Miss Lily verliert ihr Herz

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Ihr erster Ball in London, endlich hat Lily sich von den Fesseln ihrer strengen Mutter befreit! Mit ihrem Charme verdreht sie allen Junggesellen den Kopf - aber sie will nur Jack Alden, den kühlen und doch so wagemutigen und attraktiven Gentleman. Schon beim ersten Blick in seine Augen hat sie ihr Herz verloren! Seine sehnsüchtigen Küsse verraten ihr, dass die Arroganz nur eine Mauer ist, hinter der er seine Gefühle zu verbergen sucht. Einen Sommer lang hat Lily Zeit, diesen Schutzwall zu durchbrechen - wenn sie scheitert, muss sie zurück in das graue Leben an der Seite ihrer Mutter …


  • Erscheinungstag 19.10.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769208
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Mit sicherer Hand hielt Jack die Pistole genau auf Hassans Herz gerichtet. Dieses Mal würde er den Schurken umbringen. Ganz gewiss!

Doch da bewegte sich etwas.

Verflixt, selbst im Traum hatte er gewusst, dass das passieren würde! Im Schatten, ganz in der Nähe, raschelte es. Jemand war da. Jemand, der nicht besonders groß war. Aswan konnte es also nicht sein. Jetzt nahm Jack den schwachen Duft von Gardenien wahr. Dann spürte er die kalte Mündung einer Waffe an seiner Schläfe.

Eine Woge aus Zorn und der Enttäuschung schlug über ihm zusammen. Er hatte versagt, denn er hatte Chione, die Verlobte seines Freundes, nicht beschützen können. Und er selbst würde diese Nacht wohl nicht überleben. Der Tod erwartete ihn hier in der Egyptian Hall, in einem dunklen Museumsflur.

Ich werde nicht verhindern können, dass die antiken Schätze in die falschen Hände fallen.

Es folgte, was Nacht für Nacht geschah: In den Ausstellungsräumen für ägyptische Kunst entstand ein großes Durcheinander, als Aswan auftauchte. Eine Frau schrie. Ein Lichtblitz zwang Jack, die Augen zu schließen. Dann dieser schreckliche Schmerz, der sich in seinem Arm ausbreitete. Jack stürzte zu Boden.

Irgendjemand beugte sich über ihn. Undeutlich sah er ein finsteres Gesicht. Es gehörte weder der Frau, die auf ihn geschossen hatte, noch ihrem Komplizen Hassan. Also war es wohl Kapitän Batiste selbst, der vor ihm stand. Batiste, dieser durch und durch böse und dabei so listige Mann, der sich aus irgendwelchen Gründen entschlossen hatte, Jacks Freunde zu vernichten. Die schattenhafte Gestalt begann zu lachen. Und hilflose Wut loderte in Jack auf.

„Ich bin von Ihnen enttäuscht“, flüsterte der Schurke. Und dann: „Wahrhaftig, ich hatte mehr von dir erwartet.“

Jack zuckte zusammen. Das war nicht die Stimme des Kapitäns, sondern die seines eigenen Vaters!

Nach Luft ringend wachte er auf.

Er hasste diesen Traum, der ihn immer wieder heimsuchte. Vergeblich versuchte er, Zorn, Angst und Hilflosigkeit abzuschütteln. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es früher Nachmittag war. Er musste in seinem Lehnstuhl eingeschlafen sein. Etwas drückte schmerzhaft gegen seinen verletzten Arm. Jack setzte sich anders hin und hob die gesunde Hand, um sich mit den Fingern über die Augen zu streichen. Vielleicht konnte er so die Benommenheit vertreiben, die ihn noch immer erfüllte.

Natürlich dachte er nicht gern an jene Nacht im Museum zurück. Er hatte sich nicht besonders geschickt verhalten. Doch außer ihm selbst schien niemand das bemerkt zu haben. Niemand hatte ihm Vorwürfe gemacht, obwohl er durchaus Tadel verdient hatte. Vielleicht verfolgte dieser Albtraum ihn gerade deshalb.

Jack Alden stieß einen langen Seufzer aus. Er bedauerte nicht, dass er sich von Lord Treyford in dessen Abenteuer hatte verwickeln lassen. Und doch …

Trey und Chione waren inzwischen mit ihren Angehörigen nach Devonshire zurückgekehrt. Bald würden sie wieder nach Ägypten reisen. Jack beneidete sie darum. Er hatte gehofft, sie würden ihn fragen, ob er sie begleiten wolle. Doch die zwei waren so miteinander beschäftigt, dass sie nicht über die heimlichen Wünsche ihres Freundes nachgedacht hatten.

Also war Jack in London geblieben, obwohl er sich hier keineswegs wohlfühlte. Er war unruhig, unausgeglichen und unzufrieden.

Dass all seine Gedanken um Batiste zu kreisen schienen, machte die Situation nicht erträglicher. Manchmal kam er sich vor wie ein Besessener. Aber er konnte einfach nicht vergessen, dass der Kapitän entkommen war, während Hassan und einige andere Helfershelfer des Schurken sich in Treyfords Netz verfangen hatten.

Noch einmal presste Jack die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Dann erhob er sich. Er war mit Pettigrew verabredet, um dessen wunderschöne, aber teuflisch temperamentvolle Hengste in Augenschein zu nehmen. Der Baron musste sich aus finanziellen Gründen von den Pferden trennen, und unter normalen Umständen hätte Jack vermutlich wenig Interesse an den Tieren gezeigt. Doch seit jener Nacht in der Egyptian Hall war alles anders. Die Bändigung der Pferde stellte eine Herausforderung dar, der er nicht widerstehen konnte. Wahrhaftig, manchmal benahm er sich wie ein unreifer Junge …

Mit dem verletzten Arm war es mühsam, den Mantel anzuziehen. Doch schließlich verließ Jack seine Wohnung, um den Weg zu White’s einzuschlagen. Er hatte beschlossen, seinen Bruder Charles zu fragen, ob er ihn zu Pettigrew begleiten wolle.

