute, und gute Bräute sind gute Kundinnen. »Nein, für diesen Anlass brauchen wir was Hochprozentigeres«, winkt Jess meinen Vorschlag ab. »Gin Tonic. Im Schreibtisch steht eine Flasche. Ich brauche einen extragroßen, so wie die Cocktails in dem Club da, wie heißt er noch gleich? Jaggers!« Sera und ich machen große Augen und sehen uns an. »Wann warst du denn im Jaggers, Jess?«, frage ich. Da gehen doch nur zwanzigjährige Surfer hin. Jess ist mindestens doppelt so alt. Vor Unglauben überschlägt sich meine Stimme beinahe. »Oliver und ich gehen da manchmal freitagnachts hin, im Rahmen unserer ›Wir sind und bleiben Singles und haben trotzdem Spaß‹-Kneipentouren«, sagt sie so nebenbei, als wäre sie ihr ganzes Leben lang ausschließlich mit schwulen Männern durch die Bars getingelt. »Es ist eindeutig lustiger, wenn du nicht mehr krampfhaft auf der Suche bist.« Es klingt wie ein Klischee, ist aber wahr: Oliver ist schwul und im Laden für die Herrenabteilung zuständig. Davon, dass er zölibatär lebt, höre ich heute zum ersten Mal, ebenso wie von den heißen Freitagnächten in den Pubs. Gut, ich gebe zu, ich habe das letzte halbe Jahr meinen Kopf unter die Decke gesteckt, doch das scheint mir trotzdem recht unglaubwürdig. Aber wenn das Jess’ Trick ist, um Sera abzulenken, dann funktioniert er. »Ja, komm doch mal mit!«, fügt Jess fröhlich hinzu. »Ist doch besser, als sich auf dem Land zu verkriechen und zu babysitten oder was du da machst. Oder ununterbrochen zu arbeiten wie Sera.« Jess scheint zu übersehen, dass diese ununterbrochene Arbeit ihnen beiden gerade ein Vermögen einbringt. Meine Freitagabende verbringe ich bei meiner besten Freundin Cate. Ich helfe ihr mit ihren vier Kindern und den Hunden. Die Abende in ihrem Haus sind mittlerweile zu einem Ritual geworden. Ich weiß, dass ich noch nicht so weit bin, mich wieder mit einem Mann zu verabreden, aber jetzt zu den selbst ernannten Dauer-Singles gezählt zu werden und mit ihnen auf Kneipentour gehen zu sollen, das setzt mir dann doch zu. Sera hingegen scheint tatsächlich mit ihrer Arbeit verheiratet zu sein. Ich umgehe die Bar-Einladung galant, indem ich zum Kühlschrank marschiere und Eiswürfel hole. Als ich zurückkomme, ist Jess schon beim nächsten Thema. Ich reiche ihr das Glas Gin mit den klimpernden Eiswürfeln, und sie bedeutet mir, dass ich mich zu ihr setzen soll. »Für dich sind das ja auch gute Nachrichten, Poppy.« Jess blickt mich über den Rand ihrer Prada-Lesebrille an, die ihr halb die Nase runtergerutscht ist. Wahrscheinlich hat sie die Brille vergessen, nachdem sie vorhin ihr Auftragsbuch vollgeschrieben hat. Sie hängt zwar in angesagten Cocktail-Bars ab und hat die neuesten Apps auf ihrem Handy, aber ein Buchungssystem auf dem Computer hat sie nicht. »Was?«, frage ich, aber es hat keinen Sinn, sich dumm zu stellen. Das flaue Gefühl im Magen sagt mir genau, was gleich kommt, und ich wünschte, Jess würde es nicht sagen. »Dein Kleid. Das Kleid, über das wir eigentlich nicht reden …« Sie schwenkt den Gin in ihrem Glas. Natürlich weiß ich, welches Kleid sie meint. Klar. Das Kleid, das ich erstanden habe, als Sera vor einigen Monaten im kleinen Kreis einige Einzelstücke aus ihrem Atelier verkauft hat. Ich wollte nur kurz einen Blick auf die Kleider werfen, bevor die anderen Gäste kamen. Es endete damit, dass ich mein Traumbrautkleid gefunden habe und es schließlich kaufen musste. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich schon mein ganzes Leben von einer Hochzeit in Weiß träume. Das fing schon als kleines Mädchen an, als ich mich mit meinen besten Freundinnen Cate und Immie in Tüllgardinen gehüllt habe und dann mit meinem Barbie-Krönchen im Garten umherstolziert bin. Da waren wir noch nicht mal in der Vorschule. Heute frage ich mich manchmal, ob mein Heiratswahn daher kommt, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Wie auch immer, nachdem ich also schon ewig darauf gewartet hatte, war es doch nur zu verständlich, dass ich bei Seras Privatverkauf vorgeprescht bin. Und das mit Brett schien eine sichere Sache zu sein. Ich konnte ja nicht ahnen, dass meine Welt derart aus den Fugen geraten würde. In einem Moment denke ich, dass ich die Nächste bin, die heiratet, und im nächsten ist der Bräutigam … Ach, lassen wir das. Es reicht ja zu wissen, dass Brett und ich nicht geheiratet haben. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich mir, als ich mich im Atelier in das Kleid verguckte, sicher war, jetzt eh mit dem Heiraten dran zu sein. Ich hatte etliche Jahre darauf gewartet, dass Brett mir endlich einen Antrag macht. Und just an dem Tag hatte Brett … okay, er hat nicht vor mir gekniet, aber immerhin hat er da zum ersten Mal überhaupt das Wort »Heirat« in den Mund genommen. Und nur Stunden später läuft mir das Kleid über den Weg. Das konnte doch kein Zufall sein! Das war, als hätte das Schicksal sich für mich verschworen, wenn man das so sagen kann. Zwar war das Kleid sündhaft teuer, aber da es sich ja um ein Musterstück handelte, war es andererseits auch erstaunlich günstig. Und da ich ja die Torten über das Geschäft vertreibe und Sera mich kannte, hatte sie mir auch noch einen Rabatt eingeräumt. Damals wohnte ich noch nicht hier, klar, da lebte ich ja noch mit Brett zusammen. Ich verziehe das Gesicht und hoffe, dass Jess nicht gleich losläuft und mein irre günstiges Schnäppchenkleid aus dem Lager holt. Nee, war ein Witz, irre teuer natürlich. Völlig irre von mir war, es überhaupt gekauft zu haben, irre hoffnungsvoll und irre daneben. So was von daneben, wenn man bedenkt, was dann alles geschah. Und, ganz wichtig: irre geheim. Nur Jess und Sera wissen von dem Kleid. »Mein Kleid? Was soll damit sein?«, frage ich unschuldig. Hätte ich doch bloß mehr Gin in mein Glas gekippt. Die Fallhöhe zwischen dem Kleiderkauf und dem, was danach kam, ist einfach zu groß. Jess und Sera wussten seinerzeit, dass meine Hochzeitspläne noch nicht in trockenen Tüchern waren. Ich hatte niemandem davon erzählt, und einen Verlobungsring gab es auch nicht. Zum Glück sind wir bei »Brides by the Sea« bekannt dafür, dass wir dichthalten können. Ich bin Jess heute noch dankbar, dass sie mir beim Kauf des Kleides versicherte, dass es unter uns bleiben würde. Sie und Sera haben Wort gehalten. Selbst Cate und Immie, meine besten Freundinnen, wissen nichts von dem Kleid. Seither bewahrt Jess das gute Stück im Lager auf, dort ist es trocken und warm. Sogar versichert ist es. »Dein Kleid ist eines der schönsten, die Sera je entworfen hat.« Jess schürzt die Lippen, und aus dem Augenwinkel sehe ich Sera zustimmend nicken. »Das Kleid ist wunderschön«, erwidere ich. Das ist es wirklich. Ganz aus Seide, ein schlichter Schnitt, aber mit verspielter Spitze verziert. Es passt mir wie eine zweite Haut. »Trotzdem kann ich es kaum ansehen.« Jetzt ist es raus, endlich! Wie man so viele Tränen über ein Kleid vergießen kann, ist mir selbst manchmal schleierhaft. »Mir ist bewusst, dass du mit dem Kleid viel verbindest«, sagt Jess nüchtern und kippt einen kräftigen Schluck Gin. »Aber wenn Sera erst berühmt ist, zahlt sich deine Investition richtig aus.« Sera nickt mir aufmunternd über das Minzblatt hinweg zu, das ich in ihren Gin Tonic getan habe. Offenbar redet Jess von der finanziellen Seite. Als Geschäftsführerin hat sie stets die Bilanzen im Blick und weiß immer, was unterm Strich rauskommt. Jetzt grinst sie und verdreht die Augen, als ich zusammenzucke. Ich frage mich manchmal, wie jemand, der so schöne Dinge mit Blumen anstellt, so versessen aufs Geld sein kann. Aber Jess hat schon viel erlebt und weiß Bescheid. Sie sagt, sie sei mit ihrem Ex durch die Hölle gegangen, und das habe sie abgehärtet. Und sie muss wirklich mit harten Bandagen gekämpft haben, immerhin ist dieses Haus nach der Scheidung für sie rausgesprungen. Abbezahlt ist es, und es gehört jetzt ihr. Ich soll das nur niemandem erzählen. Also pst! »Du wartest bis nach Josies Promi-Heirat, dann verkaufst du. Da machst du richtig Reibach!«, sagt sie. »Aber …« Allein das Wort »verkaufen« lässt mich erschauern. »Ich bin noch nicht so weit«, sage ich und weiß nicht, ob ich jemals so weit sein werde. Ich werde doch wohl kaum je ein anderes Brautkleid haben, oder? »Na ja, du hast ja noch ein paar Monate Zeit, dich an den Gedanken zu gewöhnen«, sagt Jess und tätschelt meine Hand. »Was sollst du auch sonst tun? Das Kleid ist dir vergällt, das wirst du doch nie tragen.« Wie kann sie so sachlich über etwas reden, das mir so schwer im Magen liegt? Ich ziehe eine Grimasse in Seras Richtung. Sera knabbert an ihrem Daumennagel. »Ich will nicht als verrückte Frau enden, die in ihrem Brautkleid auf dem Dachboden hockt«, sage ich und versuche zu lachen. Obwohl das die einzige Gelegenheit wäre, das Kleid zu tragen, nachdem Brett mich hat sitzen lassen. So schnell werde ich mich nicht wieder verlieben, so viel ist mal klar. »Du hast ja recht, Jess. Aber es tut so weh.« Jess neigt den Kopf. »Es ist eine Art Anlage. So was ist immer gut.« Ich staune über ihren Pragmatismus. »Ich bin jetzt zweiunddreißig. Also noch zu jung, um mir über solche Sachen Gedanken zu machen«, wende ich schwach ein. Ich weiß nur zu genau, warum ich mir das Kleid leisten konnte. Mit dem Geld meiner Mutter, das sie mir kurz vor ihrem Tod gegeben hat. »Eine Art Anlage«, das waren auch ihre Worte. Ich schlucke. Meine Mutter hätte alles dafür gegeben, mich in dem Kleid vorm Altar zu sehen. In jedem anderen Kleid auch, genau genommen. Ich schlinge die Arme fester um meinen Körper und blicke der Wahrheit ins Gesicht: Ich habe keine Familie mehr und keinen Brett. Ich bin mutterseelenallein. Wenn Jess nicht gewesen wäre, hätte ich jetzt kein Dach überm Kopf und keinen Job. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit dem Backen von Torten und indem ich im Laden aushelfe. Ich kann es mir gar nicht leisten, nicht zu verkaufen. Jess leert ihr Glas. »Narben zeichnen uns. Trage sie mit Stolz, und geh voran.« Sie lächelt, weil sie weiß, dass sie diesen Satz unzählige Male in den letzten Monaten zu mir gesagt hat. Dann sieht sie mich ernst an: »Vor allem auf das Weitergehen kommt es jetzt an.« Sie wackelt mit dem Glas in meine Richtung. »Aber vorher schenkst du mir noch nach.« Ich gehe in die Küche, um mehr Gin zu holen. Tief in mir drin weiß ich, dass Jess recht hat.

2. Kapitel

Rose Cross: Ein Graben und ein Rudel Hunde

»Bolly! Brioche! Hört auf, an der Leine zu ziehen!« Der Wind trägt meine Rufe fort, während ich zwei honigfarbenen Hinterteilen und einem Paar wedelnder Hundeschwänze hinterherstolpere. In Werbespots sieht Gassigehen anders aus. »Bolly! Brioche! Bei Fuß!« Ich versuche, nicht die Kontrolle zu verlieren, aber die souveräne Hundehalterin in mir ist so früh am Morgen noch nicht wach. Der Tag hat zeitig begonnen, weil Cate, Immie und ich heute shoppen gehen wollen. Ein Großereignis, es geht um die Kleider für die Brautjungfern, und zwar für insgesamt acht. Wer jetzt glaubt, acht Brautjungfern seien viel, kennt Cates restliche Pläne nicht. Ihre Hochzeit ist auf dem besten Wege, die größte Hochzeit zu werden, die Cornwall in diesem Jahrzehnt gesehen hat. Als Gassigängerin, die sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt, versage ich immer wieder. Man mag gar nicht glauben, dass ich schon seit einem halben Jahr jeden Samstag mit den Hunden spazieren gehe. So lange ist es nun her, dass ich an meinen ansonsten einsamen Freitagabenden bei Cate über Nacht einhüte, damit sie und ihr zukünftiger Ehemann Liam zusammen ausgehen können. Mit den vier Kindern, ihren zwei sehr lebhaften Labradoodles und den Vollzeitjobs finden die beiden kaum Zeit füreinander. Wenn ich mit dem kleinen George und den anderen Kindern abends auf der Couch sitze und kuschele, kommt es mir allerdings eher so vor, als würden die Kleinen mich hüten und nicht umgekehrt. Als Hobbykonditorin denke ich mir gerne passende Torten für meine Mitmenschen aus. Der Kuchen für meine beste Freundin ist eine marokkanische Orangen-Buttercremetorte, mit feinen kandierten Orangenscheiben verziert. Cool und doch mit gehobenem Anspruch. Ich erinnere mich noch gut an die sechsjährige Cate und wie wir beide in der Stepptanzgruppe im Dorf getanzt haben. Cate kannte alle Schritte; sie steppte, als wollte sie Ginger Rogers Konkurrenz machen, ihre blonden Locken dabei immer schön ordentlich. Ich dagegen habe mir meine Beine in dem Ganzkörperanzug aus Synthetik verrenkt und ständig meine Schuhe verloren. Erst als sie fünfundzwanzig war, meinten die Sterne es nicht mehr so gut mit ihr, und ihr Mann verließ sie wegen seiner Sekretärin. Mit drei kleinen Kindern im Vorschulalter musste sie sich in den folgenden Jahren irgendwie durchschlagen. Jetzt hat sie endlich den Mann gefunden, den sie verdient, und hat mit ihm noch ein Kind bekommen. Ich freue mich wahnsinnig für sie. Ihre Labradoodles allerdings … Ich könnte schwören, dass ich ganze drei Äcker überflogen habe, ohne den Boden zu berühren. Obwohl mir das Tempo heute nur recht ist. Wenn ich zurückkomme, wird Cate George sein Frühstück gegeben haben. Dann wollen wir uns mit Immie treffen. Immies Kuchen ist ein Donut oder ein Schoko-Muffin. Sie war schon als Kind recht stämmig und kräftig, auch die unverwüstliche Kurzhaarfrisur hatte sie schon als Mädchen. Wir versuchen immer wieder, ihr schicke Klamotten anzudrehen, aber sie bleibt bei ihren Jeans und dem Sweatshirt. Nachher wollen wir zu »Brides by the Sea«, wo Cate die Kleider für die Brautjungfern aussucht. Weil ich dort arbeite, bekommt sie zum Glück Prozente. Als wir an einen Zaun kommen, berühren meine Füße endlich wieder Boden. Die Hunde springen über den Tritt und landen hinter dem Zaun in einer riesigen Pfütze. Ich hinterher. Bolly tollt begeistert im Wasser. Ich werde klatschnass und verliere auf dem Tritt das Gleichgewicht. »Bolly, nein!« Ich schreie auf, als mein linker Ugg-Stiefel in der Pfütze versinkt. Notdürftig wische ich mir die Matschspritzer von den Augen und ächze auf, als ich kaltes Wasser an meinem großen Zeh spüre. Gegen eine Schlammkur bei der Fußpflegerin im Ort wäre ja nichts einzuwenden – nicht, dass ich mir das dieser Tage leisten könnte –, auf die selbst gemachte Variante im Cornwall-Landlebenstil kann ich aber gut verzichten. Gleiches gilt für eine Hose mit Matschmuster. Da muss ich wohl bei Cate den Gartenschlauch zücken und mich und die Hunde abduschen. Dabei ist das alles meine Schuld. Wäre ich bei Brett richtig ausgezogen, mit all meinem Sack und Pack statt nur mit einer eilig gepackten Reisetasche, dann hätte ich jetzt meine geliebten, Festival-erprobten Gummistiefel – und trockene Füße. Als wir uns dem Dorf nähern, werden die Hunde allmählich langsamer. Meine Schritte hingegen lässt der Anblick der Dächer von Rose Cross hinter den Hecken schneller werden. Zurück in die Zivilisation! Cate, Immie und ich sind in Rose Cross aufgewachsen, doch während die beiden das Landleben lieben, bedeutet es für mich Wildnis. Mit achtzehn bin ich sofort nach London gezogen. Selbst wenn ich am Freitagabend nur aus St. Aidan, dem nächstgrößeren Städtchen, hier zu Cate nach Rose Cross rausmuss, ist das ein Kulturschock für mich. Da die Hunde zum Glück mal nicht an der Leine ziehen, zücke ich mein Handy, um auf die Uhr zu sehen. Als wir um die nächste Ecke biegen, steht da ein grauer Landrover auf dem Seitenstreifen, Modell Defender. Woher ich das weiß? Ich musste mal einem Autoliebhaber zum vierzigsten Geburtstag eine Torte backen, mit der exakten Nachbildung seines Geländewagens aus Marzipan, samt Matschspritzern. Das Talent zum Tortenbacken habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie hat unheimlich viel gebacken, als ich klein war. Meine erste Erinnerung ist, wie ich auf einem Stuhl in unserer gemütlichen Küche stehe und die Teigschüssel auslecke. Und wie ich mit den Fingern im Puderzucker auf dem Küchentisch male. Gebt mir Biskuit und Zuckerguss, und ich zaubere kleine Wunderwerke: Traumschlösser oder Kipplaster für Geburtstage oder mehrstöckige Hochzeitstorten. Die sind mittlerweile Routine, so viele backe ich. Leider hören meine Talente da auf, wo es nicht ums Backen geht. Ich bin ganz in Gedanken an meine Mutter versunken, als plötzlich ein Typ in ausgebeulten Jeans hinter dem Landrover auftaucht. Ich denke nur: Volle Punktzahl. Der Typ, nicht das Auto, wohlgemerkt. Wobei das weniger meine Bewunderung ausdrückt als vielmehr eine Warnung. Männer, die so gut aussehen, haben es nicht nötig, freundlich zu sein. Mein Blick wandert von seinem Cashmerepulli nach oben zu seinem Mund. Der wohl mürrischste Mund in ganz England. Volle Punktzahl hin oder her, bei dieser schlechten Laune scheint er daraus keinen Vorteil ziehen zu können. Ja, Immie, sie studiert Psychologie, würde jetzt einen Kommentar ablassen, warum mein Blick auf seinem Mund hängen bleibt. Aber ich mache das ja nur, um die Lage einzuschätzen. Und um einen störrischen Gesichtsausdruck zu erkennen, brauche ich keinen Uni-Abschluss. Bolly und Brioche zerren plötzlich an der Leine und reißen mich aus meinen Gedanken. Dabei rutscht mir mein Handy aus der Hand und fliegt über den Feldweg. Jetzt sehe ich, warum die Hunde so zerren. Der Mann hat einen Hund dabei, das hatte ich gar nicht bemerkt. Das Tier ist groß und schwarz und springt auf mich zu. Bevor ich nach meinem Handy greifen kann, werde ich von den Hunden nach vorn gerissen. Im Haus geben Bolly und Brioche mit ihren riesigen Tatzen acht, aber hier draußen, wenn sie auf einen anderen Hund stoßen …»Achtung!«, rufe ich, aber zu spät. Die beiden preschen auf den großen Mann zu. Der schwankt, reißt die Arme hoch und fällt rückwärts gegen die Böschung. Was für ein Sturz! Und der schöne Cashmerepulli im Dreck! Schmutzige Wäsche zu beklagen, bleibt keine Zeit, denn die Hunde stürzen jetzt aufeinander los. Pfoten, Fell, Schwänze und Ohren wirbeln durcheinander. Aufgeregtes Bellen. Das Hundeknäuel rollt über- und untereinander und stößt gegen meine Knie, sodass ich zur Seite rutsche. Als das Bellen endlich nachlässt, finde ich mich im Graben am Straßenrand wieder. »Bolly, Brioche!« Das klingt nicht gerade wie ein resolutes Frauchen. Kein Wunder, wenn man mit dem Hintern im Graben liegt. Wasser läuft mir eiskalt den Rücken hoch. Positiv zu verbuchen ist, dass ich immer noch die Leinen halte. Fluchend richtet sich der Mann auf. »Kein Grund zur Panik. Sie spielen nur«, sagt er, zieht den schwarzen Hund am Halsband aus dem Knäuel und hievt ihn auf seinen Landrover. »Sie wedeln mit dem Schwanz, sehen Sie? Trotzdem: Sie müssen Ihre Hunde besser erziehen. Es ist unverantwortlich, sie auf dem Land frei laufen zu lassen.« Wie bitte? Im Gegensatz zu ihm hatte ich doch eine Leine! »Wenigstens haben sie sich nicht totgebissen«, grummele ich. »Es wäre gut, wenn Sie Ihren Hund an der Leine führen würden.« Darauf geht er nicht ein. Stattdessen beugt er sich über mich und hält mir die Hand hin. Ah, jetzt die Vorstellungsrunde. Ich reiche ihm meine freie Hand. »Schön, Sie kennenzulernen …«, nuschele ich und merke, dass ich lüge. Und warum versuche ich verzweifelt, mir mit dem Ärmel den Schlamm aus dem Gesicht zu wischen und mir ein Lächeln abzuringen? Er lacht brummend. »Ich wollte mich nicht vorstellen, sondern Ihnen aufhelfen. Oder möchten Sie hier liegen bleiben?« Unter anderen Umständen wäre mir mein Irrtum peinlich. Aber pitschnass unter der Hecke ist das auch egal. Kurz darauf hat er mich am Arm hochgezogen, und ich stehe wieder mit beiden Beinen auf der Straße. Selbst meine geliebten Festivalstiefel hätten mir hier nicht geholfen. »Ihr Handy …« Er reicht es mir. »Sie sind nass.« Gut beobachtet, das sieht auch ein Blinder mit Krückstock. Als er mir das Handy gibt, frage ich mich, wie seine rauen Hände zu dem teuren Pulli passen. »Kein Wunder, wenn Sie mit zwei ungestümen Hunden durch die Gegend tollen und sich in Gräben werfen. Da bleibt niemand trocken. Ich würde Sie ja nach Hause bringen, aber …« Er lässt den Satz unbeendet. So, wie er sein Gesicht verzieht, habe ich schon verstanden: »Aber« ist der Kern der Aussage. Auf keinen Fall will er mich und die klatschnassen Hunde in seinem schicken Landrover sitzen haben. Keine Sorge. Selbst wenn ich zu Fremden ins Auto steigen würde – die teuren Sitze werde ich nicht mit Pfützenwasser und Labradoodle-Sabber besudeln. »Kein Problem, ist schon okay. Wir haben’s nicht weit. Es tut mir wirklich sehr leid.« Da, schon wieder, ich fasel dummes Zeug. Und ich entschuldige mich! Beides versucht mir Immie abzugewöhnen. Andere hätten jetzt an meiner Stelle einen schlagfertigen Spruch über Schlammschlachten rausgehauen. »Sie können ja nichts dafür.« Er zuckt mit der Schulter und öffnet seinen Wagen. »Mir tut es leid. Auf eine Schlammschlacht waren Sie bestimmt nicht eingestellt.« Sag ich doch. Warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Als er ins Auto steigt, entspannt sich sein Gesichtsausdruck. »Auf Wiedersehen.« Er scheint erleichtert, uns loszuwerden. Das beruht auf Gegenseitigkeit. »Bis bald«, sage ich leichthin und hoffe, dass bald nicht so bald kommt. Am besten nie. Der Graben und der Matsch, das sollte mir echt peinlich sein. Ist es aber nicht. Hauptsache, ich komme pünktlich zu unserem Shopping-Trip und bekomme vorher alles wieder sauber. Die Mädels werden sich über diese Geschichte schlapplachen. »Kommt, Hunde!« Zwei rosa Schnauzen drehen sich zu mir. Sogar ihre Ohren sind mit Schlamm bedeckt, aber ihre Augen sind die reine Unschuld. »Los, beeilt euch, wir wollen heute noch Kleider anprobieren.« Wir marschieren los, meine Jeans ist steif vor Nässe, und das Wasser in meinen Uggs schmatzt bei jedem Schritt. Und trotzdem breitet sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Der Landrover-Mann macht seinen schicken Wagen zwar nicht mit mir und den Hunden dreckig, aber der Schlammspur auf seiner Hose nach zu urteilen, dürfte er einen schönen Abdruck seines Allerwertesten auf dem Fahrersitz hinterlassen, denke ich voller Schadenfreude.

3. Kapitel

»Brides by the Sea«: Ein Samstag mit den Mädels und Mehlstaub

Samstags ist im Geschäft immer am meisten los. Als Cate und ich um Punkt neun »Brides by the Sea« betreten, brummt der Laden bereits. Wir manövrieren uns an der Chaiselongue und dem Schuhregal vorbei, ohne den Bräuten im Kaufrausch ins Gehege zu kommen. Als wir an der Treppe ankommen, biegt Jess um die Ecke. In einer Hand trägt sie ein in Schutzfolie verhülltes Kleid, in der anderen einen diamantenbesetzten Stirnreif und einen Schleier. »Hallo, Cate! Schön, dich zu sehen.« Im Vorbeirauschen wirft Jess uns Luftküsschen zu. »Bin gleich bei euch, muss das hier nur wegräumen.« Cate schaut unschlüssig auf ihr Handy. »Ich warte noch auf Immie. Sie verspätet sich.« Neben ihrem Psychologiestudium arbeitet Immie auf einem ehemaligen Gutshof, dessen dazugehörige Cottages in bezaubernde Ferienhäuser umgebaut worden sind. Für heute hat sie sich extra freigenommen. Wahrscheinlich ist wieder was mit ihrer Familie. Immie hat zig Brüder, die allerhand Ärger machen. Dass Immie an einem Samstagmorgen bei der Polizei antanzen muss, kommt öfter vor. Ich ducke mich unter einem riesigen Strauß Freesien hindurch und rufe über meine Schulter: »Wir trinken oben einen Kaffee und warten auf Immie.« Durch eine Wolke aus Taft und Tüll ruft Jess zurück: »Macht das. Und wenn Immie kommt, sehen wir uns die Kleider im Beach Hut an.« In meiner Dachwohnung stelle ich meine Tasche in den Flur und gehe in die Küche. »Hast du Hunger?«, frage ich Cate.

