Auf dem Schloss der Versuchung

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Was kann Bibliothekarin Ginny nur tun, um den Schmerz über ihre gescheiterte Verlobung zu vergessen? Als der berühmte Kunsthändler Joss Beckett ihr anbietet, ihn als Gutachterin ins sagenumwobene Transsilvanien zu begleiten, ergreift sie die Chance auf ein Abenteuer. Bewacht von einem geheimnisvollen Butler, katalogisiert sie wertvolle Bücher im einsam gelegenen Schloss von Joss’ Familie – und entdeckt eine unbekannte leidenschaftliche Seite an sich. Wie magisch fühlt sie sich bald zu Joss hingezogen. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen?


  • Erscheinungstag 09.12.2025
  • Bandnummer 252025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751535274
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michele Renae

Auf dem Schloss der Versuchung

1. KAPITEL

Ginny Spencer saß allein auf dem Holzsteg am Strand der Insel Kreta und ließ ihre nackten Füße über dem kristallklaren Wasser baumeln. Auf der anderen Seite der Bucht schimmerten die Lichter der Bungalows des Resorts wie Glühwürmchen. Es war fast Mitternacht, und die Musik der Strandparty drang nur gedämpft zu ihr herüber.

Nachdem sie sich im Badezimmer des Bungalows ihrer Eltern das Hochzeitskleid heruntergerissen und eine Stunde lang geheult hatte, hatte Ginny tief durchgeatmet und entschlossen genickt. Dann hatte sie sich einen grün-rosa geblümten Kaftan ihrer Mutter übergezogen und versucht, sich der Realität zu stellen. Irgendwann war sie so weit von der Hotelanlage weggewandert, wie sie konnte. Und jetzt saß sie in einem quietschbunten Kaftan hier auf dem Holzsteg, den zur Unkenntlichkeit zerknautschten kurzen Brautschleier noch immer im Haar.

Nur ein paar Stunden zuvor hatte Ginny ein wunderschönes Hochzeitskleid getragen, um dem Mann das Jawort zu geben, mit dem sie ein Geschäft gegründet, ein halbes Jahr zusammengelebt und davor sechs Monate am College befreundet gewesen war. Keith Bonner war ihr Freund, Kollege, Mitbewohner, Partner. Keith Bonner war ein Dreckskerl.

Ginnys Brautjungfer Candy hatte es ihr fünf Minuten vor der Trauung gestanden. Letzten Monat hatte Ginny ihr von ihrem Verdacht erzählt, dass Keith sich heimlich mit einer anderen traf. Sie hatte nämlich Parfum an seinem Hemd gerochen, und Ginny trug nie Parfum, denn davon musste sie niesen. Und dann, kurz vor dem Gang zum Altar hatte Candy einen spitzen Schrei ausgestoßen und Ginny in das Ankleidezimmer gezogen. Keine hundert Meter entfernt ertönte bereits der Hochzeitsmarsch.

„Was ist los, Candy? Mein Dad wartet …“

„Ich kann das nicht. Dazu mag ich dich zu sehr.“ Candys lange Wimpern flatterten, und sie presste einen Finger unter ihr Auge, um eine unsichtbare Träne zurückzuhalten. Candy weinte grundsätzlich nicht, denn ein makelloses Gesicht war ihr wichtiger als dumme Gefühle.

„Wie meinst du das?“ Ginnys Kehle wurde ganz trocken. Ihr Herz raste.

„Ich bin es“, jammerte Candy händeringend und wippte nervös auf den Zehenspitzen. „Ich bin sie.“

„Welche sie?“

Ihre Freundin benahm sich seltsam. Vorhin, als sie Ginnys Halbschleier feststeckten, hatte Ginny gesagt, dass es eigentlich dumm von ihr war, einen Mann zu heiraten, dem sie nicht vollkommen vertraute. Daraufhin hatte Candy sie versehentlich mit einer Haarklammer gestochen und genauso nervös auf ihren Zehenspitzen herumgewippt wie jetzt. Schlagartig wurde Ginny alles klar. „O nein. Nicht …“

