Ein Lord entdeckt die Liebe (Historical Lords & Ladies)

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An die Liebe glaubt Braedon, Marquess of Marland, nicht. Als er jedoch entdeckt, welch aufregende Frau sich hinter der Fassade seiner unnahbaren Assistentin Miss Chloe Hardwick verbirgt, hat er nur noch einen Gedanken: sie zu verführen - und sie zu seiner Mätresse zu machen. Erst nachdem Chloe ihn abweist und London verlässt, erkennt er, dass sie keine Juwelen und eleganten Roben von ihm möchte, sondern sein Herz!
  • Erscheinungstag 17.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783963690952
  • Laufzeit 08:38:17
  • Auflagenart ungekürzte Lesung
  • Audio Format mp3-Download
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Leseprobe

Anne Ashley, Deb Marlowe

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 78

PROLOG

Im flackernden Schein des Kaminfeuers wirkte das Gesicht der Witwe noch strenger und abweisender als sonst. Nicht einmal ihre engsten und wohlwollendsten Freunde hätten sie als Schönheit bezeichnet – auch nicht fünf Jahrzehnte zuvor, als ihre Verlobung mit dem sechsten Earl of Grenville bekannt gegeben wurde. Bei vielen hatte diese Verbindung für Überraschung gesorgt, denn sie hatte wahrlich eine gute Partie gemacht. Doch selbst die unbarmherzigsten Kritiker der alten Dame, an denen es im Laufe ihres Lebens nicht gemangelt hatte, konnten ihr weder leichtfertiges Handeln noch mangelndes Pflichtbewusstsein zum Vorwurf machen. Ganz im Gegenteil hatte die Pflicht für sie stets an erster Stelle gestanden, selbst wenn sie dadurch zu Entscheidungen gezwungen wurde, die ihren eigenen Empfindungen widersprachen. Ihre Entschlossenheit galt als unerschütterlich. Allen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auf sie und ihren gesunden Menschenverstand verlassen hatten, war sie eine wahre Stütze gewesen.

Doch am heutigen Tag, an dem sie hatte zusehen müssen, wie das letzte ihrer sechs Kinder in der Familiengruft beigesetzt wurde, schienen die Lebenskraft und das zielstrebige Funkeln aus ihren Augen verschwunden zu sein. Vielleicht nicht zur Gänze, jedoch zu einem großen Teil. Das fiel der einzigen anderen Person, die sich ebenfalls im Zimmer befand, auf, als die Witwe endlich den Kopf hob und ihre schweigende Betrachtung des Kaminfeuers aufgab.

„Es fällt mir nicht leicht, diese Bitte an Sie zu richten“, offenbarte die alte Dame schließlich. „Mir ist bewusst, dass die Suche nach der Person, die für den Tod meines Sohnes verantwortlich ist, durchaus riskant für Sie werden kann. Sollte diese Person bemerken, dass Sie ihr auf der Spur sind, wäre möglicherweise auch Ihr Leben in Gefahr. Dennoch gibt es niemanden, dem ich so bedingungslos vertraue wie Ihnen.“ Die Witwe gab ein heiseres Lachen von sich. „Ein trauriges Eingeständnis für jemanden in meinem fortgeschrittenen Alter, der einen so großen Bekanntenkreis hat wie ich. Und trotzdem ist es wahr. Ich weiß, dass Sie Ihr Äußerstes geben werden, um herauszufinden, was mein Sohn gemeint hat.“

„Sie sind sich sicher, Madam, dass er gesagt hat ‚Kein Fremder … Es muss einer der Fünf gewesen sein. Einer von ihnen muss dahinterstecken‘?“

„Ganz sicher. Diese Sätze werde ich wohl niemals vergessen, da sie zu den letzten gehörten, die er zu mir sagte. Leider habe ich keinerlei Ahnung, was er damit gemeint haben könnte. Der Bekanntenkreis meines Sohnes war außerordentlich groß, noch viel größer als der meinige. Er kann damit zahllose Personen gemeint haben – Angehörige des Hochadels, Regierungsmitglieder, hochrangige Offiziere des Heeres oder der Marine. Vielleicht handelt es sich auch um eine Geheimgesellschaft. Wer kann das sagen? Aber sobald ich Gewissheit habe, werde ich weitere Maßnahmen ergreifen. Bis dahin ist es besser, die Welt in dem Glauben zu lassen, mein Sohn wurde das Opfer unbekannter Räuber. Was sicher der Fall war … Doch ich will denjenigen vor Gericht bringen, der hinter dem Überfall steckt.“

Es folgte eine Stille, in der in dem behaglichen Empfangszimmer nur das Ticken der Standuhr und das Knistern der Holzscheite im Feuer zu vernehmen war. Schließlich wandte sich die junge Frau an die Witwe: „Sie beabsichtigen nach wie vor, in ein paar Tagen nach Bath abzureisen, nicht wahr? Bis dahin werde ich mir überlegen, wie ich am geschicktesten vorgehe. Bitte schreiben Sie Ihrer guten Freundin Lady Pickering in London noch nicht. Sie bereits jetzt miteinzubeziehen ist vielleicht nicht die sinnvollste Lösung. Mir fällt gewiss noch etwas Besseres ein, Mylady.“

1. KAPITEL

September 1802

Warum überlegst du es dir nicht anders, Ben, und verbringst ein oder zwei Wochen bei Louise und mir? Du weißt, wie gern sie dich hat! Du bist fast wie ein Bruder für sie. Sie wird überglücklich sein, wenn du noch bleibst.“

Lord Fincham betrachtete seinen Begleiter mit halb zusammengekniffenen Augen. Wer ihn in den letzten Minuten beobachtet hatte, hätte zu dem Schluss kommen können, er wäre ganz und gar in Gedanken versunken. Seit er am Fenster des überfüllten Wirtshauses Platz genommen hatte, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Auch den Krug Bier, den der Wirt vor ihm hingestellt hatte, hatte er nicht angerührt. Allerdings wusste niemand besser als der Gentleman, der ihm gegenübersaß, dass sich hinter der gelangweilten Miene und dem zur Schau gestellten Desinteresse ein messerscharfer Verstand verbarg – eine beinahe beängstigende Intelligenz, die bei anderen Menschen zuweilen Unbehagen hervorrufen konnte.

Als der Viscount schließlich seinen Krug ergriff, fiel der feine Spitzenbesatz seines rechten Ärmels über seinen Handrücken. „Du irrst dich, mein lieber Charles. So herzlich gelangweilt, wie ich derzeit vom Leben bin, stelle ich keine gute Gesellschaft für Louise dar – genauso wenig wie für irgendjemand anderen. Abgesehen davon, dass deine entzückende Frau im Augenblick wahrhaftig andere Sorgen hat. So kurz vor der Niederkunft will sie sich bestimmt nicht mit meiner finsteren Stimmung abgeben.“

Charles Gingham kannte seinen Freund zu gut, um ihn überreden zu wollen. Daher sagte er nur: „Was du brauchst, alter Knabe, ist genau das, womit ich seit einigen Jahren gesegnet bin – die Liebe einer guten Frau.“

Weiße, ebenmäßige Zähne wurden sichtbar, als der Viscount verschmitzt lächelte. „Offensichtlich vergisst du, dass ich bereits eine habe. Caroline ist zweifellos die Erfahrenste, mit der ich je meine Stunden verbracht habe.“

Charles schnaubte verächtlich. „Ich spreche nicht von deinen Paradiesvögeln, Ben. Mein Gott! Von der Sorte hattest du all die Jahre genug. Und keine von ihnen hat dir je etwas bedeutet, wenn ich das richtig beurteile. Nein, was du brauchst, ist eine Ehefrau, eine Dame, die du liebst und schätzt. Jemanden, der deinem Leben eine neue Richtung, einen Sinn gibt.“

Diesmal wirkte das Lächeln des Viscounts zynisch. „Ich glaube kaum, dass mir eine solche Dame jemals begegnen wird, mein lieber Freund. Nein, vielleicht heirate ich ja in ein oder zwei Jahren, und sei es nur, um einen Erben zu zeugen. Immerhin mangelt es einem Mann in meiner Position nicht an Heiratskandidatinnen. Die hoffnungsvollen kleinen Schätzchen werden mir in ermüdender Regelmäßigkeit auf dem Heiratsmarkt präsentiert. Sofern ich es ernsthaft in Betracht ziehe, finde ich gewiss ein weibliches Wesen darunter, das meinen Ansprüchen genügt – blond, von tadellosem Benehmen, pflichtbewusst und fügsam.“

Charles Gingham sah seinen Freund ein wenig traurig an. „Grübelst du immer noch darüber nach, was hätte sein können? Ich weiß, dass du es tust. Wenn ich dich vor all den Jahren nicht mit nach Frankreich gezerrt hätte, wärst du jetzt vielleicht ein glücklich verheirateter Mann.“

„Um meinetwillen brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen, Charles“, antwortete der Viscount, wobei ihm anzuhören war, welchen Überdruss ihm dieses Gesprächsthema bereitete. „Sei gewiss, dass dein Mitleid vollkommen unangebracht ist. Charlotte Vane ist Vergangenheit. Sie spielt für mich keine Rolle mehr. Sie hat sich dafür entschieden, Wenbury zu heiraten. Wenn sie meine Rückkehr aus Frankreich abgewartet hätte, wäre sie ohne Frage meine Viscountess geworden. Der frühzeitige Tod meines Bruders kam für alle unerwartet, nicht zuletzt für mich. Ich habe ihn weder um seine führende Stellung in der Familie beneidet, noch jemals den Titel angestrebt. Das Schicksal hat es dennoch so gewollt, dass ich zum Erben wurde. Wenn mein Bruder einen Sohn und keine Tochter gezeugt hätte, würde ich mich glücklich schätzen, den Besitz für meinen Neffen bis zu dessen Mündigkeit zu verwalten. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Vorteile, die mir der Titel gewährt, durchaus genieße. Ich glaube aber auch, dass ich meine Pflichten gewissenhaft und mit Rücksicht auf alle erfülle, deren tägliches Auskommen von meinen Entscheidungen abhängt. So fühle ich mich auch verpflichtet, eines Tages zu heiraten. Doch ich kann dir vergewissern, dass Liebe dabei keine Rolle spielen wird. Solange meine zukünftige Braut, wer auch immer sie sein mag, sich zu jeder Zeit wie eine Dame verhält und mich mit einem Erben versieht, werde ich ihr nicht mit törichten Ansprüchen begegnen. Im Großen und Ganzen kann sie ihre eigenen Wege gehen, so wie ich es meinerseits zu tun gedenke.“

Charles’ Entsetzen über die unverhohlene Gleichgültigkeit war nicht zu überhören, als er erwiderte: „Ich kann nicht glauben, dass die Dame, die du eines Tages zur Braut erwählst, dir so wenig bedeuten wird. Vielleicht gelingt es dir, den Großteil der feinen Gesellschaft glauben zu machen, du seist kalt und teilnahmslos, mir jedoch kannst du nichts vormachen. Ich erinnere mich genau, wie viel dir Charlotte Vane bedeutet hat. Ich weiß, zu welch tiefen Gefühlen du fähig bist.“

„Fähig war“, verbesserte der Viscount ihn in einem unheilvoll ruhigen Tonfall. „Anders als du, Charles, bin ich kein Romantiker mehr. Diesen Unsinn überlasse ich den Gelegenheitsdichtern. Ich suche in einer Ehe nicht nach Liebe. Die geschätzte Lady Wenbury hat mir vor acht Jahren eine sehr wertvolle Lektion erteilt. Ich habe gelernt, mich vor allzu zärtlichen Gefühlen zu schützen. Nein, ich wäre zufrieden mit einer Frau, die sich stets schicklich verhält und ihre Pflichten als meine Viscountess erfüllt.“

Es lag eine Bestimmtheit in der tiefen, angenehmen Stimme, die niemandem entgangen wäre. Schon gar nicht Charles Gingham, der das Glück hatte, seit fernen Kindertagen der engste Freund Lord Finchams zu sein. Daher war Charles nicht übermäßig überrascht, als der Viscount den Inhalt seines Kruges hinunterspülte, sich erhob und ihn aufforderte, jetzt besser aufzubrechen, um den Beginn des Faustkampfes nicht zu verpassen.

Das Marktstädtchen Deerhampton glich an diesem sonnigen Herbsttag einem geschäftigen Bienenstock. Es sollte nicht nur ein Faustkampf auf einem Feld am Rand des kleinen Ortes stattfinden, sondern zugleich eine Pferdemesse auf einer der angrenzenden Wiesen. Die Besucher, die von einer oder beiden Attraktionen angelockt worden waren, drängten sich auf der überfüllten Hauptstraße. Ihre Scherze und ihr fröhliches Gelächter vermischten sich mit den Rufen der Straßenhändler, die ihre Ware anpriesen. Vor dem Wirtshaus wurden polternd schwere Bierfässer von einem Wagen abgeladen. So war es nicht verwunderlich, dass dem Viscount, der gerade auf die Straße trat, ein einzelner Aufschrei entging. Dieser Aufschrei hätte ihn jedoch vor einer Gefahr warnen sollen. Erst als jemand gegen ihn prallte und ihn gegen die Wand des Wirtshauses stieß, erkannte er, wie gefährlich nah ihm eines der großen Bierfässer gekommen war. Er sah das Fass gerade noch an sich vorbeirollen, als er den jungen Burschen entdeckte, der ihn zur Seite gestoßen hatte und dabei selbst zu Fall gekommen war.