Als ich ihr Gesicht sehe, schalte ich, ohne eine Antwort abzuwarten, den Herd an. »Ich sterbe vor Hunger!«, stöhnt sie. »Besonders weil es hier immer so köstlich nach Kuchen riecht.« Eigentlich will sie bis zu ihrer Hochzeitsfeier den Babyspeck von ihrer Schwangerschaft mit George loswerden. Dabei stehen ihr die Pölsterchen ganz gut. Cates Blick wandert zu den Regalen, die mit Rührschüsseln, Knethaken, Backformen und Kochbüchern vollgestellt sind. »Die Küche ist winzig im Vergleich zu Bretts«, sage ich, weil sie das wahrscheinlich gerade denkt. »Der edlen Arbeitsplatte, von der ich immer penibel die Teigreste abkratzen musste, weine ich aber keine Träne nach.« Meine Backutensilien gehörten zu den wenigen Dingen, die ich mitgenommen habe, als ich bei Brett ausgezogen bin. Cate setzt sich auf den Hocker. »Diese Küche passt viel besser zu dir.« Sie riecht an den Osterglocken, die in der roten Vase auf dem Tisch stehen. »Wie bei deiner Mutter. Ich muss sofort an all die köstlichen Kuchen denken, die ihr gebacken habt, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.«

»Soll ich uns Pfannkuchen machen? Oder noch besser: Muffins?« Ich hole eine Schüssel vom Regal, und noch bevor sie antworten kann, sind die Eier geschlagen, die Milch und das Öl verrührt. Cate, Immie und ich sind gewissermaßen zwischen den herrlich duftenden Torten in der Küche meiner Mutter aufgewachsen. Cates Mutter hat in der Bank gearbeitet und meine Mutter als Tagesmutter für Cate engagiert. Immie und ihre Brüder haben übereinandergestapelt in dem Häuschen nebenan bei ihrer Oma gelebt. Sobald Immie krabbeln konnte, ist sie zu uns rübergekommen. Meine Mutter hatte nichts dagegen. Sie war alleinerziehend, und zwei Kinder mehr haben sich für sie eher wie eine richtige Familie angefühlt. »Schoko- oder Blaubeer-Muffins?«, frage ich. Ich weiß, dass Cate sich immer für die gesündere Variante entscheidet. Sie besteht auf ihrer täglichen Portion Obst. Ich rühre Zucker in den Teig, bis er geschmeidig wird. Cate beugt sich vor und taucht einen Finger in die Schüssel. »Pops, bist du sicher, dass dir meine Hochzeit nicht zu viel wird?« Ich rüttle am Sieb, und das Mehl rieselt auf den Teig. »Keine Sorge, ich kann das Wort Hochzeit durchaus hören, ohne wegen meiner eigenen Trennung zusammenzubrechen.« Schlucken muss ich manchmal eher, weil meine Mutter nicht mehr lebt, nicht weil Brett und ich uns getrennt haben. »Wir waren ja noch nicht einmal verlobt«, sage ich zur Verdeutlichung. »Aber ihr wart auch ohne Ring sehr lange zusammen.« Cate tätschelt meine Hand und taucht ihren Finger ein weiteres Mal in die Schüssel. Wenn dies ein Kuchen für einen Kunden wäre, würde ich Cate jetzt Küchenverbot erteilen. Aber so tue ich so, als würde ich es nicht sehen. »Das Blöde an der Trennung ist nur, dass ich mich damit auch von meinem bisherigen Leben getrennt habe.« Ich lege Backblech und Backpapier vor Cate auf den Tisch. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie sich eine Trennung anfühlt, und trägt daher extra nicht zu dick auf und mimt die überglückliche Braut. Obwohl sie damals echt ein gebrochenes Herz hatte, hat sie den Glauben an die Liebe nie verloren. Und jetzt hat sie Liam. Er ist der Richtige für sie, und ihren großen Tag, die Hochzeit, hat sie mehr als verdient. Sie will sich ihren Traum erfüllen und auf Daisy Hill heiraten, dem Gutshof nicht weit von Rose Cross, auf dem Immie arbeitet. Erst seit letztem Jahr bietet das Gut nicht nur Feriencottages an, sondern auch Hochzeitsfeiern. Cate war die Erste, die dort ihre Feier gebucht hat. Und sie braucht wirklich ein ganzes Gut, um das Fest auszurichten, das ihr vorschwebt. »Also Blaubeeren?«, frage ich und hole das Obstschälchen aus dem Kühlschrank. »Genau!«, sagt sie lächelnd und reicht mir die Backförmchen. Ich fülle den Teig in die Form. Warme Luft strömt in die Küche, als ich den Ofen öffne und das Blech mit den Muffins hineinschiebe. »Die brauchen fünfundzwanzig Minuten.«

»Darf ich die Schüssel auslecken?«, fragt sie mit leuchtenden Augen. »Unter einer Bedingung«, sage ich feixend. »Die Kleider für die Brautjungfern sollen nicht rosa sein. Das steht mir mit meinen rot gefärbten Haaren nicht.« Die Schere an meinem blonden Zopf war wie ein Befreiungsschlag nach der Trennung. Ich bekomme noch immer Herzrasen, wenn ich meinen Meckischnitt im Spiegel sehe. Und leider ist das Haarefärben doch nicht so einfach, wie es im Fernsehen aussieht. Beim letzten Versuch bin ich haarscharf am Postkastenrot vorbeigeschrammt, und am Ende kam Karotte dabei raus. Dabei hatte ich nicht vorgehabt, wie ein abgehalfterter Alt-Punk auszusehen. Nachdenklich fährt sich Cate durch ihren gestuften Bob. »Rosa Kleider auf der grünen Weide sehen bestimmt großartig aus, aber gut …« Sie greift nach der Schüssel. »Einverstanden.« Cate ist immer noch mit dem Auslecken der Teigschüssel beschäftigt, als Immie die Treppe hochgerannt kommt und in die Küche stürzt. »Diesmal war’s Dean. Ruhestörung nach einer Kneipentour. Zum Glück nur eine Verwarnung. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen«, sagt Immie und wirft ihre Tasche auf den Tisch. »Tut mir leid, dass ich so spät bin … Sind das Muffins, die ich da rieche?«

»Blaubeer-Muffins. In zwanzig Minuten sind sie fertig.«

»Gut. Und wo sind die Kleider?«, fragt sie und verzieht den Mund. »Mit meinen kurzen Beinen und meinem Bierbauch sehe ich in jedem Kleid wie ein Affe auf dem Schleifstein aus.« Trotzig fügt sie hinzu: »Obwohl die im Pub meinen, dass Blau mir stehen könnte.«

»Aha.« Cate guckt skeptisch. »Blau tragen schon die Männer.« Immie stöhnt. Ich jubele insgeheim. Blau steht mir nämlich nicht. »Bevor wir zur Anprobe schreiten, muss ich etwas sagen.« Immies Stirn legt sich in Falten. »Es tut mir so leid, Cate, du setzt dich vielleicht besser. Carrie, die Hochzeitsplanerin, hat gekündigt und Daisy Hill verlassen.« Immie lehnt sich gegen den Schrank, die Hände in die Hüften gestemmt, und lässt uns die Neuigkeit verdauen. »Nein!«, sagt Cate und wird aschfahl. Immie macht ein ernstes Gesicht. »Es wird noch schlimmer. Rafe, unser Boss, meint, er wolle überhaupt keine Hochzeiten mehr auf seinem Gut veranstalten.« Cates Wangen werden unter dem Rouge noch bleicher. »Das kann er nicht machen! Wir haben doch gebucht und schon angezahlt! Und die Hochzeit ist schon in sieben Monaten!« Immie zuckt mit den Schultern. »Die Hochzeitsplanerin ist über Weihnachten nach Hause gefahren, nach London, und hat dann beschlossen, dazubleiben.«

»Das muss eine gründliche Entscheidung gewesen sein. Immerhin haben wir jetzt schon Februar«, stöhnt Cate. »Rafe wollte Ersatz finden«, fährt Immie fort, »aber viele Buchungen gibt es eh noch nicht, und die Arbeitszeiten sind unregelmäßig. Abgesehen davon, dass Rafe nicht ganz einfach ist. Die meisten Mitarbeiter hauen schnell wieder ab.« Cate seufzt tief auf. »Das werde ich nicht zulassen. Das ist schließlich meine Hochzeit.« Entschlossen sagt sie: »Ich muss jemanden finden, der die Feier rettet, und zwar schnell. Ich muss eine Hochzeitsplanerin finden.« Sie sieht Immie und mich an. »Wisst ihr jemanden?«

Cate ist nicht ohne Grund so erfolgreich in ihrem Job bei der Finanzbehörde. »Geht nicht« gibt es bei ihr nicht. Wenn Probleme auftauchen, findet sie eine Lösung. Ich runzele die Stirn und denke nach. Wer wäre imstande, die Hochzeitsfeier auf dem Gutshof zu organisieren? Jess könnte das, aber sie hat alle Hände voll zu tun in ihrem Laden. Sonst fällt mir niemand ein. Als ich den Blick hebe, sehe ich, dass Cate und Immie mich angucken. »Natürlich!«, sagt Cate. »Klar!«, stimmt Immie ihr zu. Ich blinzele verwirrt. »Wovon redet ihr?« Immie sieht mir direkt in die Augen: »Du bist wie geschaffen für den Job!« Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, was sie sagt. »Ich?« Jetzt springt Cate auf den Zug auf. »Du musst mir helfen. Bitte, Poppy! Ich habe eine Fünfzigstundenwoche, einen superstressigen Job bei der Behörde, dann das Haus und die vier Kinder. Und Liam und die Hunde!« Voller Verzweiflung sieht sie mich an. »Es geht um meine Hochzeit!« Ich wende mich an Immie. »Du bist doch eh auf dem Gut und managst die Cottages. Kannst du da nicht einfach auch die Hochzeit organisieren?« Immie setzt eine »Basta«-Miene auf, wie man sie sonst nur von Handwerkern und Politikern kennt. »Auf keinen Fall.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Sosehr ich dich mag, Cate, und sosehr ich dir eine großartige Feier wünsche, aber Morgan ist jetzt im Teenageralter. Wenn ich nicht wie ein Schießhund aufpasse, macht er nichts als Unsinn. Und dann ist da noch mein Diplom. Die Prüfungsphase beginnt jetzt. Und der Job auf dem Gut, all die Feriencottages, die ich sauber halten und vermieten muss. Außerdem helfe ich abends manchmal in der Kneipe aus. Eine Hochzeitsfeier kann ich da nicht auch noch organisieren.«

»Die Prüfungen an der Uni fangen doch erst nächstes Jahr an«, wende ich ein. »Ja, aber die Hausarbeiten, die ich bis dahin noch schreiben muss …« Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Immie und Cate sich verschworen haben. »Du wärst super in dem Job, Pops«, sagt Immie. »Du liebst doch Hochzeiten.«

»Plus du hast die Erfahrungen aus dem Brautmodenladen«, sagt Cate. Immerhin scheint es wenigstens ihr ein wenig unangenehm zu sein, mich so in die Ecke zu drängen. »Und nicht nur, was die Torten angeht. Du kennst das Braut-Biz in- und auswendig. Denk doch nur an deine berufliche Zukunft!«

»Du bist die Einzige von uns, die das schaffen kann«, pflichtet Immie ihr bei. So wie sie das sagen, muss ich dagegenhalten. »Ich kann keine Hochzeiten organisieren. Ich vermassle Hochzeiten!« Fast klinge ich panisch. »Meinen Job in London habe ich vor Jahren gekündigt.« Vor langer Zeit war ich Food-Designerin und habe neue Gerichte kreiert. Die Tortilla-Chips mit süßer Paprika, das war meine Erfindung. Mein Lachs im Blätterteig für eine große Supermarktkette hat x Preise gewonnen. Mein Marzipanstollen mit Cointreau auch. Und der Geburtstagskuchen in Bärchenform hat sich auch super verkauft. Doch das war früher, ein ganz anderes Leben. Seit meiner Rückkehr nach Cornwall bin ich Brett hinterhergerannt und backe nebenberuflich Kuchen. Immie fühlt sich auf den Plan gerufen. »Du könntest neben deiner Arbeit auf dem Gut weiter Torten backen. Und das Extra-Geld würde doch auch nicht schaden.« Als alleinerziehende Studentin kennt sich Immie mit Aushilfsjobs und Geldsorgen aus. Und natürlich hat sie recht. Fast schäme ich mich rückwirkend dafür, wie abhängig ich von meinem gut verdienenden Freund gewesen bin. »Im Ernst, Poppy, das könntest du mit links. Du hast doch jeden Tag mit Bräuten zu tun«, flötet Cate. »Außerdem wäre es nur bis zum Herbst. Ich brauche deine Hilfe!« Das Bild von Rose Cross und den Feldern und dem Schlamm schießt mir vor die Augen. Ein Job auf einem Gutshof ist mein schlimmster Albtraum, selbst wenn es dabei um Hochzeiten geht. »Aber ich habe doch gar keine Berufserfahrung.« So, jetzt hab ich’s gesagt. Doch Cate wischt den Einwand beiseite. »Wenn wir meine Hochzeit retten wollen, musst du da durch.« Jetzt röten sich ihre Wangen wieder. »Du hast doch das Insider-Wissen von all den Bräuten hier, du bist so gut wie eine Expertin auf dem Gebiet.« Triumphierend ballt sie ihre Hand zur Faust. »Genau!«, fällt Immie in den Jubel ein. »Und zur Not bin ich ja auch noch da, wenn’s in die Hose geht.«

»Hose?«, frage ich dümmlich. Wäre ich bei Verstand, wäre dies der Zeitpunkt, die Reißleine zu ziehen. Aber Cate ist meine beste Freundin und braucht meine Hilfe. Cate wirft Immie einen bösen Blick zu wegen der Hose. »Es geht doch nur um ein paar harmlose Hochzeiten. Was soll da schiefgehen?« Das soll wohl beruhigend klingen. »Bitte, Poppy! Tu es für mich.« Cate war für mich immer wie eine große Schwester. In den letzten Monaten hat sie sich aufopferungsvoll um mich gekümmert. Hier ist die Chance, mich bei ihr zu revanchieren. Also fasse ich mir ein Herz und helfe Cate aus der Patsche.

4. Kapitel

Daisy Hill: Nimm’s nicht persönlich

»Ich kann gar nicht glauben, dass du noch nie hier warst, seit ich hier arbeite«, sagt Immie, als ich sie am nächsten Morgen in Daisy Hill besuche. Sie läuft mir über den Innenhof entgegen, noch während ich meinen Wagen auf dem Kopfsteinpflaster parke. Immie hat für mich ein Bewerbungsgespräch mit Rafe, dem Besitzer des Guts, verabredet.

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich Gutshöfe meide wie die Pest«, erkläre ich ihr. »Äcker, Kühe und das schlechte Wetter sind der Grund, warum ich in die Stadt gezogen bin.«

An Shoppen und Kleider war gestern nicht mehr zu denken. Immie und Cate haben sich sofort an meinen Lebenslauf und meine Bewerbung gemacht und sie aufgehübscht. Und gleich heute, an einem Sonntag, soll das Gespräch stattfinden.

Immie lächelt breit. »Was Rafe angeht: Er ist ein alter Brummbär, nimm’s also nicht persönlich.«

»Wieso?« Hätte sie mir das vorher erzählt, wäre ich vielleicht noch abgesprungen. Doch so zerrt sie mich jetzt zu dem alten Herrenhaus mit den staubigen Fensterläden und den Nebengebäuden.

»Besonders zuvorkommend ist er nicht. Achte da gar nicht drauf«, erklärt Immie, unverblümt wie immer. »Keine Sorge, du schaffst das.«

Ich zucke mit den Schultern. Ich will mein Bestes geben, aber große Hoffnungen mache ich mir nicht. Ich habe sowieso keine Chance. Denn obwohl Cate und Immie meinen Lebenslauf gepimpt haben, bevor sie ihn diesem unleidigen Rafe gemailt haben, ist klar, dass meine einzige Qualifikation Torten und Zuckerguss sind.

»Das Büro ist hier drüben.« Immie steht vor einer grau gestrichenen Brettertür. »Wenn du dich geschickt anstellst, bietet dir Rafe vielleicht sogar ein Cottage an, in dem du wohnen kannst.« Sie hebt eine Augenbraue, öffnet die Tür und schiebt mich in den weiß getünchten Raum. »Rafe, hier ist Poppy, ich lass euch jetzt allein. Viel Erfolg!«

Sie schwebt nach draußen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, sehe ich mich in dem Raum um. Der Schreibtisch sieht aus, als hätte jemand darauf seinen Altpapiereimer entleert. Ein Mann in einem grauen Pullover steht vor dem Aktenschrank, ein schwarzer Hund liegt in einer Ecke des Zimmers und wedelt freundlich mit dem Schwanz. Ich stehe und warte, und mein Herzschlag ist lauter als das Klopfen des Hundeschwanzes auf dem Boden. Als der Mann sich umdreht und mir seine Hand entgegenstreckt, muss ich schlucken.

Oh.

»Poppy, schön, Sie …« Er unterbricht sich. Der Typ aus dem Graben gestern scheint genauso erstaunt über die unverhoffte Wiederbegegnung zu sein wie ich. Als er gestern »Auf Wiedersehen« sagte, hat er bestimmt nicht gedacht, dass das so schnell gehen würde.

Okay, volles Rohr. Zu verlieren habe ich eh nichts. Mir kann das alles egal sein. Nur ein paar Minuten, den Job kriege ich sowieso nicht, dann bin ich wieder weg.

»Hallo«, sage ich und strecke ihm beherzt meine Hand entgegen. »Heute also keine Schlammschlacht.« Diesmal bin ich schlagfertig, und dazu lächle ich auch noch keck. Ich trage meine besten schwarzen Hosen und eine weiße Bluse, die mir Cate geliehen hat. Ich hoffe, das schindet Eindruck. Immie hat mir ein Paar Gummistiefel gegeben, damit es so aussieht, als meinte ich es ernst mit der Arbeit auf dem Gutshof. Jetzt kann ich auch aufs Ganze gehen. »Die Hunde habe ich diesmal auch zu Hause gelassen.« Hoffentlich erkennt er nicht Immies Wachsjacke, die sie mir ebenfalls geliehen hat.

Ich schenke ihm mein strahlendstes Lächeln und hoffe, keinen Unsinn zu faseln. »Gut, fangen wir an?«

Er löst seine Hand aus meiner, kratzt sich am Kinn und seufzt. »Worum geht es gleich noch mal?«

Die dunklen Ringe unter seinen Augen verraten mir, dass er genauso müde ist, wie er aussieht. Das liegt wahrscheinlich an dem wahnsinnig guten Sex, den er letzte Nacht hatte. Was mich natürlich überhaupt nichts angeht. Ich verdränge den Gedanken sofort und versuche, mich auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Der Job als Hochzeitsplanerin … Immie hat dieses Bewerbungsgespräch in die Wege geleitet …« Da er keine Reaktion zeigt, mache ich direkt weiter. »Immie hat Ihnen gestern meinen Lebenslauf gemailt.« Meine schwungvolle Armbewegung verliert mitten in der Bewegung an Kraft, weil er immer noch nichts sagt. Immerhin hebt der Hund ein Lid und schaut zu mir rüber.

»Die Hochzeiten … ach ja.« Er schüttelt den Kopf. »Entschuldigen Sie, aber ich habe die ganze Nacht im Stall zugebracht. Eine meiner Kühe hat gekalbt. Es gab Komplikationen.«

Aha. Also doch kein Sex.

»Und … wie lief’s?«, frage ich und lächle breit bei meinem Versuch, Konversation mit einem Bauern zu betreiben.

Der Landrover-Typ seufzt tief und lässt sich in seinen Drehstuhl sinken. »Das Kalb hat es nicht geschafft.«

Ich lächele immer noch. Ich bin fest entschlossen, alles positiv zu sehen. »Na gut. Irgendwann wird’s das schon schaffen.«

»Nicht geschafft heißt, es ist gestorben. Das Kalb ist tot«, sagt er wie ferngesteuert. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und tippt etwas in seinen Computer. Wahrscheinlich liest er jetzt erst meine Bewerbung.

Ich bin selbst so ’n Kalb, denke ich zerknirscht. »Das tut mir leid«, versuche ich Boden gutzumachen.

Er räuspert sich und sagt, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen: »Das passiert einfach. Die Rechnung vom Tierarzt ist zwar saftig, aber wenigstens lebt die Mutterkuh.« Wenn er gerade meinen Lebenslauf liest, scheint er, seinen herabgezogenen Mundwinkeln nach zu urteilen, wenig beeindruckt zu sein.

Für einen kurzen Moment blickt er auf: »Gut, Sie haben den Job. Willkommen im Team.«

»Was?«, frage ich überrascht. Meine Stimme klingt so schrill, dass der Hund seine Ohren aufstellt.

»Sie können gleich morgen anfangen.« Er sieht schon wieder auf den Bildschirm. »Ist neun Uhr in Ordnung?«

Moment! So führt man doch keine Bewerbungsgespräche! Das muss ich ihm einfach sagen, ich kann nicht anders. »Sorry, dass ich nachhake: Woran sehen Sie denn, dass ich für die Arbeit geeignet bin? Welche Berufserfahrungen habe ich, um ausgerechnet auf einem Gutshof zu arbeiten?«

»Berufserfahrung?« Er sieht kurz auf und wendet sich wieder dem Computer zu. Seine Lippen verziehen sich zu einem merkwürdigen Grinsen. »Ich lese hier nicht Ihre Bewerbung. Ich weiß gar nicht, wo Ihr Lebenslauf ist.«

Das wird ja immer schöner! »Woher wollen Sie dann wissen, ob ich für den Job geeignet bin?«

Endlich schenkt er mir seine ganze Aufmerksamkeit. »Ehrlich gesagt, ich weiß das nicht.« Er stützt sein Kinn auf die Hand und wartet, bis bei mir der Groschen fällt. »Immie sagt, Sie sind geeignet. Und ich vertraue ihr.« Er lehnt sich zurück und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Und um noch ehrlicher zu sein: Sie müssten schon eine verdammte Idiotin sein, wenn Sie es schafften, das Geschäft noch mehr zu vermasseln, als es ohnehin schon ist.«

In meinen Ohren klang seine Stimme bei dem Wort »vertrauen« besonders weich. Seine Augen sind haselnussbraun. Und auf seiner rechten Wange hat er eine kleine Narbe. Schnell will ich weggucken, aber meine Augen treffen seine. Sein Blick ist sehr direkt, so wie selten bei Menschen. Ich halte den Atem an.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt er. Rasch steht er auf und schüttelt meine Hand. »Ich muss leider los. Morgen früh machen wir den Vertrag fertig. Ich nehme an, Sie stellen keine großen Forderungen, da Sie ja, wie Sie sagen, keine Berufserfahrungen haben.«

Wenn er nicht schon halb zur Tür raus wäre, würde ich meinen vor Erstaunen offen stehenden Mund schließen und ihm eine passende Antwort darauf geben. Doch wie die Dinge liegen, muss ich damit wohl bis morgen warten.

Vom Hof ruft er mir über die Schulter zu: »Übrigens, das ist befristet. Nichts Langfristiges. Auf keinen Fall!«

Das passt mir sehr gut. Je schneller das hier vorbei ist, desto besser. Ich hoffe nur, dass Cate meinen Einsatz am Ende zu schätzen weiß.

5. Kapitel

Daisy Hill, im Büro: Ein flexibler Arbeitsplatz mit Lehnstuhl

»Meine Vorgängerin, Carrie, hatte kein eigenes Büro, und sie hat Schreibtisch und Computer mit dir geteilt?« Rafe hat mir gleich heute Morgen das Du angeboten. Er meinte, auf so einem Hof sei es nicht üblich, sich zu siezen. Obwohl ich in seinem noblen Lehnstuhl sitze, während er auf einem billigen Klappstuhl – von Ikea, vermute ich – mir gegenüber hockt, ist mir bereits in den ersten Stunden meines ersten Arbeitstages klar, warum es mit den Hochzeiten nicht läuft.

Rafe runzelt die Stirn. »Ich bin eh kaum hier. Außerdem kommst du so besser ans Telefon. Nennen wir es einen flexiblen Arbeitsplatz.«

Flexibler Arbeitsplatz? Nicht sein Ernst. Doch, offenbar schon. Er verzieht keine Miene. Beziehungsweise: Er verzieht sie, sein Grummeln wird schlimmer, jedes Mal, wenn ich Carrie erwähne. Auch ohne Immies Psycho-Bücher verstehe ich genug Körpersprache, um zu merken, dass er sich bei der Erwähnung ihres Namens anspannt.

Schon ist Mittag, was ich kaum gemerkt hätte, wenn mein Magen nicht knurren würde. Ich trinke einen Schluck kalten Tee und esse einen Bissen von meinem Karottenkuchen, den ich anstelle eines Pausenbrotes mitgebracht habe. »Was den flexiblen Arbeitsplatz angeht …«, sage ich mit vollem Mund, »wir sind in Cornwall, auf dem Land, nicht in London.« Als ob er das nicht wüsste, aber manchmal muss man die Leute an so banale Sachen erinnern. Platz dürfte an sich kein Problem sein, bei all den Nebengebäuden auf dem Hof. »Diese flexiblen Arbeitsplätze funktionieren außerdem nur nach strengen Regeln.« Mit einem Blick auf die Papierstapel auf dem Schreibtisch füge ich hinzu: »Und dazu gehört, dass man seinen Arbeitsplatz aufräumt.«

Prompt raunzt er mich an: »Du bist diejenige, die hier Kuchen isst. Essen ist ein No-Go, wenn man sich einen Tisch teilt. Es sei denn, du machst ihn anschließend sauber.«

Und ich dachte immer, Bauern seien so entspannt. Dieses Exemplar hier ist wohl die große Ausnahme.

»Möchtest du ein Stück? Karottenkuchen mit Mandeln?«, biete ich ihm an. Über meinem Hunger muss ich meine Manieren vergessen haben. »Das ist das Tolle am Konditordasein: Man probiert ständig neue Torten aus.«

Erst als er mich komisch ansieht, geht mir auf, dass er keine Ahnung davon hat, was ich normalerweise mache und womit ich meine Brötchen verdiene. Er hat also immer noch nicht meinen Lebenslauf gelesen.

»Danke, nein. Ich bin nicht so für Kuchen.«

Das erklärt natürlich alles.

»Ich fange zwar erst an, den Stapel abzuarbeiten«, wechsele ich vorsichtig das Thema, Carrie will ich lieber nicht noch einmal erwähnen, »aber die Buchführung macht keinen sehr ordentlichen Eindruck auf mich.«

Das ist die höfliche Art zu sagen, dass es weder einen Terminkalender und eine Auftragsliste noch Karteikarten über die Kunden oder Buchungsbelege gibt. Alles, was ich finde, sind hingekritzelte Notizen auf einem Haufen Zettel. Zu Cates Hochzeit finde ich rein gar nichts.

Rafe zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Das dachte ich mir.«

Grummelbär Rafe scheint nicht oft da zu sein. Das ist zwar gut wegen des flexiblen Arbeitsplatzes, aber wenn ich meine Fragen loswerden will, mache ich das besser sofort. »Ihr habt erst letztes Jahr mit den Trauungen angefangen?« Er nickt. »Wie viele waren es?«

»Drei oder vier«, schnaubt er verächtlich.