Auf der Straße empfing ihn ein überraschend kalter Wind. Sogleich wurden die Schmerzen in seinem Arm schlimmer. Verflixt! Fast bereute er, das Treffen mit Pettigrew vereinbart zu haben. Zu allem Übel wohnte der verarmte Baron in Goodman’s Fields, einem Stadtteil, dem jeder vernünftige Mensch lieber fernblieb. Andererseits lag das Viertel nicht weit entfernt von den Docks, wo sich auch das Büro von Batistes Schifffahrtsgesellschaft befand.

Jack beschleunigte seine Schritte. Vielleicht, dachte er, ist dies doch kein weiterer vergeudeter Tag.

Aus den Augenwinkeln warf Lily ihrer Mutter einen kurzen Blick zu. Mrs. Beecham hatte sich über ihre Stickarbeit gebeugt, und ein Ausdruck größter Konzentration lag auf ihrem Gesicht. Lily schloss die Lider und legte den Kopf in den Nacken. Ah, wie gut es tat, wenn die Strahlen der Frühjahrssonne die Haut wärmten!

Für eine Dame gehörte es sich natürlich nicht, ihr Gesicht der Sonne auszusetzen und Sommersprossen zu riskieren. Doch Lily liebte dieses Gefühl der Wärme. Sie liebte es, wenn das Licht durch ihre geschlossenen Augenlider drang und wenn eine sanfte Brise ihre erhitzten Wangen kühlte.

Einen Moment lang war ihr, als sei sie wieder ein kleines Mädchen. Wie hatte sie es genossen, wenn ihr Papa sie hoch in die Luft hob und lachend herumwirbelte! Einen Moment lang konnte sie die Zuneigung und die Fröhlichkeit ihres Vaters ganz deutlich spüren.

Dann sagte ihre Mutter: „Lilith, dies ist ein öffentlicher Platz und nicht die Wiese hinter unserem Haus in Dorset.“

„Natürlich, Mama.“ Lily öffnete die Augen und setzte sich aufrecht hin. Kurz überlegte sie, ob sie sich wieder dem Buch widmen sollte, das sie in der Hand hielt. „Hannah More“ stand auf dem Umschlag. Darunter der Titel. Ein christliches Werk. Doch tatsächlich hatte Lily zwischen den Seiten ein Büchlein von A. Vaganti versteckt, das ihrer Mutter gar nicht gefallen würde.

Da sie nicht riskieren wollte, bei verbotener Lektüre erwischt zu werden, erhob sie sich und begann hinter dem Verkaufstisch, den zu betreuen sie und ihre Mama sich bereit erklärt hatten, auf und ab zu schreiten.

Es war die Countess of Ashford gewesen, die diesen Wohltätigkeitsbasar organisiert und Mrs. Beecham gebeten hatte, den Büchertisch zu übernehmen. Er war neben ein paar anderen Ständen, an denen gebrauchte Kleidung und Korbwaren verkauft wurden, außerhalb des Parks aufgebaut worden. Im Hyde Park selbst gab es weitere Verkaufstische für Seidenbänder, Häubchen und anderen Krimskrams.

„Ist es nicht schade, dass wir nun schon stundenlang vor den Toren des berühmtesten Parks von London sitzen und keine Gelegenheit hatten, ihn zu betreten?“, meinte Lily.

„Welch ein Unsinn!“, gab ihre Mutter zurück. „Der Hyde Park ist ein Park wie jeder andere auch. Statt dich selbst zu bemitleiden, solltest du dich darüber freuen, dass dir eine Aufgabe bei diesem Wohltätigkeitsbasar zugeteilt worden ist. Es ist eine Ehre, für eine so hehre Sache zu arbeiten.“

„Du hast recht“, gab Lily ein Seufzen unterdrückend zurück. Tatsächlich wunderte sie sich inzwischen darüber, dass sie so naiv gewesen war, zu hoffen, dieser Tag würde anders sein als die vorherigen. Schließlich war ihr gesamter Aufenthalt in London eine große Enttäuschung gewesen.

Es war lange her, dass ihr Vater hin und wieder mit ihr über London gesprochen hatte. Sie hatte auf seinen Knien gesessen und voller Wohlbehagen gespürt, wie er ihr liebevoll übers Haar strich. In den glühendsten Farben hatte er ihr geschildert, welche Freuden die Hauptstadt bereithielt: Museen, Theateraufführungen, Tanzveranstaltungen, aufregende Parlamentsdebatten und interessante private Gespräche. Er hatte ihr ausgemalt, was sie in London alles erleben würde. Und sie hatte ihm begeistert und voller Vorfreude zugehört.

Doch er war gestorben, ehe auch nur eine seiner Geschichten wahr geworden war. Lily, die bis zu seinem viel zu frühen Tod ein unbeschwertes glückliches Leben geführt hatte, war schmerzhaft aus ihren Träumen gerissen worden. Seit Jahren waren ihre Tage nun mit der Erfüllung trockener Pflichten ausgefüllt. Dass sie, wie ihre Mutter immer wieder erklärte, Gott wohlgefällige Werke tat, konnte Lily nicht wirklich trösten.