Ihre beste Freundin schlief mit ihrem Verlobten? Dem Mann, den sie in weniger als fünf Minuten heiraten wollte? Demselben Mann, dem sie ein Jahr ihres Lebens geopfert hatte? Sie hatte Keith bei seinen manischen nächtlichen Codierungsmarathons unterstützt, bei denen er sich im Büro einschloss, um die Bibliotheks-App zu entwickeln, die sie erdacht hatte. Sie hatte sogar einen gut bezahlten Job in der Zentralbibliothek von Minneapolis ausgeschlagen, weil Keith darauf beharrt hatte, dass er sie bei sich brauche, in der Kleinstadt Sunwick, an seiner Seite, als Partner fürs Leben. Und als er ihr einen Antrag machte – es war streng genommen kein richtiger Antrag gewesen –, hatte es sich wie der natürliche nächste Schritt angefühlt. Was eine harmoniesüchtige Bibliothekarin, die es anderen immer recht machen wollte, eben so tat.

Ginny schlug den Brautstrauß gegen einen Stuhl, sodass Blütenblätter herumflogen.

„Nicht!“, protestierte Candy. „Die schönen Rosen …“

Sie erstarrte, als Ginny drohend den Strauß hob. Doch Ginny war nicht gewalttätig, sie war Bibliothekarin durch und durch: freundlich, ruhig und sanftmütig. Und normalerweise auch humorvoll.

„Nicht heute“, flüsterte Ginny und tauchte ihre Zehen in das klare Meerwasser. „Verräterin!“, beschimpfte sie ihre ehemals beste Freundin.

Ginny war mit dem lädierten Blumenstrauß wütend aus dem Ankleidezimmer gerauscht. Vor ihrem Dad hatte sie ihre Tränen niedergekämpft und tapfer den Kopf geschüttelt. „Das hier findet nicht statt“, sagte sie zu ihm und marschierte auf den blumengeschmückten Torbogen zu, wo der Standesbeamte und Keith warteten. Angesichts ihrer untypischen Wut hatte Keith verblüfft den Mund aufgesperrt. In einem Anflug uncharakteristischen Mutes war Ginny auf das Podium gesprungen, hatte Keith den Blumenstrauß vor die Brust geschlagen und geschrien: „Betrüger!“

Dieser Ausbruch hatte die Wahrheit zwar nicht weniger schmerzlich gemacht. Doch es hatte sich gut angefühlt, ihm mit den Blumen eins überzuziehen. Andererseits wussten nun alle, dass sie betrogen worden war. Ginny war in den Bungalow ihrer Eltern geflohen. Und Keith, dieser Mistkerl! Er hatte versucht, zu ihr zu kommen, aber ihr Dad hatte ihm die Tür verstellt. Dann hatte er sie mit Nachrichten bombardiert, bis sie ihr Handy ausstellte.

Später hatte Ginny auf Beharren ihrer Mutter ein Stück Hochzeitstorte gegessen – sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, um in das maßgeschneiderte Kleid zu passen –, und eine Tasse Tee getrunken. Doch sie spürte, dass sie allein sein musste. Ihre Eltern verstanden es. Sie besorgten Ginny einen anderen Bungalow, in dem sie für sich sein konnte. Am nächsten Morgen wollten sie gemeinsam versuchen, die Flitterwochen erstattet zu bekommen und die Heimflüge nach Minnesota umzubuchen. Der Tag war ein Desaster.

Während sie Keith Bonner leise als Idioten beschimpfte, zog Ginny einmal mehr an dem zerknautschten kurzen Schleier auf ihrem Kopf, doch ihre Haare hatten sich unentwirrbar an den Strasssteinen entlang der Kante verheddert. Grollend gab sie den Versuch auf, sich zu befreien. Dass ihre beste Freundin seit der Highschool ihr so etwas antun konnte!