»Und wie liefen die?«, hake ich nach.

Seine Augen werden zu Schlitzen. »Chaotisch.« Entdecke ich da einen Anflug von Humor hinter seiner mürrischen Fassade? »Aber die Leute hatten offenbar trotzdem Spaß.«

Bevor ich mich selbst stoppen kann, frage ich weiter. »So wie du das sagst, klingt es eher nach Tohuwabohu als nach Traumhochzeit auf dem Land. Warum machst du das, wenn es dir so am A… so egal ist?«

Er trommelt mit den Fingern auf den Tisch. »Gute Frage.« Er streckt die Beine unter den Tisch und lehnt sich zurück. »Die unschöne Wahrheit ist: Die Landwirtschaft ist am A… wie du eben so schön sagtest. Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns was einfallen lassen. Ich wollte es mit Solarenergie versuchen, aber im Dorf meinte man, ich solle auf Veranstaltungen und Hochzeiten setzen.«

»Verstehe«, sage ich.

»Wir vermieten auch Feriencottages. Das läuft ganz gut. Die Hochzeiten mache ich weiter, weil … mir sonst die Managerin für die Ferienhäuser den Dienst quittiert.«

Ich mache große Augen, als ich verstehe, was er da sagt. »Immie hält dir die Pistole vor die Brust, um Cates Hochzeit zu retten? Und du machst da mit?«

Er schaut mir in die Augen. »Es lohnt sich nicht immer zu kämpfen, Poppy. Im Ernst: Würdest du dich mit Immie anlegen wollen?«

Ich erinnere mich an eine Szene mit Immie. Sie ist sieben, steht breitbeinig auf dem Schulhof und macht ein böses Gesicht. Sie ist drauf und dran, es mit den großen Jungs aufzunehmen, die mir an den Haaren gezogen und mich zum Weinen gebracht haben wegen meines nicht existierenden Vaters. Den Raufbolden genügte allein der Anblick von Immie, und sie gaben klein bei. So ist sie immer noch. Sie hat sich seitdem nicht geändert. Eine absolut treue Seele, bereit, sich für ihre Freunde mit Haut und Haaren in die Schlacht zu werfen. Natürlich auch für Morgan, ihren Sohn, und für ihre Brüder, auch wenn die meisten von ihnen es eigentlich nicht verdient haben.

»Nein, mit Immie würde ich es auch nicht aufnehmen wollen. Hast du jemals diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen? Zum Kampf und zu allem entschlossen?«

Er nickt. »Das heißt, ich muss das mit den Hochzeiten durchziehen. Und du musst das mit dem flexiblen Arbeitsplatz durchstehen. Bis zu Cates Trauung.« Entschlossen schlägt er seine flache Hand auf die Oberschenkel und steht auf. »Dann ist Schluss, und ich kann mich auf meinen Hof und die Landwirtschaft konzentrieren, ohne Störungen. Noch Fragen?«

Mist, er geht. Dabei gibt es noch so viel, was ich wissen will. Es sprudelt nur so aus mir hervor: »Wo finden die Feiern eigentlich statt? Was ist mit Strom und Steckdosen? Was sage ich, wenn Anfragen kommen?«

»Ich zeige dir bald alles.« Jetzt macht er das schon wieder, redet, während er aus der Tür geht. Das nervt mich gewaltig. »Ich hoffe, diese Cate weiß das alles zu schätzen.«

»Bestimmt«, sage ich. Aber das hört er schon nicht mehr, denn ein Windstoß hat die Tür hinter ihm zugeschlagen.

6. Kapitel

»Brides by the Sea«: Fähnchen und Wimpel

Das Gute an meinen vielen Jobs ist die Abwechslung. Gestern habe ich Ordnung in das Chaos im Büro des Gutshofs gebracht, heute verziere ich Törtchen für eine Hochzeitsfeier in einem altmodischen Tanzcafé. Dann ruft mich Sera von unten und bittet mich, ihr mit einem Saum zu helfen.

Sie kniet gerade vor einer Braut und arbeitet an einem wunderschönen Kleid mit herzförmigem Dekolleté und einem sehr bauschigen Rock. Während Sera den Saum und die wahnsinnig lange Schleppe absteckt, reiche ich ihr die Nadeln. Dabei plaudern wir beide angeregt mit der Braut, damit die nicht aus den Latschen kippt. Das geht eine halbe Stunde so, und Sera ist fast fertig, da taucht Jess auf.

»Na, fertig? Können Sie noch stehen?«, fragt sie die Braut. Dann wendet sie sich an mich: »Poppy, ich mache weiter. Immie ist hier und möchte dich kurz sprechen. Ich habe sie hochgeschickt. Sie wartet dort auf dich.«

Da ich weiß, wie scharf Immie auf Kuchen ist, beeile ich mich, nach oben zu kommen. Ich springe die Treppe hinauf und bin gerade noch rechtzeitig in der Küche.

»In diese Törtchen da könnte ich mich reinsetzen!« Immie beugt sich gierig über den Tisch.

»Hände weg von den Törtchen!« Schnell ziehe ich das Blech weg und zähle dabei die süßen Teilchen, die ich noch bunt verzieren will. Erleichtert stelle ich fest, dass sie vollzählig sind. »Setz du mal das Wasser auf. Ich habe hier einen Schokoladenkuchen, den du kosten kannst.« Das versöhnt sie hoffentlich für die entschwundenen Törtchen. »Und dazu gibt’s ’ne Tasse Tee.«

»Super«, sagt Immie und schlängelt sich am Tisch vorbei zum Wasserhahn.

Sieht so aus, als wolle Immie quatschen. Allerdings verabredet sich Immie normalerweise auf ein Bier, nicht zum Tee.

»Und während ich meine Törtchen verziere …« In einem sehr blumigen, verspielten Stil, in Blau und Rosa, mit Fähnchen und Rosen. Die Törtchen gehören zu einer dreistöckigen Hochzeitstorte, die nachher abgeholt wird. Deshalb drücke ich so auf die Tube. »… erzählst du mir, was ich mit Rafe anfangen soll.«

Immie runzelt die Stirn. »Rafe? Was ist mit ihm?« Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ihre Überraschung gespielt ist.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Ich tupfe weiße Pünktchen aus Zuckerguss auf die blau gescheckte Buttercremeglasur. »Er hasst Hochzeiten, er lacht nie, und das Allerschlimmste: Er mag keinen Kuchen! Er schnauzt mich an, oder er redet gar nicht mit mir.« Mit der Spritztüte in der Hand zähle ich meine Kritikpunkte auf. »Er geht einfach weg, wenn ich mit ihm rede. Er beschwert sich über Kuchenkrümel, doch sein, also mein Schreibtisch ist ein einziges Chaos, da lässt er zig Zettel liegen.« Den Tag gestern habe ich damit verbracht, den Stapel Papier zu sortieren. »Irgendwie muss ich ihn auf Linie bringen, sonst halte ich es bis Oktober nicht durch. Mit Naschwerk kann ich ihn ja nicht rumkriegen.«

Ich unterbreche meine Tirade, um den Schokoladenkuchen für Immie auf den Tisch zu stellen. Ihre Augen leuchten auf, als ich ihr ein großes Stück abschneide.

»Du kennst doch die Waffen einer Frau.« Sie zwinkert mir verschwörerisch zu. »Dir wird schon was einfallen, um Rafe handzahm zu machen. Die Schlammschlacht im Graben war ja ein guter Anfang. Immerhin hat sie dir den Job eingebracht. Du bist die Heldin, die sozusagen aus der Hecke hervorgesprungen ist, um Cates Hochzeit zu retten. Die Hecken-Hochzeits-Heldin. Fast wie im Märchen.«

Wenn Immie das denken will, dann soll sie. Wenn ich ihr erzähle, dass Cates Hochzeit wegen ihres einschüchternden Wesens gerettet wurde, steigt ihr das womöglich zu Kopf.

»Meine weiblichen Qualitäten sind hier nicht gefragt.« Ich setze vorsichtig rosa Zuckerblumen auf die Törtchen. »Um Rafe rumzukriegen, bräuchte ich was Herzhaftes, keinen Sex. Zum Beispiel eine Quiche mit Brokkoli und Tomaten. Holz vor der Hütte wirkt da nicht.«

Immie kichert und hängt Teebeutel in unsere Tassen. »Kochen ist auch eine Verführungskunst.« Sie lacht ihr tiefes Lachen, während ich erbsengroße Kreise auf ein rosa Törtchen pinsele.

»Was führt dich eigentlich hierher? In die Stadt?«, frage ich, während ich konzentriert weiterarbeite.

»Ich habe Carries Wohnung aufgeräumt und will ihr ihre Sachen per Post nachschicken.«

»Wie bitte?« Der Kreis auf dem Törtchen gerät ins Schlingern, als ich den Kopf abrupt hebe. »Bist du denn sicher, dass sie das möchte?«

»Wenn ich derart teure Dessous besäße, würde ich auch wollen, dass man sie mir hinterherschickt.«

Ich staune, dass die männerverachtende Immie weiß, was Dessous sind.

»Ich hätte gedacht, sie hat ihre Sachen hiergelassen, um einen Grund zu haben, noch mal zurückzukommen.« Das rutscht mir raus, bevor ich mir dessen bewusst bin.

Ein Lächeln breitet sich auf Immies Gesicht aus. »Sprichst du da von dir oder von Carrie, Pops? Du hast deine Sachen auch immer noch bei Brett liegen, stimmt’s?«

Typisch Immie. Sie liest immer zwischen den Zeilen. Aber mit Brett ist es eindeutig vorbei, egal, was Immie mir unterstellt.

»Du irrst, Fräulein Freud«, stelle ich klar. »Ich wäre froh, wenn mir jemand meine Sachen schicken würde.« Hoffentlich ist das Thema damit beendet. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob ich meine Sachen überhaupt noch haben will. »Kein Wunder, dass Rafe so mürrisch ist, wenn Carrie ihn sitzen gelassen hat.«

»Carrie und Rafe waren nie zusammen.« Immies Stimme überschlägt sich vor Überraschung. »Wie kommst du auf die Idee?«

Ich zucke mit den Schultern. »Weil Rafe vor Wut schäumt, wenn auch nur ihr Name erwähnt wird.« Obwohl, genau genommen scheint er auch zu schäumen, wenn mein Name erwähnt wird.

Immie verdreht ihre Augen. »Rafes Mutter wollte ihn mit ihr verkuppeln. Und Carrie wollte sich mit den Hochzeiten unersetzlich machen und in den Landadel einheiraten.«

»Rafe gehört zum Landadel?« Ich unterbreche meine Kuchen-Deko-Arbeit und sehe auf.

»Ihm gehören so einige Hektar Land. Carrie war ganz scharf drauf.«

»Klingt, als mochtest du sie nicht sehr.«

»Rafe ist zwar ein alter Grummelpott«, sagt Immie, »aber ehrlich: Er verdient was Besseres.«

Ich frage mich, ob hier die superrealistische Immie spricht oder ob sie unter ihrer schroffen Oberfläche nicht auch zarte Gefühle für ihren Boss hegt.

»Ich weiß nicht, was er mehr verabscheut hat«, sagt Immie, »die Hochzeitsgesellschaften, die über sein bestes Weideland trampeln, oder Carrie mit ihren Upperclass-Attitüden und ihrem roten Lippenstift.«

Ich versuche, möglichst neutral zu klingen. »Eine Mutter, die ihn ständig verkuppeln will, ist aber auch kein Spaß. Egal, wie aufgetakelt die Frauen sind, die sie ihm aussucht.«

»Seine Mutter wollte ihm nur helfen«, erklärt Immie. »Rafe hatte mal eine Freundin, Helen hieß sie. Aber die hat ihn sitzen lassen und seinen besten Freund geheiratet.«

»Krass.« Ich bin zwar auch betrogen worden, aber zumindest bin ich diejenige, die gegangen ist. Andererseits ist es ganz schön traurig, wenn man anfängt, gescheiterte Beziehungen miteinander zu vergleichen.

»Das ist lange her. Sie verließ ihn, weil Rafe sie nicht heiraten wollte. Es wird Zeit, dass er endlich erwachsen wird.« Resolut taucht Immie die Teebeutel in die Tassen und schiebt einen Becher zu mir rüber.

Der Tee ist teerschwarz. Ich wende mich lieber wieder meiner Deko-Arbeit zu. Den Tortenrand verziere ich mit einem Muster aus Dreiecken und Wimpeln.

»Apropos …« Immie grinst mich über ihren Teebecher hinweg an. »Rafe meinte, dass er dir für die Arbeit eines der Feriencottages überlassen würde.«

Erstaunt fahre ich zusammen und setze aus Schreck ein Fähnchen auf den falschen Fleck auf der Torte. Wenn ich so weitermache, ist die Torte verpfuscht, und ich muss sie Immie zum Fraß vorwerfen.

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass er das sicher tun wird.« Immie ignoriert meine Überraschung und beißt genüsslich in ihr Kuchenstück. Sie selbst wohnt auch kostenlos in einem von Rafes Cottages und ist ganz versessen darauf, dass ich da auch einziehe.

Seufzend setze ich eine Zuckerrose auf das nächste Törtchen. Daneben streue ich bunte Streusel.

»Danke, aber ich brauche kein Haus.« Jess hat mir geholfen und die Wohnung über dem Laden angeboten, als ich Brett verlassen habe. Die Dachwohnung über »Brides by the Sea« ist zwar winzig, aber so bekomme ich gleichzeitig viele Aufträge. Und vor allem fühlt sie sich mehr und mehr wie ein Zuhause an. »Auch wenn die Wohnung größer ist, was soll ich mit einem Cottage auf dem Land für einen nur befristeten Job?«

»Wie du meinst«, sagt Immie resigniert. »Rafe will morgen die Führung machen.«

»Was?«, verwirrt blicke ich von meinen Streuseln auf.

Immie lacht. »Die Führung über den Gutshof. Er wollte dir doch die Scheune für die Feiern und die Kühe zeigen.«

Die Kühe, stimmt. Toll. Ganz toll. »Kannst du mir das nicht zeigen?«, frage ich mit flehentlichem Unterton.

Immie schüttelt den Kopf. »Rafe will das unbedingt selbst machen. Er sagt, du sollst um zwei Uhr da sein. Und dich warm anziehen.«

Noch ein Nachmittag mit dem Grummelgutsherrn. Na toll. »Aus der Nummer komme ich nicht raus, oder?«

»Nee«, lacht Immie. »Übrigens: Dein Schokokuchen ist köstlich. Kriege ich noch ein Stück?«

Wäre ich doch bloß beim Tortenbacken geblieben!

7. Kapitel

Daisy Hill, Führung über den Gutshof: Fressen Kühe Kuchen?

Bitte weggucken, mein Outfit ist echt gruselig!

»So ein dünnes Jäckchen ist nichts für einen Gutshof«, sagt Rafe und zeigt auf meinen dicksten Wintermantel mit Fellkragen, als ich am nächsten Tag bei ihm in der Einfahrt stehe. »Ich hole dir eine Wachsjacke.«

So wie er das sagt, klingt das höchst bedeutungsvoll. Und schon geht er ins Haus und holt die Jacke. »Super«, sage ich und denke an die Jacke, die mir Immie am Sonntag geliehen hat und die man fast noch als modisch bezeichnen konnte. Das, was Rafe da jetzt anschleppt, sieht komplett anders aus. Mag sein, dass es sich auch Wachsjacke schimpft, aber schicke englische Mode ist das hier bestimmt nicht. Ich sehe darin jedenfalls aus wie ein Zelt auf zwei Beinen.

»Danke«, sage ich, weil ich nicht unhöflich sein will. Aber ein echtes Zelt sähe vermutlich noch besser aus. Obwohl ich zugeben muss, dass das Wachs gut riecht und ich mich in dem Kleidungsstück ziemlich wohlfühle.

So weit zu Stilfragen. Was den fahrbaren Untersatz angeht, wird’s auch nicht besser. Wir fahren nicht mit einem Auto, auch nicht mit dem Landrover. Wir fahren Traktor. Genau, so ein Ding mit vier Riesenrädern, für das man eine Leiter zum Einsteigen braucht.

Eine Stunde später raucht mein Hirn vor lauter Infos über Milchquoten, Preise für Futtermittel, Bio-Landwirtschaft und konventionelle Betriebe. Echt interessant. Noch interessanter ist, dass Rafe und seine Familie Land kaufen wie ich Kate-Moss-Kleider auf eBay. Und ich habe herausgefunden, dass Rafe sehr viel zugänglicher ist, wenn wir uns über Kühe statt über Kuchen unterhalten. Jetzt stehen wir in einer windigen Scheune. Auf dem Boden liegt weiches gelbes Stroh. Ein paar süße schwarz-weiße Kälber stehen auf ihren wackeligen Beinchen vor uns.

»Das letzte Mal, dass ich Stroh gesehen habe, war beim Krippenspiel im Kindergarten«, sage ich. Mehr weiß ich zum Thema Stroh nicht beizutragen. Ich hoffe, dieser Mann weiß meine Mühe zu schätzen.

»Komm mal her …«, sagt Rafe mit seiner tiefen Stimme.

Ein Kalb streckt sein Köpfchen durch das Gitter und leckt über Rafes Hand.

»Wenn du deinen Finger hinhältst, saugt es daran«, erklärt er.

Ich zucke zusammen. »Aha. Das ist nichts für mich.«

»Probier es. Die meisten Menschen mögen das …« Rafe streichelt das Kalb zwischen den flauschigen Ohren.

Kuhsabber? Na gut. Ich reiße mich zusammen und strecke meine Hand aus. Als Nächstes spüre ich eine feuchte, weiche Nase an meiner Handinnenfläche.

»Oh!« Diese Wachsjacken sind offenbar Kuhsabber-abweisend. Gut, dass ich nicht meinen Lieblingswintermantel trage.

»Gut, oder?« Rafe stößt so etwas wie einen Lacher aus. Dann erst wird mir klar, dass er mit dem Kalb redet, nicht mit mir.

»Ah, sieh nur, die blauen Augen … und die Wimpern!« Ja, das klingt albern, aber es sind immer die Augen, die einen umhauen, bei Tier- und bei Menschenkindern. Immie meint, wir sind darauf von Natur aus programmiert. Sobald wir Baby-Augen sehen, kommt der Mutterinstinkt durch.

»So.« Rafe nimmt meine Hand und führt meine Finger zum Maul des Kälbchens.

Die Zunge des Kalbs ist rau und warm. Als das Tier an meinem Finger zu saugen beginnt, krächze ich erschrocken auf.

»Das darf man nicht zu oft machen, sonst trinken sie nicht mehr aus dem Eimer«, erklärt Rafe. »Aber das nimmt uns Menschen die Nervosität.«

Warum klingt seine Stimme jetzt so schokoladig? Dabei hat er noch nicht einmal meine Brownies probiert.

»Komm zur Fütterungszeit. Da rennen die Kälber dich über den Haufen, so wild sind die auf ihre Milch.« Seine Lippen deuten ein Lächeln an. »Das Leben auf dem Land ist hart. Aber das hier ist immer schön.«

Alles, was ich ihn über die Hochzeiten fragen wollte, ist vergessen. Eigentlich schade, weil Rafe im Plaudermodus zu sein scheint und ich ihn mit Fragen bombardieren könnte.

»Daisy Hill braucht eine Webseite«, schießt es aus mir hervor. Die Webseite steht ganz oben auf meiner To-do-Liste. Das fiel mir grade noch ein.

Ein zweites Kalb schnüffelt am Zaun. Und bevor ich weiß, wie mir geschieht, nimmt Rafe meine andere Hand und hält sie dem Tier an die Nase. Und schon nuckeln zwei Kälbchen an meinen Fingern.

»Dann bau eben eine«, haut er raus, ohne mich anzusehen.

»Ich?« Mir wird warm, und ich stehe nicht mehr in der Zugluft. Der Cordkragen meiner Jacke riecht leicht nach Aftershave. Ob das seins ist? Schnell verdränge ich den Gedanken.

»Du wolltest den Job. Du entscheidest das. Tu, was du für richtig hältst.«

»Gut.« Das sollte einfach sein. Aber warum klingt das aus seinem Mund so schwer?

»Unter einer Bedingung.« Endlich sieht er mich an, und sein Blick ist beinahe feindselig. »Lass mich damit in Ruhe. Ich will damit nichts zu tun haben.«

»Okay.« Aber was ist mit dem Rest meiner To-do-Liste? Wer beantwortet mir all die Fragen?

»Gut. Dann zeige ich dir den Bereich, in dem die Hochzeitsfeiern stattfinden. Falls du dich von den Kälbern trennen kannst.«

Sonderbarerweise fällt es mir tatsächlich schwer, mich von den Kälbern mit ihren feuchten Schnauzen zu verabschieden. Ich tue es sehr langsam.

Nachdem ich mich endlich von den Tieren gelöst habe, reicht Rafe mir ein Handtuch. Zum Glück, denn die Kuhspucke ist sehr klebrig. Ich reibe noch meine Hände an der Jeans ab, als wir die Scheune verlassen und das Scheunentor hinter uns zufällt.

»Was deinen Vertrag angeht, Hochzeitsplanerin ist nicht die richtige Bezeichnung. Du trägst die Gesamtverantwortung. Du bist auch die Ansprechpartnerin bei den Feiern. Du musst dich um alles kümmern und alles im Blick haben.« Rafe führt mich zurück zum Traktor. Gegen den Wind ruft er: »Wir nennen dich besser Veranstaltungsmanagerin.«

Immie hatte recht. Der Typ hat wirklich keine Ahnung.

8. Kapitel

Die Führung geht weiter: Rote Stiefel und Frühlingsschauer

»Deine Geburtstagstorte wäre entweder ein Traktor oder eine Kuh.« Ich denke laut nach. Das mache ich wie gesagt immer, wenn ich jemanden kennenlerne, dass ich mir einen Kuchen für denjenigen ausdenke. Selbst dann, wenn dieser Jemand so komisch ist wie Rafe.

Wir holpern über die Feldwege zurück zum Haupthaus. Mein Kopf platzt vor Infos über Kühe, Schafe, Dünger und Gülle. Gülle? So eklig! Keine Sorge, ich behalte die Einzelheiten für mich. Mein Köpfchen ist so voll mit Fakten über Landwirtschaft, das reicht für ein ganzes Leben. Deshalb habe ich jetzt nur noch Kapazität für ein Gespräch über normale Dinge.

»Wozu brauche ich eine Geburtstagstorte?«, fragt Rafe und wirft mir einen skeptischen Blick von der Seite zu. Mir ist aufgefallen, dass er das fast immer macht, wenn ich rede.

Ich bin hin- und hergerissen zwischen meinem Ärger über den Grummelpott und meinem Mitleid für jemanden, der offensichtlich noch nie die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte ausgepustet hat. Wieso gibt es Menschen, die so wenig Spaß in ihrem Leben haben?

»Wann hattest du das letzte Mal eine Torte zum Geburtstag?« Das soll nett klingen. Ich will die Unterhaltung am Laufen halten, damit ich nicht wieder das tue, was Immie mein »nervöses Geplapper« nennt.

»Weiß nicht. Wahrscheinlich mit fünf.«

Wahrscheinlich stimmt das nicht. Typisch Mann, so was blocken die immer ab.

»Meine Mutter hat immer superleckere Torten zu meinem Geburtstag gebacken«, sage ich, bevor ich darüber nachdenken kann. Eigentlich rede ich nicht über meine Mutter, schon gar nicht mit Fremden. Schnell weiter im Text. »Zu meinem fünften Geburtstag hat sie mir eine Torte mit einem Karussell drauf gebacken. Mit wiehernden Pferden, die um Zuckerstangen traben.« Dass ich in einer Küche aufgewachsen bin zwischen Spritztüten und Schüsseln mit Zuckerguss, hat sicherlich auf mich abgefärbt. Aber das werde ich dem Kuchenhasser nicht erzählen.

»Ich bin zwischen Kühen und Traktoren aufgewachsen, du mit Kuchen und Torten. Das erklärt einiges«, sagt er und lacht abfällig. »Kinder mit einer glücklichen Kindheit werden meist nervtötend glückliche Erwachsene.«

Waren das gleich zwei Seitenhiebe auf einmal? Ich bezweifle, dass für meine Mutter die Zeit meiner Kindheit besonders glücklich war. Sie war alleinerziehend. Mein Vater starb so früh, dass ich mich nicht an ihn erinnern kann. Rafe erzähle ich das natürlich nicht. Wir hatten kaum Geld und lebten zur Miete, aber meine Mutter hat mich das nicht spüren lassen. Unsere Wohnung war zwar winzig, aber dort herrschten Wärme und Zuneigung und das pralle Leben. Falls Rafe mich mit seinen bissigen Bemerkungen zum Schweigen bringen wollte, dann gebe ich nicht klein bei.

»Und du hattest alles und bist so ein übellauniger Grummelbär geworden«, erwidere ich. Das klang schnippischer, als ich gedacht hatte. Aber irgendwer muss ihm schließlich mal die Wahrheit sagen.

»Mag sein, dass ich keine bunten Gummistiefel trage und kein Zuckerbäcker bin«, schießt er zurück, »aber irgendwer muss ja die Verantwortung tragen.«

Dann hat er also doch die roten Stiefel, die mir Cate geliehen hat, bemerkt. He, was ist das für ein Typ, der sich über Gummistiefel mokiert?

Er schnaubt verächtlich. »Und überhaupt, dieses knallrote Haar passt vielleicht zu deinem Namen und deinen lustigen Hippie-Freunden, aber für eine Hochzeitsplanerin scheint mir das nicht angemessen zu sein.«

Okay, die Stiefel sind geliehen, meine Frisur ist eine blöde Trennungsfrise, und den Job mache ich nicht aus freien Stücken. Aber ich brauche eine Minute, um mich von dem Angriff zu erholen.

»Und überhaupt: Ich bin nicht Hochzeitsplanerin, sondern Veranstaltungsmanagerin, wie du vorhin sagtest.« So, nimm dies! Zwar muss ich zugeben, dass ich selbst Zweifel an meiner Frisur habe. Aber jetzt, wo er so unverschämt ist, werde ich mich hüten, meine Haare zu ändern. »Und zu meinem Namen: Poppy heißt zwar Mohn, aber ich bin nach dem Blauen Mohn benannt.« Das war die Lieblingsblume meiner Mutter. Unser Garten war voll davon. »Meconopsis auf Latein.«

Statt zu antworten, stellt er das Radio an. Auf Feldwegen rumpeln wir zum Hof zurück. Aus dem Lautsprecher dröhnt Oasis. Wir brettern die Einfahrt hoch, und da steht Immie und winkt wild. Endlich schaltet Rafe die Musik aus und beugt sich aus dem Traktor.

»Vertragt ihr beide euch? Seid ihr wieder in den Graben gefallen?«, fragt Immie und lacht schelmisch.

Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nein! Aber Immie will gar keine Antworten.

»Ach, Rafe, Morgan hat angerufen. Er kommt nachher vorbei und hilft mit dem Motor«, sagt sie.

»Gut«, lautet die einsilbige Antwort von Rafe.

Morgan ist Immies Sohn. Er ist vierzehn. Aus dem kleinen Jungen ist über Nacht ein Monster, ein richtiges Pubertier geworden. Den Hormonen sei Dank.

Das sind Immies Worte. Nicht meine. Rafe soll ihrem Sohn wohl in Sachen Testosteron als Vorbild dienen. Armer Morgan.