Voller Wehmut dachte sie daran zurück, wie sehr sie sich gefreut hatte, als ihre Mutter verkündete, dass sie den Mai in London verbringen würden. Endlich würde sie diese wunderbare Stadt kennenlernen! Gewiss würde sie wunderbare neue Dinge erleben. Alles würde anders werden.

Doch ihre Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. In London war sie von ihrer Mutter von einem religiösen Treffen zum nächsten geschleppt worden. Sie hatte langen Vorträgen über christliche Tugenden – von denen sie auch daheim Tag für Tag gehört hatte – und nicht minder langen Reden über die Abschaffung der Sklaverei – die sie seit langem befürwortete – gelauscht. Ein Museum oder ein Theater allerdings hatte sie in all den Wochen nicht betreten.

Zurückblickend musste sie erkennen, dass ihre Umgebung, nicht jedoch ihre Situation sich geändert hatte.

„Mr. Cooperage wird als Missionar gute Arbeit leisten“, sagte Mrs. Beecham, ohne von ihrer Stickerei aufzuschauen.

„Das wird er – vorausgesetzt, die Stände im Park können bessere Einnahmen verbuchen als wir. Hier am Büchertisch haben wir ja kaum etwas verkauft. Selbst die preisgünstigen Hefte mit Traktaten will anscheinend niemand haben. Von unserem Verdienst kann Mr. Cooperage sich wahrscheinlich nicht einmal eine Fahrt ans andere Ende der Stadt leisten. Und eine Schiffsreise nach Indien …“

Mrs. Beecham runzelte die Stirn.

„Schon gut, Mama, ich wollte nichts Ungehöriges sagen.“ Lily stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, einen Blick ins Innere des Parks zu erhaschen. „Ich glaube, an den anderen Ständen herrscht mehr Betrieb.“

Mrs. Beechams Stirnrunzeln verschwand und machte einem Lächeln Platz, als sie eine junge Dame bemerkte, die gerade ihrem Begleiter etwas zuflüsterte und dann zum Stand kam. Auch Lily setzte ein strahlendes Lächeln auf, während sie insgeheim das mit Bändern verzierte fliederfarbene Nachmittagskleid der hübschen Blondine bewunderte.

„Guten Tag“, sagte die Dame und musterte die ausgestellten Schriften, „mir scheint, die Werke von Miss Vaganti sind ausverkauft?“ Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf Lilys Lektüre.

Wahrhaftig, das Büchlein, das sie heimlich gelesen hatte, war zwischen den Seiten von Mrs. Mores frommen Zeilen so weit herausgerutscht, dass man den Namen Vaganti erkennen konnte!

„Mir hat ‚Der Smaragd-Tempel‘ wirklich gut gefallen. Und nun dachte ich, ich könnte bei Ihnen vielleicht ‚Die verbotene Stadt des Pharaos‘ bekommen.“

Mrs. Beecham hatte die Stirn schon wieder in Falten gelegt. „Vielleicht dürfen wir Ihnen etwas Besseres empfehlen? Sie scheinen fantasievolle Texte zu bevorzugen. Da interessieren Sie sich bestimmt für Bowdlers große Shakespeare-Ausgabe.“

Lachend schüttelte die Kundin den Kopf. „O nein! Meiner Meinung nach ist es eine Schande, die Werke unseres großen Dichters eigenmächtig zu verändern, so wie Bowdler das getan hat. Ich weiß wirklich nicht, was er an den Originaltexten auszusetzen hat. Ich jedenfalls liebe Shakespeares Gedichte, Komödien und Dramen gerade so, wie er sie verfasst hat.“

Lily hätte ihr am liebsten lauthals zugestimmt. Doch Mrs. Beecham setzte zu einer belehrenden Rede an. Ehe sie indes etwas sagen konnte, fuhr die junge Dame freundlich fort: „Ich finde es wunderbar, dass Sie Lady Ashford und ihre Ziele unterstützen. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Miss Dawson.“

Da ihre Mutter unzufrieden die Lippen zusammenpresste, sagte Lily rasch: „Das ist meine Mutter Mrs. Beecham. Ich selbst heiße Lily Beecham.“

Miss Dawson rumzelte die Stirn. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir Verwandte haben, die ebenfalls Beecham heißen. Und zwar in Dorset. Sie kommen nicht zufällig von dort?“

„Doch“, gab Lily überrascht zurück. „Wir halten uns nur für ein paar Wochen in London auf und …“

In diesem Moment rief der Gentleman nach der jungen Dame.

„Oh, ich muss weiter! Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Das ist übrigens mein Bräutigam, Lord Lindley. Er liest die Romane von A. Vaganti genauso gern wie ich, aber das würde er vor anderen niemals zugeben.“ Sie beugte sich vor und griff nach Lilys Hand. „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, liebe Cousine.“

Sprachlos vor Erstaunen konnte Lily nur stumm nicken. Sie schaute Miss Dawson nach, als diese an der Seite ihres Verlobten in Richtung Park weiterging. Ein kleiner Seufzer entschlüpfte ihr. Wenn ihr Papa nicht gestorben wäre, hätte Miss Dawson vielleicht ihre Freundin werden können. Sie hätten sich gegenseitig spannende Romane empfohlen, interessante Gespräche geführt und gemeinsam lange Spaziergänge unternommen. Aber nach dem Tod des Vaters verkehrten sie kaum noch in Gesellschaft.

Vielleicht, dachte sie und seufzte erneut, hätte ich sogar einen Verlobten, genau wie sie.