„Du liebe Güte, Ben! Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich Charles, der noch rechtzeitig aus dem Wirtshaus getreten war, um Zeuge des Vorfalls zu werden.

„Ich bin offenkundig besser weggekommen als mein furchtloser Retter hier“, antwortete Lord Fincham.

Er ergriff den dünnen rechten Arm des jungen Mannes, um ihn auf die Füße zu ziehen. Dabei bemerkte er, dass Blut vom linken Knie des Burschen auf dessen Stiefel tropfte. „Hier, nimm das, Junge!“

Er drückte ihm ein feines Batisttaschentuch in die erstaunlich schlanken Hände und beobachtete, wie der junge Bursche sich damit das blutende Bein verband. „Bist du noch an anderen Stellen verletzt?“

„N…nein, ich glaube nicht, Sir“, antwortete der Junge mit unwirscher, heller Stimme, hob seinen Dreispitz vom Kopfsteinpflaster auf, zupfte ein welkes Blatt von dessen Krempe und sah schließlich zu ihm auf.

Überrascht blinzelte der Viscount, als er in die strahlendsten veilchenblauen Augen blickte, die er je gesehen hatte. Umgeben von langen schwarzen Wimpern wären sie eine Zierde für jede Dame gewesen, im Gesicht eines jungen Mannes hingegen erschienen sie fast verschwendet.

Nur zögerlich löste er sich von dem ungewöhnlichen Anblick. Er bat seinen Freund, den Wirt ausfindig zu machen, und wandte sich wieder seinem seltsamen Retter zu. „Wohnst du hier im Ort? Falls dem so ist, kann dich mein Kutscher nach Hause fahren, sobald sich die Wirtsleute um deine Verletzungen gekümmert haben.“

„Bitte keine Umstände, Sir. Das ist nichts weiter als ein Kratzer“, widersprach der Junge, doch der Viscount blieb eisern.

„Das ist das Mindeste, das ich für jemanden tun kann, der mich so selbstlos vor Schaden bewahrt hat. Ah, da ist ja unser Mann!“

Er warf dem Gastwirt eine glänzende goldene Guinee zu und bat ihn, sich um den Jungen zu kümmern und ihm jeden erdenklichen Wunsch zu erfüllen. Angesichts solcher Großzügigkeit führte der Wirt den etwas zögerlichen jungen Gast bereitwillig in die Schankstube. Der Viscount sah ihnen mit gerunzelter Stirn nach.

„Stimmt etwas nicht, Ben? Du selbst bist nicht verletzt, oder?“

„Was …?“ Nur widerwillig wandte sich Lord Fincham wieder dem Geschehen zu. „Nein, überhaupt nicht, Charles“, versicherte er dem Freund, während sie die Straße hinuntergingen. „Es ist nur … der junge Kerl … Hast du zufällig seine Augen gesehen?“

„Nein, das kann ich nicht behaupten. Was war denn damit nicht in Ordnung? Hat er etwa geschielt?“

Erneut legte der Viscount die Stirn in Falten. „Nein, sie waren in der Tat vollkommen! Es waren die auffälligsten Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.“

„Dann wird er bestimmt vielen Mädchen den Kopf verdrehen, wenn er älter ist“, bemerkte Charles, den das Thema nicht sonderlich interessierte. Seine Aufmerksamkeit galt etwas ganz anderem. „Schau, der Faustkampf scheint schon anzufangen! Lass uns versuchen, noch einen guten Platz zu ergattern.“

Als der Viscount am späten Nachmittag zu dem Wirtshaus zurückkehrte, dachte er nicht mehr an den Vorfall und an seinen jugendlichen Retter. Er verabschiedete sich von seinem Freund, der nur eine knappe Meile von Deerhampton entfernt wohnte, und trat unverzüglich die Heimreise nach London an.

Perkins, sein Kutscher, ließ die Peitschenschnur über den Köpfen der Pferde knallen, sodass sich die gut gefederte Reisekutsche unverzüglich in Bewegung setzte. Rasch ließen sie das Städtchen, das in rötliches Abendlicht getaucht war, hinter sich. Lord Fincham schaute gedankenverloren aus dem Fenster auf die schon leicht herbstlich gefärbte Landschaft. Er überlegte, wie er sich an diesem Abend am besten die Zeit vertreiben könnte. Plötzlich erblickte er eine einsame Gestalt, die mit einem kleinen Handkoffer die Straße entlangging und dabei missmutig Laub mit den Schuhen aufwirbelte. Weshalb diese Person sofort sein Interesse auf sich gezogen hatte, blieb ihm im Nachhinein ein Rätsel. Vielleicht war es die Haltung der schlanken Schultern oder der flüchtige Anblick eines leicht verblichenen Dreispitzes gewesen, die ihn hatten aufmerken lassen. Jedenfalls fasste er, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, seinen Gehstock am silbernen Griff und klopfte energisch gegen das Kutschendach.

Im Handumdrehen reagierte Perkins und brachte die Räder der Kutsche zum Stehen. Der Viscount lehnte sich aus dem offenen Fenster, um zu sehen, wie die zierliche Gestalt die Kutsche einholte.

Als der junge Bursche näher kam, erkannte er den Reisenden in der Kutsche und rief überrascht: „Ach, du lieber Himmel! Sie sind das, Sir!“

Der Junge wirkte unordentlicher, als der Viscount ihn in Erinnerung hatte. Seine Kleidung war nun verdreckt und Schmutzstreifen überzogen sein Gesicht. Außerdem machte er einen ausgesprochen erschöpften Eindruck, als ob er schon eine beachtliche Zeit gelaufen wäre.

Lord Fincham verspürte einen Anflug von Ärger, den er nur auf sein schlechtes Gewissen zurückführen konnte, und rief gereizter als beabsichtigt: „Nun, jetzt steh doch nicht herum und lass meine Pferde auf ihren Kandaren kauen!“

Einen Moment lang zögerte der Junge, dann kletterte er ins Kutscheninnere und nahm dem Viscount gegenüber Platz. Den Handkoffer stellte er so vorsichtig neben sich ab, als würde er all sein Hab und Gut enthalten.

Was vermutlich der Fall ist, überlegte Lord Fincham, bevor sich sein jugendlicher Begleiter erkundigte, wohin er unterwegs sei. „Wichtiger ist wohl, wohin du unterwegs bist“, gab der Viscount zur Antwort. „Als wir … nun … zusammengestoßen sind, nahm ich fälschlicherweise an, du würdest in dem Städtchen wohnen.“

„Oh, nein, Sir! Ich habe mich nur im Ort umgesehen, während ich auf die Ankunft der Postkutsche nach London gewartet habe.“ Die feinen Gesichtszüge des Burschen wirkten mit einem Mal bekümmert und kleinlaut gestand er: „Bedauerlicherweise war die Frau des Gastwirts besonders freundlich. Sie hat sich nicht nur um meine kleine Verletzung gekümmert, sondern auch darauf bestanden, dass ich etwas esse. Und da ich seit dem Frühstück noch keinen Bissen zu mir genommen hatte, konnte ich der Wildpastete und dem Teller Fleischbrühe einfach nicht widerstehen. Als ich schließlich zum Postgasthof am anderen Ende des Ortes zurückkehrte, war die Postkutsche bereits eine halbe Stunde zuvor abgefahren. Der Wirt des Postgasthofs riet mir, einen Kutschbetrieb am Stadtrand aufzusuchen. Doch als ich den endlich fand, war auch diese Kutsche längst fort. Ich beschloss daher, weiterzulaufen und einen geeigneten Gasthof zu suchen, wo ich die Nacht verbringen könnte.“

„In diesem Fall hast du Glück, mein Kind, denn ich bin ebenfalls auf dem Weg nach London und kann dich absetzen, wo du auch willst.“

„Oh, vielen Dank, Sir! Das ist sehr liebenswürdig!“

Das Lächeln, das diese Entgegnung begleitete, war so bezaubernd, dass der Viscount regelrecht erbebte. Erneut kam ihm eine verblüffende Möglichkeit in den Sinn, die ihm schon bei ihrer ersten Begegnung kurz durch den Kopf geschossen war.

Er lehnte sich gegen die samtbezogene Sitzpolsterung und musterte mit leicht verengten Augen seinen jugendlichen Begleiter. Dessen Haar, das ebenso schwarz war wie sein eigenes, war im Nacken mit einem Band zusammengebunden. Der Hals war weiß und wirkte grazil. Unter dem Dreispitz neigte der Junge das zarte Gesicht leicht zur Seite, sodass der Viscount einen Blick auf das Profil mit den hohen Wangenknochen, der kleinen geraden Nase und dem wohlgeformten Mund werfen konnte. Ein warmer Gehrock von guter Qualität verdeckte den Oberkörper, doch man konnte die schlanken, ebenmäßigen Glieder darunter erkennen, die in Kniebundhosen und verschmutzten Strümpfen steckten.

„Du musst mir noch verraten, wohin du genau willst, mein Kind“, sagte Lord Fincham, während er mit einem zufriedenen Schmunzeln von den kleinen Füßen seines Gegenübers, die in schmalen Schnallenschuhen steckten, hochschaute.

„Wenn Sie mich einfach an einem ordentlichen Gasthaus absetzen könnten, wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar, Sir.“

„Wärst du das“, brummte er, derweil er erneut einen neugierigen Blick auf die zierliche Figur seines Begleiters warf. „Ja, ich bin mir sicher, dass wir uns … nun … auf ein Ziel einigen werden“, fügte er hinzu. Dann sah er, wie die junge Person ihren Koffer öffnete, die schlanken Finger in dessen Inneres schob und eine überraschend prall gefüllte lederne Geldbörse hervorzog.

„Was halten Sie für eine angemessene Bezahlung, Sir?“

Einen Moment lang wusste er nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Das konnte das Kind nicht ernst meinen! Gewiss war das Mädchen in Jungenkleidung nicht so naiv, ihm die Kutschfahrt bezahlen zu wollen? Oder etwa doch?

Die Erfahrung hatte Lord Fincham gelehrt, dem schönen Geschlecht mit Misstrauen zu begegnen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund genoss diese faszinierende kleine Person, an deren wahrem Geschlecht er nicht länger zweifelte, jedoch sein Vertrauen. Dass es sich um ein Mädchen handelte, stand für ihn außer Frage. Wenn es das Theater unbedingt fortsetzen wollte, würde er das Spiel eben mitspielen – zumindest fürs Erste.

„Stecke deine Geldbörse wieder ein, mein Kind!“, befahl er ihr, erneut barscher als beabsichtigt. Der Grund dafür war vermutlich, dass er sich über seine eigene Unentschlossenheit ihr gegenüber ärgerte. „Ich verlange keine Bezahlung“, stellte er in freundlicherem Ton klar. „Angesichts des Dienstes, den du mir heute erwiesen hast, ist es das Mindeste, was ich tun kann.“

Gerade als er dies sagte, kamen ihm Zweifel an der Zufälligkeit ihrer ersten Begegnung. War alles so unschuldig, wie es ausgesehen hatte? Oder war der ganze Vorfall sorgfältig von einem seiner dekadenten Bekannten in Szene gesetzt worden, um sich mit ihm einen Scherz zu erlauben? Ein weiteres Mal war er aus unerklärlichen Gründen bereit, seiner Begleiterin einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.

„Da wir einander noch länger als eine Stunde Gesellschaft leisten werden, möchte ich mich lieber vorstellen. Ich bin Fincham, Lord Fincham.“

Da sie angesichts der Tatsache, ein so bedeutendes Mitglied des Hochadels vor sich zu haben, weder Fassungslosigkeit noch Aufregung zeigte, wurde er erneut misstrauisch. Hatte sie etwa bereits gewusst, wer er war?

„Und wie lautet dein werter Name?“

Sie zögerte kurz. „George, Mylord, George … äh … Green.“

Der Viscount unterdrückte ein Lächeln. „Gut, Master Green, bist du sicher, dass ich dich nicht besser bei einem deiner Verwandten in London absetzen soll?“

„Ganz sicher, Mylord, denn dort kenne ich niemanden. Aber wenn Sie mich, wie zuvor erwähnt, an einem anständigen Gasthaus, das nicht zu teuer ist, absetzten, stünde ich für immer in Ihrer Schuld.“

Hoffnungsvoll sah sie ihn an. War sie eine derart begnadete Schauspielerin oder war ihre Dankbarkeit echt? Zu seinem eigenen Unbehagen konnte er noch kein abschließendes Urteil fällen. „Das sollte kein Problem darstellen“, willigte er schließlich ein. „Allerdings würde ich vorher gern wissen, weshalb du nach London willst.“

Die Antwort kam prompt. „Ich will mir eine Anstellung suchen, Mylord.“

Skeptisch hob er eine Braue. „Wirklich? Und welche Art von Posten erhoffst du dir?“

Sie zuckte mit den schlanken Schultern. „Das habe ich mir noch nicht genau überlegt. Vielleicht wäre eine Dienstbotenstellung für mich am besten geeignet – zum Beispiel als Lakai.“

Erneut hob Lord Fincham kritisch eine Braue. „Wie alt bist du denn, mein Kind?“

Sie senkte den Kopf und flüsterte mit ihren zarten Lippen: „Fünfzehn, Mylord.“

Das entsprach eindeutig nicht der Wahrheit. Und sofern er sich nicht völlig täuschte, hatte sie diese Lüge nur höchst unwillig geäußert. Interessant … wirklich, sehr interessant!