»Wir sind auf dem Weg zur Festwiese. Bin gleich zurück und bei Morgan«, sagt Rafe und greift ans Steuer. Und schon hoppelt der Traktor wieder über die Feldwege.

Als er durch ein offenes Gatter braust, grolle ich immer noch und denke außerdem, dass wir dringend Wegweiser auf dem Gelände brauchen.

»Wie sähe denn deine aus?«, fragt er unvermittelt, während wir über ein zerfurchtes Feld rattern.

»Was?«, frage ich. Ich weiß nicht, wovon er spricht.

»Deine Geburtstagstorte. Was für einen Kuchen würdest du für dich selbst backen?«

Wer hätte ihm so eine Frage zugetraut?

»Mit Blumen, mit ganz vielen Sommergartenblumen.« Ist doch klar. »Vielleicht will ich keinen Kuchen, sondern eine mehrstöckige Torte.«

Damit gebe ich offenbar zu viel preis. Denn er schüttelt den Kopf. Dann hält er vor einer Scheune, und ich mache große Augen.

»Das ist es«, sagt er gleichgültig. »Der offizielle Teil findet drinnen statt, draußen auf dem Rasen ist Platz für Zelte, auf dem Feld nebenan kann geparkt werden. Das ist alles.«

Ich sollte jetzt besser nicht ins Schwärmen geraten, aber meine Begeisterung fegt sogar meinen Ärger fort. »Wunderschön!« Selbst an diesem grauen Wintertag sieht die Scheune wunderschön aus. Die gedrechselten Holzsäulen am Eingang und die alten Pflastersteine auf dem Boden – wie hübsch das erst geschmückt und mit Blumenkränzen verziert aussehen muss! Ich lasse meinen Blick über das weite Feld, das Wäldchen am Rande und den Bach schweifen, und mir wird klar, warum Cate unbedingt hier heiraten will.

Mit einem Schwung öffnet Rafe die Tür des Traktors und springt raus. Kalte Luft strömt herein und mit ihr ein widerlicher Gestank.

Ich drücke meine Nase in den Jackenärmel und klettere aus dem Wagen. »Was ist das für ein Gestank?«

»Der Geruch?«, fragt er halb belustigt, halb genervt. »Das Feld nebenan wird gedüngt.« Rafe verschränkt die Arme vor der Brust. »Gibt es da ein Problem?«

Er hat offensichtlich keins. Obwohl es bestialisch stinkt. Ich schiele über die Hecke zum Nachbarfeld. Die Weide ist dick bedeckt mit einer braunen Schicht, die verdächtig wie Kuhkacke aussieht.

»Das machst du doch nicht …«, frage ich mit verzagter Stimme, »… auch auf diesem Feld hier, oder?«

»Doch. Das steht als Nächstes auf dem Zettel«, erwidert er, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. »Oder auf der To-do-Liste, wie du sagen würdest«, fügt er ätzend hinzu.

»Bist du verrückt? Die Bräute können doch nicht durch … durch …«, ich reiße mich zusammen, »… durch Kuhscheiße waten.«

Er zuckt mit keiner Wimper. »Keine Sorge, ein kleiner Frühlingsregen, und das Ganze sickert in den Boden.« Da spricht der Bauer zu dem Stadtei. Nicht der Gutsbesitzer zu seiner Veranstaltungsmanagerin.

Mir raucht das Hirn. Da muss ich mit ihm drüber reden.

»Die nächste Hochzeitsfeier findet Ostern statt.«

Rafe ist unbeeindruckt.

»Also am 25. März«, rechne ich nach, und mir wird kalt. »In fünf Wochen.« Meine Stimme überschlägt sich beinahe. Es müsste eine Sintflut geben, damit dieser … Mist versinkt.

Seine unbewegliche Miene drückt Triumph aus. »Wie schon gesagt, das ist dein Ding und dein Problem. Du bist die Managerin, du musst das regeln.«

Letzte Woche noch hätte ich das mit mir machen lassen. Noch vor zehn Minuten wäre ich wahrscheinlich zu schüchtern gewesen, um zu widersprechen. Aber Kuhscheiße sei Dank habe ich mich verändert. Entschlossen schiebe ich die Fäuste in die Taschen meiner Wachsjacke und beiße die Zähne zusammen.

»Also gut«, sage ich und recke das Kinn vor. Ich will tief Luft holen, halte kurz inne und atme nur leise aus. »Wenn ich das Sagen habe, dann sage ich: Hier auf dieser Weide wird keine Kuhscheiße ausgebracht. Und auch auf den angrenzenden Feldern nicht. Ist das klar?«

Insgeheim jubiliere ich über meinen bestimmenden Tonfall.

»Dann eben nicht«, grummelt er. »Das ist aber nicht gut für den Boden, langfristig.« Laut seufzend dreht er sich um und holt sein Handy hervor.

»Der Boden ist nicht mein Ding und nicht mein Problem«, zische ich.

Nein, mein Problem ist viel größer. Mein Problem ist ein Albtraum namens Rafe Barker. Und die Hochzeit in fünf Wochen. Und wie ich die organisieren soll, wenn – Carries Chaos sei Dank – ich noch nicht einmal die Kontaktdaten des Brautpaares habe.

9. Kapitel

»Brides by the Sea«, meine Wohnung: Muffin gefällig?

Nach dem ersten Schock darüber, dass ihre Hochzeit auf der Kippe stand, wollte Cate das Schicksal nicht herausfordern und hatte das Kleider-Shopping für die Brautjungfern am letzten Sonntag abgesagt. Das holen wir jetzt, da die Hochzeitsvorbereitungen wieder Fahrt aufnehmen, nach. Nach Feierabend wollen wir in »Brides by the Sea« Kleider anprobieren. Um uns in die richtige Stimmung zu versetzen, backe ich noch schnell eine Fuhre Törtchen. Ich stehe in meiner Miniküche und verteile Gänseblümchen aus Zucker auf die Zitronenbuttercreme, als Immies Textnachricht auf meinem Handy erscheint:

Bin hier. Etwas zu früh. Bist du da? LG!

Etwas ist gut. Sie ist viel zu früh. Ich dachte, ich hätte noch mindestens eine halbe Stunde, um meine Törtchen fertig zu backen und mich umzuziehen. Schnell ziehe ich die Schürze aus und hechte die vier Treppen herunter. Ich reiße die Tür auf, und da steht Immie mit einem riesigen Karton in der Hand.

Ich lotse sie unter Luftküssen in den Laden. »Ich wusste gar nicht, dass du Kleider mitbringen wolltest.«

»Das sind keine Kleider«, sagt sie und runzelt verunsichert die Stirn. »Vielleicht bringst du mich jetzt um. Ich musste wegen eines Seminars nach Falmouth, da bin ich bei Brett vorbeigefahren.«

»Wie bitte …?« Ich öffne meinen Mund und schließe ihn wieder und sinke schließlich stumm gegen den Türrahmen.

»Nach dem, was du über Carrie und ihren Kram gesagt hast, dachte ich, es sei an der Zeit, dass du deine Sachen bekommst«, sagt Immie jetzt ein wenig mutiger. »Der ganze Wagen ist voll.«

Was zum Teufel …? Immerhin besitzt sie so viel Anstand, ein wenig verlegen dreinzuschauen. Und das kommt bei Immie wirklich nicht oft vor.

»Es tut mir leid, Pops, aber einer musste das mal machen.« Sie setzt den Karton an der Treppe ab. »Komm, hilf mir, das Zeug aus dem Auto zu holen.« Bevor ich protestieren kann, nimmt sie meinen Arm, und schon sind wir draußen und schleppen Kartons und Taschen vom Wagen zum Laden.

Als Cate um fünf erscheint, sind Immie und ich durchgeschwitzt und ganz rot im Gesicht. Und mein kleines Schlafzimmer ist vollgestellt mit Tüten voller Klamotten.

»Packst du schon, um auf den Gutshof zu ziehen?«, fragt Cate, löst ihr Haarband und schüttelt ihre Mähne. Sie zieht ihren Mantel aus, nimmt ihre Tasche und legt alles auf mein Bett.

»Nee, andersrum. Die Sachen ziehen hier ein, sie kommen aus dem Penthouse«, klärt Immie Cate auf. »Ich bringe Poppy ihre geliebten Festivalstiefel.« Sie sieht mich mit diesem strengen, aber liebevollen Blick an. »Du und Brett, das ist Geschichte, Poppy.«

»Aha«, sagt Cate zögernd. Sie hat heute extra früher Feierabend gemacht, wegen der Hochzeitskleider, nicht wegen eines Umzugs. Es ist Freitagabend, und nach einer harten Woche will sie jetzt bestimmt einen Sekt trinken und dann unten im Laden shoppen.

Ich spiele mit dem Zipfel an einer Tüte voller Klamotten. »Ich glaube, ich wollte Zeit schinden, indem ich meine Sachen bei Brett lasse.« Jetzt, da meine Sachen hier sind, kommt mir die Trennung sehr echt und sehr nah vor. Dabei geht es mir weniger um Brett als vielmehr um die Tatsache, dass ich von nun an auf mich gestellt bin. Und zwar für immer, denn mit den Beziehungen bin ich durch. »Es fällt mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, nie wieder eine Beziehung und eine Familie zu haben.«

Cate legt ihren Arm um meine Schulter. »Zieh auf den Hof. Dann bist du näher bei Immie und mir. Wir sind deine Familie.«

Immie nickt.

Die Vorstellung, meine Dachwohnung mitten in St. Aidan zu verlassen, sagt mir schon nicht zu, doch der Gedanke, in unmittelbarer Nähe von Rafe Barker zu wohnen, ist der reinste Albtraum. »Und näher an dem Chef aus der Hölle?!«

Cate sieht mich an und versucht, schlau aus mir zu werden. »Du und Rafe, ihr versteht euch also nicht so gut?«

Immie lacht. »Das ist eine Untertreibung. Immerhin ist unser zahmes Kätzchen hier zur Löwin geworden.«

»Das tut mir leid, Poppy. Das ist meine Schuld, dass du da reingeraten bist.« Cates Augen leuchten auf. »Aber das mit der Löwin klingt gut. Was ist passiert?«

»Wollt ihr einen Muffin?«, frage ich, um vom Thema abzulenken. »Im Kühlschrank steht Sekt.«

Die beiden schweigen. Seit wann lassen sie sich nicht mal mehr mit Sekt ködern?

»Setzt euch, und ich erzähl euch alles, während ich die Flasche entkorke. Abgemacht?« Das scheint zu ziehen. Wir quetschen uns in meine kleine Küche, und ich hole die Flasche. Ich warte, bis die beiden ihren Sekt in der Hand halten und den Mund voll Kuchen haben, damit sie mich nicht allzu oft unterbrechen können. Weil, ehrlich gesagt habe ich mich dasselbe gefragt: Warum reagiere ich so heftig auf Rafe, wo ich doch sonst kaum einen Pieps sage?

»Ich weiß gar nicht …«, setze ich an. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Geistesabwesend habe ich mir ein Stück Brot genommen, und während ich rede, fallen die Krümel auf meinen Schoß, und ich muss an Rafe denken und wie er sich über meine Krümel beschwert hat. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Bei Brett habe ich mich immer zurückgehalten, weil ich nicht wollte, dass er Schluss macht. Ich habe nie gesagt, was ich denke, aus Angst, ihn zu verlieren.«

»Du gibst also zu, dich wie ein Fußabtreter verhalten zu haben?«, fragt Immie schlaumeiernd. Ist ihr jetzt der Zucker oder der Sekt zu Kopf gestiegen?

Ihr Sektglas ist jedenfalls schon fast leer. Ich schenke ihr nach und überhöre geflissentlich das mit dem Fußabtreter. »Brett hat immer so getan, als habe er die Hosen an. Und das war okay, weil er besser war als ich.« Ich achte nicht auf Cates und Immies entsetzten Gesichtsausdruck und fahre fort: »Ich habe meinen guten Job aufgegeben, weil ich bei ihm sein wollte. Als ich dann mit ihm zusammengelebt habe, war er derjenige mit dem besseren Gehalt, ihm gehörten die Wohnung und das schnelle Auto. Ich habe nur kleine Kuchen gebacken.«

»Ich kommentiere das mal lieber nicht«, sagt Immie und schüttelt den Kopf. »Und wieso sagst du Rafe jetzt, was du denkst?«

»Ganz einfach«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. »Erstens, weil es mich echt wütend gemacht hat, dass er beinahe deine Hochzeit hätte platzen lassen, Cate. Und mich für dich und deine Feier einzusetzen, das fällt mir viel leichter, als für mich selbst einzustehen.«

»Danke, Poppy«, ruft Cate. »Toll!«

»Die Art, wie die Geschäfte geführt werden, ist ein einziges Chaos«, sage ich und ermahne mich, vorsichtig zu sein. Schließlich will ich Cate nicht beunruhigen. Wenn sie wüsste, dass es zu ihrer Hochzeit keine Unterlagen gibt, flippt sie womöglich aus. »Erzähl’s nicht weiter«, ich schaue ihr fest in die Augen, »aber da ist zum Beispiel eine Hochzeit für nächsten Monat gebucht, und ich habe keine Ahnung, wer heiraten wird und wie ich das herausfinden soll.«

Cate reißt die Augen auf. »Ach, du Scheiße …!«

Ich erzähle weiter. »Und Rafe ist das egal. Außerdem ist er immer so unglaublich unhöflich. Und so nervig.« Nur bei dem Gedanken an ihn kribbelt’s in mir. »Dabei hat er alles, er sieht gut aus, er kommt aus einer wohlhabenden Familie, ihm gehört dieses große Haus. Ihm geht’s so gut, und dann macht er sich nicht mal die Mühe, halbwegs freundlich zu sein. Daher habe ich mich zum ersten Mal seit Jahren nicht mehr zurückgehalten und ihm die Meinung gegeigt, als er mir tierisch auf den Senkel gegangen ist.«

»Oh weia«, sagt Immie beeindruckt.

Cate schwenkt ihr Sektglas in der Luft. »Wow, Poppy!«

Ich schenke ihnen Sekt nach. Wenn wir so weitermachen, müssen alle mit dem Taxi nach Hause.

»Und obwohl wir das Kriegsbeil ausgegraben haben, fühlt es sich echt gut an, dass ich endlich mal wieder ehrlich gesagt habe, was ich denke.« Ich kippe meinen Sekt so hastig herunter, dass mich die Kohlensäure in der Nase kitzelt. »Und wisst ihr was? Mir gefällt das, ihm meine Meinung zu sagen.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Ich will nicht hetzen, aber wir sollten jetzt runtergehen. Jess wartet im Laden. Nehmt eure Gläser mit, und ich nehme noch ein oder zwei Flaschen Sekt mit nach unten.«

»Schön, die alte Poppy wiederzuhaben«, sagt Cate und stibitzt noch ein Törtchen, bevor sie zur Tür geht. »Ich brauche Kraft, wenn ihr jetzt beide unverblümt eure Meinung sagt. Du hast nicht zufällig einen Helm in deinen Tüten voller Klamotten? Ich fürchte, den könnten wir brauchen. Auf in den Kampf, Brautschwestern!«

10. Kapitel

»Brides by the Sea«: An den Fingern abgezählt

Die Abteilung für die Kleider der Brautjungfern befindet sich im oberen Stockwerk von »Brides by the Sea«. Wir nennen sie »Bridesmaids’ Beach Hut«. Sagte ich das bereits? Egal. Jess hat die Abteilung vor Kurzem renoviert und sie im Stil einer Strandhütte eingerichtet. Daher der Name. Als wir drei den Raum mit dem sandfarbenen Boden betreten, steht Jess schon vor den Ankleidekabinen mit den rosa Vorhängen.

»Ui!« Beim Anblick des romantischen Zweiersofas leuchten Cates Augen wie die Lichterkette über dem Sofa, und als sie dahinter die lange Reihe Kleider an der Stange sieht, strahlt sie über das ganze Gesicht.

»Hallo, Cate, hallo, Immie, kommt rein! «, sagt Jess. »Darf ich euch Sera vorstellen?«

Sera sitzt gegen die Holzwand der Umkleidekabine gelehnt über ihrem Zeichenblock. Sie beugt sich vor und winkt uns. »Ich arbeite gerade an Entwürfen für Brautjungfernkleider. Deshalb würde ich euch gern beim Aussuchen assistieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was Brautjungfern wollen. Okay?«

»Gerne.« Cate lächelt Sera dankbar an, bevor sie ihren Blick wieder auf die Kleider neben ihr richtet. Sie fährt mit der Hand über die Kleider in kräftigen Farbtönen, bei den pastellfarbenen, extrabauschigen Modellen hält sie inne. Immie stöhnt und gestikuliert hinter Cates Rücken mit ihrer flachen Hand an der Kehle: Ich könnte sie umbringen.

Ich beachte Immie nicht, sondern stelle Sektgläser auf die zartrosa Frisierkommode und schenke Sera und Jess ein. In der Eile hatte ich vergessen, meine Ugg-Stiefel und die Jeans gegen meine schwarzen Pumps, die schwarze Hose und das schwarze Top zu tauschen. Jess möchte gerne, dass wir ganz in Schwarz sind, wenn wir im Laden aushelfen. Da wir unter Freundinnen sind, macht es ihr hoffentlich nichts aus. Als es mir nach der Trennung so dreckig ging, dass ich den ganzen Tag lang im Schlafanzug durch die Gegend geschlurft bin, hat mir Jess netterweise einen schwarzen Schlafanzug gegeben. So fiel es den Kundinnen im Laden nicht auf, dass ich gar nicht richtig angezogen war.

»Macht es euch gemütlich«, sagt Jess zu Cate und Immie und deutet auf zwei barocke Stühle mit königsblauen Bezügen und weißen Kordeln. »Poppy zeigt euch passende Kleider, und ihr sagt, welche ihr anprobieren wollt.«

»Gut«, sage ich und werfe einen Blick auf die Stange. Wo fange ich an? »Das hier sind alles unterschiedliche Stile, wir können alle Kleider in vielen verschiedenen Farben bestellen.« Ich orientiere mich an den eher einfacheren Modellen. Schließlich braucht Cate insgesamt acht Kleider. Als ich ein schlichtes, kurzes Seidenkleid hervorziehe, hebt Immie zustimmend den Daumen. Dabei schwappt Sekt über ihre Hose.

»Auf keinen Fall«, sagt Cate und wischt mit einem Taschentuch den Sekt von Immies Hose. Ein resolutes Kopfschütteln, und das Kleid scheidet aus. »Da, da ist das Kleid, das ich haben will!« Sie steht auf und zeigt auf ein üppiges Chiffonkleid.

»Das sind die kostspieligeren Modelle«, sage ich und schiele hilfesuchend zu Jess.

»Diese hier sind sehr beliebt«, wirft Jess diplomatisch ein und zieht ein ähnliches, aber günstigeres Modell hervor. »Wie findet ihr das?«

»Auf keinen Fall!«, stöhnt Immie und sinkt tiefer in ihren Stuhl.

»Ich will das hier, das ich als Erstes gesehen habe«, sagt Cate entschlossen.

»Sicher?«, frage ich. Wir Brautjungfern hatten beschlossen, unsere Kleider selbst zu bezahlen, aber das können wir uns nicht leisten. Cate hat zielsicher das teuerste Kleid rausgesucht. »Das kostet 595 Pfund.« Nach Abzug des Freundschaftsrabatts, den ich rausschlagen konnte. »Mal acht«, füge ich hinzu und versuche, das im Kopf auszurechnen.

Jess zeigt uns ein weiteres Kleid als Alternative. »Das hier ist dem sehr ähnlich, aber nur halb so teuer. Ich sollte das eigentlich so nicht sagen, aber viele Kleider sind genauso hochwertig und dennoch preiswerter als das, das du dir gerade ausgesucht hast.«

»Bitte nicht!«, jammert Immie. »Ich sehe doch in allen wie eine Elfe im achten Monat aus.«

»Wir probieren das erste«, besteht Cate auf ihrer Wahl. »Ich heirate nur einmal, und ich will, dass die Brautjungfern so aussehen, wie ich mir das vorstelle.« Lächelnd lässt sie ihre Hand über den Stoff gleiten. »Ist das nicht traumhaft? Ich weiß noch nicht, ob ich Cremeweiß oder Hautfarben nehmen soll. Das hängt auch von meinem Brautkleid ab, das ich noch aussuchen muss.«

Stimmt, wir haben noch kein Kleid für Cate ausgesucht. Na, das ist ein Thema für sich. Ich tue so, als würde ich Immie nicht bemerken, die über der Stuhllehne hängend einen Brechreiz simuliert.

Jess wendet sich an Sera, die ihren Augen kaum traut angesichts der Szene, die sich ihr bietet, und raunt ihr zu: »Es ist gut, wenn Bräute eine sehr genaue Vorstellung von den Kleidern haben, Sera. Wenn man auf den Wunsch jeder einzelnen Brautjungfer eingehen würde, käme ein fauler Kompromiss dabei raus. Es ist großartig, wenn die Braut nur ihren eigenen Wünschen folgt.«

Cate wirft Immie einen grimmigen Blick zu und wendet sich dann an mich. »Dieses Kleid habe ich in der Hochzeitszeitschrift gesehen, an dem Morgen, als Liam mir den Antrag gemacht hat.« Entschlossen stemmt sie die Arme in die Hüfte. »Ich wusste schon die ganze Zeit, dass ich dieses Kleid haben will.«

Wovon redet sie da? Sie ist bereits seit Monaten verlobt. »Warum siehst du dir dann überhaupt noch andere Kleider an?«, frage ich Cate. Mir machen noch ganz andere Sachen Sorgen: Meine selbst gefärbten roten Haare werden zu diesem exklusiven Kleid besonders billig aussehen.

Cate grinst. »Ich möchte, dass Liam weiß, dass wir alle Alternativen gesehen haben, bevor ich mich für das Kleid hier entscheide.«

Immie ist entsetzt. »Mal acht. So viele Finger habe ich gar nicht, um das auszurechnen. Cate, wie willst du das Liam erklären, wenn er die Rechnung sieht?« Immie hat ihr Sektglas beiseitegestellt und trinkt jetzt direkt aus der Flasche, wie es sich für eine Brautjungfer gehört.

»Ich bin für die Finanzen in der Familie zuständig. Falls Liam die Rechnung zu Gesicht bekommt, entschädige ich ihn halt mit einer heißen Nacht«, kichert Cate. »Obwohl das noch längst nicht alles ist, wofür ich diese Woche Geld ausgegeben habe.«

Verwundert sehen Immie und ich zu Cate auf. Seit wann ist unsere Freundin so eine leidenschaftliche Shopperin?

»Der Zeltverleih hatte mir ein Sonderangebot gemacht, total schöne Zelte, die man an der Seite öffnen kann. Da konnte ich nicht Nein sagen und habe gleich zwei bestellt.«

»Wie? Statt des großen Zeltes?« Ich weiß nicht, ob »offene« Seitenplanen eine gute Idee sind. Und warum zwei?

Cate wedelt wegwerfend mit der Hand, und man könnte glauben, sie rede von billigen Einmal-Zelten, nicht von kostspieligen Festzelten, die mit einem dreistelligen Betrag zu Buche schlagen. »Nein, ich will sie zusätzlich zu dem großen Zelt haben. Ist doch schön.«

Ich brauche einen Moment, um mich zu fangen. Immie ergreift das Wort: »Da wird Liam aber viele heiße Nächte bekommen müssen, wenn herauskommt, was du für ’n Mist baust.« Immie nimmt kein Blatt vor den Mund. Stattdessen setzt sie die Sektflasche noch mal an die Lippen.

Jess wirft einen Blick auf ihre Uhr. »Sollen wir die Kleider anprobieren?«

Um sechs Uhr soll eine Braut zur Anprobe kommen, dann muss Jess runter. So wie Immie hinter ihrer Sektflasche grummelt, ist das keine schlechte Idee.

»Geh du zu deiner Anprobe mit der Braut«, sage ich zu Jess, »Sera und ich machen hier oben weiter.«

Ich hätte Immie doppelt so viel zu trinken geben sollen, bevor wir zur Anprobe geschritten sind. Aber die Grenze zwischen Gefügigkeit und Trunkenheit ist bei Immie schwer abzuschätzen. Zwischen Protest und Ausfall liegt nur ein kurzer Augenblick, in dem man sie zu einem Ja bewegen kann.

Kaum hat Jess den Raum verlassen, fängt Immie an zu schimpfen.

»Muss ich mich wirklich verkleiden?«

Ich muss dazu sagen, dass Immie grundsätzlich nichts anderes als Jeans und Sweatshirt trägt. Wie wir sie in ein Kleid kriegen sollen, ist mir schleierhaft. Außer in der Schule, wo sie Uniform tragen musste, hat sie bestenfalls zum Fasching einen Rock angezogen. Und das ist dreißig Jahre her. Aber ich weiß, wie ich sie rumkriegen kann.

»Wenn du das Kleid anprobierst, Immie, dann holt Sera noch eine Flasche Sekt.«

Sera lächelt mir zu und geht zur Treppe.

Immie verdreht die Augen und seufzt. Aber sie steht auf, und ich bugsiere sie in die Umkleide. Dann reiche ich ihr das Kleid und ziehe den Vorhang zu.

Cate und ich atmen auf. Wir treten ein paar Schritte zurück. Sicherheitsabstand.

Stirnrunzelnd wendet sich Cate zu mir. »Ich finde, du solltest dich nicht mit einem so schwierigen Mann wie Rafe bis September abquälen müssen.« Nervös fährt sie sich durchs Haar. »Man muss ihn doch irgendwie besänftigen können.«

Ich zucke mit den Schultern. »Mit Kuchen kann ich ihm jedenfalls nicht kommen.«

Cate verzieht ihr Näschen. »Er muss sich mal austoben. Wir müssen eine Frau für ihn finden.«

Nach allem, was mir Immie über sein nicht existierendes Liebesleben erzählt hat, muss ich jetzt grinsen. »Na, dann viel Glück!«

»Ich kenne eine Frau, die er anscheinend leiden kann«, sagt Cate mit bebenden Lippen. »Er frisst Immie aus der Hand. Das heißt was.«

Ich glaube nicht, dass ich Cate da folge. »Das heißt nur, dass er einen Heidenrespekt vor ihr hat.«

»Und er verbringt viel Zeit mit Morgan«, sagt Cate.

Das stimmt. Morgan schleppt ständig kaputte Teile des Traktors über das Gut und bringt sie Rafe.

»Rafe würde sich doch nicht mit Morgan abgeben, wenn er nicht hinter Immie her wäre, oder?«, flüstert Cate und beugt sich verschwörerisch zu mir. »Und damit mit meiner Hochzeit alles glattläuft …« Auf die Worte »meine Hochzeit« legt sie eine besondere Betonung. »… könntest du Rafe und Immie doch … verkuppeln!«

Ich staune. So kenne ich Cate gar nicht. »Aber wie soll ich das denn hinkriegen?«

»Na, wir gehen alle zusammen aus, und dann ergibt sich das schon.«

»Ausgehen?«, frage ich dümmlich und lasse mich auf einen Stuhl fallen. »Was meinst du?«

»Zum Beispiel in eine Cocktailbar«, sagt Cate zufrieden, als sei das schon unter Dach und Fach. »Du profitierst auch davon. Das macht die Orga auf dem Gut und die Zusammenarbeit mit Rafe leichter.«

Aufgeregt wackelt Cate mit den Augenbrauen. »Wir gehen ins Jaggers.«

»Du kennst auch das Jaggers?« Jess auch. Wenn ich nicht schon auf einem Stuhl säße, würde ich mich jetzt auf einen fallen lassen.