Die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Tagträumen. „Du wirst doch nicht immer noch bedauern, dass du nicht an den oberflächlichen Vergnügungen der Londoner Gesellschaft teilnimmst?“

„Natürlich nicht!“ Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und griff nach Mrs. Mores Buch. In diesem Moment brachte ein warmer Windhauch den Duft der Frühlingsblumen mit, die im Hyde Park blühten. Einem plötzlichen Entschluss folgend, zog Lily Miss Vagantis Smaragdtempel hervor und legte Mrs. Mores frommes Werk beiseite. Sie schlug den Roman auf und versuchte zu lesen, obwohl sie den tadelnden Blick ihrer Mutter auf sich spürte.

„Ich hoffe“, sagte Mrs. Beecham jedoch nur, „dass Miss Dawson an einem der anderen Stände etwas kauft. Mr. Cooperages Vorhaben ist so wichtig! Ich darf gar nicht an all die verlorenen Seelen denken, die auf ihre Rettung warten!“

„Mach dir keine unnötigen Sorgen, Mama. Als wir heute Morgen herkamen, habe ich die Grillen zirpen gehört. Das ist ein gutes Zeichen.“

„Welch ein Unsinn! Du weißt doch, was ich von solchem Aberglauben halte! Du solltest …“

Lily erfuhr nie, was sie tun sollte, denn in diesem Moment, erschien Lady Ashford. „Stellen Sie sich nur vor, Mrs. Beecham“, rief sie aufgeregt, „Mr. Wilberforce höchstpersönlich ist hier, um uns zu danken.“

„Oh!“ Mrs. Beecham stieg das Blut in die Wangen. Mr. Wilberforce, der sich im Unterhaus vehement für die endgültige Abschaffung der Sklaverei und andere Ziele der christlichen Reformbewegung einsetzte, war ihr persönliches Idol. „Wie wundervoll!“

„Ich habe ihm von Ihrem unermüdlichen Einsatz und Ihrem Erfolg beim Aufbau der Armenschule in Weymouth berichtet. Er möchte sich gern eingehender mit Ihnen darüber unterhalten und lädt Sie deshalb zu einer Kutschfahrt ein.“

Ein neuerliches „Oh“ war alles, was Mrs. Beecham hervorbrachte.

„Kommen Sie!“, befahl Lady Ashford. „Wir wollen ihn nicht warten lassen.“

„Geh nur, Mama“, ermutigte Lily ihre Mutter. „Ich kann mich durchaus eine Zeit lang allein um den Büchertisch kümmern.“

„Allerdings“, stimmte Lady Ashford ihr zu. „Beeilen Sie sich, Mrs. Beecham!“

Lily schaute den beiden nach, die zu Mr. Wilberforce’ Kutsche eilten. Doch bald zogen andere Dinge ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Verkehr auf der Straße hatte zugenommen. Auch im Park herrschte jetzt viel Betrieb. Vornehme Kutschen rollten über die Wege, und modisch gekleidete Damen schlenderten begleitet von ihren Verehrern an bunten Blumenbeeten vorbei. Gentlemen hoch zu Pferde zogen grüßend die Hüte, wenn sie Bekannten begegneten.

Ob diese Menschen tatsächlich alle so oberflächlich waren, wie ihre Mama behauptete? Lily wollte das einfach nicht glauben. Bestimmt gab es auch unter den Mitgliedern der guten Gesellschaft viele, die die Forderungen der Reformer befürworteten. War Lady Ashford nicht ein gutes Beispiel dafür? Sie verkehrte in den besten Kreisen, schätzte elegante Kleidung und nahm gewiss an vielen gesellschaftlichen Ereignissen teil, ohne darüber ihre edlen Ziele zu vergessen.

Warum also muss ich herumlaufen wie ein Aschenputtel, dachte Lily. Warum darf ich nichts von all dem tun, was mir Spaß macht? Ich bin jung, aber mein Leben unterscheidet sich in nichts von dem meiner Mutter. Und trotzdem ist sie nie zufrieden mit mir.

„Meine liebe Miss Beecham, hier sind Sie also!“

Sie hatte nicht bemerkt, dass Mr. Cooperage sich dem Büchertisch genähert hatte. Er war ein sehr korrekter Mann, und doch bereitete seine Gegenwart ihr stets ein wenig Unbehagen. Vielleicht lag es an seiner salbungsvollen Sprechweise …

„Machen Sie einen kleinen Spaziergang mit mir?“, fragte er.

„Ich sollte den Stand nicht allein lassen.“

„Wir gehen nur so weit, dass wir ihn im Augen behalten können“, gab der zukünftige Missionar zurück und reichte ihr den Arm. „Sie können sich wirklich glücklich schätzen, eine Mutter zu haben, die so fest im Glauben steht.“

Lily wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte.

„Wie bewundernswert sind doch jene Menschen, die alle weltliche Eitelkeit hinter sich lassen und nicht mehr nach schalen Vergnügungen streben.“

Das waren Sätze, wie Lily sie während der vergangenen Jahre hundert Mal oder öfter gehört hatte. Stets hatte sie sich um Geduld bemüht. Heute jedoch regte sich ihr Widerspruchsgeist. „Gibt es nicht auch Vergnügen, die keineswegs sündig sind?“, gab sie zu bedenken. „Ist nicht Lady Ashfords Wohltätigkeitsbasar ein Versuch, das Gott Wohlgefällige mit dem Angenehmen zu verbinden?“

Einen Moment lang spiegelte das Gesicht ihres Begleiters Ablehnung und Verachtung wider. Doch dann begann Mr. Cooperage zu Lilys Überraschung zu lachen. „Ihre Unschuld ist erfrischend, Miss Beecham. Indes glauben Sie mir, die meisten Menschen in London würden ihr Geld lieber aus dem Fenster werfen, als damit unsere gute Sache zu unterstützen.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Nein! Ich bin davon überzeugt, dass …“

Sie überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte. Ihr Vater war ein fröhlicher, lebensbejahender Mann gewesen. Nie hatte er ihr vorgeworfen, dass sie manchmal eigenwillig, dabei aber allem Neuen gegenüber aufgeschlossen war. Nie hatte er sie mit diesem tadelnden Blick gemustert, der so typisch für ihre Mutter war. Er hatte mit ihr gelacht und gescherzt. Und dabei war er doch ganz gewiss ein gläubiger Mensch gewesen.