„Ein wenig jung für einen Lakaien“, bemerkte er, weiterhin gewillt, auf ihr Spiel einzugehen. „Willst du nicht lieber als Page arbeiten?“

„Page“, wiederholte sie nachdenklich. „Ja, das könnte gehen.“

Großer Gott, das konnte nicht ihr Ernst sein! Im Handumdrehen würde man ihr wahres Geschlecht entdecken. Wahrscheinlich hatte er ihr mit seinem Vorschlag einen Bärendienst erwiesen …

Er lehnte sich wieder gegen die samtene Rückenlehne und wurde von ungewöhnlich heftigen Gewissensbissen geplagt. Noch immer wusste er seine geheimnisvolle Reisebegleiterin nicht einzuordnen. Eine solche Unentschlossenheit passte gar nicht zu ihm, denn er galt als guter Menschenkenner. Selbst wenn er sich bei der ersten Begegnung noch kein eindeutiges Bild von einer Person machen konnte, erwiesen sich seine ersten Einschätzungen zumeist als richtig.

George Green jedoch gab ihm tatsächlich Rätsel auf. Allein seine Sprache legte nahe, dass das Mädchen nicht aus den unteren Schichten stammte. Er nahm sogar an, dass sie eine umfangreiche Bildung genossen hatte. Was zum Teufel dachte sie sich also dabei, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen? Wenn sie diese Maskerade nicht zum Spaß veranstaltete, war sie wahrscheinlich von zu Hause fortgelaufen – vielleicht, um einem unliebsamen Verehrer oder einer arrangierten Ehe zu entfliehen. Wenn ich noch annähernd bei Verstand bin, nehme ich ihren Vorschlag an und setze sie beim ersten anständigen Gasthof ab, sobald wir London erreicht haben, dachte er. Obgleich ihm diese Überlegung vernünftig erschien, wusste er bereits, dass er sich nicht daran halten würde.

Wieder ertappte er sich dabei, wie er sie beobachtete. Ja, entsprechend gekleidet wäre sie fraglos ein verflucht hübsches Mädchen … nein, ein geradezu wunderschönes, verbesserte er sich im Stillen. Gewiss ist sie älter als fünfzehn … Achtzehn oder vielleicht neunzehn, entschied er. Und ganz eindeutig war sie kein einfältiges junges Ding. Offenbar wusste sie genau, was sie tat. Ihrem verwegenen Rollentausch lag eine bestimmte Absicht zugrunde. Darauf hätte er sein Leben verwettet! Von welcher Seite aus er die Sache auch betrachtete, es ließ sich nicht leugnen: Er fand das Mädchen und die ganze Situation faszinierend und höchst amüsant. Solche Empfindungen hatte er schon seit Langem nicht mehr verspürt, und er war begierig, herauszufinden, wer und was sie war!

„Ich bin erfreut, festzustellen, dass du nicht von Natur aus zu Geschwätzigkeit neigst, Master Green. Dennoch glaube ich, ein wenig Konversation wäre statthaft, selbst wenn wir uns nicht gut kennen.“

Diese Aufforderung veranlasste sie, ihre intensive Betrachtung der Landschaft zu unterbrechen. „Ich bitte um Verzeihung, Mylord. Es ist nur so, dass ich London noch nie zuvor besucht habe. Schon den Weg dorthin finde ich sehr interessant – gerade jetzt, wo die Bäume sich so wunderschön färben.“

„Ich hingegen habe diese Strecke schon zahllose Male und zu jeder Jahreszeit bereist und finde sie eher ermüdend“, entgegnete er. „Ich würde es bevorzugen, ein wenig mehr über dich zu erfahren.“

Der vorsichtige Blick, den sie ihm zuwarf, entging ihm keinesfalls. Jedoch beschloss er, dem keine Beachtung zu schenken. „Warum zum Beispiel hältst du dich allein in einer Gegend auf, die dir nach eigenen Angaben fremd ist? Weshalb begleitet dich kein Verwandter?“

„Meine Eltern sind beide tot, Mylord.“

Da sie ihn bei diesen Worten fest angesehen hatte, war er bereit, ihrer Aussage Glauben zu schenken. Ja, er konnte immer deutlicher spüren, wann sie ihm etwas vormachte und wann sie die Wahrheit sagte.

„Und es ist niemand mehr da, der sich für dein Wohlergehen verantwortlich fühlt, mein Kind? Kein Freund oder entfernter Verwandter?“

„Nein, Mylord.“

Ihre Antwort weckte sein Interesse. Sofern sie wieder die Wahrheit gesprochen hatte – was er zu glauben geneigt war –, musste er ihr Alter höher ansetzen, als er ursprünglich angenommen hatte. Vermutlich war sie wenigstens einundzwanzig. Außerdem bedeutete ihre Antwort, dass sie vermutlich nicht vor einem unliebsamen Ehearrangement floh. Dies jedoch warf wiederum die Frage auf, was stattdessen der Grund für ihre Verkleidung war. Mit jeder Meile, der sie sich der Stadt näherten, wuchs seine Neugier.

Schließlich hielt die Kutsche vor einer stattlichen und zugleich eleganten Villa am Berkeley Square. Die geheimnisvolle Begleiterin des Viscounts zeigte sich jedoch keineswegs beeindruckt, als sie hinter ihm aus der Kutsche stieg. Sie wirkte eher beunruhigt, wenn nicht gar ein wenig verärgert, als sie erkannte, dass sie vor seinem Stadthaus standen. Lord Fincham indes hatte einen vorläufigen Entschluss gefasst.

„Sie hatten doch versprochen, mich bei einem Gasthof abzusetzen, Mylord!“

„An ein solches Versprechen kann ich mich nicht erinnern, mein Kind“, erwiderte er und warf ihr einen arroganten Blick zu. „Ich kann zu gegebener Zeit einen meiner Diener anweisen, dich dorthin zu bringen, wenn du das wirklich möchtest. Zunächst will ich dir einen Vorschlag unterbreiten … allerdings nicht hier auf der Straße, wo Gott und die Welt uns zuschauen.“

Er achtete nicht weiter darauf, ob seine Begleiterin ihm ins Haus folgte. Noch bevor er seine Ankunft durch das Betätigen des auf Hochglanz polierten Türklopfers angekündigt hatte, öffnete sich die Eingangstür wie von Geisterhand, und der Viscount betrat gleichmütig das Vestibül. Drinnen übergab er seinen Umhang und den Hut an den Butler, der ihm dienstbeflissen zur Hand ging.

„Bringen Sie Rotwein und zwei Gläser in die Bibliothek, Brindle, und geben Sie der Köchin Bescheid, dass ich heute nicht ausgehen werde.“ Nach dieser Anweisung begab er sich in einen Raum, dessen Wänden durch gut gefüllte Bücherschränke, die bis zur Zimmerdecke hinaufreichten, verdeckt waren. Wie er erwartet hatte, war ihm das Mädchen in Jungenkleidung auf dem Fuße gefolgt.

Erst nachdem die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, drehte er sich zu ihr und musterte sie aufmerksam. Zwar hatte sie den Dreispitz abgenommen, ihn aber nicht dem Butler übergeben. Mit der rechten Hand hielt sie den Griff ihres kleinen Koffers fest umschlossen. Daraus ließ sich zweierlei schließen: Erstens kannte sie die korrekte Verhaltensweise gegenüber einem Höhergestellten und zweitens schien sie sich nach wie vor ausgesprochen unwohl zu fühlen. Als sie sich unverhohlen weigerte, Platz zu nehmen, drängte er sie nicht weiter und machte es sich in einem Sessel bequem. Von dort beobachtete er sie, wie sie sich im Raum umschaute und das Gemälde, das den Ehrenplatz über dem Kamin einnahm, genauer betrachtete.

„Das ist Ihre Familie, nicht wahr, Mylord?“

„Ja, in der Tat, mein Kind. Der hochgewachsene Gentleman hatte das Glück, mein Vater zu sein. Meine Mutter, obgleich keine Schönheit, wie du selbst feststellen magst, besaß eine Menge Verstand und Charme. Ich bin das jüngere Kind, das den Hund festhält. Mein Bruder ist bereits verstorben.“

Er sah, wie sich ihre dünnen schwarzen Brauen zusammenzogen. „Mein aufrichtiges Beileid, Mylord. Ist es erst kürzlich geschehen?“

Offensichtlich interessierte das Mädchen sich nicht für die Geschehnisse in der feinen Gesellschaft, sonst hätte sie diese Frage nicht gestellt. „Er starb vor etwa acht Jahren nach einem Sturz vom Pferd.“

Bevor sie etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür, und sein Butler, der schon seit langer Zeit der Familie Fincham zu Diensten war, trat ein.

„Sie können das Tablett einfach hier abstellen, Brindle. Wir bedienen uns dann selbst. Ich werde läuten, wenn ich Sie wieder benötige. In der Zwischenzeit wünsche ich, nicht gestört zu werden.“

Der Butler war zu erfahren, um sich auch nur eine Spur von Überraschung über den seltsamen Gast seines Herrn anmerken zu lassen. Mit einer steifen Verbeugung verließ er das Zimmer und schloss beinah geräuschlos die Tür hinter sich.

„Komm her, mein Kind“, befahl Lord Fincham und seufzte, als seine Anweisung einfach ignoriert wurde. „Ich kann dir versichern, dass ich dir kein Leid zufügen will. Ich möchte nur einen Blick auf deine Hände werfen.“

Erschrocken hob das Mädchen die anmutig geschwungenen Brauen. „Meine Hände, Sir? Wozu?“

Der Viscount sah gereizt in das jugendliche Antlitz. „Sei gewarnt! Wenn ich mich entscheiden sollte, dir eine Anstellung anzubieten – entgegen aller Vernunft, sollte ich wohl hinzufügen – erwarte ich, dass meinen Aufforderungen ohne Widerrede Folge geleistet wird. Und nun komm her!“

Diesmal kam sie seinem Befehl unverzüglich nach. Sanft ergriff er die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, und tastete nach seinem Monokel. Dann musterte er die schlanken, feingliedrigen Finger und die kurzen, sauberen Nägel. „Ich vermute, du bist keine harte Arbeit gewohnt.“

Er ließ das zierliche Handgelenk los, nahm die Weinkaraffe, die auf dem Tisch neben seinem Sessel stand, und füllte zwei Gläser. „Da ich mir vorstellen kann, dass du deinen Durst seit Stunden nicht löschen konntest, darfst du gern Platz nehmen und mir auf ein Glas Wein Gesellschaft leisten.“

Obgleich ihre Miene noch immer skeptisch wirkte, schien es ihr offenkundig nicht ungehörig, in der Gesellschaft eines Aristokraten etwas zu trinken. Dieses Verhalten steigerte erneut seine Neugier.

„Haben Sie das denn ernst gemeint, als Sie sagten, Sie hielten nach einem Bediensteten Ausschau?“, fragte sie, bevor sie in sehr damenhafter Weise an ihrem Wein nippte.

„Sonst hätte ich es nicht geäußert, mein Kind. Doch bevor wir uns auf irgendetwas einigen … Wer hat dir deine Erziehung zuteilwerden lassen?“

Sie lächelte verschmitzt, bevor sie antwortete: „Der ehemalige Pfarrer unserer Gemeinde, Sir. Meine Mutter war viele Jahre lang seine Köchin und Haushälterin und er hatte mich gern.“

„Und dein Vater?“

„Ich habe ihn nie kennengelernt und er wusste nichts von meiner Existenz. Er war Soldat, Sir, und starb für sein Vaterland, kurz nachdem ich geboren wurde.“

Er betrachtete sie über den Rand seines Glases hinweg und dachte darüber nach, was sie bisher über sich erzählt hatte. Es konnte gut sein, dass sie die Wahrheit sprach. Falls sie jedoch die illegitime Tochter einer Person von Stand war, konnte ihre Mutter die Geschichte von dem gefallenen Vater auch erfunden haben, um den Anschein von Ehrbarkeit zu wahren. Zweifelsohne besaß das Mädchen eine ruhige Würde, die keinesfalls unecht oder aufgesetzt wirkte. Sie selbst hielt ihre Herkunft offenkundig für tadellos. Aber wie passte das zu der Jungenkleidung, die sie trug?

Er beschloss, fürs Erste nicht weiter mit Fragen in sie zu dringen, und sagte: „Ich denke, du könntest die Pflichten eines Pagen erfüllen. Wenn du die Stellung annimmst, lasse ich dir morgen einen neuen Anzug anfertigen.“

Sie ließ keine besondere Freude über das Angebot erkennen. Eher misstrauisch fragte sie: „Aber wozu benötigen Sie einen Pagen, Sir? Sind Sie verheiratet?“

„Was hat das bitte damit zu tun?“ Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. „Nein, zufällig bin ich nicht verheiratet. Warum fragst du?“

Erneut bemerkte er, dass ihre Mundwinkel argwöhnisch zuckten. „Nun, weil Pagen normalerweise von Ladies eingestellt werden, Sir.“

„Nicht immer“, widersprach er und lächelte grimmig. „Ich bin bereit, dich anzustellen, weil ich große Lust verspüre, einen gewissen Bekannten zu ärgern. Es wird ihn sehr verdrießen, wenn er dich zum ersten Mal sieht.“

„Wirklich, Mylord?“

„Ganz sicher, mein Kind! Und jetzt kannst du direkt mit deinen Aufgaben beginnen, indem du am Klingelzug neben dem Kamin ziehst.“

Da sie der Aufforderung sofort Folge leistete, ging er davon aus, dass sie die Stellung angenommen hatte. Nachdenklich saß er da, bis der Butler erschien.

„Das Kind, das Sie da vor sich sehen, Brindle, ist mein neuer Page.“

Nicht mehr als eine leicht angehobene graue Braue verriet die Verwunderung des Butlers. Seit er im Dienst der Familie stand, war noch niemals ein Page eingestellt worden.