„Ich bin so ein … Stultissimus!“ Nach einer beschämenden Niederlage in einem Buchstabierwettbewerb in der dritten Klasse hatte Ginny angefangen, skurrile und interessante Wörter zu sammeln, besonders lateinische Wörter hatten es ihr angetan. „Stultissimus“ war eine passende Beschreibung für ihren Mangel an Verstand und Urteilsvermögen, zudem klang es viel schöner als „Dummkopf“!

Ginny zog den Verlobungsring ab, auf den Keith so stolz gewesen war. Zehn Riesen habe er gekostet. Er erzählte anderen gern, wie viel er besaß, und erwartete, dass sie ihn dann ansahen, als wäre er wichtig. Sie war stolz auf ihn gewesen. Als freiberuflicher Programmierer verdiente er eine sechsstellige Summe pro Jahr. Das meiste davon investierte er in Bitcoin, sodass das Geld nicht direkt verfügbar war. Doch sie hatte sich auf ein zufriedenes Leben mit einem mittleren Einkommen und einem einigermaßen gut aussehenden Mann gefreut, der sie liebte, auch wenn er das L-Wort nie aussprach. Aber jeder hatte seine Schwächen. Keith hatte auch ihre akzeptiert. Obwohl sie es kaum als Schwäche bezeichnen würde, eine begeisterte Leserin zu sein!

Sie warf den Ring so weit sie konnte aufs Wasser hinaus, wo er mit einem leisen Plop versank. Gemeinsam mit ihrem Herz. Am Altar verlassen. Sie kam sich vor wie die Heldin eines zweitklassigen Films, die von einer Bestie, die unglückliche Jungfrauen jagte, in die Tiefe gezogen werden würde. Aber sie war keine Jungfrau. Und sie würde sich von alldem nicht in die Tiefe ziehen lassen.

Ginny Spencer war kein Schwächling. Zumindest wollte sie das nicht sein. Ja, sie war ein People-Pleaser. Sie sagte viel zu oft: „Wie du willst!“ Doch damit war jetzt Schluss. Sie hatte genug davon, zu nicken und zuzustimmen, obwohl ihr Herz sie anflehte, etwas zu sagen oder wegzurennen. Sie würde … umschwenken. Das Leben hatte ihr einen üblen Knüppel zwischen die Beine geworden. Ihr Herz war gebrochen. Sie würde … Seufzend murmelte sie: „Mir fällt schon etwas ein.“

Ihre Eltern hatten ihnen eine Woche Urlaub im Resort als Hochzeitsgeschenk gebucht. Würde Keith bleiben? Mit Candy? Trotz der warmen Sommerluft schauderte Ginny. Am liebsten wäre sie ins Wasser gesprungen und darin einfach versunken. Doch dann erblickte sie etwas, was sich unter Wasser auf sie zu bewegte. Die Solarleuchten am Rand des Stegs erzeugten einen goldenen Schimmer auf dem Wasser. Da! Etwas tauchte direkt vor ihr auf. Ginny schrak zurück. Ihr Schrei blieb ihr im Halse stecken, sie kiekste nur. Doch es war keine Bestie aus der Tiefe, sondern ein Mann im Taucheranzug. Er hielt ihr etwas entgegen. Angestrengt blickte sie auf das glänzende Etwas in seiner Hand. „Ist das Ihr Ernst?“

Joss Beckett zog sich auf den Steg hoch, setzte sich und nahm seine Taucherbrille ab. Als er den Kopf schüttelte, spritzten Wassertropfen umher. Er wandte sich der Frau zu und bot ihr noch einmal den Ring an. „Ich glaube, den haben Sie fallen lassen.“

Verdutzt sah sie zwischen dem Ring und seinem Gesicht hin und her. Dann schaute sie auf das dunkle Meer, wahrscheinlich zu der Stelle, an der sie den Ring im Wasser versenkt hatte. „Soll das ein Witz sein?“

„Haben Sie den nicht in die Bucht geworfen?“

„Doch.“ Perplex nahm sie ihm den Ring ab.

Er war genau dort gelandet, wo Joss tauchte. Aufgeregt hatte er das Glitzern gesehen und geglaubt, es wäre das, was er suchte, doch es war kein Armband.