»Klar, da gehen wir oft freitagabends hin. Da gibt’s leckere Mojitos. Die solltest du auch mal probieren«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Du musst mehr raus, Poppy. Wir fangen gleich diese Woche an. Ich hätte dich nicht zum Babysitten einspannen dürfen. Du sollst schließlich auch deinen Spaß haben.«

Und ich dachte immer, Cate und Immie gingen bloß in die Eckkneipe. Dabei amüsiert sich alle Welt, und nur ich verkrieche mich zu Hause.

»Wie läuft’s?«, fragt Jess, die gerade mit einem Paar klunkerbesetzter Stilettos in der Hand durch den Raum Richtung Schuhabteilung fegt.

»Immie zieht gerade Miranda an, in Rosé«, erkläre ich. Alle Modelle haben Frauennamen, die wir Angestellten in- und auswendig kennen.

»Gut gemacht. So … widerstrebende Brautjungfern wie Immie haben wir selten«, sagt Jess und zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Ich habe gute Neuigkeiten, Poppy.«

»Ein Promi?« Nach der Sache mit Josie Redman letzte Woche und Seras plötzlichem Aufstieg brauche ich keine Promis mehr.

»Nein, diesmal nicht. Ich glaube, ich habe dein Brautpaar, das in vier Wochen heiraten soll, gefunden.« Jess strahlt. »Meine Kundin hat erzählt, dass sie auf Daisy Hill heiraten wird. Ich gebe dir nachher ihre Nummer.« Mit skeptischem Blick betrachtet Jess die Schuhe in ihrer Hand. »Ob man damit im Matsch gehen kann? Wenn du viele Hochzeiten auf dem Gutshof organisierst, muss ich wohl schicke Gummistiefel ins Sortiment nehmen.«

Bevor ich Jess erklären kann, dass ich den Job doch nur übergangsweise mache, sprintet sie schon wieder nach unten. Dann tritt Immie aus der Umkleide. Ihr Gesicht spricht Bände.

»Hey, wir haben das Paar gefunden, das Ostern auf Daisy Hill heiratet«, sage ich fröhlich, um sie abzulenken.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen quetscht Immie hervor: »Hey, und ich würde eher den Vorhang als dieses Kleid tragen.« Sie watet durch die Unmengen von Tüll um sie herum.

Cate und ich treten einen Schritt zurück, um sie besser begutachten zu können. Innerlich wappne ich mich. Und wir halten beide den Atem an.

»Na ja, es ist ein bisschen lang«, sage ich, »aber es steht dir ganz ausgezeichnet.« Erstaunlich, dass Immie ihre eieruhrförmige Taille bislang immer unter ausgebeulten Jeans und Pullis versteckt hat. »Du hast tolle Kurven.« Selbst mit ihren kurzen Haaren steht ihr das Kleid.

Immie presst ihre Hand an die Brust und verzieht das Gesicht. »Ich hasse Umkleidekabinen«, mault sie. »Ich will nicht in den Spiegel gucken.«

»Wenn du nicht so wütend dreinblicken würdest und wir hinten vielleicht etwas kürzen, dann siehst du großartig aus. Vielleicht noch ein Krönchen im Haar …«, sagt Cate.

Immie heult auf. »Ich trag kein besch…«

Cate lacht laut auf. »Dann nicht.« Sie verkneift sich ein Grinsen. »Vielleicht ein Kranz aus Gänseblümchen?«

»Noch ätzender!« Immie macht wieder ihre Ich-kotz-gleich-Mimik.

»Brautjungfern zufriedenzustellen, ist so gut wie unmöglich«, sage ich zu Sera, die gerade drei Flaschen Sekt bringt. Sie hat offensichtlich begriffen, worum es geht.

»Jetzt bin ich dran«, sage ich, schnappe mir ein hautfarbenes Miranda und verschwinde hinter dem Vorhang.

Ich habe in den letzten Monaten bei genug Anproben geholfen, um zu wissen, dass auf einer Hochzeit fast jede Brautjungfer ein Kleid trägt, das sie lieber nicht tragen würde. Aber keine will sich mit der Braut streiten. Auch mir graut schon vor dem weiten Ausschnitt und dem freien Rücken, der meine Rettungsringe in ein ungünstiges Licht rücken wird. Noch größere Sorgen machen mir nur die Brautleute, die ich nächste Woche anrufen muss und deren Hochzeit ich organisieren soll, ohne den blassesten Schimmer davon zu haben. Obendrein soll ich den übellaunigsten Mann in ganz Cornwall dazu überreden, mit uns Cocktails trinken zu gehen. Cate mag glauben, Rafe und Immie zu verkuppeln, sorge für wahre Liebe und eine sorgenfreie Zeit. Soweit ich das sehe, Krönchen hin oder her, bricht dann die Hölle aus.

11. Kapitel

Daisy Hill, im Büro: Montagmorgen und alte Bäume

Am Montagmorgen zu erledigen:

Braut und Bräutigam anrufen

(Telefon war am Wochenende ausgeschaltet)

Rafe auf die Hühner im Büro (!) ansprechen

Dixi-Klo-Firma anrufen

Cocktails-Ausflug ins Jaggers planen

Webseite für Daisy Hill bauen

Facebook-Seite für Daisy Hill erstellen?

»Morgen, Pops!«, ruft Immie und kommt ins Büro gerannt. Sie stolpert über ein Huhn und stützt sich im Straucheln auf die Lehne meines Bürostuhls, sodass wir eine Runde Karussell fahren. Als es Immie gelingt, die unfreiwillige Fahrt zu stoppen, hängt sie halb auf meinem Schoß, und ihr Kinn liegt auf meiner Schulter. »Huch, du bist auf Facebook?«, ruft sie direkt in mein Ohr.

Ups, eiskalt erwischt. Ich hatte mir selbst Facebook-Verbot erteilt. Heute habe ich mich zum ersten Mal seit dem zweitschlimmsten Schock meines Lebens eingeloggt. Der Schock war: Brett auf den Fotos zu sehen, die ihn auf dem Junggesellenabschied eines Freundes zeigten, sein Mund klebte in unzweideutiger Weise an einer Frau. Unzweideutig und nicht zufällig oder einmalig. Offensichtlich knutschten die beiden wie die Weltmeister und mit größter Begeisterung. Mir wird immer noch schlecht, wenn ich an die Fotos denke. Zwei Tage später habe ich mit Brett Schluss gemacht. Seitdem bin ich auch nicht mehr auf Facebook.

»Dir auch einen schönen Montagmorgen!«, antworte ich, greife zu meinem Becher und trinke einen Schluck. Den Kaffee hatte ich schon vor einer halben Stunde gemacht, als ich herkam. »Willst du auch einen?«, frage ich, um vom Thema abzulenken. Brett hat sich zigmal entschuldigt. Aber alle der etwa dreißig Typen an dem Abend haben fotografiert und so sein Fremdgehen aus jedem erdenklichen Blickwinkel abgelichtet. Jedes einzelne Foto habe ich angesehen. Danach konnte ich mir diesen bier- und auch ansonsten unseligen Abend in jeder Einzelheit vorstellen. Das Schlimmste: Die Fotos waren im Internet für jeden Deppen sichtbar. Und ich konnte mich nirgends verstecken.

»Keine Zeit, ich muss die Gästezimmer nach dem Wochenende in Ordnung bringen«, sagt Immie und hievt sich aus dem Stuhl in den Stand. »Sorry, dass ich auf dir gelandet bin, Pops. Sorry, dass ich dich getreten habe, Henrietta«, sagt sie zu der Henne.

Darüber, dass Immie mit dem Geflügel redet, muss ich mal ein Hühnchen mit ihr rupfen. Überhaupt: Darüber, dass es an meinem Arbeitsplatz vor Geflügel nur so wimmelt, muss ich auch mit irgendwem mal ein Wörtchen sprechen. Später. Zurück zu Brett: Natürlich hat er mir die Schuld gegeben, und ich habe das damals tatsächlich mitgemacht, weil ich es einfach nicht gewohnt war, ihm zu widersprechen.

»Warum Facebook?«, fragt Immie und runzelt fragend die Stirn. Immie gibt nie auf, das muss man ihr lassen. »Du wolltest doch nie wieder auf Facebook gehen.«

Ich seufze. »Das ist für den Hof.« Ich weiß, dass sie weiß, dass das stimmt. »Die Facebook-Seite für den Hof schien mir die leichteste Aufgabe auf meiner To-do-Liste an diesem Montagmorgen zu sein«, erkläre ich. Ich habe die Seite ruck, zuck aufgesetzt, Fotos der Kälber von meinem Handy hochgeladen und welche von der Führung über den Gutshof letzte Woche, dazu ein paar Fotos mit Rüschen, Spitze und Glitzer, die ich gestern eigens im Laden geschossen habe. Facebook für den Job zu benutzen, geht in Ordnung. Bretts Seite werde ich auf keinen Fall ansehen, auf gar keinen Fall! »Alle anderen Aufgaben für heute sind schlimmer.« Zum Beispiel der Braut erklären zu müssen, dass wir die Unterlagen für ihre Feier verloren haben. Ihr zu versichern, dass die Feier trotzdem reibungslos ablaufen wird, ist eine noch größere Herausforderung.

»Tolle Fotos«, sagt Immie und klickt sich durch die neue Facebook-Seite. »Du solltest die Seite ›Hochzeiten auf Daisy Hill‹ nennen.«

»Gute Idee«, sage ich. »Ich möchte, dass die Seite steht, damit all die Kunden, die in Carries nicht vorhandener Kartei verloren gegangen sind, sich bei uns melden können. Wir bitten alle, die wir kennen, die Seite zu liken, und ich unterbreite den Kunden, die darüber auf uns aufmerksam werden, ein Sonderangebot.«

Unter Geflatter und Gegacker fliegt Henrietta auf den Aktenschrank in der Ecke des Büros.

»Gute Idee«, sagt jetzt Immie und krault Henrietta am Kopf. Dann setzt sie sich auf einen Hocker neben den kaputten Aktenvernichter.

Ich schüttele mich bei dem Gedanken an all die Federn und Flusen, die hier umherfliegen. Da klopft es, und im selben Moment wird die Tür aufgerissen. Immie und ich drehen uns um und sehen einen Mann in hellgrauem Parka und einem bunt gestreiften Schal das Büro betreten. Wir öffnen den Mund in stiller Anhimmelung.

Es gibt nicht so viele Männer hier in der Gegend, die aussehen, als seien sie gerade einem Modemagazin entsprungen. Gut, unten am Strand sind ein, zwei gut aussehende Surfer. Aber von denen ist keiner so gepflegt und geschmackvoll angezogen wie dieses Exemplar hier.

»Hi«, sagt der Mann und schüttelt sein eins a geschnittenes und kunstvoll zerzaustes haselnussbraunes Haar. Er streckt uns seine Hand entgegen. »Ich heiße Jules. Ich bin wegen des Fotoshootings hier. Rafe meinte, ich soll ins Büro gehen.« Seine Augen funkeln topasblau. »Ihr habt doch nichts dagegen, oder?« Als er seinen Mantel aufknöpft, kommt darunter feinster Strick wie in Hochglanzmagazinen zutage und dazu ein betörender Duft nach Aftershave.

Der Typ redet weiter, das muss er auch, denn Immie und mir steht noch immer der Mund offen. Es hat uns die Sprache verschlagen, alles, was wir verbal zu bieten hätten, wäre mädchenhaftes Gekicher.

Wie zu erwarten, erholt sich Immie als Erste von uns beiden. »Kommen Sie rein«, sagt sie und schüttelt seine sehr saubere und perfekt manikürte Hand. »Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?«, fragt sie skeptisch. »Ich habe heute Morgen keine einzige Kamera und keinen Schweinwerfer hier gesehen.«

Da lacht der Typ. Und dabei graben sich total süße Grübchen in seine Wange. Wie bei Johnny Depp. Grübchen, die frau in die Knie zwingen. Grübchen, die echt sexy sind. So wie Immie sich rückwärts gegen den Schreibtisch lehnt, muss sie ebenfalls verdammt weiche Knie haben.

Dann lacht er mit tiefer, supermännlicher Stimme, und mir wird heiß und kalt.

»Nein, nein, ich habe die Kamera dabei, ich bin der Fotograf«, sagt er und strahlt übers ganze markante Gesicht. Dabei kommen seine makellosen Zähne zum Vorschein. Unsere weiße Bürowand sieht dagegen grau aus.

»Und Sie machen hier Fotos … wovon?« Immie meistert die Situation wie ein Profi, trotz ihrer weichen Knie und ihrer Ahnungslosigkeit.

»Die Verlobung von Lara und Ben … Hatten wir nicht bereits im Dezember diesen Termin vereinbart?« Aus seinen blauen Augen strahlt er uns erwartungsvoll an.

Ich gebe mir größte Mühe, ein wissendes Gesicht aufzusetzen.

»Verlobungsfotos ist ein großes Wort. Eigentlich geht es nur darum, die Brautleute an die Kamera zu gewöhnen, damit sie an ihrem großen Tag auch groß rauskommen. Andere machen Fotos in New York oder Paris, doch die beiden haben sich für Cornwall entschieden. Ich bin extra früh dran, um schon mal die Location zu checken. Man kann nur hoffen, dass das Wetter für das große Ereignis an Ostern mitspielt. Es sind ja nur noch vier Wochen bis dahin.«

Jetzt fällt bei mir der Groschen! Der Typ ist der Hochzeitsfotograf! Die Brautleute, von denen er spricht, sind die Brautleute, die ich suche. Ach, und die kommen heute Nachmittag hierher? Hey, da muss ich wohl ein paar Wünsche freigehabt haben. Erst kreuzt ein Traumtyp in meinem Büro auf, und dann erledigen sich auch noch die gefürchteten Punkte zwei und drei auf meiner To-do-Liste wie von selbst.

»Klar!«, sage ich erleichtert. »Hier gab es einen Personalwechsel. Sie sind für später im Terminkalender eingetragen.« Pst! Das ist natürlich glatt gelogen, aber er muss ja nicht wissen, dass wir keinen Kalender haben. »Aber schön, dass Sie so zeitig hier sind.« Ich weiß, dass Immie denkt, dass ich schon wieder plappere. Aber ich bin so erleichtert, dass ich im selben Tempo fortfahre: »Mein Name ist Poppy Pickering, ich bin verantwortlich für die Organisation der Feiern. Sagen Sie mir, was Sie brauchen, und ich kümmere mich darum.«

Ich greife Jules’ Hand und schüttele sie kräftig. Immies Grinsen übersehe ich geflissentlich.

»Ich setze mich in meinen SUV«, sagt Jules in diesem knurrig-schnurrigen Ton, »vielleicht könnten Sie mich begleiten? Und mir passende Locations zeigen? Ich suche romantische schmiedeeiserne Tore, knorrige Baumstämme mit offenem Himmel im Hintergrund, pittoreske Scheunen und so weiter.«

»Kein Problem«, tönt Immie. »Ich kenne das Gut wie meine Westentasche.«

Musste sie nicht eben noch die Cottages in Ordnung bringen und hatte nicht mal Zeit für einen Kaffee? Ganz abgesehen von ihrer Abneigung gegen Männer im Allgemeinen. Kein Zweifel, würde sie ihre Uni-Brille aufhaben, würde sie die tickende Uhr und die weiblichen Urinstinkte erkennen, die vorübergehend und angesichts männlich-genetischer Vollkommenheit ihren Verstand gefangen halten. Womöglich bricht hier auch Immies Tierliebe durch, bei Jules’ Hundeblick würde mich das nicht wundern.

Schnell falle ich ihr ins Wort. »Schon gut, das erledige ich. Du hast so viel zu tun, Immie. Ich übernehme Jules.« Übernehmen? Habe ich das gerade gesagt? Ich übernehme mich hier hoffentlich nicht. Ich war auf so vielen Hochzeiten und habe so viele Hochzeitsfotos sehnsuchtsvoll betrachtet und immer gewünscht, ich selbst wäre die glückliche Braut, da weiß ich einfach, was Jules will. Außerdem kann ich jetzt endlich mal meinen Job machen. »Ich ruf dich, wenn ich dich brauche, versprochen, Immie«, sage ich und schnappe mir meine Jacke. In Sachen Jacke hatte ich bei der Fee wohl keinen Wunsch mehr frei, aber sei’s drum. Mit etwas Glück sieht Jules in dem zeltförmigen Wachsding einen neuen Trend. »Sollen wir?«, frage ich aufgeregt. Aber die Aufregung hat natürlich nichts mit dem kleinen Hormonschub aufgrund anwesender männlicher Personen zu tun, sondern mir geht es einzig und allein darum, die Hochzeiten auf Daisy Hill ins Laufen zu bringen.

12. Kapitel

Daisy Hill, auf Location-Suche: Sprossenleitern und Pandabären

Im Laufe des Tages stellt sich heraus, dass Jules mehr als nur ein hübsches Gesicht zu bieten hat. Er ist beängstigend gut organisiert, was seine Arbeit angeht. Außerdem kann er super mit Menschen, er schafft es, dass sie locker und natürlich vor der Kamera rüberkommen. Und zwar nicht nur unser glückliches Pärchen, Ben und Lara, sondern auch meine Wenigkeit. Der Vormittag ist wie im Flug vergangen, während wir schmiedeeiserne Gatter und sanfte Hügel als Kulisse ausgeguckt haben. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, habe ich meine Pläne – die Webseite! – über den Haufen geworfen und betätige mich als Fotoassistentin.

»So lernst du Lara und Ben kennen«, hat Jules gesagt, »und im Gegenzug helfe ich dir mit der Webseite, die dir so viele Sorgen zu bereiten scheint.« Inzwischen sind wir beim Du. Da er mir außerdem Hochzeitsbilder zur Verfügung stellen will und dafür nur seinen Namensnachweis als Gegenleistung verlangt und ich außerdem völlig im Dunkeln tappe, was Webseiten angeht, konnte ich nur Ja sagen.

Ich habe die ganze Zeit nebenher Sachen in meinem Notizbuch notiert. Deshalb weiß ich jetzt, dass rund vierzig Gäste zur Trauung am Tag und etwa hundert zur Feier am Abend kommen werden. Nachts soll es Hotdogs geben, die aus einem alten VW-Bus heraus serviert werden. Die Trauung soll mittags in der Kirche stattfinden. Mit dem Standesbeamten habe ich diesmal also nichts zu tun. Morgan soll beim Parken der Autos behilflich sein. Den Namen des Zeltverleihs habe ich auch aufgeschnappt sowie den Namen von dem Restaurant, das uns beliefert, den der Floristin, der Stylistin und von dem Unternehmen, das für die Bestuhlung sorgt. Und zum Glück kenne ich nun sogar den Namen der Band, die spielen soll. Mit allen soll es einen Probelauf geben. Puh!

Der einzig blöde Moment war, als Lara und Ben glücklich und aufgeregt über ihren großen Tag sprachen. Im Laden, wenn ich meine Tortenbestellungen entgegennehme oder bei der Anprobe helfe, sind ja nur die Freundinnen der Braut dabei oder die Mütter. Damit komme ich gut klar. Aber jetzt mit einem Paar zusammen eine Traumhochzeit zu organisieren, das ist etwas ganz anderes. Die hingebungsvollen Küsschen, die Ben seiner Lara auf die Stirn haucht, wie er ihr zärtlich einzelne Strähnchen aus dem Gesicht streicht oder vor der Kamera den Verlobungsring an ihrem Finger sacht dreht, damit er in der Wintersonne auch schön funkelt. Oder wie Lara Ben in die Seite knufft und ihn wegen seiner Hochzeits-Excel-Tabelle aufzieht. All die Liebe und die Zärtlichkeiten, die ich verloren habe, werden mir hier brühwarm unter die Nase gehalten. Im normalen Leben kann ich ja einfach wegsehen, doch hier gehört das zu meinem Beruf. Als Hochzeitsplanerin muss ich mich in meine Kunden einfühlen, das ist Teil der Arbeit. Aber wenn ich sehe, wie Ben liebevoll seinen Arm um Lara legt, seinen Kopf an ihren lehnt und wie beide »in guten und in schlechten Tagen« witzeln, dann kann ich nicht anders als denken: Das hätte ich beinahe auch gehabt, beinahe wäre ich an ihrer Stelle.

»Lass es uns einfach machen«, hatte Brett gesagt, als wir uns das letzte Mal über das Thema Heiraten unterhielten. Wenn man das gesagt bekommt, dann geht man doch davon aus, dass es wirklich passiert, oder nicht? Mit gutem Recht würden dann doch all die schönen Träume, die frau jahrelang geträumt hat, zu blühen beginnen. Nur dass die schönen Träume eine Woche später platzten.

Trotzdem hätte ich nicht erwartet, dass es so verflixt wehtut, anderen Paaren bei ihren Hochzeitsvorbereitungen aus nächster Nähe zuzuschauen. Und in den kommenden Monaten werde ich ein Paar nach dem anderen genau dabei beobachten dürfen. Und jedes Mal werde ich mich beschissen fühlen.

»Hey, Pops, alles klar?«, ruft Jules. Wir sind also nicht nur beim Du, sondern er hat auch schon meinen Spitznamen von Immie aufgeschnappt. Noch beängstigender ist, dass er schnallt, dass ich gerade mit den Gedanken woanders bin. »Kannst du uns bitte die Leiter bringen?«

Soweit ich das von den Fotos beurteilen kann, die Jules mir auf dem Display seiner Kamera gezeigt hat, während wir die romantischen Ecken des Hofes abgeklappert haben, ist er ein Top-Fotograf.

»Für das letzte Foto möchte ich, dass ihr beide auf die Mauer klettert«, ruft Jules gegen den Wind.

Wie auf Zuruf stelle ich die Sprossenleiter an die Mauer und helfe Lara und Ben rauf. Dann angele ich die Leiter aus dem Bild. Während Lara und Ben auf der Mauer herumkraxeln, schiebe ich mir meine Wollmütze tief ins Gesicht und ziehe meinen Kragen fester um den Hals.

»Es soll wild aussehen. Seht euch an, lasst Jacken und Haare im Wind wehen«, ruft Jules und sucht die perfekte Position. Seine Bewegungen sind leichtfüßig und elegant. Er schießt aus allen möglichen Winkeln Bilder und justiert dabei stets die Einstellungen nach. »Pops, reich mir bitte meine Tasche. Die Sonne bricht gleich durch die Wolken.«

Wie gewünscht reiche ich ihm seine Tasche mit der Ausrüstung. Flink greift er sich einen zweiten Fotoapparat und schießt noch mehr Fotos von dem lachenden Paar. Ihre Haare wehen unbändig im Wind und glänzen im Gegenlicht der Sonne, die tatsächlich hinter der Mauer hervorgebrochen ist. Genau so war die Arbeit mit Jules den ganzen Nachmittag lang: sehr anstrengend, aber auch sehr aufregend. Jules arbeitet mit dem, was er vorfindet, er ergreift die Gelegenheiten, die sich ihm bieten. Als Lara erschrocken auflachte, als plötzlich ein Schwarm Raben aus den alten Eichen aufflog, war er mit der Kamera zur Stelle. Als Lara vom Gatter rutschte und Ben instinktiv nach ihr griff und sie auffing – Jules hatte seinen Finger auf dem Auslöser.

»Okay, ich habe alles im Kasten. Los, Leute, zurück zum Auto und zum Gutshof.«

Seine Stimme klingt kehlig, und er trinkt einen Schluck Wasser, während er in seinen SUV springt. Lara und Ben wirft er lässig eine Thermoskanne mit Kaffee auf den Rücksitz. »Hier, trinkt mal was Warmes. Ihr zwei habt das toll gemacht.« Sein Lob die ganze Zeit hat viel dazu beigetragen, Lara bei der Stange zu halten. Zwischendurch sah es manchmal so aus, als würde sie schlappmachen.

»Ich bin fix und fertig«, sage ich, »dabei habe ich die meiste Zeit nur zugeschaut.« Ich lasse mich auf den Beifahrersitz sinken. Ich bin immer noch fasziniert davon, wie Jules es an diesem unwirtlich kalten Nachmittag fertiggebracht hat, unser Pärchen aufzumuntern und aufzuwärmen, und dass dabei so wunderschöne Augenblicke rausgekommen sind, die er mit der Kamera festgehalten hat. »Das Wetter ist auch nicht gerade rosig.«

Jules lässt den Motor an, und Musik ertönt. Das vergaß ich zu erwähnen: Den Nachmittag über lief total romantische Musik. Vorhin sind wir den Feldweg entlanggefahren und haben »Take Me To Church« von Hozier gehört. Jetzt läuft »Nothing Compares 2 U«. Ich höre lieber nicht so genau auf den Text, sonst kommen mir die Tränen.

»Du hast mehr getan, als nur zuzuschauen. Ich habe mir da schon die richtige Person zum Helfen ausgesucht.« Jules lacht. »Und das Wetter ist perfekt. Extreme Wetterverhältnisse sorgen oft für die besten Bilder.«

Vergleiche sind immer unfair, aber ich muss an den zupackenden und zugleich sanften Jules neben dem grummeligen Rafe mit seiner Traktorladung schlechter Laune denken. Als errate er meine Gedanken, strahlt mich Jules fröhlich an.

»Sind wir fertig mit der Arbeit?«, frage ich. So aufregend wie die drei Stunden mit Jules waren, ich sehne mich jetzt doch nach einer Tasse heißem Tee und einem Stückchen Schokokuchen.

»Ja, Schluss für heute«, sagt Jules zu uns allen. »Da sind bestimmt Bilder dabei, die euch gefallen.« Zufrieden blickt er in den Rückspiegel zu Lara und Ben.

In Gedanken setze ich bereits das Teewasser auf und öffne die Dose mit dem Kuchen.

»Oh«, ruft Lara plötzlich.

Als wehklagend hatte ich sie heute eigentlich nicht wahrgenommen.

»Was ist los, Panda?«, fragt Ben.

Auch das vergaß ich zu erwähnen. »Pandabärchen« ist Bens nerviger Kosename für Lara. Wer jetzt glaubt, ich sei bloß eifersüchtig, irrt. Geht mich nichts an, ich sehe die beiden ja nur noch einmal. Aber ehrlich, würde jemand zum Beispiel Immie in aller Öffentlichkeit »Pandabärchen« nennen, sähen Cate und ich uns gezwungen einzugreifen. Aber gewaltig! Und sofort!

»Ich wollte doch ein Foto von mir in dem Kleid, das ich anhatte, als wir uns kennengelernt haben.«

Ob Jules auch den weinerlichen Ton in Laras Stimme hört?

Ben schnaubt. »Um Himmels willen, Panda, wir haben uns in Griechenland kennengelernt. Da war’s irre heiß. Da hattest du bloß einen Tanga an. Deswegen bist du mir überhaupt erst aufgefallen.«

»Ich hab das Kleid extra mitgenommen. Nur ein Foto, mehr nicht!«, zischt das Pandabärchen entrüstet.

Jules hebt eine Braue. Als er in die Auffahrt biegt und den Wagen bremst, kommt Rafe aus dem Büro und marschiert schnurstracks auf uns zu. Hätte ich einen Helm, ich würde ihn jetzt aufsetzen.