„Gibt es ein freies Zimmer im Dienstbotentrakt?“

„Keines, das zurzeit nicht als Speicherraum genutzt wird, Mylord. Er kann heute Nacht mit in der Knechtekammer schlafen, würde ich vorschlagen, oder vielleicht teilt er sich besser das Zimmer mit James, dem Lakaien. Das ist ein wenig größer.“

Der Viscount legte die Stirn in Falten. „Nein, einstweilen kann er das kleine Zimmer bewohnen, in dem meine Nichte übernachtet, wenn sie zu Besuch hier ist.“ Erneut sah er den Butler direkt an. „Hören Sie zu, Brindle. Ich möchte, dass Sie morgen mit dem Jungen losgehen und ihm neue Kleidung kaufen und was er sonst noch an Sachen benötigt. Bis dahin soll er etwas zu essen bekommen, und Sie sorgen dafür, dass ihm ein Sitzbad auf das Zimmer gebracht wird. Lassen Sie ihn dann dort allein, bis er läutet. Haben Sie das verstanden? Sein Essen bringen Sie ihm ebenfalls auf einem Tablett nach oben. Wecken Sie ihn morgen früh nicht auf. Er besitzt genug Verstand, um selbst in die Küche hinunterzufinden.“

„Jawohl, Mylord. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

„Ja, Sie können Ronan zu mir lassen, damit er mir für den Rest des Abends Gesellschaft leistet.“

Als das Mädchen ihm schüchtern eine gute Nacht wünschte, reagierte der Viscount nur mit einem Nicken. Auch wenige Minuten später, als leise die Tür geöffnet wurde, bemerkte er dies kaum. Erst als sein Lieblingsjagdhund durch die Bibliothek auf ihn zusprang, wurde er kurz aus seinen Gedanken gerissen und erwiderte die freudige Begrüßung des treuen Tieres.

„Soll ich dem Mädchen wirklich Unterschlupf gewähren, Ronan?“, murmelte Lord Fincham, denn dies war die Frage, die ihn am meisten beschäftigte. „Ich kenne sie doch kaum.“

Der Hund, der sich zufrieden zu Füßen seines Herrn auf dem Teppich niederstreckte, wackelte mit einem Ohr, während der Viscount ein wenig grimmig lächelte. „Allerdings ist es dieser rätselhaften kleinen Person eindeutig gelungen, mein Herz zu rühren. Eine beachtliche Leistung, alter Junge, das kann ich dir sagen! Aber ist es nicht dumm von mir, ihr ein solches Vertrauen entgegenzubringen?“ Er überlegte einen Moment, bevor er laut bekannte: „Bei dir habe ich es vor fast drei Jahren genauso gehandhabt, obwohl man mir versicherte, aus dir würde nie ein guter Jagdhund werden. Du hast mir das Vertrauen, das ich damals in dich gesetzt habe, mehr als vergolten. Ich frage mich, ob sie das auch tun wird.“

Er schaute zu seinem Lieblingshund hinunter. „Ich bin schon gespannt, wie du auf das verkleidete Mädchen reagierst, das nun im Bett meiner Nichte schlafen wird. Immerhin findest du nicht gerade viele Leute sympathisch, oder, Ronan? Zunächst einmal muss ich mir Gewissheit verschaffen, ob sie wirklich so unschuldig ist, wie sie zu sein scheint. Bis morgen früh fällt mir bestimmt ein, wie ich dabei am klügsten vorgehe. Ja, ich werde die Nacht nutzen, um darüber nachzudenken. Dann werden wir weitersehen.“

2. KAPITEL

Wenn er in der Stadt residierte, gehörte es zu Lord Finchams Angewohnheiten, morgens spät aufzustehen, und der folgende Tag stellte keine Ausnahme dar. Selbstverständlich waren alle Mitglieder seines Haushaltes, nicht zuletzt der Kammerdiener, schon lange auf den Beinen, um die Wünsche Seiner Lordschaft jederzeit erfüllen zu können. Nachdem er etwas gegessen und sich aus dem großen Himmelbett im Herrenschlafzimmer erhoben hatte, stand wie immer ein Sitzbad im Ankleidezimmer für ihn bereit.

Anders als viele seiner Zeitgenossen hatte der Viscount stets höchsten Wert auf seine Körperpflege gelegt. Da er die Sitte, unangenehme Gerüche mittels starker Parfüme zu überdecken, zutiefst verabscheute, badete er seit jeher regelmäßig – eine Angewohnheit, die zunehmend populär wurde, seit Beau Brummell, der ungekrönte König des guten Geschmacks, die Londoner Gesellschaft bereicherte.

Der Dandy hatte im Hinblick auf die Mode der Gentlemen neue Maßstäbe gesetzt, die von vielen jüngeren Mitgliedern der feinen Gesellschaft nachgeahmt wurden – allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Lord Fincham jedoch ließ sich von den neuesten Geziertheiten nicht beeinflussen, was vermutlich seinem beharrlichen und stolzen Charakter zuzuschreiben war. Jedenfalls hatte er noch nicht die schlichte Eleganz übernommen, die von Brummell propagiert wurde.

Der Viscount trug weiterhin Samt, Seide und Brokat. Seine Garderobe wies reich bestickte Gehröcke in kraftvollen Farben auf. Nach wie vor bevorzugte er Kniebundhosen und band sein langes Haar im Nacken mit einem schwarzen Samtband zusammen.

In der Tat stellte Lord Finchams kräftiges dunkles Haar eine Herausforderung für seinen peniblen Kammerdiener dar. Nicht ein einziges Mal in den sieben Jahren, in denen Napes ihm diente, hatte er zur Puderdose greifen dürfen. Ebenso überflüssig war der Versuch, seinen Herrn zu überreden, eine Perücke aufzusetzen. Ansonsten hatte Napes allerdings nichts an Seiner Lordschaft auszusetzen und war insgeheim stolz, sich um die Kleidung eines Körpers kümmern zu dürfen, der wahrhaftig ohne Makel war. Schultern, Brust und Taille waren wohlproportioniert, und die langen Beine waren so gerade und muskulös, dass nie etwas verdeckt oder kaschiert werden musste.

Nachdem Lord Fincham sich das Haar selbst gewaschen hatte, ließ er sich von Napes einen Krug warmen Wassers über den Kopf gießen und lehnte sich dann genüsslich zurück, um ein wenig länger als sonst zu entspannen. Für den kurzen verbleibenden Rest des Vormittags hatte er noch keine Pläne. Einen Moment lang sah er Napes, der im Ankleidezimmer einige abgelegte Kleidungsstücke ordnete, verträumt zu. Dann konzentrierte er sich wieder auf das, was ihn vor dem Einschlafen in den frühen Morgenstunden beschäftigt hatte.

„Sagen Sie, Napes, hatten Sie schon das Glück, die Bekanntschaft unseres neuen Bediensteten zu machen?“

„Ja, in der Tat, Mylord“, antwortete der Diener in einem gleichgültigen Tonfall, der ein völliges Desinteresse an dem Neuankömmling verriet.

Dies wunderte den Viscount nicht übermäßig, denn sein Diener reagierte nur lebhafter, wenn es um Fragen der Bekleidung ging. „Hat der Junge schon gefrühstückt?“

Napes schaute ihn überrascht an. „Ich glaube schon, Mylord. Ich habe ihn vor einer Weile in der Küche mit der Köchin plaudern hören. Haben Sie noch einen Wunsch, Mylord? Andernfalls würde ich jetzt die schmutzige Kleidung in die Waschstube bringen und umgehend mit frischer Wäsche zurückkehren.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete der Viscount, wie der Diener zur Tür ging. „Ja, tun Sie das, Napes. Aber schicken Sie den Jungen mit der Wäsche zu mir und kommen Sie dann selbst auch zurück. Ich habe den Wunsch, mich heute richtig lange einzuweichen.“

Etwa zehn Minuten später hörte Lord Fincham ein leises Klopfen an der Tür. Lächelnd bat er herein. Sein neuer Page betrat mit zwei vorsichtigen Schritten den Raum, bevor er wie angewurzelt stehen blieb. Die weit aufgerissenen veilchenblauen Augen des Mädchens verrieten eine Mischung aus Verlegenheit und Ungläubigkeit, dann senkte es den Blick und starrte zu Boden.

„V…verzeihen Sie, Mylord. Mr. Napes versäumte es, mir zu sagen, dass Sie noch im Bad sind. Wo soll ich die Wäsche hinlegen?“

„Oh, leg sie da irgendwohin, mein Kind, und reiche mir das Handtuch“, erwiderte er teilnahmslos, während er sich mit Vorbedacht aus dem Wasser erhob. „Jetzt schau doch nicht so verschämt, Junge!“

Der sanfte Tadel reichte aus, um sie aufblicken zu lassen. Entsetzen und Fassungslosigkeit spiegelten sich in ihren zarten Gesichtszügen, als ihr Blick auf den Teil der Anatomie des Viscounts fiel, der sich zwischen Taille und Knien befand. Es folgte ein unterdrückter Aufschrei, der Stapel frisch gewaschener Hemden wurde in die Luft geschleudert und fiel wie ein Haufen Lumpen zu Boden. Anschließend floh Master Green aus dem Zimmer, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihm her.

Zutiefst belustigt über den Ausgang seines kleinen Experiments brach Lord Fincham in schallendes Gelächter aus, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob sein seltsamer und äußerst schockierter Page es hören konnte.

„Das war sehr erhellend“, murmelte er, während er sich ein großes Handtuch umschlang und in sein Schlafzimmer zurückkehrte. „Auch wenn es nicht gerade schmeichelhaft war, wenn ich es mir recht überlege. Ich habe noch nie eine negative Reaktion auf meine männlichen Attribute erlebt! Wozu ein Page doch gut sein kann …“

„Entschuldigen Sie, Mylord.“ Lautlos wie eine Katze hatte sich Napes in das Zimmer geschlichen. Er blickte sich aufmerksam um, während er an den Frisiertisch trat, vor dem sein Herr bereits Platz genommen hatte. Als er begann, das feuchte Haar des Viscounts zu kämmen, verliehen ihm seine herabgezogenen Mundwinkel einen Ausdruck der Verdrießlichkeit.

Lord Fincham erkannte, dass sein Kammerdiener sich gekränkt fühlte und befürchtete, von dem neuen Pagen aus seiner Position verdrängt zu werden. Um dem verletzten Stolz des Dieners keine weitere Nahrung zu geben, machte er eine abweisende Handbewegung. „Ich habe nur laut nachgedacht, Napes“, versicherte er ihm. Nachdem der Kammerdiener mit der Frisur seines Herrn fertig war, verschwand er im Ankleidezimmer nebenan.

Der erstickte Schrei, der bald darauf folgte, kam für Lord Fincham nicht überraschend – ebenso wenig wie die anschließende kritische Bemerkung, dass ungelerntes Gesinde Kleidung von solch erlesener Qualität eigentlich nicht anfassen dürfe.

„Um Himmels willen, beruhigen Sie sich, Mann!“, befahl der Viscount. „Die verfluchten Hemden sind doch nicht ruiniert.“

„Nichtsdestotrotz muss der Junge lernen, sorgsamer mit Ihren Sachen umzugehen, wenn Sie … wenn Sie wollen, dass er einen Teil meiner Aufgaben übernimmt. Für ein solches Verhalten sollte man ihn bestrafen.“

Fincham rümpfte über diesen Rat nur die Nase und schaute zur Decke. „Seien Sie ganz sicher, Napes, das Kind wurde nicht eingestellt, um Sie zu ersetzen oder irgendeine Ihrer Pflichten zu übernehmen. Ich wollte heute Morgen nur sichergehen …“ Der Viscount hielt abrupt inne. „Ich wollte lediglich wissen, ob er gut geschlafen hat. Dennoch sind Ihre Bemerkungen nicht gänzlich unangebracht“, fügte er nachdenklich hinzu. „Läuten Sie nach Brindle!“

Während der Hausherr auf den Butler wartete, zog er sich an. Zwar erlaubte er seinem Kammerdiener, auch die kleinsten Flecken von der Kleidung zu entfernen und die Stiefel und Schuhe auf Hochglanz zu polieren, doch bis auf den Gehrock zog er es vor, sich allein anzukleiden und sich das Krawattentuch selbst zu binden.

„Sie haben mich rufen lassen, Mylord“, sagte der Butler, der gerade eintrat, als Napes dem Viscount in einen dunkelgrünen Gehrock half.

„Ja, Brindle.“ Er wandte dem Butler seine volle Aufmerksamkeit zu. „Hören Sie gut zu. Niemand, und das meine ich wortwörtlich, soll es wagen, meinen Pagen zu züchtigen. Wenn das Kind sich eines Fehlverhaltens schuldig macht …“, er musste lächeln, „… und ich nehme an, dies wird häufiger der Fall sein, sind allein Sie dazu befugt, ihn auf freundliche und verständnisvolle Art zu unterweisen. Falls er sich eine ernsthafte Verfehlung zu Schulden kommen lässt, möchte ich von Ihnen darüber in Kenntnis gesetzt werden. Ich werde mich dann persönlich darum kümmern.“ Er schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: „Ich werde höchst ungehalten, sofern meine diesbezüglichen Anweisungen missachtet werden. Haben Sie das verstanden?“

„Vollkommen, Mylord.“

„Und Sie auch, Napes?“

„Ja, Mylord.“

„Gut, dann können Sie jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen. Und Sie, Brindle, finden bitte heraus, wo sich Master Green gerade aufhält, und bitten ihn, mich in der Bibliothek aufzusuchen.“

Obgleich sich der Butler wie gewohnt mit einer Verbeugung zurückzog, machte er eine sehr nachdenkliche Miene, als er die Hintertreppe hinunterging und die Küche betrat. Dort traf er den gut gelaunten Pagen an, der mit der Köchin am Tisch saß und ihr half, Erbsen aus den Schoten zu schälen.