Die Frau, in deren langen braunen Haaren ein weißer Netzstoff mit glitzerndem Rand verheddert war, fragte: „Warum tauchen Sie im Dunkeln?“

„Eine Freundin hat bei einer Party letzte Woche etwas auf dem Grund dieser Bucht verloren. Ich wollte es suchen.“

„Mitten in der Nacht?“

Er zuckte die Achseln. Im Dunkeln zu tauchen war nicht ungewöhnlich für ihn. „Ich hatte Zeit. Mein Flug geht erst morgen früh. Ich bin Joss.“ Er streckte die Hand aus. Sie starrte auf seine nasse Hand. Und rutschte von ihm weg. Ihre Augen waren dunkel, aber strahlend, und sie hatte einen winzigen Leberfleck an der Wange. Er war niedlich. Alles an ihr, eingehüllt in einen weiten blumigen Überwurf, bis hin zu ihren rot lackierten Zehennägeln war niedlich.

„Ich heiße Ginny“, antwortete sie schließlich. „Und ich habe den Ring aus gutem Grund ins Wasser geworfen.“

„Wenn Sie ihn nicht wollen, können Sie ihn auch verkaufen. Dafür bekommen Sie bestimmt einen knappen Riesen.“ Ihr erstaunter Blick sagte ihm, dass sie ihn für wertvoller gehalten hatte. Was sollte er dazu sagen? Der kleine Diamantsplitter konnte nicht viel wert sein. Er öffnete seinen Anzug und zog seine Schultern heraus. Dann hörte er die leise Musik.

„Im Resort soll es heute eine Hochzeit geben“, bemerkte er.

„Gab es auch. Fast.“

„Stimmt. Die Braut soll am Altar verlassen worden sein.“

„Ich wurde nicht …“ Sie zeigte auf den zerknautschten Netzstoff in ihrem Haar. „Das ist ein Brautschleier. Etwas Einfühlungsvermögen, bitte.“

Das war das Ding also, ein Brautschleier. Es sah aus, als wäre es in einen Kampf geraten. Doch was wusste er schon über Frauen und ihre Frisuren? „Sie? Wer lässt eine so hübsche Frau am Altar stehen?“

„Ich wurde nicht stehen gelassen. Ich habe ihn stehen lassen. Mein Verlobter hat meine Brautjungfer gevögelt.“

Joss pfiff leise. „Was für ein Trottel. Der Typ muss aber besonders dämlich sein.“

„Wohl war!“ Ginny überkreuzte ihre Beine unter dem voluminösen Kaftan und beugte sich vor. Im Schein der Solarleuchten glühte ihr Gesicht wie das einer Göttin. „Und wieso suchen Sie in dunklen Gewässern nach Schätzen?“

„Ich bin Kunsthändler.“

„Hmm …“ Ginny tippte sich an die Unterlippe. „Das deckt sich nicht mit meiner Definition eines Kunsthändlers.“

„Dann ist Ihre Definition falsch.“

„Ich glaube nicht. Ich bin Bibliothekarin, Wörter sind mein Fachgebiet.“

„Bibliothekarin? Nett.“ Und es wäre ein glücklicher Zufall, wenn sie ein gewisses Talent hätte. „Erstellen Sie auch Wertgutachten für Bücher?“

Ihre Augen leuchteten auf. „Ich bin als Gutachterin für seltene Bücher zertifiziert. Aber wieder zu Ihnen und der Frage, was Tauchen mit Kunst zu tun hat.“

Er zog seinen Reißverschluss bis zu den Hüften herunter und streifte den klebrigen Anzug ein Stück herunter. Ginnys Blick wanderte über seine Brust und seinen Bauch. Ziemlich unverhohlen, aber Joss hatte nichts gegen anerkennende Blicke. „Ich mache die Feldforschung für unsere Firma“, sagte er. „Ich erlebe die Abenteuer. Suche nach verschollener Kunst. Grabe Piratenschätze aus. Solche Dinge.“

Er setzte sich vor sie auf den Steg und lockerte seine Schultern und Arme. Okay, er gab vor ihr an.