»Wir hatten ein großartiges Shooting«, sagt Jules, nachdem er die Fenster geräuschlos heruntergefahren hat. »Danke für diese herrliche Kulisse.«

»Bitte«, erwidert Rafe trocken. Typisch, zwei Silben, und das war’s.

»Sie haben nicht zufällig …«, Jules lässt sich von den zwei Silben nicht abschrecken, »… ein Zimmer, in das wir für etwa zehn Minuten könnten?« Jules tut, als sähe er Rafes abweisenden Blick gar nicht, und sieht demonstrativ zum großen Haupthaus rüber.

Rafe schweigt, und ein schmerzvoller Ausdruck huscht über sein Gesicht. »Das Haus ist nicht geeignet. Es steht leer, und überall blättert der Putz ab.«

Jules horcht auf. »Das klingt perfekt. Es dauert auch nicht lange, versprochen. Kommt, Leute!« Schon springt er aus dem Auto, die Kamera in der Hand, und hechtet an dem düster dreinblickenden Rafe vorbei zum Hauseingang. Rafe schüttelt den Kopf, geht aber dennoch schicksalsergeben zum Haus, um die Tür zu öffnen.

Aha, wenn man nur schwungvoll genug ist, macht Rafe also alles mit.

»Hereinspaziert!« Jules verliert keine Zeit. Kaum hat Rafe die Holztür knarrend einen Spaltbreit geöffnet, schiebt Jules uns aus dem kalten Wind in das Haus hinein.

Unter dem spärlichen Licht einer nackten Glühbirne dauert es eine Weile, bis meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnen. Die Tapete hängt teilweise in Fetzen von der Wand, und die Dielen haben schon bessere Tage gesehen, aber die breite Treppe mit dem wunderschön gewundenen Geländer macht das vergessen. Wir staunen. Sieht aus wie aus einem modernen Einrichtungsmagazin. Wie heißt es da? »Shabby Chic«? Jules kriegt sich kaum noch ein vor Begeisterung.

»Großartig, einfach großartig. Hier können wir arbeiten …« Jules setzt seine Tasche auf den Boden, und eine Wolke Staub wirbelt auf. An Rafe gewandt, sagt er: »Gibt es einen Raum, in dem Lara sich umziehen kann?«

Ich halte den Atem an. Dieser unerwartete Einblick in Rafes Privatleben haut mich um. Ich hatte mir vorgestellt, wie er nachts in ein ultramodernes Bett mit Alurahmen sinkt, aber das passt nicht zu der Patina hier. Warum stelle ich überhaupt Überlegungen zu Rafes Schlafzimmer an? Gute Frage. Antwort: Kuchenbacken ist eine sehr eintönige Arbeit. Da kommt man auf die abseitigsten Gedanken. Echt. Alurahmen, so ’n Quatsch.

»Natürlich. Sie kann sich hier umziehen«, seufzt Rafe. Er öffnet eine Tür und knipst das Licht an. »Hier können Sie auch fotografieren.«

Nach ihm betreten wir das geräumige und spärlich möblierte Zimmer. Auf dem Boden liegen kleine Stücke abgeblätterter Wandfarbe. Rafe öffnet die klapprigen Fensterläden, und die letzten Strahlen der Abendsonne dringen durch die hohen Fenster.

»Der Kamin! Fantastisch!«, ruft Jules und durchbricht die andächtige Stille. »Ein unglaubliches Zimmer!«, sagt er und spricht aus, was wir alle denken. Und er untertreibt sogar noch. Der Kamin ist riesig, die Steineinfassung aufwendig verziert. Mein Hirn arbeitet fieberhaft, und ich versuche mir auszumalen, was für ein Bett dazupassen könnte.

Rafe stöhnt, und mein Traum zerfällt zu Staub. »Das Haus ist eigentlich viel zu groß für ein Gutshaus. Offenbar litten meine Vorfahren an Größenwahn.«

»Und so geräumig.« Jules lässt sich nicht beirren. Auch die dicke Staubschicht auf den wenigen Möbeln trübt seinen Enthusiasmus keinen Deut.

Noch bevor wir zu Ende staunen können, öffnet Rafe die Flügeltür in der Mitte einer Wand und lenkt unsere Blicke in einen dahinterliegenden Raum. Vorsichtig folgen wir ihm in den Wintergarten. Die Glasscheiben sind staubig und voller Spinnenweben, sodass wir kaum nach draußen sehen können.

»Das ist die Orangerie. Auch sie hat ihre beste Zeit hinter sich. Dahinter liegt der Garten«, sagt Rafe und deutet mit einer Kopfbewegung in die Richtung. »Ob hier jemals Orangen wuchsen, weiß ich nicht. Nicht zu meiner Lebzeit, so viel ist sicher.«

»Was für ein wundervoller Ort!« Jules kommt aus dem Schwärmen nicht raus. Kein Wunder, für einen Fotografen muss dies hier der Himmel sein.

Nur der Gerechtigkeit halber und damit niemand auf falsche Gedanken kommt, zwinge ich mich, mir auch das Schlafzimmer von Jules vorzustellen. Hm, ein modernes Loft, mit absichtlich groben Holzmöbeln als Kontrast. Dazu male ich mir auch noch schnell einen großen Kleiderschrank aus. Und eine quietschbunte, grobmaschige Decke stelle ich mir sicherheitshalber auch noch vor.

Zurück in der Realität schiebe ich meine vor Kälte zitternden Hände tiefer in die Jackentaschen. Lara wird hier ebenso kalt werden wie draußen. Aber die Fotos werden sicherlich großartig sein. Hoffentlich geht das Shooting zügig voran.

»Für mich allein ist das Anwesen zu groß. Außerdem mag ich Neubauten lieber. Ich wohne im anderen Flügel des Hauses, daher die Spinnweben hier«, sagt Rafe schulterzuckend und wendet sich zum Gehen. »Ich lasse euch jetzt allein. Viel Spaß. Sagt Bescheid, wenn ihr fertig seid.«

Jetzt läuft in meinem Kopf ein Film mit Rafe, der in einem Fünfziger-Jahre-Retro-Bett turnt und von Vorfahren und Häuserflügeln schwadroniert. Wie lebt dieser Typ eigentlich? Nicht so wie wir, so viel ist mal klar.

»Mannomann …« Ben sieht zum Dach, das sich gefährlich wölbt, und schüttelt den Kopf.

Genau das dachte ich auch gerade.

Jules reibt sich die Hände, an denen jetzt allerdings ein paar Spinnweben und Staubflusen kleben. »Okay, Lara, dann zieh mal dein Kleid an. Dauert nur fünf Minuten, versprochen. Die Bilder werden spitze!« Er dreht sich zu mir und sagt lächelnd: »Poppy, setz doch schon mal Tee auf, und Kuchen wäre auch toll. Wir sind gleich fertig und kommen nach.«

Mir gefällt, wie er sagt, was er will. Und die Art, wie er mir dabei kaum merklich zuzwinkert, gibt seinem Lächeln eine gewisse Zweideutigkeit. Jede Frau, die hierfür empfänglicher ist als ich, würde auf der Stelle dahinschmelzen. Tatsächlich sehe ich aber auch auf meinen Wangen rote Flecke lodern, als ich auf dem Weg zur Teeküche an einem Spiegel vorbeikomme. Dabei ist mir doch eiskalt.

Hoffentlich kommt jetzt nicht Immie und sieht, wie ich glühe.

Noch in meiner unförmigen Jacke wirbele ich in der Küche herum, setze das Wasser auf, hole Teebecher und fische gerade einen Schokoriegel aus meiner Schublade, als ich mich plötzlich Aug in Aug mit Henrietta wiederfinde. Oder besser: Aug in Hühnerauge. Als seien brütende Hennen auf Aktenschränken nicht schon schlimm genug – ein Huhn auf der Keksdose und direkt neben dem Geschirr gibt mir echt den Rest. Sorry, Jules, vergiss Kekse und Kuchen.

Das Federvieh, stimmt, das steht ja auch noch auf meiner To-do-Liste. Wobei – das noch größere Problem als das Geflügel im Büro ist doch: Wie bewege ich Rafe dazu, mit uns Hühnern abends auszugehen?

13. Kapitel

Daisy Hill, im Büro: Glühbirnen und Schnee in der Hölle

Ich weiß nicht, ob Rafes Vorstellungen von einem flexiblen Arbeitsplatz wirklich aufgehen. Als ich das Büro betrete, quillt unser Schreibtisch über vor landwirtschaftlichen Fachzeitschriften. Der Stapel türmt sich so hoch, dass der Mann dahinter kaum noch zu sehen ist.

»Was machst du denn hier?«, fragt Rafe und blickt kurz von dem Brief in seiner Hand auf. Seine Worte klingen eher wie eine Beschwerde als nach einer Begrüßung.

»Ich musste was im Nachbarort abliefern«, sage ich. Seine Augen sind ausdruckslos, und ich entschließe mich, ihm nichts von der dreistöckigen, silberfarbenen Hochzeitstorte zu erzählen und wie viel Mühe sie mich gekostet hat und wie taub meine Finger jetzt sind, nachdem ich stundenlang mit Zuckerguss und Spritztüten gewerkelt habe.

»Ich dachte, ich schaue auf dem Weg kurz vorbei, um einen Text für die Webseite zu schreiben«, sage ich und bin froh, dass ich genau das getan habe. Ein weiterer Tag, ohne dass ich im Büro bin, und mein Schreibtisch wäre wohl in den Garten verlegt worden.

Rafe liest weiter in dem Brief. Als er um einen Stapel Zeitschriften herumlangt, um sich einen Kuli zu angeln, flattern braun gesprenkelte Federn auf.

»Herrje, brütet Henrietta etwa auf dem Schreibtisch?«, höre ich mich mit sich überschlagender Stimme rufen.

Langsam hebt er den Blick, ein gequälter Ausdruck liegt auf seinem Gesicht. »Wo ist da das Problem?« Das soll offenbar keine Entschuldigung sein, er weiß wirklich nicht, was mich stört.

»Vieh am Arbeitsplatz«, entgegne ich knapp. Das Thema steht definitiv diese Woche an, und zwar ganz oben auf meiner To-do-Liste. Bloß genau in diesem Moment bin ich nicht darauf vorbereitet. »Geht gar nicht«, fahre ich hilflos fort. Was soll ich jetzt sagen? »Musst du nicht raus und die Kühe melken … oder so?« Hey, das klingt doch fast schon, als sei ich eine richtige Frau vom Lande. »Dafür, dass du Gutsbesitzer bist, verbringst du erstaunlich viel Zeit am Schreibtisch.«

Er seufzt und legt den Brief geräuschvoll auf den Tisch. »Hast du heute keine Hochzeit, auf der du tanzen kannst?«, erwidert er übellaunig und greift sich Henrietta. Dann setzt er das flatternde Federvieh oben auf dem Aktenschrank ab. »Zufrieden?«, fragt er mich abfällig.

Mein Blick fällt auf den Brief, und ich sehe das Logo einer Bank im Briefkopf. Aha, hat er wieder seine Millionen gezählt. Zufrieden, na ja, ich wäre zufriedener, wenn er die Henne nach draußen komplimentiert hätte. Ich formuliere gerade eine rhetorisch geschickte Retourkutsche zu den Themenkomplexen Gesundheit, Hygiene, Organisation, Ordnung und Stimmung am Arbeitsplatz, als mitten in meine Gedanken mein Handy piepst.

Ich unterbreche kurz meine gedanklichen Formulierungskünste und schaue aufs Handy. Eine SMS von Cate.

Immie und ich können heut Abend. Lotse Rafe um 7 ins Jaggers. Mission #BauerFindetFrau. ;) LG

Mist. Fünf Minuten früher, und ich wäre weniger garstig zu Rafe gewesen. Obwohl: Wenn ich mir sein mürrisches Gesicht ansehe, hilft da auch der süßeste Erdbeer-Daiquiri nicht. Und Rafe ins Jaggers lotsen? Eher schneit’s in der Hölle. Null Chance. Wieder piepst mein Handy. Cate noch mal.

Denk an meine Hochzeit! Da hängt so viel dran. Das ist für alle gut! Du MUSST Rafe herbringen! Dalli, dalli! ;) Lass mich nicht hängen! ;) LG

Typisch Cate. Gleich eine zweite SMS hinterherzuschicken. Immer auf Nummer sicher. Meine Meinung? Sie hat zu viele Motivationsseminare besucht. Ich beiße die Zähne zusammen. Und genau das hat Cate gewollt. Da heiratet sie plötzlich, und ebenso plötzlich ist das mein Lebensinhalt geworden. Irgendwie muss ich da durch, aber wie? Vergleiche sind doof, sagte ich schon, aber besäße dieser Rafe auch nur ein Zehntel des Charmes von Jules oder dessen Freundlichkeit, dann wäre dies hier ein Kinderspiel. Jules! Das ist die Erleuchtung! Wie eine alte Glühbirne flackert die Erkenntnis in meinem Kopf auf. Rafe hat Jules aus der Hand gefressen. Vielleicht muss ich so mit Rafe umspringen, wie Jules es mit ihm getan hat?

14. Kapitel

Rose Cross, im Pub: Ein Köder und Gratisknabbereien

»Ein Feierabendbier mit Rafe? Wie hast du das denn geschafft?«, fragt Immie, während sie ihren Schal auszieht und an meinen Tisch im Pub kommt. Ich zucke mit den Schultern. Jules will ich nur ungern erwähnen, sonst gerät sie wieder ins Schwärmen über den »himmlischen Fotografen«, O-Ton Immie. Wo wir sie doch mit Rafe verkuppeln wollen. Was wir ihr natürlich nicht gesagt haben!

»Ich hab’s wie Jules gemacht«, erkläre ich ihr. »Anstatt Rafe zu fragen oder zu bitten, habe ich ihm gesagt: ›Feierabendbier! Setz dich ins Auto, wir fahren in den Pub.‹ Zack.« Ich kann selbst noch nicht glauben, wie gut das funktioniert hat. Rafe blieb keine Zeit für Ausflüchte, ich habe ihn geradezu überrumpelt. »Der Überraschungseffekt und ein wenig Nachdruck in der Stimme, das war’s.«

Der Pub, The Goose and Duck, ist renoviert worden, seit ich mit Brett, Cate, Liam und den Kindern hier zum Sonntagsbrunch war. Die Wände sind jetzt in dezentem Grau gestrichen. Wann war ich das letzte Mal richtig aus? Lange Kneipenabende und Besäufnisse mögen einigen Menschen über ihre gescheiterten Beziehungen hinweghelfen, mir geben wilde Partys und das Ertränken meiner Sorgen in der Hinsicht nichts.

»Bei Rafe passiert ja sonst nicht viel im Leben«, bemerkt Immie. »Seine Gesellschaft besteht aus kalbenden Kühen.« Immie hat mal wieder ins Schwarze getroffen. Sie rückt ein grau kariertes Sitzkissen zurecht und macht es sich auf einem rustikalen Stuhl bequem. »Warum sind wir gleich noch mal hier?«

Genau, warum eigentlich? »Cate meinte, es sei nett, wenn wir alle mal zusammen …« Ich muss improvisieren. »Wegen der Hochzeit und den Vorbereitungen und so.« Ha, Hochzeit, den Köder scheint Immie zu schlucken.

»Für alles gibt’s ein erstes Mal«, sagt Immie und strahlt Rafe an, der ihr ein Bier bringt und uns je eine Cola. Ihr Bier-Strahlen ist schon mal besser als ihr üblicher Checker-Blick. Der erste Teil des Plans ist ja noch verhältnismäßig einfach. Ein Feierabendbier im Dorfpub ist kein großes Ding. Schwierig wird’s, wenn ich uns nachher ins Jaggers bugsieren muss. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und versuche, eine Umsetzung des schlauen Plans auszuhecken.

»Trinkt ihr kein Bier?«, fragt Immie und leert die Hälfte ihres Glases in einem Zug.

Diese Frau könnte eine ganze Fußballmannschaft unter den Tisch saufen.

»Ich fahre«, sage ich schnell. Und Rafe weiß natürlich noch nicht, dass wir ihn später ins Jaggers in St. Aidan schleppen und abfüllen wollen. Cates Plan ist, dass Immie und Rafe nur genug Cocktails trinken müssen und dann beschwipst einander um den Hals fallen. Mission erledigt.

Rafe hebt sein Cola-Glas. »Ich fahre auch.« Bislang hat er noch kein einziges Mal gelächelt, trotz der lustigen Sprüche von Gav, dem Barmann, und obwohl auf dem Tresen leckere Knabbereien herumstehen.

»Du trägst einen sehr schönen Pulli«, sage ich zu Rafe. Er scheint unzählige Cashmerepullover zu besitzen, außerdem züchtet er Schafe, da dachte ich, Wolle ist kein schlechtes Gesprächsthema. Scheint zu funktionieren, denn endlich zeigt sich ein Lächeln auf seinem Gesicht.

»Den hat mir meine Mutter geschenkt«, sagt er verlegen. Ein wenig Verlegenheit steht ihm ganz gut. »Sie schenkt mir immer wieder welche.«

»Klar, sie will dich herausputzen und vorzeigbar machen, damit du eine tolle Frau abkriegst. Da ist sie ganz versessen drauf«, sagt Immie und klopft ihm freundschaftlich-kumpelig auf den Rücken.

»Wohnt sie hier in der Gegend?«, frage ich. Irgendwie kann ich mir keine Mutter für Rafe vorstellen, obwohl Immie so selbstverständlich von ihr spricht.

»Wir haben ihr ein Häuschen auf dem Gut meines Bruders gebaut. Aber zurzeit reist sie durch die Staaten.« Den Grimassen, die Rafe und Immie ziehen, entnehme ich, dass beide über die Abwesenheit von Rafes Mutter erleichtert sind.

»Sie liebt Country-Musik«, fügt Immie erklärend hinzu. »Das verschafft dir eine Verschnaufpause von der Kuppelei und den Frauen.« Sie lacht laut auf, kippt die zweite Hälfte ihres Bieres und knufft Rafe herzlich in die Rippen. »Will noch jemand ein Bier?« Sie nimmt ihr leeres Glas, steht auf und steuert die Bar an. So weit, so gut. Immie und Rafe gehen erstaunlich locker miteinander um. Und es macht ganz den Anschein, als wolle Immie auf Teufel komm raus für zwei trinken.

Ich schiele auf mein Handy. Zeit, in Richtung Stadt zum Jaggers aufzubrechen.

»Die nächste Runde geht auf mich«, sage ich und springe auf. »Ich habe Cate versprochen, dass wir zu ihr stoßen.« Ich überlege fieberhaft, was Jules sagen würde, um die Meute zu einer Autofahrt von zehn Meilen bis zum nächsten Drink zu bewegen. Der Trick ist, es als alternativlos darzustellen. »Den nächsten Drink gibt’s im Jaggers.« Trotz meiner Unsicherheit bringe ich ein breites Grinsen zustande. Tatsächlich klinge ich recht überzeugend, finde ich. »Ihr mögt doch Mojitos.« Wow, jetzt habe ich einen Lauf.

Keine Ahnung, ob das klappt, aber ich lasse Immie einfach keine Gelegenheit zu widersprechen. Immies Small Talk kommt bei Rafe offenbar gut an. Cate hat recht, wenn wir ihn mit genug Cocktails abfüllen können, wird er sicher schnell einen »Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert«-Moment haben.

»Auf ins Jaggers!«, sage ich, und ohne mich umzusehen, schnappe ich meinen Mantel und gehe zum Ausgang.

15. Kapitel

Im Jaggers: Ehrliche Finder

»Toller Abend. Danke fürs Mitnehmen!«, sagt Rafe und beugt sich über mein Ohr. Seine Wange dicht an meiner. Doch wegen des Lärms und der Techno-Musik muss er schreien, um sich verständlich zu machen.

Die Happy Hour und der Cocktail-Ausschank waren in vollem Gange, als wir im Jaggers ankamen. Der Laden war proppenvoll. Ob immer noch Happy Hour ist, weiß ich nicht, mein Zeitgefühl ist futsch. Happy sind wir, so viel kann ich sagen. Die Cocktails haben sicher ihren Anteil daran. Schon nach einem Schluck drehte sich mein Kopf, und ich musste mich ziemlich zusammenreißen, um mir nichts anmerken zu lassen. Im Gegensatz zu den anderen trinke ich nur einen einzigen Cocktail. Weil, kennt man ja: Je mehr man trinkt, desto größer der Durst.

»Schnell, da sind zwei Plätze frei«, sagt Rafe und führt mich mit seiner Hand auf meiner Schulter durch die Menge zu einem freien Barhocker.

Ich vermute, sein Kommentar über den tollen Abend war ironisch. Dieses Gewühl kann doch niemand ernsthaft gut finden.

Irgendwann muss Rafe seinen Pulli ausgezogen haben. Jetzt hocke ich neben ihm und stelle fest, dass unter seinem verwaschenen T-Shirt ein Waschbrettbauch steckt. Ich kneife die Augen zusammen, um besser lesen zu können, was auf seinem Shirt steht.

»Ehrlicher Finder: Bring mich zum Bauern!«, sagt Rafe und seufzt. »Das trage ich normalerweise nicht, wenn ich abends ausgehe. Ich wusste ja nicht, dass wir hierherkommen. Der Spruch soll witzig sein.« Das ist so lustig, dass ausgerechnet der humorlose Rafe das sagt, dass ich einen Lachanfall bekomme.

Dabei geht’s mir genauso. Normalerweise trage ich auch kein Unterhemdchen, wenn ich ausgehe. Aber hier drinnen ist es so heiß, dass ich nur die Wahl zwischen dem Hemdchen, unter dem mein BH hervorlugt, und einem Hitzeschlag hatte.

»Noch eine Margarita?«, fragt Cate hinter uns und stellt eine ganze Karaffe auf die Theke. Mein leeres Glas füllt sie kurzerhand auf.

So viel zum Thema »Nur ein Drink«. Dabei habe ich nur eine Banane gegessen, zum Frühstück war das. Das ist wohl der Grund, warum mir bereits ein bisschen schwindelig ist. »Das ist aber mein letzter«, sage ich laut. Schon ist Cate wieder auf der Tanzfläche verschwunden. Moment, wir wollten doch Rafe abfüllen, und der hat bislang keinen einzigen Schluck getrunken.

»Das ist schon das sechste Mal, dass du das sagst«, sagt Rafe und lächelt. »Aber keine Sorge, ich fahre dich.«

»Nein!?« Das kann doch nicht wahr sein. Sieben Cocktails? Andererseits erklärt das, warum die Neonschilder an der Wand gegenüber verschwimmen. Ich beuge mich wackelig zu Rafe vor und muss mich an seinem Arm festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Du sollst Immie nach Hause bringen, nicht mich.« Ich halte mich immer noch an seinem muskulösen Oberarm fest. Mir kommt es wie die selbstverständlichste Sache der Welt vor, dass ich ihm das mit Immie mitteile. Mit der anderen Hand fasse ich sein Knie und schiebe mich zurück auf meinen Hocker. Dann flüstere ich extra laut und vertraulich: »Du und Immie, ihr gehört zusammen.«

Anstatt wenigstens mal drüber nachzudenken, bricht er in schallendes Gelächter aus. Ich wusste gar nicht, dass dieser Mann lachen kann. Sein tiefes, herzhaftes Lachen überrascht mich.

»Aber erst, nachdem ich mich mit dem Surfer duelliert habe, oder wie?«, sagt Rafe immer noch lachend. Dann sieht er mich ernst an.

»Duell… wen?«

Er deutet mit dem Kopf über seine Schulter. »Der Typ, mit dem sie da tanzt.«

Ich schaue zur Tanzfläche rüber. »Mist.« Da hinten schmiegt sich Immie an einen blonden Jüngling in zerrissenen Jeans. Der Typ ist kaum älter als Morgan. Als sich unsere Blicke begegnen, winkt Immie mir begeistert mit ihrem Cocktailglas zu, dabei kippt sie den Inhalt über die breite Brust des Typen. Dann knutscht sie ihn hemmungslos ab. Vom Flirten hält sie anscheinend nicht viel, sie geht lieber gleich aufs Ganze.

Rafe hebt eine Augenbraue und schüttelt den Kopf.

»Ich trage zwar ein lustiges T-Shirt, aber keine so sexy Jeans«, sagt er und lacht. »Obwohl: Zerrissene Jeans, ist das nicht voll Achtziger?«

Gut, wenigstens einer findet Immies Aktion lustig. Aber damit ist unsere Mission im Eimer. Dahin die Hoffnung, Rafe ein bisschen menschlicher zu machen. Ich brauche jetzt dringend noch einen Drink.

»Mist«, sage ich noch mal und beobachte, wie Immie sich aufrichtet, dem Surfer das Stirnband abnimmt und es sich selbst anzieht. »Sie ist wohl ganz schon beschlipst, äh, beschwapst«, kommentiere ich. Ups, da stimmt wohl was nicht. »Ich selbst bin wohl auch etwas beschlipst, beschwapst … beschwipst«, stelle ich schließlich geistesgegenwärtig fest.

»Wär’ mir kaum aufgefallen«, sagt Rafe, ganz Gentleman.

»Is da noch Maggarida drin?«, lalle ich und deute auf die Karaffe. Cate kommt zu uns rüber. Toll, sie bringt bestimmt neue Getränke.

Ich winke wie wild. Dabei rutscht mein Fuß vom Hocker, und ich schwanke nach vorn. Doch bevor ich zu Boden gleite, fängt mich jemand auf und drückt mich zurück auf den Hocker.

Puh, Beinah-Unfall! Diese Hocker sind viel zu hoch. »Ich brauch ’n Mojito!«, rufe ich und richte mich auf. Als Cate neben mir steht, kläre ich sie auf.

»Immie ’s’ hagge«, höre ich mich lallen. »Hacke!«, verbessere ich mich. »Immie is’ hacke und knutscht mit dem Surfer. Wo sind die Mojitos? Immie soll doch nicht mit ’m Surfer knutschen, sondern mit Ra…«

Schnell legt Cate ihre Hand auf meine und lächelte über meine Schulter hinweg Rafe an. »Zeit, zu gehen. Oder?«

Wie schafft sie es bloß, so makellos auszusehen in ihrem Anzug und der Bluse, trotz der Zecherei? Und warum redet sie mit Rafe und nicht mit mir?

»Machen wir’s wie besprochen?« Cate tut, als sei ich Luft, und redet weiter mit Rafe. »Ich kümmere mich um Immie, und du bringst Poppy nach Hause?«

Ich begreife, dass es um die Heimfahrt geht, und will auch was sagen. »Ich brauch mein Auto.« So viel weiß ich. »Morgen. Um neun.« Jetzt wird’s schwierig. »’n alter Wagen. Den neuen musste ich bei Brett lassen. Ich brauch mein Auto«, jammere ich und rutsche vom Hocker. Ich muss das Auto finden. Als mein Fuß den Boden berührt, fängt sich alles an zu drehen.

»Poppy …«, höre ich Rafe rufen. Er klingt ernst und lacht nicht mehr.

Dann höre ich einen Aufprall, und mein Kopf landet auf der Tanzfläche.