Der junge Bursche hatte dort den größten Teil des Morgens verbracht, sich kenntnisreich mit Mrs. Willard über häusliche Praktiken unterhalten und ihr nach besten Kräften geholfen. Offenkundig hatte die Köchin den Jungen bereits ins Herz geschlossen. Der Bursche hatte wahrscheinlich mütterliche Gefühle in ihr geweckt, da sie sonst in der Küche mit eiserner Hand regierte und keinerlei Einmischung zuließ. Das Dienstmädchen und die Hausknechte hatten längst gelernt, ihr besser nicht in die Quere zu kommen. Immerhin hatte Mrs. Willard keine Bedenken, dem jüngsten Lakaien eine schallende Ohrfeige zu verpassen, wenn sie gerade schlechter Laune war. Master Green indes schien in ihren Augen nichts falsch machen zu können.

Allerdings wirkt der Junge auch nicht wie ein dahergelaufenes Straßenkind, überlegte Brindle zerstreut, während er zum langen Holztisch in der Mitte der Küche ging. Der Knabe besaß nicht nur gute Manieren, er drückte sich auch erstaunlich vornehm aus. Ja, Master Green gab einem zweifellos Rätsel auf.

„Du sollst zu Seiner Lordschaft gehen, Junge.“

Der Page schaute den Butler ebenso ängstlich wie argwöhnisch an. „Aber doch wohl nicht in sein Schlafzimmer?“

„Es steht dir nicht zu, zu fragen, wo Seine Lordschaft dich sehen will!“, tadelte ihn Napes, der gerade die Küche betreten und die zaghafte Antwort mit angehört hatte.

Nachdenklich sah der Junge den Kammerdiener an, bevor seine auffallenden Augen funkelten, als ob ihm eine wichtige Erkenntnis gekommen wäre. „Mr. Napes, Sie müssen wissen, dass ich mich keinesfalls in Ihre Befugnisse einmischen möchte. Ich denke, meine Fähigkeiten liegen in anderen Bereichen, vielleicht sogar hier bei Mrs. Willard.“

„Oh!“ Der Kammerdiener wirkte einen Augenblick überrascht, um nicht zu sagen, erleichtert. „Du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen machen, mein Junge“, versicherte er deutlich freundlicher. „Seine Lordschaft befiehlt, dass du zu ihm in die Bibliothek kommst.“

„Nicht ganz, Mr. Napes“, verbesserte ihn der Butler, als der Page die Küche verlassen hatte. „Er bat darum, das Kind möge ihn in der Bibliothek aufsuchen … bat, wohlgemerkt.“

„Nun, das hört sich seltsam an, Mr. Brindle“, mischte sich die Köchin ein, während der Butler sich zu ihr an den Tisch setzte. „Allerdings hat der Junge eine sehr gewinnende Art, das muss man ihm lassen. Vielleicht hat Seine Lordschaft eine Zuneigung zu ihm gefasst.“ Die Köchin zuckte plötzlich zusammen. „Oh, Jesses! Sie meinen doch nicht …?“

„Diese Möglichkeit kam mir kurz in den Sinn“, gab der Butler zu, der den Gedanken der Köchin sofort erraten hatte. „Doch abgesehen von der Haarfarbe besitzt das Kind meines Erachtens keinerlei Ähnlichkeit mit dem Lord – und auch nicht mit dessen älterem Bruder, wenn wir schon davon sprechen. Auch halte ich den Jungen für zu alt, um ein illegitimer Sprössling des Viscounts zu sein.“

„Nicht nur das, Mr. Brindle. Der Herr war in jungen Jahren eine so gesittete Person“, rief ihm die Köchin ins Gedächtnis. „Niemals ist sein Name in dieser Zeit mit irgendeinem Skandal in Zusammenhang gebracht worden. Erst als er aus Frankreich zurückkehrte und entdecken musste, dass Miss Charlotte für ihn verloren war, hat er sich verändert.“

„Das war noch vor Ihrer Zeit, Mr. Napes“, erläuterte sie, als sie merkte, dass der Kammerdiener sie verwundert anschaute. „Miss Charlotte war die Tochter eines Nachbarn. Sie und Master Benedict – so wurde Seine Lordschaft genannt, bevor er den Titel des Viscounts erbte – waren seit frühesten Kindertagen befreundet und lange Zeit unzertrennlich. Nach dem Wunsch seines Bruders sollte Master Benedict zuerst sein Studium in Oxford beenden, bevor er der Verbindung der beiden seinen Segen geben wollte. Master Benedict sollte dann ein hübsches Anwesen, zu dem auch ansehnliche Ländereien gehörten, ein paar Meilen nördlich von Fincham Park erhalten. Aber kaum hatte Master Benedict sein Studium beendet, unternahm er eine überstürzte Reise nach Frankreich. Er tat dies, um seinem Freund Mr. Gingham zu helfen, einen Cousin oder anderen Verwandten in Sicherheit zu bringen. Damals herrschten dort üble Zustände, Mr. Napes, und man ermordete dort all die Herrschaften. Gottlos ging es dort zu! Master Benedict war damals einige Wochen fort“, berichtete sie und kehrte zur eigentlichen Geschichte zurück. „Als er schließlich heimkam, fand er heraus, dass Miss Charlotte einige Zeit bei einer Tante in London verbracht und dort kurzerhand Lord Wenbury geheiratet hatte.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Danach war er nie mehr der Alte, nicht wahr, Mr. Brindle? Er wurde kalt und abweisend.“

„Gewiss wurde er weniger zugänglich“, räumte der Butler ein. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber das Kind scheint in ihm etwas gerührt zu haben. Ich schwöre, ich habe ihn lachen hören, kurz nachdem ich dem Jungen gezeigt hatte, wo sich das Ankleidezimmer befindet. Ich habe den Viscount schon seit Langem nicht mehr so lachen hören.“

„Wo kommt der Junge nur so plötzlich her? Das wüsste ich gern von Ihnen, Mr. Brindle. Seit Seine Lordschaft den Titel übernommen hat, hat er sich stets auf Ihr Urteil verlassen, wenn es darum ging, Personal einzustellen“, rief ihm die Köchin in Erinnerung. „Ich glaube kaum, dass der Page von einer Vermittlung geschickt wurde.“

„Da bin ich mir auch ganz sicher. Ebenso bin ich überzeugt, dass er nie zuvor bei jemandem in Diensten stand. Ich weiß nur, dass seine Lordschaft ihn gestern mit nach Hause brachte. Bestimmt verrät uns der Bursche mehr über sich, wenn er sich erst einmal bei uns eingewöhnt hat.“

Auch der Viscount, der an seinem Schreibtisch in der Bibliothek saß, hatte beschlossen, geduldig vorzugehen. Er würde seinen wundersamen Pagen nicht weiter mit Fragen quälen, sondern den rechten Augenblick abwarten, um mehr herauszufinden.

Just in diesem Moment vernahm er ein leises Klopfen an der Tür, bat herein und beobachtete, wie das Mädchen schüchtern das Zimmer betrat. Sie warf ihm nur einen sehr flüchtigen Blick zu und starrte dann entschlossen zu Boden. Selbst von seinem Stuhl aus konnte er erkennen, dass ihre Wangen sich röteten. Sicherlich war sie wegen des Vorfalls im Ankleidezimmer noch immer sehr verlegen. Aber sie hat es nicht besser verdient! entschied er unnachsichtig.

„Komm her, mein Kind. Ich möchte mit dir über deine Pflichten sprechen … nein, hierher“, fügte er hinzu, als sie stehen blieb, wo sie war. „Ich habe nicht vor, so laut zu sprechen, dass ich heiser werde.“

Als sie schließlich vor seinem Schreibtisch stand – scheinbar noch immer unfähig, ihn anzusehen – wies er mit einer einladenden Geste auf einen daneben stehenden Stuhl und sagte: „Nimm doch bitte Platz.“

Von Anfang an hatte sie ihm gegenüber eine gewisse Vorsicht walten lassen. Offensichtlich misstraute sie ihm jetzt erst recht und das gefiel ihm gar nicht – nein, ganz und gar nicht! Wenn er jemals die Wahrheit über sie in Erfahrung bringen wollte, musste er ihr Vertrauen gewinnen. Er war dazu fest entschlossen und nicht nur, um seine Neugier zu befriedigen.

Zögerlich setzte sie sich.

„Von meinem Kammerdiener habe ich erfahren, dass du heute schon in der Küche warst. Daher ist dir sicher aufgefallen, dass wir einen Hund im Haus haben.“

Endlich schaute sie ihn an, wenn auch nur kurz. „Ja, Mylord – Ronan.“

„Ah, also habt ihr euch schon kennengelernt – gut! Ich hoffe, du kommst mit ihm klar. Fremden gegenüber, vor allem wenn sie jünger sind, zeigt er sich nicht immer von seiner besten Seite.“

„Wir hatten keine Probleme miteinander. Ich gab ihm einen Knochen, was natürlich hilfreich war. Ihre Köchin war darüber nicht erfreut, weil sie die Schweinerippe eigentlich in die Suppen geben wollte. Aber sie hat mir verziehen, als ich ihr anbot, beim Erbsenschälen zu helfen.“

Niemals in seinem Leben hatte je ein Bediensteter versucht, ihn mit Vorgängen aus dem Küchentrakt zu unterhalten. Doch diese ungeheuerliche kleine Dame schien dies für das Normalste von der Welt zu halten! Ihr Verhalten amüsierte und faszinierte ihn. Er war weit davon entfernt, verärgert zu sein, und beschloss, sie ein wenig zu necken.

So lehnte er sich im Stuhl zurück und tat erstaunt. „Bis heute wusste ich gar nicht, dass Erbsen Schalen haben. Ich dachte, nur Austern und einige andere Meerestiere würden mit solch harten Hüllen geliefert. Was nur beweist, dass man nie auslernt.“

Nur mit größter Mühe konnte er zum zweiten Mal an diesem Tag einen Lachanfall unterdrücken, als er ihre ebenso ungläubige wie bestürzte Miene sah.

„Sie haben sich natürlich nur einen Scherz erlaubt“, stellte sie ein wenig verdrießlich fest.

„Ja, in der Tat, mein Kind“, bestätigte er. „Ich bin allerdings erfreut zu hören, dass du und Ronan aneinander Gefallen findet. Ich möchte nämlich, dass du ihn in deine Obhut nimmst, wenn er nicht gerade bei mir ist. Führe ihn aus, aber halte ihn an der Leine, solange ihr auf einer Straße unterwegs seid. Es würde mich sehr erzürnen, wenn er durch eine Kutsche oder ein Fuhrwerk zu Schaden käme. Und um Himmels willen lass ihn im Green Park nicht in der Nähe der grasenden Kühe frei! Ich möchte nicht vom Magistrat der Stadt London in Kenntnis gesetzt werden, dass er die Herde in Panik versetzt hat.“

Sie kicherte. Es war ein fröhlicher und ansteckender Klang, der ihn zum Lächeln brachte. Dann musterte sie ihn eine ganze Weile lang mit ihren unglaublichen Augen, bevor sie den Blick senkte und auf den Schreibtisch starrte.

„Ist dies meine einzige Aufgabe, Mylord?“

„Nein, ich möchte, dass du mich hin und wieder begleitest, wenn ich ausgehe.“

Sie schaute hoch und ihr Blick hielt ihn gefangen. „Meinen Sie das ernst, Sir?“

„Natürlich, sonst hätte ich es ja nicht gesagt“, erwiderte er und ergriff seine Feder, um sich seiner Korrespondenz zu widmen. „Bis du allerdings neue Kleidung bekommen hast, kannst du deine Bemühungen ganz auf Ronan konzentrieren.“

„Jawohl, Mylord.“ Sie stand auf und ging zur Tür. „Ich werde erst einmal schauen, ob ich Mrs. Willard überreden kann, ihn öfter in die Küche zu lassen. Ich glaube, gewöhnlich sperrt sie ihn tagsüber in der Spülküche ein.“

„Wirklich?“, antwortete Lord Fincham geistesabwesend, während er nach einem Blatt Papier griff. „Und wer ist bitteschön Mrs. Willard?“

Er erhielt eine spöttische Antwort. „Für einen gebildeten Mann sind Sie gegenüber vielen Dingen beschämend ignorant. Natürlich handelt es sich um Ihre Köchin!“

„Nur ein Wort der Warnung, Master Green“, sagte der Viscount ganz leise und blickte ihr dabei in die Augen. „Ich habe keine Hemmungen, unverschämte junge Flegel mit der Birkenrute zu züchtigen.“

Diese Drohung ließ sie sichtlich unbeeindruckt. Als Antwort war wiederum nur ein ansteckendes Kichern zu vernehmen, bevor sie das Zimmer verließ. Auch wenn er verwundert den Kopf schüttelte, so musste er dennoch unwillkürlich lächeln. „Ich muss verrückt sein, ein so unverfrorenes Luder in meinem Haus zu dulden“, murmelte er. „Entweder das, oder ich leide langsam an Altersschwäche!“

Vier Tage später gab der Viscount Anweisung, der Page solle ihn beim Ausgehen begleiten. Um exakt neun Uhr abends stieg er die Treppe ins Erdgeschoss hinab und fand Master Green unruhig auf- und ablaufend im Vestibül vor. In der strengen schwarzen Livree, deren einziger Schmuck aus einer schmalen Silberborte bestand, und mit dem weißen Spitzenkragen, der unter ihrem kleinen Kinn hervorragte, wirkte das Mädchen durch und durch wie der verhätschelte Page eines hochrangigen Gentleman. Erst als sie seine Schritte bemerkte und hochschaute, erinnerten ihre wundervoll leuchtenden Augen und ihre vollkommen geschwungenen Lippen ihn an ihr wahres Geschlecht.