„Letztes Jahr habe ich mit einer Boa constrictor gerungen, als ich nach einer Amphore suchte, die Gold aus der präkolumbischen Zeit enthalten sollte“, fügte er beiläufig hinzu. Es war normaler Arbeitsalltag für ihn gewesen. Durch die abenteuerlichen Projekte fühlte er sich lebendig. Zudem ersparten sie ihm lästigen Papierkram. Doch sein nächster Job würde ihm buchstäblich die Lebenskraft aussaugen. Er wollte morgen nicht nach Transsilvanien reisen. Die Gutachterin, die ihm helfen sollte, hatte kurzfristig wegen ihres Mutterschaftsurlaubs abgesagt. Normalerweise hätte er den Auftrag gestrichen, doch seine Mutter hatte ihn eindringlich gebeten, ihn so schnell wie möglich zu erledigen.

„Warten Sie mal.“ Ginny musterte ihn. Das passierte ihm öfter. Ein neugieriges Lächeln. Funkelnde Augen. Der erstaunt aufgerissene Mund, wenn sie ihn erkannten. „Sie sind der Typ aus dieser Kunstsendung. ‚The Art Guys‘!“ Er nickte. „The Brain, The Brawn und The Face!“, zitierte sie die Spitznamen, die die Produzenten den drei Männern verpasst hatten – der Kopf, die Muskeln und das Gesicht. „Meine Eltern lieben diese Sendung. Ich gucke sie immer mit, wenn ich sie zum Essen besuche. Was nicht oft vorkommt. Das heißt …“ Sie reckte das Kinn. „Ich bin nämlich sehr beschäftigt. Ich habe Freunde. Ich muss meine Abende nicht bei meinen Eltern verbringen, Lasagne essen und fernsehen.“ Sie winkte abfällig ab. „Ich habe doch richtig geraten, oder?“

„Ja, Joss Beckett. Schön, Sie kennenzulernen, Ginny.“

„Ebenso. Sie sind also The Brawn.“ Sie nickte und musterte unverhohlen seine Bauchmuskeln. „Ich verstehe, warum. Sie sehen wirklich sehr gut aus. Inklusive Waschbrettbauch.“

Er lachte. Die meisten Frauen waren subtiler, doch der auffällige Blümchenkaftan ließ erahnen, dass sie wohl keine durchschnittliche mausgraue Bibliothekarin war. Er lehnte sich zurück und stützte sich mit den Händen ab. „Dann haben Sie wohl keinen Grund zum Feiern? Nicht einmal, dass Sie den untreuen Verlobten los sind?“

„Nein. Und ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll. Eigentlich sollte ich hier meine Flitterwochen verbringen.“

„Es ist ein sehr schönes Resort.“

„Nicht, wenn es der Bräutigam vermutlich gerade mit der Brautjungfer treibt.“

„Autsch.“ Joss schnaubte. „Soll ich ihn für Sie verprügeln?“

Ginny lachte so ungezwungen, dass Joss die Hoffnung hatte, dass dieser Albtraum ihr nicht zu sehr zusetzte. „Ich hätte nie gedacht, dass mir solch ein Angebot gefallen könnte. Kann ich darüber nachdenken?“

„Abgemacht. Dann fahren Sie wieder nach Hause? Wo ist das?“

„Sunwick. Eine Stunde nördlich von Minneapolis. Ich habe mit Keith zusammengewohnt.“

„Keith ist der potenzielle Empfänger meiner Faust?“

Ginny nickte. „Keith Bonner, Dreckskerl der Extraklasse.“

Joss lachte. Ginny seufzte und betrachtete den Ring. „Blödes Ding!“ Sie schleuderte ihn zurück ins Wasser. Joss riss die Augen auf. Sie zuckte nur die Achseln. „Das musste sein.“

Arme Frau. Vermutlich wäre jetzt eine Umarmung angebracht gewesen, doch mit nacktem Oberkörper und so kurz nach ihrer ersten Begegnung war das wohl kaum angemessen. Außerdem war er kein Meister der Empathie. Obwohl er liebend gern ihr Haar berührt und den verknoteten Schleier gerichtet hätte. Nur um zu sehen, ob ihre Haare so weich waren, wie sie aussahen. Und um ihre großen traurigen Augen wieder zum Leuchten zu bringen.