16. Kapitel

In Rafes Küche: Königsblau und lila Laune

»Willst du einen Kaffee, Poppy?«

Als ich am nächsten Morgen aufwache, höre ich Rafes Stimme wie durch einen dichten Nebel. Ich denke scharf nach und komme zu folgendem Ergebnis: Erstens schlafe ich, und zweitens träume ich. Wie sonst kann es sein, dass Rafe mir einen Kaffee anbietet? Ich will mich umdrehen, aber mein Kopf hämmert wie verrückt. Stattdessen öffne ich ein Auge einen Spaltbreit und entdecke eine mir unbekannte Decke, die jemand über mir ausgebreitet haben muss. Wo bin ich? Mein Gesicht ist halb in ein Kissen gedrückt, meine Füße berühren das Ende einer Sofalehne. Der Boden unter dem Sofa besteht aus Steinplatten. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit einer Axt gespalten. Vage erinnere ich mich, dass ich gestern mit dem Kopf auf die Tanzfläche geknallt bin. Ich ziehe meine Lider ein Stück höher und erblicke ein Paar in Jeans gekleideter Beine.

»Mit Milch, ohne Zucker, stimmt’s?«

In der Jeans steckt Rafe. Die Erinnerung an die Erlebnisse von gestern Abend kehrt langsam zurück. Rafe selbst hat keinen Schluck getrunken, wenn mich nicht alles täuscht. Er ist als Einziger nüchtern geblieben und hat mich in seinem Landrover zu sich nach Hause gebracht. Hier habe ich vermutlich auf dem Sofa in seiner Küche geschlafen.

Ich stöhne. Nicht nur wegen meines Dröhnschädels. Ich erinnere mich nicht einmal daran, getrunken zu haben. Ich setze mich auf und sehe einen Eimer neben dem Sofa stehen. Oh nein! Ich hab doch nicht etwa?

»Der Eimer, warum steht der da? Ich hab doch nicht etwa …?«, frage ich und versuche, in Rafes Gesicht zu lesen.

Verlegen drückt er mir einen Becher Kaffee in die Hand. »Doch. Aber das macht nichts.«

Das wird ja immer schlimmer. Mir krampft sich der Magen zusammen, diesmal vor Scham. Da gehe ich zum ersten Mal seit einem halben Jahr aus, und was passiert? Ich saufe mich bewusstlos, schlag mir den Schädel an und kotze dann auch noch. Wie peinlich ist das, bitte schön?

»Ich bin Bauer und an einiges gewöhnt«, beruhigt mich Rafe. Das klingt wie einer seiner lustigen T-Shirt-Sprüche. »Gut, dass du nicht im Gästezimmer geschlafen hast, sondern hier unten, hier konnte ich besser nach dir gucken.«

Auf dem Sofa gegenüber entdecke ich Kissen und eine Wolldecke. »Hast du die ganze Nacht lang hier gewacht?«

»Das muss ich mit den Tieren auch öfter machen. Das bin ich gewöhnt«, wiederholt er. »Und dir ging es ganz schön schlecht.«

Ja, danke, das merke ich. »Normalerweise kann ich mehr ab …«, sage ich hilflos. Ich will ihn auf keinen Fall volljammern mit meinen Geschichten über Brett. Aber dem Mann, der die ganze Nacht lang auf mich aufgepasst hat wie auf eines seiner kranken Tiere, schulde ich eine Erklärung. »Eigentlich vertrage ich mehr. Aber nach meiner Trennung bin ich nicht mehr ausgegangen.« Das muss reichen.

»Vermutlich können nur wenige Menschen so viel trinken wie du letzte Nacht und immer noch aufrecht stehen. Und diese Karaffen sind echt fies.« Geschickt, wie er das macht. Schonungslos ehrlich, aber wenigstens hält er mir dabei ein Schlupfloch offen. »Und vermutlich bist du besser dran ohne diesen Typen, von dem du letzte Nacht gesprochen hast.«

»Ich habe Brett erwähnt?«, frage ich panisch. Kotzen ist schon schlimm genug, aber Brett zu erwähnen …

»Ein oder zwei Mal«, antwortet Rafe, und ich bin genauso schlau wie vorher. »Glaub mir, das Leben ohne Partner hat seine Vorzüge«, fährt er unbeirrt fort, »du kannst tun und lassen, was du willst.«

»Du musst das ja wissen«, stelle ich trocken fest. Gnadenlos ehrlich sein kann ich genauso gut wie er. Leben ohne Partner, pah! Und den wollten wir mit Immie verkuppeln! So wie er jetzt redet, war unsere Mission gestern Abend von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Nur das totale Besäufnis, das ist mir meisterhaft geglückt.

»Immie allerdings, die könnte einen Partner gebrauchen«, sagt er und hebt einen Stapel sorgfältig gefalteter Kleider vom Sofatisch. Leicht überrascht stelle ich fest, dass Rafes Tisch richtig stilvoll ist. Kein olles Landmöbel, sondern aus Stahl und Holz.

Noch überraschter bin ich, dass er sich Gedanken über Immies Privatleben macht. »Der Surfer von gestern Abend ist bestimmt kein guter Partner«, sage ich seufzend. Nach und nach nehme ich den Rest der Küche wahr, alles sehr schick und geschmackvoll, das muss ich sagen. Ob die komischen Gerätschaften, die da auf der Arbeitsfläche liegen, da hingehören, sei mal dahingestellt.

»Und um das klarzustellen: Ich bin auch nicht der richtige Partner für Immie«, sagt er und sieht mir dabei fest in die Augen. Ja, ja, ich hab’s verstanden. War ja deutlich genug. »Jahaa«, sage ich und lächele schwach.

Ist das ein Motor für einen Traktor, der da auf dem stylishen Aga-Ofen liegt? Und stand über die Farbe eines Agas nicht ein Artikel in der letzten Ausgabe dieser Country-Zeitschrift? Irgendwas darüber, was die Farbe über die Persönlichkeit des Besitzers aussagt? Rafe hat natürlich einen schwarzen. Jules hat wahrscheinlich einen in Anthrazit oder womöglich Königsblau.

Rafe drückt mir die ordentlich zusammengelegten Kleider in die Hand und zeigt auf eine Tür. »Hier habe ich einen Pulli und ein T-Shirt für dich, und dahinten ist das Gästebad.« Er wirft einen Blick auf die Uhr an der ungetünchten Backsteinwand – total trendy, genau wie die Kochinsel in der Mitte der Küche. Ich komme aus dem Staunen nicht raus. »Wenn du dich jetzt fertig machst, müsstest du es rechtzeitig schaffen.«

»Rechtzeitig schaffen?«, frage ich verwirrt.

»Deshalb hast du doch hier übernachtet«, sagt er, als sei alles klar. Ihm ist es das wahrscheinlich auch. Bloß mir nicht. »Du hast gestern von einem sehr wichtigen Termin gesprochen, den du auf gar keinen Fall verpassen dürftest«, erklärt er mit sarkastischem Unterton.

»Ah ja?« Mir ist leider immer noch nicht klar, wovon er spricht.

»Ich habe im Terminkalender nachgesehen. Du hast um neun einen Termin mit Jules«, presst Rafe hervor. »Möchtest du Frühstück? Speck, Eier, Tomaten, Toast?«

Allein das Wort »Frühstück«, ganz zu schweigen von englischem Frühstück, lässt meinen Magen revoltieren. Schnell husche ich ins Bad.

17. Kapitel

Daisy Hill, im Büro: Bilder und Berge von Papier

Punkt neun zieht Jules seinen Parka aus und legt ihn über den Stuhl neben meinem.

»Rafe arbeitet also immer noch seine Papierberge ab«, sagt er und schiebt lachend den Stapel Zeitschriften zur Seite. Er fährt seinen Laptop hoch, und Adele beginnt zu singen.

»Die Playlist für Hochzeiten?«, frage ich.

»Um uns in Stimmung zu bringen«, sagt er und zwinkert mir zu. Das soll wohl lustig sein. So früh am Morgen! »Ich kopiere dir meine Spotify-Playlist, wenn du willst.«

Jules war letztes Jahr bei einer kleineren Hochzeit als Fotograf an Bord. Deshalb kennt er auch Rafes Papierberge.

»Supi«, sage ich und rümpfe die Nase, als ich sein Aftershave rieche. Es riecht herb, aber viel zu intensiv an diesem heutigen Morgen. Zum Glück ist ihm allerdings noch nicht aufgefallen, dass ich eine wandelnde Alkoholleiche bin.

»Ich habe ein paar Fotos ausgesucht, die wir für die Webseite benutzen können«, sagt er und schiebt den Laptop ein wenig zu mir rüber, sodass ich den Bildschirm sehen kann. »Weniger ist mehr, würde ich sagen«, fachsimpelt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich versuche mich zu konzentrieren. »Über die Webseite sollen potenzielle Kunden auf uns aufmerksam werden«, sage ich und zitiere Jess. Ich will möglichst professionell klingen. Gut, dass Jules mir hilft. Ich selbst habe keine Ahnung, wie man so etwas auf die Beine stellt.

»Nicht alle Hochzeiten werden Jahre im Voraus gebucht«, sagt Jules, und es klingt, als habe er Ahnung. Darauf baue ich. »Die Webseite muss auch Kurzentschlossene ansprechen.«

»Genau«, pflichte ich ihm bei und habe keinen Schimmer. Ich rücke näher an den Bildschirm, um besser sehen zu können. Genau das tut Jules in dem Moment auch. Meine Wange liegt jetzt an seinem Polohemd. »Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob Rafe mehr Hochzeiten hier abhalten will.« Und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. »Eigentlich will er lieber Windräder aufstellen.«

»Windenergie!«, sagt Jules und verdreht die Augen. »Das war gestern. Hochzeiten, die sind im Kommen! Alle Bauern, die ich kenne, wären wild auf diesen malerischen Gutshof, der wie geschaffen ist für Hochzeitsfeiern. Wenn man es richtig anstellt, kann man damit viel Geld machen. Dieses alte Herrenhaus wäre eine wahre Goldgrube.«

Mir ist schon nicht ganz wohl dabei, so nah bei Jules zu sitzen und seine Poren sehen zu können. Noch unwohler ist mir jedoch, Rafes Angelegenheiten mit ihm zu diskutieren. Allerdings soll Jules verstehen, worum es hier geht. Die Webseite ist ja nicht für die Ewigkeit, und mein Job hier ist nur befristet. Die Webseite muss also nicht der ganz große Wurf sein.

»Rafe besitzt so viel Land, ich glaube nicht, dass er ein zusätzliches Einkommen nötig hat«, sage ich. Die Feriencottages werden schon ganz gute Einkünfte einbringen, überlege ich.

»Nach dem Tod seines Vaters musste er viel Steuern zahlen. Außerdem hat er seiner Mutter ein neues Haus gebaut. Rafe braucht Geld wie Heu«, sagt Jules und lacht über seinen Witz. Er scheint sich mit den Fakten und Finanzen von Rafe gut auszukennen. Ein Bild von einem Brautpaar vor einem Indianerzelt erscheint auf dem Laptop. »Die Fotos sollten die Leute inspirieren. So etwas könnten wir auch auf Daisy Hill machen.«

»Wow!« Ich rücke näher und betrachte die wunderschönen Bilder auf Jules’ Computer. Bunte Partyzelte mit offenen Planen, die in der warmen Sommerluft flattern. Männer in Tweed-Westen und mit Strohhüten. Tanzende Blumenmädchen. Wohnwagen aus Holz. Ein Feld voller kleinerer Zelte mit bunten Fahnen und Wimpeln. Girlanden aus duftenden Sommerblumen, die über Hoftore gespannt sind. Und natürlich die Bräute, in wunderschönen weißen Kleidern auf grünen Wiesen und Weiden, an knorrige Baumstämme gelehnt oder barfuß durch einen Bach watend. »Wunderschön«, hauche ich.

Jules sieht mich grinsend an und drückt meinen Arm. »Das ist die Reaktion, auf die wir abzielen. Das ist der Traum, den wir verkaufen.«

Wenn mir nicht so verdammt übel wäre, würde mir das hier richtig Spaß machen, doch anstatt zu lachen und zu scherzen, sitze ich stocksteif da.

Ein Geräusch lässt uns zusammenfahren. Als die Tür aufgeht, rücke ich so weit von Jules ab wie möglich. Wenn das Immie ist, muss ich mich auf was gefasst machen. Zum Glück sehe ich Rafes schwere Arbeitsstiefel durch die Tür kommen. Als er allerdings im Zimmer steht und ich sein finsteres Gesicht sehe, wünschte ich, es wäre doch Immie.

»Entschuldigung, wenn ich störe«, sagt Rafe ernsthaft.

Jules grinst ihn unverdrossen an. »Haben Sie kein ›Bitte nicht stören‹-Schild? Das würde ich dann nächstes Mal an die Tür hängen.«

Rafe schnaubt verächtlich. Mit seiner Stiefelspitze schubst er eine Ente aus dem Weg und sagt dann: »Was ist das für Schmusemusik?«

Jules setzt zu einer Antwort an, aber ich komme ihm zuvor, schließlich ist das hier mein Arbeitsplatz. »Dies ist ein Ort, an dem Hochzeiten stattfinden, hier läuft romantische Musik. Wenn du damit ein Problem hast, Rafe …« Meine Ansage wird von der Ente unterbrochen, die jetzt um meinen Schreibtisch herumgewatschelt kommt. Erschrocken fahre ich in meinem Stuhl auf. »Könntest du die Ente bitte nach draußen bringen? Das …« Ich halte inne. Ich habe heute Morgen nicht die allerbesten Karten gegenüber Rafe, fällt mir siedend heiß ein.

»Die Ente ist brav und macht keinen Sch… Was man nicht von jedem hier sagen kann«, erwidert Rafe trocken und sieht mich unverwandt an.

Mist! Na ja, selbst schuld.

Er stellt ein Tablett auf der Tischkante ab. »Wenn ihr euer Techtelmechtel beendet habt, könnte ich hier Hilfe gebrauchen.« Dabei schiebt er den Stapel Papier in die Mitte des Tisches. Einzelne Zettel fliegen vom Stapel und segeln zu Boden.

»Ich …«, sage ich und gehe um den Tisch. Rafes Gesicht hellt ein wenig auf. »Was …?«, frage ich und zeige auf die drei Becher, die Kaffeekanne und den Teller voller belegter Brötchen. Seit wann kriege ich meine Sätze nicht mehr zu Ende gesprochen?

»Ich dachte, du könntest ein zweites Frühstück gebrauchen.« Rafe kneift die Augen zusammen, sein Blick ist auf Jules gerichtet, als er zu mir sagt: »Da du ja heute Morgen mit leerem Magen aus dem Haus gegangen bist.« Ein Satz wie eine Handgranate. Rafe lächelt zufrieden, als Jules erstaunt aufblickt.

»Ach, und ihr tragt dieselben Pullis. Das hätte mir eher auffallen sollen«, bemerkt Jules.

Zum ersten Mal sehe ich einen niedergeschlagenen Jules. Das tut mir richtig leid. Stimmt, Rafes Pulli sieht aus wie der, den ich mir vorhin übergezogen habe. Nur gut, dass keiner das T-Shirt sehen kann, das Rafe mir ebenfalls geliehen hat. Irgendwas mit »Sexy Traktor« steht da drauf. Rafe und Jules scheinen irgendwas am Laufen zu haben. Wer hat den größeren? Bauer oder Knipser? Irgendwie so. Voll Kindergarten! Ich will damit nichts zu tun haben. Aber da Jules uns mit der Webseite hilft, schulde ich ihm eine Erklärung.

»Ich habe hier auf dem Sofa geschlafen …«, sage ich und betone das Wort »Sofa«, »nachdem ich letzte Nacht im Jaggers ein oder zwei Cocktails zu viel getrunken habe.« Rafe hüstelt bei »ein oder zwei«, doch ich beachte ihn nicht. »Mehr nicht«, schließe ich.

Auf Jules’ Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, und seine strahlend weißen Zähne kommen zum Vorschein. »Die Cocktails im Jaggers haben schon viele Opfer gefordert«, sagt er und lacht. »Meine Kumpels und ich gehen heute Abend ins Jaggers. Heute gibt es Sex on the Beach, drei zum Preis von zwei. Willst du mit, Poppy?«

Noch mehr Cocktails? Mir schaudert’s. Bevor ich antworten kann, sagt Rafe: »Sind Sie blind, Mann?« Ungläubig starrt er Jules an. »Diese Frau hier hat einen Riesenkater. Selbstverständlich geht sie heute Abend nicht aus. Auch den Rest der Woche nicht. Und so wie ich Poppy kenne, das ganze restliche Jahr nicht.«

Mir fällt die Kinnlade runter. Vor Staunen lasse ich meinen Mund offen stehen.

Rafe richtet sich zu seinen vollen eins achtzig auf und seufzt zufrieden. »Kaffee, Jules? Bedienen Sie sich.« An mich gewandt, sagt er: »Poppy, um Himmels willen, du musst etwas essen, das tut dir gut.« Er schnappt sich einen Stapel Papiere von dem Haufen und geht zum Regal. »Macht weiter, wo ihr stehen geblieben seid. Ich bin hier, wenn ihr mich braucht. Ich erledige heute die Ablage.«

18. Kapitel

»Brides by the Sea«, in meiner Küche: Ein besonderer Gefallen

»Wir gehen noch mal über den Text, und dann kann die Webseite online gehen.«

Ich sitze mit Jules an meinem Küchentisch, und wir basteln immer noch an der Webseite für die Daisy-Hill-Hochzeiten. Verrückt, nicht? Dass das so lange dauert. Zwei Wochen ist es her, dass wir bei Rafe im Büro die Fotos ausgesucht haben. Ich hatte gehofft, dass Jules sein Loft – ich stelle mir immer vor, dass er in einem Loft wohnt – als Ort für unser Arbeitstreffen vorschlagen würde. Hat er aber nicht, deshalb sitzen wir jetzt eingeengt in meiner winzigen Küche auf zwei Hockern. Der Platz reicht kaum, um die Teetassen zu heben. Wenigstens geraten hier die Streithähne Rafe und Jules nicht aneinander. Und andere Hähne gibt es in meiner Wohnung auch keine. Das Gute daran, dass Rafe immer die Ablage macht, wenn Jules bei mir im Büro ist: Es stapeln sich keine Zeitschriften und Papiere mehr auf dem Schreibtisch. Der Tisch ist ordentlich aufgeräumt, wahrscheinlich zum ersten Mal seit Menschengedenken. Das Blöde ist allerdings, dass Jules in dieser Enge so dicht an mir dran sitzt. Aber nur noch ein Nachmittag, das werde ich wohl noch aushalten. Nach heute sehe ich ihn dann nur noch auf den Hochzeitsfeiern, wenn er als Fotograf arbeitet.

»Und wenn die Webseite online ist, dann endet unsere Zusammenarbeit«, sage ich und merke zu spät, dass er das falsch verstehen kann.

»Stimmt. Und deshalb lade ich dich auf einen Cocktail ein«, sagt er und sieht mich an. Leider kann man sich in einer so kleinen Küche nirgends verstecken.

Heute sind seine Augen blau, blau wie die See, die wir vorhin von meiner Dachluke aus bewundert haben. Ich erwidere seinen Blick einen Moment lang und wende mich dann ab. »Meine Antwort ist und bleibt die gleiche«, sage ich und seufze. Und die hat nichts mit Cocktails zu tun. »Wenn man den Menschen verliert, mit dem man sein ganzes Leben verbringen wollte, dauert es eine Weile, bis man sich wieder gefangen hat«, erkläre ich Jules wie schon unzählige Male zuvor. Ich habe schlicht kein Interesse an einer neuen Beziehung.

Jules fährt sich mit seinen langen Fingern durchs Haar und streicht sich den Pony aus dem Gesicht. »Ich kann warten«, sagt er und lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. »So lange sind wir eben gute Freunde.« Er lässt seinen Finger über den Laptop gleiten. »Obwohl ich dich warnen muss. In dem Fall wird die Webseite nie fertig. Ich werde immer wieder bei dir auftauchen und Verbesserungsvorschläge machen.« Sein gerader Blick verrät mir, dass er es ernst meint. »Und der Mann, mit dem du zusammen warst, kann nicht der Richtige gewesen sein, sonst wärst du noch mit ihm zusammen.«

Ich hole tief Luft. Manchmal sollte man über Jules’ forsche Art tunlichst hinweghören.

»Na, gut, dass du mich jedenfalls davor warnst, von dir verfolgt zu werden.« Zuzwinkern will ich ihm lieber nicht. Stattdessen trete ich ihm leicht gegen den Fuß, als er die Homepage der Webseite anklickt. Er tritt, genauso leicht wie ich, unter dem Tisch zurück.

»Die Schrift, die wir gewählt haben, gefällt mir wirklich gut«, sagt er. »Sie ist schwungvoll, aber nicht unruhig. Und sie hat etwas leicht Altertümlich-Rustikales, das passt zum Gutshof.«

Gott sei Dank wechselt er das Thema. »Deine Bilder sind der Hit«, sage ich und klicke durch die Fotos. »Du hast echt ein gutes Auge.«

Irgendwie ist es schade, dass die Nachmittage mit Jules, die Zusammenarbeit mit ihm vor dem Computer zu Ende sein sollen. Außerdem macht er sich gut in meiner Wohnung. Seine langen Beine, seine offene Art, seine Klamotten, sein leichtes, lebhaftes Wesen bereichern meine Bude unterm Dach. Und seine Playlist, die er überall spielt, wirkt auch sehr belebend.

»Die Fotos müssen gut sein, das ist mein Job«, sagt er. »In einer einzigen Einstellung muss ich die Zuneigung des Paares, seine Gefühle füreinander einfangen. Das Hochzeitsfoto wollen die meisten Menschen sich ihr Leben lang ansehen.«

»Ein ganz schöner Druck, was?«, sage ich und lache. Ich reiche ihm noch ein Törtchen. Extra für Jules gebacken. Die hatte er sich gewünscht, Kaffeebiskuit, Kaffeeglasur und geröstete Mandeln. Anders als bei Anti-Kuchen-Rafe ist es eine reine Freude, für Jules zu backen. Er nimmt das Törtchen aus der Papierbackform und beißt mit halb geschlossenen Augen hinein. Merkwürdigerweise kann ich mich nicht daran erinnern, Brett jemals beim Essen zugeschaut zu haben. Jetzt schaue ich dafür umso faszinierter.

»Wie machst du das?«, frage ich ihn. Ich wünschte, ich wäre so gelassen wie Jules. »Ich mache mir so viele Gedanken wegen Bens und Laras Hochzeit. Ich bin doch verantwortlich.« Ich wache wirklich jede Nacht schweißgebadet auf und habe Angst, etwas Wichtiges zu vergessen.

»Ich bin ja auch noch da und helfe dir«, versichert er und legt seine Hand auf meine.

Und schon fange ich wieder an, ihn mit Rafe zu vergleichen. Während Rafe immer sagt, das gehe ihn alles nichts an, ist Jules stets sehr hilfsbereit und bemüht. Auch bei Dingen, die nicht zu seiner Arbeit gehören.

»Das Geheimnis einer gelungenen Hochzeit ist ein guter Fotograf.« Er zwinkert mir zu, während er das sagt, das soll wohl bedeuten, dass es nicht angeberisch gemeint ist. Das macht er jetzt schon zum zweiten Mal an diesem Nachmittag. »Ein guter Fotograf ist immer und überall dabei und lenkt das Geschehen. Ich war schon auf so vielen Hochzeiten, ich weiß instinktiv, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht, und ich weiß auch, wie man das verhindert. Ich bin überall, unsichtbar, aber ich habe immer alles im Griff. Du glaubst nicht, wie viele Hochzeiten ich schon dank meiner Geistesgegenwart gerettet habe.« Wenn er wie ein Angeber klingt, dann hat er wahrscheinlich jedes Recht dazu.

»Es ist gut, dich an der Seite zu haben«, sage ich, und er ahnt gar nicht, wie dankbar ich ihm bin und wie sehr ich mich auf ihn verlassen muss. »Meine Törtchen machen sich also bezahlt«, sage ich scherzhaft. Ich scherze absichtlich mit ihm, um ihm zu demonstrieren, wie locker unser Umgang miteinander ist. Allerdings hoffe ich, dass er meine Scherzchen nicht zählt und aufrechnet, so wie ich seine zähle. Und genau genommen ist das gar kein Scherz. Torten können viel bewirken. Wie anscheinend auch in diesem Fall.

»Ich bin jedenfalls für dich da. Wenn du mich brauchst, ruf einfach an«, sagt er und wischt sich fein säuberlich die Krümel aus dem Mundwinkel. »Was auch immer du brauchst, ich komme und helfe dir. Immer. Die Mandeln sind übrigens köstlich.« Noch eine scherzhafte Schmeichelei.

»Danke für das Kom…«

»Poppy?«, höre ich jemanden rufen, dann Getrappel auf der Treppe, und schon steht Jess in der Küche. »Ich weiß, dass du zu tun hast, aber es gibt einen Notfall. Könntest du …?«, fragt sie außer Atem.

Ihre rosa Wangen und ihr schneller Atem sagen mir, dass ich sofort gebraucht werde. Jess ruft mich zwar hin und wieder zu Hilfe, aber so aufgeregt kenne ich sie nicht.

»Wir sind so weit fertig, oder?«, frage ich Jules. Und falls nicht, nimmt er die Gelegenheit, mich erneut zu besuchen, bestimmt gerne wahr. Ich drücke freundschaftlich sein Knie und stehe auf.

»Oder du gehst mit mir später am Strand spazieren«, sagt Jules und sieht mich mit seinen Hundeaugen an, die einen unweigerlich dahinschmelzen lassen.

Jess hüpft von einem Fuß auf den anderen. »Das kann länger dauern.« Flüsternd sagt sie: »Josie Redman ist da! Sera schenkt ihren Freundinnen gerade Sekt ein. Sie ist supernervös und kriegt nichts auf die Reihe. Schnell«, sagt sie und greift meinen Arm. »Du musst sofort kommen.«

Angesichts dieser Sachlage lasse ich Jess’ Kleiderregel – immer in Schwarz! – außer Acht. Rafes Pulli und meine alte Jeans müssen heute reichen. Ja, den Pulli habe ich ihm immer noch nicht zurückgegeben. Er ist so gemütlich.

»Entschuldige, Jules«, sage ich und winke ihm zum Abschied, als ich die Küche verlasse. »Sag mir Bescheid, falls dir noch was Wichtiges einfällt.« Das wird es bestimmt. »Und nimm die Törtchen mit … da in der Dose.« Auch das wird er bestimmt machen.

Jess und ich springen halb fallend die Treppen runter.

»Toller Typ, halt ihn dir warm«, sagt Jess keuchend, als wir durch die Herrenabteilung hechten. »Seine Fotos sind genial. Und er geht ins Jaggers.« Das kann auch nur Jess einfallen, knappe Atemluft für Gespräche über Männer zu verschwenden. »Ich habe gehört, wie er gesagt hat, dass er dir helfen will. Und im Hintergrund lief Robbie Williams. Volltreffer, Poppy.«

Oh nein. Hoffentlich lenkt sie die Aufregung über Josie Redman von diesem Thema ab!

19. Kapitel

»Brides by the Sea«: Detox und der perfekte Teint

»Es tut mir leid, Ihnen so viele Umstände zu machen«, sagt Josie zum x-ten Mal.