„… dass man sich von ganzem Herzen für die gute Sache einsetzen und trotzdem Freude am Leben haben kann“, vollendete sie ihren Satz.

„Freude am Leben?“, wiederholte der zukünftige Missionar fassungslos. „Meine liebe Miss Beecham, wir wandeln nicht auf Erden, um den Freuden des Lebens nachzujagen! Sie sollten wissen …“ Er unterbrach sich, warf einen kurzen Blick auf ihr Gesicht und wechselte das Thema. „Ich bin natürlich sehr dankbar für alles, was Sie und die anderen Damen heute getan haben, damit ich den armen, unwissenden Heiden in Indien das Evangelium bringen kann.“

„Sie warten gewiss voller Ungeduld darauf, Ihre Arbeit dort zu beginnen. Es muss wundervoll sein, diesen Menschen zu helfen. Außerdem werden Sie viel Neues erleben! Die fremde Kultur, die exotischen Landschaften, die seltsamen Sitten … Ich beneide Sie fast ein wenig.“

„Das sollten Sie nicht! Ich bin natürlich bereit, mich mit heidnischem Essen, schmutzigen Unterkünften und der zu erwartenden Einsamkeit abzufinden. Schließlich habe ich eine Aufgabe zu erfüllen! Aber ich würde niemals wollen, dass eine Dame die Gefahren und Unbequemlichkeiten einer solchen Reise auf sich nimmt.“

„Und wenn eine Dame die gleiche Berufung fühlt wie Sie? Oder halten Sie das für ausgeschlossen?“

„Es erscheint mir unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ihre Mutter beispielsweise scheint den Ruf gehört zu haben.“

Ihre Mama sollte berufen sein? Wozu?

„Meine Arbeit wird mich für etwa ein Jahr in Indien festhalten“, fuhr Mr. Cooperage fort. „Doch Mrs. Beecham hat mir versichert, dass es keine anderen Bewerber um Ihre Hand gibt und dass die Wartezeit nicht zu lang ist.“

Fassungslos starrte Lily ihn an. Sie war zutiefst schockiert. Ihre Mutter wollte den Missionar heiraten? „Sie haben um meine Mama angehalten?“, stieß sie hervor.

Er lachte. „Aber nein! Wie bescheiden Sie doch sind, meine Teure! Sie selbst sind es, die ich zur Gemahlin nehmen möchte.“

„Oh …“

„Ihre Frau Mutter hat bereits ihr Einverständnis gegeben.“

Lily stand wie versteinert. Nach dem Willen ihrer Mama sollt sie Mr. Cooperage ehelichen? Welch schreckliche Vorstellung! Ihr Leben würde noch unerträglicher werden, wenn sie die Gattin des Geistlichen wurde.

„Miss Beecham? Ist Ihnen die Wartezeit zu lang?“

Sie musste sich zwingen, Atem zu holen. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen. Sieben Jahre lang hatte sie sich bemüht, ihrer Mutter eine Stütze zu sein. Während all dieser Zeit hatte sie den größten Teil ihres wahren Wesens unterdrücken müssen. Musste sie nun auch noch all ihre Zukunftsträume opfern?

Sie machte einen Schritt nach hinten. Dann noch einen. Dass sie dadurch der Bordsteinkante gefährlich nahe kam, war ihr nicht bewusst. Sie wollte nur Abstand zwischen sich und diesen Mann legen, der ihr plötzlich so bedrohlich erschien.

„Vorsicht, Miss Beecham!“, rief Mr. Cooperage.

Sie trat noch weiter zurück. Dann plötzlich hörte sie lautes Pferdeschnauben und drehte sich um. Zwei Hengste, die einen Phaeton zogen, rasten auf sie zu. Die Tiere rollten mit den Augen und warfen die Köpfe hoch.

Lily stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

2. KAPITEL
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Jack Alden zog die Zügel mit solcher Kraft an, dass ein stechender Schmerz durch seinen verletzten Arm schoss. Trotzdem ließ er nicht locker. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dann brachte er Pettigrews bösartige Pferde – temperamentvoll, ha! – tatsächlich zum Stehen.

„Ich habe dir ja gleich gesagt, dass diese Tiere nichts für einen Verwundeten sind“, stellte sein Bruder Charles fest.

„Sei still!“, gab Jack gereizt zurück. „Verflucht, da steht eine Frau auf der Straße.“

„Sie sollte den Weg frei machen“, schimpfte sein Bruder. „Was starrt sie eigentlich an?“

Die Gestalt, die ihm den Rücken zukehrte, trug ein unförmiges braunes Kleid sowie ein hässliches Häubchen in derselben Farbe und hatte den Blick auf einen Punkt am Rande der Straße gerichtet.

„Vermutlich steht sie unter Schock. Schließlich hättest du sie fast überfahren.“

„Quatsch!“ Jack drückte Charles die Zügel in die Hand und sprang aus dem Phaeton. Neuer Schmerz durchzuckte seinen Arm. „Kümmere dich um die Pferde!“, blaffte er.