Diesmal erwiderte er ihr Lächeln nicht, sondern musterte sie nur besorgt. „Ja, du siehst gut aus. Folge mir zur Kutsche.“

Am frühen Abend hatte es geregnet und auf der Straße roch es nach modrigem Laub.

„Soll ich mich oben auf den Kutschbock setzen, Mylord?“

„Nein, das sollst du nicht. Du nimmst mit mir im Inneren der Kutsche Platz, da ich mit dir ein paar Dinge zu besprechen habe.“

Für einen kurzen Moment vergaß er sich fast und wollte ihr in die Kutsche helfen, besann sich aber sofort. Wenn er einen Augenblick nicht aufpasste und auch nur die geringsten Zugeständnisse an ihr wahres Geschlecht machte, würde sich die Welt, in der er sich bewegte, empören. Dabei ging es ihm nicht so sehr um sich selbst. Er war Fincham – ein äußerst begehrter Kandidat auf dem Heiratsmarkt. Die oberflächliche Gesellschaft würde seine Kavaliersdelikte schnell vergeben und vergessen … Aber bei dem Mädchen …?

Nein, in den Augen dieser Gesellschaft würde es ihren Ruin bedeuten, wenn jemand hinter ihre Maskerade käme. Und das verdiente sie nicht, selbst wenn sie sich einem solch skandalösen Abenteuer aussetzte. Vielleicht hatte sie nie Zugang zu den höheren Kreisen gehabt, dennoch hatte sie eine gute Erziehung genossen und sollte nicht der Möglichkeit beraubt werden, ihren Platz in der besseren Gesellschaft zu finden. Als er sich auf dieses verrückte Spiel eingelassen hatte, war ihm nicht gänzlich bewusst gewesen, welche Verantwortung er damit auf sich nahm. Doch jetzt, da er nicht länger an ihrer Anständigkeit zweifelte, stand es ihm klar vor Augen. Da er sie – wenngleich auch unbeabsichtigt – in ihrem Handeln bestärkt hatte, fühlte er sich verpflichtet, sie zu beschützen, bis sie ihm die wahren Beweggründe ihres Handeln anvertraute. Bis dahin würde er sich wie ein Ehrenmann verhalten.

„Nun, mein Kind, da dies deine erste Begegnung mit den höchsten Gesellschaftskreisen ist …“, begann er. Das Mädchen sah ihn kurz auf seine offenherzige Art an, senkte dann aber sofort den Kopf. Ihr Widerstreben, ihm direkt in die Augen zu sehen, verriet ihm eine Menge: Es würde nicht ihr erster Auftritt in den vornehmen Kreisen werden. Schon bevor sie ihn traf, hatte sie bereits dort verkehrt. Wie interessant, dachte er. Und natürlich gefährlich. Das machte seine Aufgabe nur umso schwieriger.

Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, umzukehren und dem Theater ein Ende zu bereiten, indem er sie zur Rede stellte. Er entschied sich jedoch dagegen. Sie war nicht dumm. Ganz offensichtlich glaubte sie nicht, dass man sie erkennen würde. Daher beschloss er, ihrem Urteil zu vertrauen.

„Wie ich schon sagte, da dies vielleicht dein … äh … erster Auftritt in der Gesellschaft ist, möchte ich, dass du dir große Mühe gibst. Sprich niemanden an, bevor du nicht gefragt wirst. Und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sich jemand an dich wendet, hast du nur zu entgegnen, dass du Finchams Page bist. Starre vor allem niemanden an, sonst sehe ich mich genötigt, dich in den Dienstbotentrakt hinunterzuschicken.“

Sie schwieg und machte eine sichtlich besorgte Miene. „Aber mit Ihnen darf ich doch sprechen, Mylord, wenn ich … wenn mich etwas beunruhigt, oder?“

Er betrachtete sie aufmerksam. „Du kannst dich jederzeit an mich wenden, mein Kind, egal wo und wann, wenn du etwas Wichtiges mit mir besprechen möchtest.“

Das schien sie zu beruhigen, denn sie schenkte ihm ein strahlendes und beinah zutrauliches Lächeln. „Sie müssen mir nur noch erzählen, wohin wir fahren, Mylord“, ermahnte sie ihn, als ob sie jedes Recht hätte, ihm solche Fragen zu stellen.

Die Bestrafung dieser Ungehörigkeit hätte nicht lange auf sich warten lassen, wenn sein gewissenhafter Butler sie mit angehört hätte. Oder vielleicht auch nicht, da es sich ja um meinen Pagen handelt, besann sich der Viscount im Stillen. Offenkundig hielt sich Brindle peinlich genau an seine Anweisung, mit dem Ergebnis, dass Georgie noch nicht gelernt hatte, wo sein Platz war. Seine Lordschaft war darüber jedoch alles andere als verstimmt. Es amüsierte ihn eher, das Mädchen so aus der Rolle zu bringen, dass sie ihn gelegentlich wie einen Ebenbürtigen behandelte.

„Wie nachlässig von mir, Georgie!“, entschuldigte er sich, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wir sind zum Haus des Duke und der Duchess of Merton unterwegs. Dort herrscht normalerweise ein heilloses Gedränge. Also bleib bloß in meiner Nähe, sonst gehst du noch verloren.“

Als sie schließlich das imposante Stadthaus erreichten, stellte der Viscount erfreut fest, dass seine Ratschläge beherzigt wurden. Abgesehen davon, dass sie einem wartenden Lakaien kurzerhand die Umhänge reichte, blieb sie ansonsten pflichtbewusst auf seinen Fersen, auch, als sie auf der eindrucksvollen Treppe darauf warteten, von den Gastgebern begrüßt zu werden. Offenkundig war es seinem Butler doch gelungen, ihr gewisse Vorkenntnisse über das Benehmen eines Pagen zu vermitteln. Dennoch blieb sie den Adleraugen der Duchess of Merton nicht verborgen.

„Was ist das für eine neue Vorliebe, Fincham? Ich habe Sie noch nie zuvor mit einem Pagen an ihrer Seite gesehen.“

„Eine Laune, nichts weiter. Ich erlag dem boshaften Verlangen, Sir Willoughby ein wenig zu ärgern. Sie wissen doch, wie sehr er es hasst, wenn ihn jemand übertrifft.“

„Sie schlimmer Junge!“ Sie klopfte ihm kokett mit dem Fächer gegen die Brust. „Ich habe keinen Zweifel, dass Sie damit Erfolg haben werden. Ein ganz bezauberndes Kind haben Sie da. Ich wüsste zu gern, wo sie es gefunden haben. Jedenfalls finden Sie Sir Willoughby im Kartenzimmer.“

Mit einem Fingerschnippen wies Lord Fincham seinen Pagen an, ihm zu folgen, und betrat den prunkvoll geschmückten Ballsaal. An den Längsseiten des Saals thronten riesige Blumenvasen auf Marmorsockeln. Lange Bahnen pfirsich- und cremefarbenen Seidenstoffes waren kunstvoll an den Wänden drapiert, und prächtig gewachsene Palmen zierten die Wandnischen. Es war ein Anblick, der jedem unerfahrenen Mädchen den Atem rauben musste, und seine junge Begleiterin stellte keine Ausnahme dar. Auch wenn sie diesen Luxus nicht mit offenem Mund bestaunte, so entging ihm doch nicht, wie sich ihre veilchenblauen Augen weiteten. Jeder, der über ein wenig Scharfsinn verfügte, hätte anhand dieser wunderschönen Augen leicht ihr wahres Geschlecht erraten können. Daher entschied sich der Viscount, lieber vorsichtiger vorzugehen.

„Warte dort drüben in dem Erker auf mich. Und denke daran, niemanden anzustarren!“

Dass sie seinem Befehl nicht wortwörtlich Folge leistete, bemerkte er, als er zufällig einen Blick in ihre Richtung warf und sah, wie sie ausgiebig eine Gruppe von Gästen musterte. Dabei verriet ihr Mienenspiel, dass nicht alle der von ihr in Augenschein genommenen Personen ihre Billigung fanden.

Nachdem er seiner Pflicht Genüge getan und sich eine Weile mit der Tochter des Hauses, zu deren Ehren der Ball gegeben wurde, unterhalten hatte, schlenderte der Viscount auf den Erker zu. „Ich bin höchst neugierig auf deine Meinung, mein liebes Kind, aber ich würde es bevorzugen, wenn du sie im Privaten kundtun würdest. Fürs Erste folgst du mir besser in das Kartenzimmer.“

Rasch machte Lord Fincham die Person aus, auf die er es abgesehen hatte, und schritt zu einem Tisch in der Ecke, an dem zwei Gentlemen saßen. Einer der beiden trug die gängige Abendkleidung, der andere hingegen war nach der Mode des vorangegangenen Jahrhunderts gekleidet.

Dieser Gentleman mit altmodischer Perücke und mehr als üppig besticktem, goldenem Gehrock bemerkte ihn als Erster und hieß ihn mit einer lässigen Bewegung seiner weißen Hand willkommen. „Fincham, alter Knabe! Wollen Sie sich nicht zu uns gesellen?“

„Sie kommen gerade rechtzeitig“, sagte der andere und erhob sich vom Stuhl. „Sie können meinen Platz einnehmen und unserem Freund Sir Willoughby Gesellschaft leisten, während ich meine Pflichten im Ballsaal erfülle.“

„Armer Gyles. Immer muss er seinen Bruder bei Laune halten. Wenn ihm Merton je die Zuwendungen streicht, wird er es bei all seinen Extravaganzen schwer haben, sich über Wasser zu halten.“ Nachdem er den kleinen Stapel Münzen vor sich beiseitegeschoben hatte, griff Sir Willoughby Trent nach den Karten. „Was bevorzugen Sie – Whist oder French Ronfle?“

„Beides ist mir recht“, erwiderte der Viscount gelassen. „Ich habe nicht vor, lange zu bleiben. Heute Abend habe ich noch eine andere Verabredung.“

Sir Willoughby kräuselte die geschminkten Lippen und lächelte wissend. „Zweifellos mit der göttlichen Caro.“

Als er keine Antwort erhielt, hob der Baronet den Blick und griff – zur heimlichen Freude des Viscounts – plötzlich nach seinem Monokel, um die schlanke Gestalt in strengem, schwarzem Samt, die brav hinter seinem Stuhl stand, genauer zu betrachten.

„Große Güte! Das ist doch nicht etwa Ihr Page, Fincham?“

„Auch wenn ich Sie ungern eines Besseren belehre, Trent, dies ist in der Tat mein Page.“

Der Baronet ließ seinen Blick zu seinem eigenen blonden Pagen schweifen, der ein paar Schritte abseits stand. „Fincham, Sie sind ein Schuft! Den haben Sie sich mit Absicht angeschafft! Ich glaube, er ist noch hübscher als meiner! Welch göttliche Augen!“ Willoughby schien ernsthaft betrübt. „Sie wissen, dass ich es nicht ertrage, wenn andere schönere Dinge besitzen als ich. Sie müssen ihn mir überlassen, und zwar sofort! Haben Sie gehört? Wie viel wollen Sie für ihn haben? Nennen Sie den Betrag!“

„Das ist ein interessanter Vorschlag.“ Lord Fincham winkte mit einem Finger. „Wie viel bist du wert, Georgie?“

Als sie ihn mit ihren veilchenblauen Augen empört und angeekelt anstarrte, brach er beinah in Gelächter aus. Da sich in diesem Moment jedoch die Gastgeberin näherte, bewahrte er die Fassung und erhob sich von seinem Stuhl. „Sie kommen gerade rechtzeitig, Euer Gnaden. Sir Willoughby hat völlig das Interesse an unserem Spiel verloren. Vielleicht können Sie ihm einen würdigeren Gegner vermitteln?“

„Das bezweifle ich sehr, Fincham“, gab sie zur Antwort. „Ihr Ruf ist weithin bekannt. Es gibt heute Abend kaum jemanden hier, der sich mit einem der berühmten Fünf messen könnte.“ Ihr Lächeln schwand. „Oder vielleicht wäre es nun richtiger zu sagen, der berühmten Vier.“

Der Viscount ging darauf nicht weiter ein. Nachdem er noch ein paar Höflichkeiten mit der Duchess ausgetauscht und drei Partien gegen den Baronet gewonnen hatte, wandte er sich zum Gehen. Sein Page stand mit frostiger Miene da. Das Mädchen schien so in seine eigene Gedankenwelt vertieft zu sein, dass er es zweimal auffordern musste, mit ihm das Kartenzimmer zu verlassen.

Ihren plötzlichen Unmut führte er auf die vorgerückte Stunde und ihre Müdigkeit zurück. Er verabschiedete sich formvollendet von den Gastgebern und ging mit ihr zur wartenden Kutsche. Erst auf der Straße richtete er das Wort an sie.