Sie gibt wirklich ihr Bestes, um unsere Panik in Schach zu halten. Vergebens. Zum Glück ist schnell klar geworden, dass der Star aus den Medien ein sehr netter und umgänglicher Mensch ist. Josie ist recht klein und zart und noch viel hübscher als auf den Bildern in den bunten Heftchen. Und Prosecco kann nie schaden, deshalb schenkt Jess großzügig aus. Josie und ihre drei Freundinnen haben auf dem Weg nach Bristol spontan Halt im »Brides by the Sea« gemacht. Die Frauen haben ihre riesigen, mit Strass besetzten Handtaschen in die Ecke geworfen, und Josies Freundinnen lümmeln sich jetzt mit ihren langen Beinen auf dem Sofa und wippen fröhlich mit ihren High Heels auf und ab.

»Törtchen?«, frage ich. Ich habe zwar vergessen, meine Notreserve mit runterzubringen, aber das ist auch egal, denn alle schütteln dankend den Kopf, sodass ihre superordentlich auf unordentlich getrimmten Haare noch mehr durcheinanderfliegen. Sie streichen ihre wohlgeformten Oberschenkel und murmeln irgendwas von »Detox«.

»Helle alkoholische Getränke sind aber erlaubt«, lacht Josie. Auf Jess’ Gesicht entdecke ich ein nervöses Flackern. »Ich bin gekommen, um mir die Kleider schon einmal anzusehen«, sagt Josie freundlich. »Als Vorbereitung auf unseren Termin nächste Woche, damit wir dann weniger Arbeit haben.« Sie lächelt Sera an. »Die Qual der Wahl, das macht mir jetzt schon Sorgen.« Josie setzt ihr Sektglas ab, und Jess atmet erleichtert auf.

»Sera, warum zeigst du Josie nicht deine aktuelle Kollektion?«, fragt Jess munter und blickt zu Sera rüber, die sich hinter einer spanischen Wand zu verstecken versucht. »Und nachher holst du noch die Entwürfe aus deinem Studio.«

Sera kommt schüchtern hinter der Wand hervor. Das Vorzeigen und Verkaufen ihrer Kleider fällt ihr grundsätzlich schwer. Zum Glück übernimmt das Jess in der Regel für sie. In diesem Fall aber muss sich Sera wohl oder übel auch selbst mit Josie über die Entwürfe unterhalten. Wäre Josie nicht unangekündigt hier aufgetaucht, wäre Sera wahrscheinlich nicht ganz so nervös. Doch so konnte sie sich auf den Besuch nicht vorbereiten, und schließlich steht ja einiges auf dem Spiel.

Ich fasse sie am Ellbogen und führe sie zum Lehnstuhl. »Oder du und Jess zeigt Josie hier die Kollektion, und ich gehe und hole die Entwürfe aus dem Studio.« Ich nehme ein Kleid von der Stange. »Das Kleid ist der Renner diese Saison. Sera nennt es Bali, nach ihrem Lieblingsort.«

»Ah, ich liebe Bali«, ruft Josie begeistert.

»Das ist der typische fließende Sera-Stil, der jeder Frau schmeichelt. Und bequem ist er noch dazu«, erkläre ich und hoffe, dass ich nicht völligen Unsinn rede. »Die Spitze ist sehr fein und ungewöhnlich.« Ich schlucke und muss an mein eigenes Kleid denken. Schnell reiche ich das Kleid an Jess weiter. Die Seide ist leichter als Luft. Josies Freundinnen rufen entzückt »Ah« und »Oh« und halten sich ihre lackierten Nägel an die Lippen.

»Wahnsinn!«, haucht Josie. »Mein Traumkleid!«, sagt sie an ihre Freundinnen gewandt. »Und ganz anders, als die Öffentlichkeit es von mir erwartet, ohne irgendwelchen überbordenden Glitzerkram. Genau deshalb wollte ich ein Kleid von Sera.«

Sera knabbert nervös an ihren Fingernägeln. Aber bestimmt freut sie sich über das Kompliment. Auf dem Weg ins Studio signalisiere ich ihr: Daumen hoch! »Ich nehme einfach irgendein Kleid, okay?«, frage ich leise im Vorbeigehen. Sie gibt mir mit dem Daumen ihr Okay. »Du siehst genauso toll aus wie deine Kleider«, ermutige ich sie. Denn Sera wollte eigentlich vor Josies Anprobe zu einer Visagistin.

Das Faszinierende an Brautkleidern ist, dass sie die Frauen, die sich darum versammeln, aufs Schönste vereinen. Augenblicklich schmilzt das Eis, und alle stecken die Köpfe zusammen und bestaunen die wunderschönen Kunstwerke aus Stoff. Und bei uns, bei »Brides by the Sea«, und in dem eigens eingerichteten Seraphina-East-Raum sind die Kleider besonders bezaubernd. Die bewundernden Rufe dringen sogar bis in das Studio ein Stockwerk höher, wo ich Seras Entwürfe durchsehe. Je mehr Sekt fließt, desto größer wird die Begeisterung. Als ich mit Seras Kleidern aus dem Studio zurückkomme, brandet neuer Beifall auf.

»Dies hier ist so neu, dass es noch nicht einmal einen Namen hat«, sagt Sera schüchtern.

Jess breitet das weiche weiße Oberteil aus und streicht über die zarte Spitze an den Trägerchen. »Auch hier sehen wir wieder die Kombination aus Leichtigkeit und Schlichtheit mit kleinen verspielten Details«, sagt sie fachmännisch.

Eine von Josies Freundinnen beugt sich vor und fragt: »Josie, bist du sicher, dass wir die Kleider anprobieren und vorführen sollen? Willst du sie nicht selbst tragen?«

Josie überlegt kurz und sagt: »Das mache ich das nächste Mal. Heute will ich einfach nur sehen, wie die Kleider in natura aussehen.«

Ich muss an mein eigenes Kleid denken und sage: »Wenn man Seras Kleider anzieht, kommt man sich unendlich schön vor. Ihre Kleider wirken Wunder und haben diesen merkwürdigen Effekt, den keine anderen Kleider haben.« So war das jedenfalls bei mir.

Sera, die immer noch ein wenig im Hintergrund steht, meldet sich zu Wort: »Ich glaube, das ist jetzt meine ganze Kollektion.«

Jess hebt die Hand. »Ein Kleid gibt es noch. Das sollten Sie sehen. Es ist etwas ganz Besonderes. Ich muss allerdings erst die Besitzerin fragen.« Augenblicklich verstummen alle.

»Sind das hier nicht alle?«, fragt Sera verwundert.

Sera scheint nicht zu wissen, dass Jess von meinem Kleid spricht.

Jess dreht sich zu mir: »Was meinst du, Poppy?«

Mir wird übel, trotzdem versuche ich zu lächeln. Ich fürchte, dass das misslingt. Aber es geht um Sera, das hier ist die Chance für sie. Ich muss mich zusammenreißen.

»Hol du das Kleid, Jess, ich rufe die Besitzerin an«, improvisiere ich mit wackeliger Stimme.

Jess klatscht in die Hände. »Super, einen Moment, bitte.« Bevor ich weiß, wie mir geschieht, schiebt mich Jess zur anderen Ecke des Ladens. Meine Beine gehorchen mir kaum, und mein Magen ist ganz flau. Im Weißen Zimmer geht Jess nicht direkt zu den Kleidern, sondern setzt sich an ihren Tisch.

»Ist das wirklich in Ordnung für dich?«, flüstert sie eindringlich.

Ich schlucke und versuche, das Würgen zu unterdrücken. Es ist doch nur ein Kleid, ein Stück Stoff, rede ich mir ein. Das kann doch nicht so schwer sein.

»Es tut mir so leid, dir das anzutun, es ist in Ordnung, wenn du Nein sagst«, meint sie und kramt in der Schublade. »Josie scheint zwar sehr nett zu sein, aber diese Sternchen sind so verwöhnt und flatterhaft. Ich möchte, dass sie wirklich alle Kleider sieht, damit sie bei der Stange bleibt. Wenn sie sich doch anders entscheidet und wir ihr nicht auch dein Kleid gezeigt hätten, das könnte ich mir nie verzeihen.«

Ich verstehe, was sie meint. »Ich würde es nicht ertragen, wenn sie mich über meine Hochzeit ausfragten«, bringe ich leise hervor. »Das Kleid zu sehen, ist furchtbar, aber solange sie nicht wissen, dass es mein Kleid ist, wird es gehen. Ich tue es für Sera«, sage ich mehr zu mir selbst. Ich kriege kaum Luft, so sehr erdrückt mich der Gedanke. Aber ich weiß, dass es sein muss. »Und ich tue es gern«, füge ich hinzu und schlinge meine Arme um meine Brust.

Jess betrachtet mich skeptisch. Dann stellt sie resolut eine Flasche Gin auf den Tisch. Als Nächstes drückt sie mir ein großzügig bemessenes Glas Gin in die Hand. »Hier, trink das, während ich das Kleid hole. Trinke es in einem Zug, das hilft, versprochen«, sagt sie und verschwindet.

Ich atme tief ein und tue dann wie geheißen. Als ich das leere Glas zurück auf den Tisch stelle, kommt Jess zurück.

»Brav«, sagt sie und tätschelt meinen Arm. In der anderen Hand hält sie das Kleid. »Sieh nicht hin, tu so, als hätte es nichts mit dir zu tun.« Sie holt tief Luft. »Okay, los geht’s.«

Ob’s am Gin liegt, weiß ich nicht. Jedenfalls brauche ich die Taschentücher nicht, die ich mir vorsorglich eingesteckt habe. Als wir wieder bei den anderen sind, beiße ich die Zähne zusammen und tue so, als gehöre das Kleid jemand anderem. Ich sehe aber absichtlich nicht hin, zur Sicherheit. Es funktioniert. Und ich jubele und klatsche genauso begeistert wie die anderen. Nur Josie schweigt. Plötzlich werden wir alle ganz still und sehen sie an.

Josie öffnet und schließt ihren Mund, dabei schlägt sie sich mit der Hand vor den Mund. Unter ihrem Make-up sehen wir ihr Gesicht erst rot und dann blass werden. Nach einer endlos scheinenden Minute kommt endlich ein Ton aus ihrer Kehle. »Die anderen Kleider sind fantastisch. Aber dies hier ist der Traum. Ein Traum, von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn geträumt habe. Wenn ihr versteht, was ich meine?«

Auf dem Tisch stehen so viele leere Flaschen Sekt, wahrscheinlich ist es ihren Freundinnen egal, ob sie das verstehen oder nicht. Aber sie nicken alle. Ich frage mich, wie sie jemals auf diesen verdammt hohen High Heels aus dem Laden stöckeln wollen. Nicht dass ausgerechnet ich das beurteilen könnte.

Josie beißt sich auf die Lippen. »Und ich brauche es noch nicht einmal anzuprobieren«, flüstert sie. »Wahrhaftig, ein wahr gewordener Traum. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Wenn es nicht bereits einer anderen Frau gehören würde, wäre es genau mein Kleid.«

Seras Augen blitzen auf. »Ich ändere ein, zwei Kleinigkeiten, sodass es ein Unikat, speziell für Sie geschneidert ist. Jess hat recht, dies ist eines der schönsten Kleider, die ich je entworfen habe.«

»Das wäre toll«, seufzt Josie mit erstickter Stimme. Mit dem Rücken zum Kleid gehe ich auf sie zu und reiche ihr die Taschentücher, die ich vorhin für mich selbst mitgenommen hatte.

20. Kapitel

»Brides by the Sea«: Verabredungen mit heißen Typen und

mutige Entscheidungen

»Und ich dachte, Gin würde melancholisch machen«, sage ich, als ich Jess später beim Aufräumen helfe.

»Nur wenn man ihn langsam trinkt«, erklärt Jess und rückt den großen Lehnstuhl zurecht. »Wenn man ihn hinunterstürzt, wirkt er wie eine Narkose.«

Danke, Gin! Obwohl es sicherlich auch nicht verkehrt war, dass Jess das Kleid schnellstmöglich außer Sichtweite gebracht hat, nachdem Josie gegangen war.

»Und du willst wirklich nicht mitkommen, heute Abend?«, fragt Jess und wischt die Sektflecke vom Beistelltisch. »Wäre doch schade, wenn du dich an einem Freitagabend auf deinem Dachboden verkriechst, wenn du einen so tollen Mann wie Jules treffen könntest.«

Toller Mann? Na ja. Aber nach allem, was Jess vorhin mitbekommen haben muss, ist Leugnen jetzt zwecklos. »Ich habe eine Verabredung mit einem heißen Typen nachher in Rose Cross«, sage ich beiläufig.

»Mit wem denn?«, springt sie sofort drauf an.

»Mit George«, sage ich und freue mich diebisch, dass mein Trick funktioniert. »Allerdings schläft er die meiste Zeit bei unseren Treffen.«

»Echt? Davon hast du mir noch nie erzählt. So toll wie Jules ist er wohl nicht. Wer ist der Typ?«

Lachend kläre ich sie auf: »George ist Cates Sohn. Im Oktober wird er drei.«

Jess verdreht die Augen, und dann runzelt sie die Stirn. »Weißt du, was ich mich frage? Jules ist doch Fotograf. Wenn ihr zwei heiratet, wer macht dann die Fotos?«

»Du spinnst.«

Sie schüttelt den Kopf. »Nee, tue ich nicht. So wie er dich vorhin angesehen hat.«

»Die Webseite ist jetzt fertig, und ich werde ihn erst bei der Hochzeit auf Daisy Hill wiedersehen.« Automatisch geht bei dem Gedanken mein Puls schneller. Bei dem Gedanken an die Hochzeit, nicht an Jules.

»Wann findet sie statt?«, fragt Jess wie aus der Pistole geschossen. Das ist das Problem mit Jess, ihr Gehirn hat nie Pause.

»Kurz vor Ostern.« In zwei Wochen also. Nur zwei Wochen, bis dahin muss alles stehen.

»Glaub mir, du wirst ihn vorher treffen«, feixt Jess. Dann legt sich ihre Stirn wieder in Falten. »Sehr mutig von dem Brautpaar, zu dieser Jahreszeit im Freien zu feiern. Das Wetter, und es wird auch so früh dunkel.«

»Dunkel?«, ächze ich, und mir geht … ein Licht auf. »Oh Mann, Licht! Wir brauchen Lichter! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Mist!« Ich schlage mir mit der Hand gegen den Kopf. Wie konnte ich das bloß vergessen? »Danke, Jess!«, rufe ich und mache mich flugs an die Arbeit. Oh Gott, was habe ich wohl noch alles nicht bedacht? Adrenalin schießt mir durchs Blut, als ich nach oben in meine Wohnung zu meinem Laptop und der To-do-Liste flitze.

Als ich atemlos in meiner Küche ankomme, hängt dort über dem Stuhl der bunte Schal von Jules.

21. Kapitel

Daisy Hill: Der Tag vor dem großen Tag

»Dieser Fotograf würde uns eine Menge Ärger ersparen, wenn er nicht ständig seinen Schal irgendwo liegen lassen würde«, ruft Rafe und kommt sich die Haare raufend über den Hof gelaufen. Schon wieder regt er sich über Jules auf.

In diesem Fall hat er sogar recht. Jules vergisst wirklich andauernd seinen Schal. Meistens sind Rafes Beschimpfungen allerdings ungerecht. Ich fasse es mal kurz zusammen, das spart Zeit. Hier die Daten und Fakten der letzten zwei Wochen:

Jules vergisst seinen Schal (an unterschiedlichen Orten): 8 Mal

Jules und Rafe kriegen sich in die Haare (Rafe zettelt Streit an): 15 Mal

Rafe und ich streiten wegen Jules: 17 Mal

Rafe und ich streiten uns richtig doll: 24 Mal

Rafe und ich streiten uns nur ein bisschen: unzählige Male

So sieht’s aus.

Immie schüttelt den Kopf, als Rafe rausrennt, und murmelt: »Mach mal halblang.«

Gut, dass es nicht nur mir so geht. Die beiden Männer treiben jeden hier in den Wahnsinn. Wenn Jules hier ist, ist Rafe auch da. Unfehlbar. Und zettelt am laufenden Band einen Streit an. Kaum ist Jules gegangen, verschwindet auch Rafe von der Bildfläche. Was gar nicht gut ist, weil ich zig Fragen habe und jede Menge Sachen mit ihm klären muss.

»Na, komm«, sagt Immie und öffnet die Tür des Jeeps. »Lass uns die Lampen aufstellen, dann kannst du das von deiner Liste streichen.«

Genau, dank meiner Eingebung bei Jess habe ich das mit der Beleuchtung jetzt geklärt. Offenbar haben wir hier auf dem Gut sehr engagierte Techniker, Geoff und Bob, im Hauptberuf Landwirte, die sich mit großer Leidenschaft um die Generatoren, die Flutlichter und den anderen Elektrokram kümmern. Zum Glück fanden sich auch eine Reihe rustikaler Sturmlaternen, die Immie und ich jetzt entlang der Einfahrt bis zur Hochzeitsscheune aufstellen wollen. Ich bin froh, dass Immie mir hilft. Noch froher wäre ich, wenn sie besser Auto fahren würde.

»Das blauweiße Partyzelt ist echt schön«, stoße ich hervor und klammere mich an den Türgriff, während wir über die Feldwege preschen. Immie rast mit angezogener Handbremse durch das Gatter, und wir kommen schlingernd auf der Wiese vor der Hochzeitsscheune zum Stehen. Wenn ich ihr sagen würde, dass sie langsamer fahren soll, würde sie nur extra Gas geben. Also hüstele ich nur und bemerke: »Vorsicht, der Rasen soll doch heil bleiben!«

Immie hört gar nicht hin und öffnet schwungvoll die Tür. Sie greift den Hammer und springt aus dem Auto. »Ich schlage die Pfosten ein, und du befestigst die Laternen daran.« Mit einer Kopfbewegung deutet sie auf das Zelt, vor dem Arbeiter hin und her laufen. »Sag ich doch, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das läuft wie von selbst.«

Wie von selbst? Immie ist gut. Zwei Tage harte Arbeit des Zeltverleihers. Immerhin steht das Zelt jetzt. Genau wie die mobilen WCs, die versteckt hinter der Hecke stehen. Die Zellen sind sogar mit Marmor ausgelegt, und auf den Waschbecken stehen echte Blumen. Immer noch flitzen Leute hin und her und tragen Kisten von den Transportern ins Zelt.

»Die Tische und Stühle sind heute Morgen angekommen. Lara und Ben sorgen für die Blumendeko«, erzähle ich, obwohl Immie das selbst weiß, schließlich war sie die ganze Zeit dabei.

»Ihre Freunde helfen ihnen. Einige der Typen sehen gar nicht schlecht aus«, kommentiert Immie, als ein stattlicher Bursche in Muskelshirt mit einer nicht gerade kleinen Topfpflanze im ebenso stattlichen Arm an ihr vorbeigeht. Sie folgt ihm mit Blicken, wie er geschickt das mit Schleifen versehene Bäumchen durch den Zelteingang bugsiert. Dann nickt sie anerkennend und sagt: »Der kann ordentlich anpacken.«

Ich glaube, Rafe hat recht, wenn er sagt, Immie braucht einen Mann.

Sie schaut dem Burschen nach, bis er im Zelt verschwindet. »Ich sehe Birkenzweige und Osterglocken. Ist das Deko-Motto Frühling?«

»Die Brautjungfern tragen Gelb«, sage ich und ahne, wie Immie reagiert.

Tatsächlich verzieht sie das Gesicht. »Ach Gott, die Armen, Gelb ist noch schlimmer als Apricot.« Ahnung von Mode hat sie nicht, aber immer eine Meinung.

»Das Motto ist Ostern. Lara will sogar ihre Kaninchen mitbringen«, sage ich. Eine Hochzeit mit Hasen ist mir auch neu, aber das klingt doch lustig.

»Wir haben genug Heu für die Häschen«, sagt Immie verträumt und hält nach dem Burschen mit dem Bäumchen Ausschau.

Ja, Rafe war sehr großzügig mit den Heuballen. Zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert, sparen sie dem Brautpaar eine Menge Geld.

Fröstelnd zieht Immie ihren Reißverschluss bis an den Kragen zu. »Ziemlich kalt für eine Feier im Freien.«

»Im Zelt herrscht eine Affenhitze wegen der Heizstrahler. Die Muskelmänner laufen nicht deinetwegen mit nacktem Oberkörper durch die Gegend«, sage ich grinsend und schiele auf meine Uhr. »Wenn du deine Fleischbeschau beendet hast, können wir dann weitermachen?«

Widerwillig wendet sie sich ab. »Endlich machst du wieder Witze«, sagt Immie und klopft mir auf den Rücken. Dann sieht sie mir fest in die Augen: »Ich hatte schon befürchtet, dass der Stress dir zusetzt.«

Sie hat nicht unrecht. Jeden Morgen stehe ich noch ein bisschen früher auf, und mir schwirrt das Hirn vor lauter To-do-Listen.

»Ich habe mir wochenlang Sorgen gemacht, und heute habe ich Panik«, sage ich und hole tief Luft. »Für etwas derart Wichtiges wie eine Hochzeit verantwortlich zu sein, ist ganz schön viel.« Eine Hochzeitsfeier ist sehr viel größer als eine Torte – das, was ich normalerweise mache. Allmählich fange ich an zu verstehen, warum Rafe keine Hochzeiten organisieren will. Es ist in Ordnung, wenn alles nach Plan läuft, aber das Risiko, dass etwas schiefgeht, ist riesig. Es wäre einfach nur furchtbar, ausgerechnet ein Brautpaar enttäuschen zu müssen. Schließlich heiraten die nur einmal, das ist ein ganz besonderer Tag, und es gibt keine zweite Chance. Bei dem bloßen Gedanken presse ich die Zähne aufeinander und verspanne mich.

»Wird schon«, sagt Immie aufmunternd und knufft mir in die Seite. »Morgen um diese Zeit ist es geschafft.«

»Morgen um diese Zeit werde ich geschafft sein«, jammere ich.

»Bislang hast du das großartig gemanagt. Und du bist nicht allein, wir sind ja auch alle hier.« Normalerweise ist Immie nicht so mitfühlend, aber jetzt schlägt sie sich ganz wunderbar. »Selbst Cate nimmt einen Tag frei, um dir zu helfen«, sagt Immie und kichert. »Was nur gerecht ist, schließlich hat sie dich in diese Scheiße geritten.«

»Ja«, sage ich kleinlaut.

»Und was soll schon passieren?« Wie gesagt, im Mitfühlen und Trösten ist Immie keine große Leuchte.

»Das Zelt bricht zusammen, der Fluss tritt über die Ufer, die Kühe rennen über das Feld …« Allerdings wäre nichts davon meine Schuld. Aber genau das ist der Punkt: Solche Unglücke kann man nicht vorhersehen.

»Der Himmel stürzt ein?«, macht Immie sich über mich lustig. »Wenn es erst vorbei ist, wirst du dich wundern, warum du dir im Vorfeld so einen Kopf gemacht hast«, sagt sie. »Also, lass uns die Laternen aufbauen und …«

»Und …?«, frage ich grinsend, denn ich ahne, was sie sagen will.

»Und steh deinen Mann.«

22. Kapitel

Daisy Hill, im Büro: Wachhunde und polierte Gummistiefel

»Noch ist es trocken«, sagt Rafe. Er steckt seinen Kopf ins Büro, um den Wettermann zu spielen, dabei beginnt in einer Stunde die Feier, die ich zu organisieren habe. Ganz toll.

»Toll«, sage ich und lege die Broschüre der Versicherung beiseite, die ich eh schon zum gefühlt zwanzigsten Mal lese. Ich stelle die Musik aus meinem Laptop leiser. Normalerweise würde ich das nicht wegen Rafe machen. Aber gerade habe ich wirklich keine Lust auf eine Diskussion über die Charts, Musik und Lärm.

»Die Vorhersage ist schlecht, wahrscheinlich gießt es nachher«, sagt Rafe so laut, als sei die Musik noch an. »Wie läuft’s, Poppy?«

»Gut«, lüge ich und versuche zu lächeln.

»Du siehst nicht so gut aus …«, sagt Rafe und legt den Kopf schief.

Ich wappne mich innerlich gegen alles, was er jetzt noch sagen mag. Wie sehe ich denn aus? Müde, fertig, groggy, alle, übel? Als breche ich gleich zusammen? Na?

»… irgendwie mitgenommen«, sagt er fragend.

»Was?« Was meint er?

»Zerzaust?«, versucht er es noch mal.

Mist! In der Aufregung hatte ich ganz den Haar-GAU von gestern Abend vergessen. Ich hatte mir vorm Zubettgehen einzelne längere Zipfel meines Meckis abgeschnitten. Und davor als Nervenmedizin einen Schluck Gin getrunken. War vielleicht keine gute Idee. Gestern nach dem Gin dachte ich, es würde ganz schick aussehen.

»Und zerstreut«, fügt Rafe hinzu und hält die Bürotür für den Zoo auf, der ihm normalerweise auf den Fersen ist. Diesmal ist es nur sein Hund Jet. Danke auch. Hühner und Enten könnte ich heute echt nicht gebrauchen. Ehrlich gesagt, bin ich so nervös, als würde ich heute selbst heiraten. Rafe sage ich das natürlich nicht.

»Ich habe meine Gummistiefel geputzt«, sage ich und versuche, meine Haare glatt zu streichen. »Immie hat mir ihre beste Wachsjacke geliehen. Ich bin bereit.« Und ich bin um den Schreibtisch herumgetanzt und habe laut »Don’t Stop Me Now« mitgesungen. Gott sei Dank ist Rafe nicht fünf Minuten früher ins Büro geschneit.

Meine Playlist mit den fünf lustigen Songs, die meine Angst vertreiben sollen, hilft tatsächlich. Das war Jules’ Idee. Ein bisschen was von seinem Optimismus und seiner guten Laune könnte ich jetzt auch vertragen. Doch da ist nichts zu machen, da Jules gerade den Bräutigam und dessen Freunde zur Kirche begleitet. Anstelle von Jules muss ich mich mit dem Grummelbären Rafe begnügen mitsamt seinen Ausführungen über Regengüsse und meine Frisur.

»Möchtest du ein Brot?«, fragt Rafe und stellt ein Tablett auf den Schreibtisch. Dabei huscht tatsächlich so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. »Du hast wahrscheinlich noch nichts gegessen. Und du bist ja schon seit vier Uhr hier.«

»Oh, habe ich dich geweckt? Entschuldige«, sage ich. Das mit dem Reinschleichen hat wohl nicht geklappt. Gegessen habe ich wirklich noch nichts. Wenn ich so aufgeregt bin, habe ich nie Hunger.

»Ich habe dich nicht gehört, Jet hat dich gehört. Darin ist er gut«, sagt Rafe.

Jet steht neben Rafe. Bei der Erwähnung seines Namens zwinkert der Hund mir zu und schlägt seinen Schwanz wedelnd gegen den Tisch.

Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee zieht über den Schreibtisch. Jetzt kriege ich doch Hunger.

Auf dem Tablett stapeln sich Brote. Daneben steht eine Flasche Ketchup. »Sind die Brote mit Frühstücksspeck belegt?«, frage ich.

»Ja. Du musst was Ordentliches essen. Nachher ist hier so viel los, da wirst du nicht zum Essen kommen.«

Autor

Jane Linfoot
Jane schreibt romantische Geschichten um lebenslustige Heldinnen mit liebenswerten Ecken und Kanten. Mit ihrer Familie und ihren Haustieren lebt sie in Derbyshire in einem kreativen Chaos. Sie liebt Herzen, Blumen, Happy Ends, alles, was alt ist und fast alles, was aus Frankreich kommt. Wenn sie nicht gerade Facebook unsicher macht...
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