„Man bedauert übrigens bereits öffentlich, dass dir deine legendäre Gelassenheit abhandengekommen ist. Weißt du das eigentlich?“

Ein zorniger Blick war die Antwort. In diesem Moment wollte Jack gar nicht gelassen sein. Er war wütend. Und er hatte ein Recht darauf, wütend zu sein! Schließlich wäre diese dumme Person beinahe unter die Räder gekommen, und zwar ausgerechnet unter die Räder des Wagens, den er kutschierte!

Er konnte sie jetzt deutlicher sehen. Sie stand noch immer dort, wo sie eindeutig nichts zu suchen hatte: auf der Straße direkt vor Pettigrews Hengsten. „Madam!“, rief er und machte ein paar Schritte auf sie zu.

Außer ihm schien niemand sich besonders für die Frau zu interessieren. Die meisten Leute gingen einfach weiter. Nur ein rotgesichtiger Gentleman schaute zu ihr hin, ohne allerdings irgendetwas zu unternehmen, um sie auf den Bürgersteig zurückzuholen.

„Madam?“, wiederholte Jack.

Keine Reaktion.

„Wenn Sie sich das Leben nehmen wollen, indem Sie sich vor eine Kutsche werfen, dann suchen Sie sich dazu doch bitte den Wagen eines anderen Mannes aus. Ich habe diesen Phaeton nur ausgeliehen und würde ihn gern unbeschädigt zurückgeben.“

Sie schaute nicht einmal zu ihm hin.

„Ist Ihnen überhaupt klar, dass Sie nur knapp dem Tod entgangen sind? Kommen Sie!“ Er ergriff ihren Arm. „Sie können nicht hier auf der Straße stehen.“

Langsam wandte sie den Kopf und schaute Jack ins Gesicht.

O Gott, er wünschte, sie hätte das nicht getan!

Er war umgeben von schönen Dingen aufgewachsen und hatte gelernt, alles Schöne zu schätzen. Eine elegantes Möbelstück, eine antike Statue, ein modernes Landschaftsgemälde oder auch ein architektonisch gelungenes Gebäude konnte ihm tiefe Bewunderung entlocken. Das Gleiche galt auch für menschliche Schönheit – und diese Frau war schön! Mit ihren großen schieferblauen Augen, den rot-goldenen Locken, den sanft gerundeten Wangen, der samtenen Haut und der kleinen Nase, auf der sich ein paar Sommersprossen zeigten, entsprach sie genau dem englischen Schönheitsideal.

Und erst ihr Mund! Sein eigener wurde trocken, während er den ihren betrachtete. Sie hatte die Lippen einer Sirene, fein geschwungen, rosig, einfach hinreißend. Ihre volle Unterlippe bebte. In diesem Moment wurde Jack klar, was er da sah: ein Bild größten Kummers und beängstigender Verlorenheit.

Sein Herz begann schneller zu schlagen. Und entdeckte eine neue, unerwartete Seite seines Charakters. Bisher hatte er sich nie in der Rolle des Ritters in schimmernder Rüstung gesehen, der der bedrängten Jungfrau zu Hilfe eilte. Doch das von tiefem Unglück gezeichnete Gesicht dieser Unbekannten weckte ritterliche Gefühle in ihm. Wahrhaftig, nichts wünschte er sich plötzlich mehr, als sie zukünftig vor jedem Schmerz zu bewahren und all ihre Schlachten für sie zu schlagen.

Nein, er musste sich selbst gegenüber ehrlich sein. Etwas gab es, das er sich noch mehr wünschte: Er wollte diese vollen roten Lippen küssen!

Er schluckte, verstärkte den Druck seiner Finger auf ihren Arm und fand zurück in die Wirklichkeit. Bei Jupiter, noch immer standen sie mitten auf einer belebten Londoner Straße und hielten den Verkehr auf! Schon waren die ersten Beschimpfungen von ungeduldigen Kutschern zu hören. Pettigrews Pferde warfen nach wie vor unruhig die Köpfe hin und her. Ein schmutziger Kohlenträger war Charles zu Hilfe gekommen und hielt einen der Hengste am Zaumzeug fest. Auf dem Bürgersteig hatte sich eine Menge Neugieriger versammelt.

„Kommen Sie“, sagte Jack sanft zu der jungen Frau, die ihn nach wie vor nicht richtig wahrzunehmen schien, und zog sie von der Straße. Mit hölzernen Bewegungen folgte sie ihm, vorbei an dem rotgesichtigen Gentleman, der noch immer keine Anstalten machte, sich um sie zu kümmern. Aber vielleicht hatte er ja auch gar nichts mit ihr zu tun …

Lily war außer sich vor Entsetzen. Sie konnte nicht mehr klar sehen, und eine Stimme in ihrem Kopf schrie immer wieder den gleichen Satz: Dein Leben wird sich nie ändern, nie!

Sie hatte vergessen, dass sie vor Mr. Cooperage hatte fliehen wollen, der plötzlich alles, was ihr Glück bedrohte, zu verkörpern schien. Undurchdringlicher Nebel schien sie zu umgeben. Wie von weit her hörte sie Pferde schnauben und Menschen rufen. Sie spürte, wie jemand ihren Arm ergriff. Aber auch diese Berührung konnte sie nicht aus ihrer inneren Erstarrung reißen.

Es war die Stimme ihrer Mutter, die sie in die Gegenwart zurückholte. „Lilith!“, schrie Mrs. Beecham, die von Mr. Wilberforce’ Kutsche aus das Durcheinander bemerkt hatte und sich nun durch die Menge drängte. „Lilith, was ist passiert? Bist du verletzt?“

Zorn wallte in ihr auf und vertrieb den Nebel. Plötzlich nahm sie die vielen Augen wahr, die voller Neugier auf sie gerichtet waren. Sie sah, wie ihre Mutter auf sie zulief, und dann bemerkte sie auch den Gentleman, der ihren Arm umfasst hielt.

Unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, starrte sie ihn an. In diesem Moment kam die Sonne hinter den Wolken hervor, und ein Lichtstrahl fiel genau auf sein Gesicht. Ein sehr männliches Gesicht. Das Gesicht des Mannes, der sie gerettet hatte …

Lilys Herz begann zu rasen. Sie wusste, dass nur die abergläubische Seite ihres Wesens dafür verantwortlich war. Aber das änderte nichts an ihren Gefühlen. Ganz deutlich spürte sie die starke Bindung, die zwischen ihr und diesem Gentleman bestand.

Die Wolke wanderte weiter, und das Licht änderte sich. Doch noch immer starrte Lily den Fremden an. Er war groß und schlank. Er sah gut aus. Vielleicht ein bisschen wie ein Künstler, nicht so ordentlich wie die meisten Mitglieder der guten Gesellschaft. Sein Haar war leicht zerzaust. Sein rechter Arm schien verletzt zu sein, er trug ihn in einer Schlinge.

Hatte dieser Gentleman ihr nicht eben noch Vorwürfe gemacht? Sie konnte sich nicht genau erinnern. Jetzt jedenfalls schaute er freundlich drein. Aber auch irgendwie … hungrig. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, eines, das nur für sie bestimmt war. In seinen braunen Augen – nein, die Farbe war eine faszinierende Mischung aus Grün, Gold und Braun – lag eine überraschende Wärme. Und waren das nicht kleine Lachfältchen in den Augenwinkeln?

Es überraschte sie, wie viele Einzelheiten ihr in so kurzer Zeit aufgefallen waren. Noch mehr allerdings überraschte sie der Gesamteindruck, den diese Details bei ihr hinterließen. Dieser Mann kannte Glück und Schmerz, Leidenschaft und Selbstbeherrschung. Zu jenen, die es für eine Sünde hielten, Freude am Leben zu haben, gehörte er nicht.

„Lilith, was hast du dir nur dabei gedacht?“

Sie wandte den Kopf und starrte ihre Mutter wortlos an.

Die drehte sich erregt zu dem rotgesichtigen Gentleman um. „Mr. Cooperage?“

Der wurde noch röter. „Ihre Tochter steht dem, was wir kürzlich besprochen haben, wohl ablehnend gegenüber.“

„Oh!“ Mrs. Beecham presste die Lippen fest aufeinander.

Der zukünftige Missionar straffte die Schultern. Offensichtlich fiel es ihm nicht leicht, seinen nächsten Satz zu formulieren. „Wollen wir etwas zur Seite treten? Ihre Tochter möchte diesem Gentleman gewiss gern danken“, stieß er schließlich hervor.

Mrs. Beecham dachte gar nicht daran. Sie musterte Jack misstrauisch. „Mr. …?“

Er verbeugte sich. „Alden, Madam.“

„Mr. Alden, ich vertraue darauf, dass meine Tochter in Ihrer Gegenwart sicher ist?“

„Selbstverständlich.“

Die Menge begann sich zu zerstreuen, da offenbar keine weiteren aufregenden Dinge mehr zu erwarten waren. Auch Mrs. Beecham und Mr. Cooperage entfernten sich ein paar Schritte von Lily.

Diese schaute schweigend zu Jack auf.

„Ich gestehe, dass ich wirklich gern wüsste, ob Sie das wollen“, meinte der leise.

Seine Stimme jagte Lily einen heißen Schauer über den Rücken.

„Ich verstehe nicht …“

„Ob Sie mir wirklich dafür danken wollen, dass ich Sie fast überfahren hätte. Wissen Sie, ich war so unvernünftig, mit Pferden auszufahren, die ein wenig zu temperamentvoll für mich sind.“ Er schaute kurz auf seinen verletzten Arm. „Eigentlich sollte ich Sie um Vergebung bitten. Doch wenn Sie mir lieber danken wollen …“

Sie lachte. „O ja, ich möchte Ihnen danken.“

Er sah erstaunt drein. „Dann müssen Sie eine … seltsame junge Dame sein.“

Als er seinen Blick forschend über ihr Gesicht gleiten ließ, wurde ihr erneut heiß.

„Offen gesagt, die seltsamen jungen Damen sind die einzigen, die ich überhaupt ertragen kann“, gestand er lächelnd.

Im Gegensatz zu seinen scherzhaften Worten wirkte sein Lächeln … raubtierhaft. Ja, ein passenderes Wort gab es nicht. „Da stellt sich die Frage“, meinte Lily erstaunt über ihre eigene Schlagfertigkeit, „ob diese jungen Damen Sie ertragen können.“

„Hm … Vielleicht können Sie mich aufklären?“

Sie schwieg.

„Miss? Zu welcher Art von Damen gehören Sie?“

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Was für ein Mensch war sie? Wie lange war es her, dass sie sich diese Frage überhaupt gestellt hatte?

„Das weiß ich nicht“, gab sie wahrheitsgemäß zurück. „Doch ich denke, es ist an der Zeit, das herauszufinden.“

Ihre schieferblauen Augen, die eben noch gefunkelt hatten, waren nun wieder überschattet. Der Kummer war zurück. Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, ihn zu vertreiben, dachte Jack. Es fiel ihm in diesem Moment nicht leicht, Konversation zu machen. Die kurze Unterhaltung hatte ihn große Konzentration gekostet. Für eine weniger interessante Frau hätte er diese Anstrengung niemals auf sich genommen.