„Steig ein, Georgie“, forderte er sie auf und fiel so aus der Rolle, dass er für sie die Kutschentür öffnete. „Ich kehre nicht mit dir zum Berkeley Square zurück.“ Dann wandte er sich an den Kutscher. „Ich verlasse mich darauf, dass Sie Master Green sicher nach Hause bringen, Perkins. Ich komme morgen allein zurück.“ Und mit diesen Worten schlenderte er die Straße hinunter. Die beiden Bediensteten sahen ihm nach.

„Aber warum kommt er nicht mit uns? Wohin geht er denn jetzt?“, erkundigte sich der Page fassungslos.

Perkins sah die schlanke Gestalt, die noch immer vor der Kutsche am Straßenrand stand und eine so helle Stimme hatte, spöttisch von der Seite an. „Teufel noch mal, Junge! Green ist dein Name und ebenso grün hinter den Ohren bist du wohl auch! Natürlich geht er zu seiner Mätresse! Der wird heute Nacht kaum Schlaf finden, das kannst du mir glauben! Aber ich will heim, bevor es wieder anfängt zu regnen. Also steig endlich ein, damit wir losfahren können!“

Der Page folgte der Aufforderung, auch wenn er die Kutschentür mit einem lauten Knall hinter sich zuzog.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen fand Brindle den Pagen ohne jede Schwierigkeit. Wie gewöhnlich saß er am Küchentisch, um der Köchin zur Hand zu gehen, wenn er auch weniger gesprächig war als sonst. Die fehlende Munterkeit wunderte den Butler nicht, denn das Kind war erst in den frühen Morgenstunden zu Bett gegangen und litt zweifellos unter Schlafmangel.

„Seine Lordschaft ist nach Hause zurückgekehrt, Mrs. Willard, und wünscht, so rasch wie möglich ein Frühstück zu bekommen. Er wird es im Morgenzimmer einnehmen und möchte, dass du ihn bedienst, George.“

Da dies fraglos eine Ehre für einen so jungen und unerfahrenen Bediensteten darstellte, entsprach die Antwort nicht dem, was der Butler erwartet hatte.

„Ach, möchte er das!“ Mit rebellischer Miene erhob sich der Page ruckartig von seinem Stuhl, den er dabei beinah umkippte. „Nun, er kann sich verdammt gern selbst bedienen, denn ich gehe nach draußen! Komm, Ronan!“

Es war unmöglich zu sagen, wer von den Anwesenden über diesem Wutausbruch am meisten schockiert war. Sowohl das Spülmädchen als auch die Lakaien starrten mit offenem Mund zur Hoftür, die der erboste Page geräuschvoll hinter sich zugeworfen hatte. Selbst Mrs. Willard zeigte sich bestürzt.

„Meiner Treu! Da gibt es einiges zu tun für Sie, Mr. Brindle“, stellte die Köchin fest, nachdem sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte. „Haben Sie so etwas schon jemals gehört? Der Junge weiß wohl nicht, wo er hingehört!“

„Sie haben die Sache genau erfasst, Mrs. Willard. Ich denke, er weiß tatsächlich nicht, wo sein Platz ist!“, verkündete Napes, der sich ebenfalls in der Küche aufhielt. „Er sollte es dringend lernen! Das geht einfach nicht, Mr. Brindle“, fuhr er fort. „Ich weiß, dass Sie ihm wohlgesonnen sind, doch ein solches Verhalten dürfen Sie ihm nicht durchgehen lassen. Seine Lordschaft muss darüber unterrichtet werden.“

„Aber nicht von Ihnen, Mr. Napes“, erwiderte Brindle. „Darf ich Sie höflich daran erinnern, dass ich hier das Sagen habe? Ich werde entscheiden, wie am besten in dieser Angelegenheit zu verfahren ist.“

In Wahrheit steckte der gewissenhafte Butler in einer Zwickmühle. Ohne jeden Zweifel musste er die Disziplin unter den Bediensteten aufrechterhalten, sonst würde man bald seine Autorität infrage stellen. Andererseits hatte der Kammerdiener die Lage richtig erfasst: Er empfand eine echte Zuneigung für seinen jungen Schützling.

Erst tags zuvor hatte sich Master Green unaufgefordert zu ihm gesetzt und ihm beim Polieren des Silbers geholfen, was ihm leicht von der Hand ging. Aber im Grunde stellt sich das Kind bei allen Arbeiten geschickt an, dachte Brindle. Seine Fähigkeiten in der Küche waren für jemanden in seinem Alter geradezu bemerkenswert. Selbst die Köchin hatte gesagt, er würde später einen ausgezeichneten Koch abgeben, wenn er nur wollte. Der Junge hatte sich von Anfang an hilfsbereit gezeigt und war überdies meist ausgesprochen freundlich und heiter. Aus irgendeinem Grunde verhielt es sich heute jedoch anders …

Unschlüssig, wie er am besten mit der Situation umgehen sollte, gab der Butler Anweisungen für das Frühstück Seiner Lordschaft und ließ es schließlich in das Morgenzimmer bringen. Er war gerade dabei, selbst die Speisen auf dem Tisch anzuordnen, als der Viscount eintrat.

„Wo ist Georgie? Doch wohl nicht mehr im Bett, oder?“

Nachdem Brindle den anderen Bediensteten signalisiert hatte, das Zimmer zu verlassen, schenkte er seinem Herrn Kaffee ein. „Nein, Sir. Aber er ist … ist noch nicht ins Haus zurückgekehrt. Er führt den Hund zu seinem täglichen Morgenspaziergang aus.“

„Verstehe. Dann sagen Sie ihm, dass ich ihn in der Bibliothek sehen möchte, sobald er zurück ist.“

Nach kurzem Schweigen antwortete der Butler: „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, Mylord.“

Erst nachdem mehr als eine Stunde vergangen war, tauchte der aufsässige Page wieder auf. Ein kurzer Blick auf die finstere Miene der zarten Gestalt genügte Lord Fincham, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Gleich darauf erhielt er die kurz angebundene verbale Bestätigung dafür.

„Nun, Sie wollten mich sehen. Hier bin ich!“

Nachdem er die Schreibfeder langsam auf ihre Ablage zurückgelegt hatte, wandte sich der Viscount dem Mädchen im Pagenanzug zu, das noch immer den Türgriff in der Hand hielt. Selbstverständlich war er es nicht gewohnt, in solcher Weise angesprochen zu werden, schon gar nicht von einem seiner Diener. Und obgleich es ihm schwerfiel, sie wie eine Untergebene zu behandeln, fühlte er sich dennoch gezwungen, den gegebenen Status quo zu verdeutlichen.

„Ich glaube, ich habe dich schon einmal gewarnt: Ich habe keinerlei Hemmungen, unverschämte Kinder mit der Birkenrute zu züchtigen“, sagte er sehr leise. „Ich werde dich kein drittes Mal daran erinnern, Georgie. Und nun schlage ich vor, du schließt die Tür, kommst her und erzählst mir, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist.“

Wenigstens teilweise kam sie der Aufforderung nach. Zögernd schloss sie die Tür und näherte sich dem Schreibtisch, verharrte jedoch in verbissenem Schweigen. Ein weniger nachsichtiger Mann hätte in diesem Moment vermutlich die Geduld verloren, aber aus Rücksicht auf ihr Geschlecht war der Viscount entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Ich warte noch immer auf eine Erklärung“, erinnerte er sie.

Ihre rebellische Miene verstärkte sich sogar noch, als sie schließlich widerwillig antwortete: „Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier: Ich will lediglich klarstellen, dass es nicht Brindles Schuld ist, dass ich Sie beim Frühstück nicht bedient habe. Er hat Ihre Anweisung an mich weitergegeben, aber … ich war schlechter Stimmung und ging nach draußen.“

Der Viscount seufzte tief, als keine weitere Erklärung folgte. „Wir machen Fortschritte, wenn auch sehr langsam. Darf ich erfahren, weshalb du so schlecht gelaunt bist? Als ich dich gestern Abend verließ, machtest du einen recht munteren Eindruck.“

Sie senkte den Blick und starrte hartnäckig auf seine Schreibfeder, sodass er schon fürchtete, nur mithilfe von Zwang Genaueres aus ihr herauszubringen. „Ist etwas auf dem Heimweg geschehen, das dich verärgert hat?“, erkundigte er sich. Dann fiel ihm ein, dass sie bereits ziemlich niedergeschlagen gewirkt hatte, nachdem sie den extravaganten Baronet kennengelernt hatte. „Der Grund für deine Verstimmung ist doch nicht etwa Sir Willoughbys albernes Ansinnen, dich zu kaufen, oder?“

Es dauerte eine Weile, bis sie ihm endlich direkt in die Augen sah. „Auf alle Fälle war das nicht nett, Mylord, oder sind Sie anderer Ansicht?“

„Nein, ganz und gar nicht“, stimmte er ihr zu. „Außerdem war es ausgesprochen absurd. Ich besitze dich nicht, Georgie, du bist nicht mein Sklave. Es steht dir frei, meine Dienste zu verlassen, wann immer du es wünschst.“

Ein weiteres Schweigen folgte, dann erwiderte sie: „Gut, dann müssen wir das Thema nicht weiter verfolgen.“

Obgleich ihre Blicke sich bei diesen Worten nur flüchtig trafen, glaubte er in den Tiefen ihrer veilchenblauen Augen zu erkennen, dass sie Sir Willoughbys Bemerkung nur als Vorwand benutzt hatte, um den wahren Grund ihrer Missmutigkeit zu verbergen. Er beschloss jedoch, der Angelegenheit nicht weiter auf den Grund zu gehen und wechselte das Thema. „Kannst du eigentlich reiten, Master Green?“

Sie reagierte überrascht. „Aber natürlich kann ich reiten!“

„In diesem Fall kannst du den Stallmeister benachrichtigen, dass der Fuchs und der Braune in fünfzehn Minuten gesattelt für uns bereitstehen sollen. Wir wollen den sonnigen Herbsttag ausnutzen. Wer weiß, wie lange es noch so schön bleibt.“

„Könnten es auch in zwanzig Minuten sein, Mylord?“, fragte sie, schon auf dem Weg zur Tür. „Ich muss Brindle noch aufsuchen und mich für mein Verhalten entschuldigen.“

„Nimm keine Rücksichten auf mich, mein Kind“, antwortete er leicht ironisch. „Ich warte selbstverständlich, bis es dir genehm ist.“

Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es dem Viscount, nicht in lautes Gelächter auszubrechen, als sie eine halbe Stunde später gemeinsam die Stallungen betraten. Sein Page warf einen Blick auf den braunen Wallach, den einer der Knechte festhielt, und erbleichte. „Oh je, daran habe ich nicht gedacht!“

Sofort verstand Lord Fincham, dass sich die Bestürzung des Mädchens weniger auf das Pferd, sondern vielmehr auf den Sattel bezog. Leider konnte er den Knecht schwerlich bitten, einen Damensattel aufzulegen, wenn er Gerede und unnötige Gerüchte vermeiden wollte. Da sie ein aufgewecktes Mädchen war, wurde ihr das selbst rasch klar, und sie schwang sich ohne Federlesen – und ohne um Hilfe zu bitten – auf den Rücken des Pferdes.

Kurz nachdem sie den Berkeley Square verlassen hatten, war sich Lord Fincham bereits sicher, dass sie mit dem ungewohnten Sattel zurechtkommen würde. Als sie schließlich den Hyde Park erreichten, der in prachtvoll leuchtende Rot- und Gelbtöne getaucht war, stellte er zufrieden fest, dass sie eine ausgesprochen gute Reiterin war. Sie hielt sich elegant im Sattel und führte das Tier gefühlvoll. Trotzdem entschied er sich, besser vorsichtig zu sein und den weniger belebten Bereichen des Parks den Vorzug zu geben. So mussten sie nicht auf die zahlreichen Kutschen und anderen Reiter achten, die den Park zu dieser beliebten Tageszeit bevölkerten. Auch wollte er die Gelegenheit nutzen, um mehr über seine Begleiterin in Erfahrung zu bringen.

Geschickt begann er mit einer Frage, die sicherlich keinen Argwohn erregen würde. „Du reitest sehr gut, Georgie, mein Junge. Wer hat dir das beigebracht?“

„Mein Patenonkel, Sir“, antwortete sie, ohne zu zögern. Dann lächelte sie zaghaft. „Er hielt sich ein paar Pferde in seinem Stall.“

„Wirklich?“ Einen Moment sann er schweigend nach. „Verzeih mir, wenn ich mich irre, Georgie, aber hattest du nicht erzählt, es gäbe niemand mehr, der sich um dich sorgt?“

„Nein, Sie täuschen sich nicht, Mylord.“ Sie versuchte gar nicht erst, ihn anzusehen, sondern starrte geradeaus, als ob die Ohren des Pferdes ihren Blick vollständig fesselten. „Mein Patenonkel ist in diesem Jahr gestorben.“

Er bemerkte ein leichtes Beben in ihrer Stimme und beschloss, das Thema nicht weiter zu verfolgen, da es eindeutig schmerzhafte Erinnerungen in ihr weckte.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass du nie zuvor irgendwo in Diensten gestanden hast, bevor du in meinen Haushalt kamst?“

Sie schwieg einen Augenblick und antwortete dann: „Das stimmt, Mylord. Aber ich habe auch nicht das angenehme Leben der Oberschicht geführt. Wie ich Ihnen schon erzählte, war meine Mutter lange Jahre Köchin und Haushälterin. Mir wurde eine Reihe von Aufgaben rund um die Pfarrei übertragen. Ich wurde also nicht zur Faulheit erzogen. Mein Patenonkel, der in der Nähe wohnte, besaß viele Tiere“, fügte sie hinzu, als sie auf einen der Hauptwege des Parks zurückkehrten. „Er hatte eine besondere Vorliebe für Schweine – er nannte sie ‚Tiere mit beruhigender Wirkung‘. Und ich habe viel Zeit bei ihm … und bei den Schweinen verbracht.“

Der Viscount war überzeugt, dass sie weitgehend bei der Wahrheit blieb. Allerdings waren diese Auskünfte nicht besonders erhellend. Es gab etwas Wesentliches, das sie weiterhin für sich behielt. Zu seinem Ärger wurde er der Möglichkeit beraubt, weiter nachzufragen, da plötzlich eine offene Kutsche vor ihnen auftauchte. Hätte er sein Pferd in die andere Richtung gewendet, um die Begegnung zu vermeiden, so wäre dies ein Affront gewesen. Und er hatte keinesfalls vor, die Dame zu beleidigen, deren großzügige Gastfreundschaft er noch am Vorabend genossen hatte.

„Gütiger Himmel, Fincham!“, rief die Duchess of Merton, als die Kutsche zum Stehen kam. „Da trifft man sich gleich zwei Mal in so kurzer Zeit! Ich bin erstaunt! Gewöhnlich kehren Sie der eleganten Welt doch den Rücken zu, wo Sie nur können.“

„Nicht immer, Euer Gnaden. Überdies habe ich Ihre Gesellschaft nie gemieden.“

Diese Worte erfreuten sie sichtlich. „Oh, Sie boshafter Schelm! Wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre! Siehst du, Lydia …“, sie wandte sich der unscheinbaren jungen Dame an ihrer Seite zu, „… du solltest die Ratschläge deiner Mutter stets beherzigen. Ich habe dir ja empfohlen, berüchtigten Charmeuren aus dem Weg zu gehen.“

„Das ist ungerecht, Euer Gnaden!“, protestierte Lord Fincham in gespielt beleidigtem Tonfall. „Ich lasse mir nicht nachsagen, jemals Unschuldige umgarnt zu haben.“

Die Duchess warf ihm einen koketten Blick zu. „Nun ja, ich glaube, das ist wohl wahr“, gab sie zu, bevor sie sich vorbeugte und ihrem Kutscher mit dem Sonnenschirm auf die Schulter klopfte.

Sobald die Kutsche verschwunden war, gab der Viscount Georgie ein Zeichen, wieder neben ihm zu reiten. „Jetzt verstehst du bestimmt, weshalb ich diesen Ort in der Regel meide; zumindest um diese Uhrzeit. Das nötigt einen immer dazu, mit jemandem, dem man am wenigsten begegnen will, Höflichkeiten auszutauschen.“

Nach diesem Eingeständnis schaute sie ihn fragend von der Seite an. „Aber ich dachte, Sie würden die Duchess mögen, Mylord. Sie waren gestern Abend sehr liebenswürdig zu ihr.“

„Es wäre eine ungeheure Geschmacklosigkeit, der Gastgeberin keine Freundlichkeit entgegenzubringen, mein liebes Kind. Außerdem kann ich nicht umhin, ihr Respekt zu zollen. Merton ist kein einfacher Mann und auch ganz gewiss keiner, in dessen Gesellschaft ich mich öfter aufhalten möchte.“

Noch immer musterte sie ihn. „Bevorzugen Sie seinen Bruder – Lord Rupert Gyles?“

Er dachte einen Moment nach. „Ja, ich glaube schon, obgleich er manchmal ein wahrer Nichtsnutz ist. Doch anders als ich ist er normalerweise ein umgänglicher und angenehmer Zeitgenosse.“

„Gestern Abend kamen Sie mir sehr gesellig vor, vor allem, als Sie sich mit Sir Willoughby Trent und der Duchess unterhielten“, bemerkte seine Begleiterin. Dann blickte sie wieder geradeaus. „Obwohl ich nicht genau verstanden habe, worüber Sie sprachen. Eine Äußerung der Duchess hat mich verwirrt …“

„Wirklich? Und was hat dich so verwirrt?“, erkundigte sich Lord Fincham freundlich.

„Sie sagte etwas über die … die ‚berühmten Fünf‘.“ Sie legte die hübsche Stirn in Falten. „Gestern waren ja so viele Gäste anwesend, die alle mit dem Privileg gesegnet sind, ein Leben in Luxus zu führen. Welche fünf Personen hat sie denn gemeint?“

„Ah!“ Der Viscount winkte mit einer Hand ab. „Das ist unwichtig, mein Kind, eine Bagatelle.“

„Ach, bitte, Mylord! Ich finde es spannend!“

„Offensichtlich kannst du sehr hartnäckig sein, wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast, Georgie.“ Der Viscount seufzte, war aber erneut gewillt, Nachsicht walten zu lassen. „Also gut. Ein paar hochrangige Gastgeber, unter ihnen die Duchess of Merton, haben diesen Namen einer kleinen Gruppe von Gentlemen verliehen, die am Spieltisch scheinbar von der Glücksgöttin bevorzugt werden. Sie haben sich den Ruf erworben, um besonders hohe Einsätze zu spielen. Vielleicht haben sie deshalb oft das Glück, mehr zu gewinnen als zu verlieren. Wie ich bereits sagte, ist das alles ein ziemlicher Unsinn.“

„Aber Sie haben mir noch nicht verraten, wer diese Gentlemen sind, Mylord“, hakte Georgie nach.

„Deine Neugier ist unersättlich!“, schimpfte er, gab jedoch sofort nach, als sie ihn bekümmert ansah. „Oh, schon gut. Zwei von ihnen bist du gestern begegnet – Sir Willoughby und dem Schwager der Duchess, Lord Rupert Gyles. Ein weiteres Mitglied der Runde ist Lord Chard, der gestern Abend nicht anwesend war. Und einer aus der Gruppe starb vor ein paar Wochen.“

„Um wen handelte es sich dabei, Mylord?“, fragte sie leise, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

„Um den siebten Earl of Grenville. Angeblich ist er von einer Bande Straßenräuber überfallen worden, als er sich auf dem Heimweg zu seinem Gut in Gloucestershire befand.“

„Das sind aber erst vier Gentlemen, Sir“, erinnerte sie ihn. „Wer ist der fünfte?“

Auf einmal lächelte der Viscount ein wenig selbstgefällig. „Nun, du stehst in seinen Diensten!“

Sie schaute ihn unverwandt an, doch senkte sie dann rasch den Blick. Er sollte nicht die Möglichkeit bekommen, zu erraten, was sich in diesem kurzen Moment in der Tiefe ihrer veilchenblauen Augen abspielte.

Die Tage der folgenden Woche liefen nach einem ähnlichen Muster wie der Tag ihres ersten Ausritts. Da das sonnige Herbstwetter anhielt, ritt Lord Fincham jeden Nachmittag mit seinem bemerkenswerten Pagen aus. Das allein hätte noch keinen Anlass für Gerede gegeben, wenn der Viscount dem Jungen nicht erlaubt hätte, neben ihm zu reiten und sich mit ihm zu unterhalten.

Die meisten Abende verbrachte er nun zu Hause, was für ihn äußerst ungewöhnlich war. Er machte es sich in der Bibliothek bequem, ließ sich lediglich von seinem Pagen Gesellschaft leisten und verbrachte viele glückliche Stunden beim Schachspiel mit ihm. Nur wenn sein reizender Gesellschafter sich zur Nachtruhe zurückzog, wagte er sich hinaus in seinen Club oder in das intime Boudoir seiner Mätresse.

Dann, an einem Abend zu Beginn der folgenden Woche, wich der Viscount von dieser Gewohnheit ab und bat seinen Pagen, ihn beim Ausgehen zu begleiten. Er verzichtete auf die Kutsche und sie gingen die kurze Entfernung zu dem aufwendig geschmückten Stadthaus zu Fuß. Leider erwies sich die dortige Festlichkeit als äußerst langweilig und ermüdend. Einer plötzlichen Eingebung folgend entschied Lord Fincham, sich in eine Gesellschaft zu begeben, die seiner Stimmung mehr entsprach.

Er verließ mit seinem Pagen das Fest und hielt eine Droschke an. Dem Kutscher befahl er, ihn zu einem zwielichtigen Ort zu bringen, der sich in einer deutlich weniger vornehmen Gegend der Stadt befand und von dem er wusste, dass dort jeden Abend um hohe Einsätze gespielt wurde. Als er in der Spielhölle eintraf, hatte er das Glück, genau die Männer an einem Tisch in den oberen Zimmern zu finden, nach denen er gesucht hatte. Ohne Zögern gesellte er sich zu ihnen.

Als er Platz nahm, bemerkte er, wie der Gentleman ihm gegenüber sogleich zu dem Mädchen in Pagenkleidung, das sich artig hinter seinen Stuhl gestellt hatte, hinüberspähte. Doch obgleich eine Spur von Neid und vielleicht sogar Verstimmung in Sir Willoughbys Miene erkennbar war, enthielt sich der Baronet jeden Kommentars und konzentrierte sich wieder auf seine Karten.

Der Mann zur Linken des Viscounts hingegen sagte laut: „Ich habe schon gehört, dass Sie sich einen Pagen zugelegt haben, Fincham. Bloß, dass ich es bis jetzt nicht glauben wollte. In all den Jahren, in denen wir uns kennen, sind Sie noch nie einer modischen Marotte erlegen.“

„Auch diesmal nicht, Chard“, versicherte ihm Sir Willoughby, bevor Lord Fincham etwas entgegnen konnte. „Er hat sich den Jungen nur zugelegt, um mich zu quälen, wenn ich die Lage richtig einschätze.“

„Und anhand Ihres gereizten Tonfalls würde ich meinen, dass er sein Ziel mehr als erreicht hat“, mischte sich Lord Rupert Gyles leise lachend ein. „Aber was zum Teufel hat Sie geritten, ihn mit an diesen Ort zu nehmen, Fincham? Hier gibt es doch genug Leute, die einem Wein kredenzen können, oder etwa nicht?“

Das ließ sich nicht leugnen. Zwar versuchte der Besitzer des diskreten Etablissements ein halbwegs respektables Haus zu führen, dennoch hatte er mehrere Frauen angestellt, deren Aufgabe es war, die Gäste an die verschiedenen Spieltische zu locken und sie nebenbei zu ermuntern, reichlich Wein aus seinem gut gefüllten Keller zu trinken. Der Viscount wusste, dass häufig intimere Begegnungen zwischen gewissen Stammgästen und den aufreizend gekleideten Damen stattfanden. Doch diese Verhältnisse wurden nie offen zur Schau gestellt. Er fragte sich, welchen Reim sich wohl Georgie auf die jungen Frauen machte, deren durchscheinende, tief ausgeschnittene Kleider mehr enthüllten als verdeckten. Schließlich legte er die Karten beiseite, um sich nach ihr umzusehen, und ertappte sie dabei, wie sie Lord Chard fixierte, als ob sie sich jeden seiner groben Gesichtszüge für eine Porträtzeichnung einprägen müsste.

Mit ihrem Verhalten ging sie weit über das hinaus, was sich ziemte. Noch beunruhigender war die Möglichkeit, dass Chard dies bemerken könnte. Er war kein Narr. Wenn Georgie erst einmal seine Aufmerksamkeit erregte, würde er ihre Maskerade sofort durchschauen. Bisher war dies noch nicht der Fall gewesen, denn Chard hatte nur einen flüchtigen Blick in ihre Richtung geworfen und kein besonderes Interesse an ihr gezeigt. Der Viscount hoffte, dass es dabei blieb.

„Hole mir eine Flasche und ein Glas, mein Kind“, forderte er sie auf. „Und dann geh nach unten und warte im Vestibül auf mich.“

Es verging noch eine ganze Zeit, bis der Viscount des Spielens überdrüssig wurde und sich auf die Suche nach Georgie machte. Er fand sie im Vestibül, wohin er sie auch beordert hatte – allerdings nicht schlafend in einem der bequemen Sessel, wie er angenommen hatte, sondern überraschend munter. Sie war in ein Gespräch mit einem der jungen Lakaien vertieft, die am Eingang standen und deren Aufgabe es war, unliebsamen Gästen den Zutritt zu verwehren. Auf ein Zeichen Lord Finchams beendete sie die Unterhaltung sofort und verließ gemeinsam mit ihm die Spielhölle.

Draußen umfing sie kühle Morgenluft, deren feuchter Herbstgeruch sich mit den üblen Gerüchen der heruntergekommenen Gegend mischte. Als der Viscount eine ferne Kirchenglocke die Stunde schlagen hörte, wurde ihm bewusst, wie lange er beim Kartenspiel gesessen hatte, und er verspürte ein schlechtes Gewissen gegenüber der jungen Person an seiner Seite. Weit und breit war keine Droschke zu sehen, weshalb ihnen nichts anders übrig blieb, als zumindest einen Teil der Strecke zu Fuß nach Hause zu gehen.

„Du hättest schon vor Stunden im Bett sein sollen, Georgie. Es war unverantwortlich von mir, dich heute Nacht mitzunehmen, insbesondere an diesen Ort“, sagte er, als sie die Straße hinuntergingen

Autor

Deb Marlowe
Deb Marlowe wuchs im Bundesstaat Pennsylvania auf und hatte stets ihre Nase in einem Buch. Glücklicherweise hatte sie genug Liebesromane gelesen, um ihren eigenen Helden auf einer Halloween Party am College zu erkennen.
Sie heirateten, zogen nach North Carolina und bekamen zwei Söhne.
Die meiste Zeit verbringt Deb Marlowe an ihrem...
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