Es war schon überraschend genug, dass sie sein Interesse geweckt hatte. Denn in Bezug auf Frauen war er ein Zyniker. In seinen Augen gab es nur zwei Sorten: diejenigen, die für den Preis einer Nacht Gefühle heuchelten, und diejenigen, die die gleichen Gefühle heuchelten, um einen Mann für den Rest seines Lebens an sich zu binden.

Jack mochte Gefühle nicht besonders. Schon als Kind hatte er begonnen, nur auf seinen Verstand zu vertrauen. Das Wichtigste im Leben waren Logik und Vernunft. Aus diesem Grund verachtete er den gefühlsbetonten Menschen, zu dem er selbst sich während der letzten Wochen entwickelt hatte.

Natürlich wusste er, dass Gefühle zum Leben gehörten. Er hatte auch nichts gegen Empfindungen wie Verlangen oder Lust. Doch alles, was tiefer ging, war ihm unheimlich. So etwas mochte seinen Platz in der griechischen Tragödie haben. Aber in seinem Dasein hatte es nichts zu suchen. Er stand auf der Seite der Wissenschaft und verabscheute alles, was sich nicht logisch erklären ließ – wie zum Beispiel Gefühle.

Zu seinem Entsetzen hatte er jedoch seit einiger Zeit feststellen müssen, dass er unfähig war, stets vernünftig zu handeln. Seitdem, so glaubte er, müsse er besonders vor jenen auf der Hut sein, die sich von Emotionen beherrschen ließen. Bei Jupiter, gehörte nicht auch diese junge Frau zu ihnen? Hatte sie mit ihrem Verhalten nicht innerhalb kürzester Zeit die unterschiedlichsten Gefühle zum Ausdruck gebracht? Warum zog sie ihn trotzdem geradezu magisch an?

Jack unterdrückte einen Fluch. Er wollte wissen, ob diese warmen schieferblauen Augen auch kalt und abweisend blicken konnten. Er wollte herausfinden, ob diese Lippen nicht nur vor Kummer, sondern auch vor Verlangen beben konnten.

„Mr. Alden …“

Er fuhr zusammen. Wahrhaftig, von irgendwoher war die Countess of Ashford aufgetaucht. Er verbeugte sich. „Mylady!“

„… es wundert mich nicht, Sie in einen unerfreulichen Vorfall verwickelt zu sehen“, stellte sie fest. „Doch von Ihnen, Miss Beecham, bin ich enttäuscht.“

Beecham? Die junge Dame hieß Beecham?

„Es mag zwei oder drei Gentlemen in London geben, die es wert sind, dass man sich vor ihre Kutsche wirft“, fuhr die Countess fort, „Mr. Alden allerdings gehört nicht dazu.“

Niemand lachte.

Ehe das Schweigen allzu unangenehm werden konnte, gab es zum Glück eine neue Ablenkung. Der Wohltätigkeitsbasar schien halb London hergeführt zu haben. Jetzt drängte sich Lady Dayle, Jacks Mutter, durch die Menge. Ohne ihrem jüngsten Sohn auch nur einen Blick zu gönnen, schloss sie Miss Beecham in die Arme wie eine lang vermisste Verwandte. Sie flüsterte Lily sinnlose, aber irgendwie tröstliche Worte ins Ohr, ehe sie sich schließlich umdrehte und in vorwurfsvollem Ton sagte: „Jack Alden, ich wollte meinen Ohren nicht trauen, als ich hörte, dass du wieder einmal für Gerede gesorgt hast. Es heißt, du habest das arme Mädchen hier beinahe überfahren!“

Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch seine Mutter hatte gerade Charles entdeckt. Dieser hob grüßend die Hand, wagte es aber nicht, die noch immer unruhigen Pferde allein zu lassen.

„Charles ist auch in diese Sache verwickelt?“, stellte sie sichtlich enttäuscht fest. „Ihn hätte ich für vernünftiger gehalten.“ Damit wandte sie sich wieder Miss Beecham zu. „Liebes Kind, ich hoffe, Sie haben dieses Abenteuer unbeschadet überstanden?“ Besorgt legte sie Lily die Hand auf den Arm.

Jack bedauerte zutiefst, dass er der jungen Dame sein Mitgefühl nicht auf die gleiche Art zeigen konnte. Mrs. Beecham hingegen sah zornig aus. Und Lady Ashford schien der Angelegenheit langsam überdrüssig zu werden.

„Elenor“, wandte sie sich an Lady Dayle, die Lily immer noch an ihren Busen gedrückt hielt, „Sie beschwören eine weitere Szene herauf. Können Sie sich nicht etwas weniger auffällig benehmen? Himmel, die Leute recken schon wieder neugierig die Hälse. Es wäre mir lieber, wenn sie an unseren Ständen etwas kaufen würden.“

„Natürlich …“ Lady Dayle lächelte die Countess an.

Doch diese hatte ihre überheblichste Miene aufgesetzt und begann, reihum Befehle zu erteilen. „Mr. Cooperage, Sie kommen mit mir und begrüßen die Damen, die sich heute in den Dienst der guten Sache gestellt haben. Elenor, Sie sollten nachschauen, was mit dem Arm Ihres Sohnes los ist. Alle anderen widmen sich wieder ihren Aufgaben.“ Sie schaute zu Mrs. Beecham hin.

Autor

Deb Marlowe
Deb Marlowe wuchs im Bundesstaat Pennsylvania auf und hatte stets ihre Nase in einem Buch. Glücklicherweise hatte sie genug Liebesromane gelesen, um ihren eigenen Helden auf einer Halloween Party am College zu erkennen.
Sie heirateten, zogen nach North Carolina und bekamen zwei Söhne.
Die meiste Zeit verbringt Deb Marlowe an ihrem...
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