„Abgesehen von meinem Ring, haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?“, fragte sie.

„Nein.“ Was nicht weiter schlimm war, seine äußerst wohlhabende Bekannte würde sich einfach ein neues Armband kaufen. „Mein Flug geht früh am Morgen. Ich muss für heute aufhören. Wenn Sie nicht nach Minnesota zurückwollen, wohin dann?“

„Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht mal in der Bibliothek verstecken, weil ich zwei Wochen Urlaub genommen habe.“

„Stimmt, Sie sind ja eine Bibliothekarin.“ Welch ein unfassbares Glück, jemanden zu treffen, dessen Fachgebiet Bücher waren! Das Universum hatte sie ihm geschickt. Das konnte er nicht ignorieren.

„Ich weiß, superlangweilig“, sagte sie. „Ein totales Klischee. Dazu bin ich noch ruhig und eine graue Maus.“

„Sie wirken nicht wie eine graue Maus auf mich! Bestimmt haben sie auch eine abenteuerliche Ader!“

„Klar.“ Sie zuckte die Achseln. „Am liebsten verirre ich mich in der Abteilung für Reiseliteratur.“

„Ich würde Sie finden.“

„Ach ja?“ Sie entspannte sich, und er spürte, wie sich ihre Stimmung hob. „Sie waren bestimmt schon überall auf der Welt. Das hier ist meine erste Reise außerhalb der USA. Und sehen Sie, was sie mir eingebracht hat.“ Sie zog wieder an ihrem zerknüllten Schleier. „Dummes Ding!“ Sie stützte das Kinn auf ihr Knie. „Wohin reisen Sie als Nächstes?“

„Morgen fliege ich nach Transsilvanien.“

„Wo Dracula lebt?“

„Ähm … vielleicht? Aber sollten Sie als Bibliothekarin nicht wissen, dass der Typ fiktiv ist?“

„Natürlich weiß ich das.“ Beruhigend klopfte sie ihm auf den Arm. Dann hielt sie inne, ihre Finger erwärmten seine Haut. Das musste die intimste Berührung sein, die er in letzter Zeit von einer Frau bekommen hatte. Tröstend, forschend, sinnlich und vorsichtig zugleich.

Joss hatte seit Jahren keine Langzeitbeziehung mehr gehabt. Nachdem er bekannt geworden war, hatte er schnell gemerkt, dass die meisten Frauen nur wegen seines Erfolgs und Geldes an ihm interessiert waren. Nicht, dass er einer hübschen Frau nicht gern etwas spendierte, aber den Sugardaddy zu spielen machte auf Dauer keinen Spaß. Ruckartig zog Ginny ihre Finger weg, doch die zarte Berührung hatte sich gut angefühlt.

„Sie sagten, Sie nehmen Wertgutachten vor?“, fragte Joss.

„Ich kann den Wert eines Buches mit etwas Recherche und ein paar Onlinekontakten bestimmen.“

„Klingt nach einer nützlichen Fähigkeit.“

„Nicht so nützlich, wie Sie denken. Zumindest nicht in einer kleinen Bibliothek, deren Budget so gering ist, dass wir unsere Bücher oft aus zweiter Hand beschaffen müssen.“

„Verstehe. Aber Praxiserfahrung wäre hilfreich?“

„O ja. Nur so kann ich lernen und mich verbessern. Aber leider …“

Joss konnte etwas für diese traurige, niedliche Frau tun. Und sich selbst jede Menge Kummer ersparen. Zudem ignorierte er nie einen Wink des Schicksals. „Ich hätte da eine Idee. Das Ganze könnte eine echte Win-win-Situation sein! Und zwar … Würden Sie gern mit mir nach Transsilvanien kommen?“

Sie zeigte erstaunt auf sich. Sah sich auf dem leeren Steg um. Hinter sich. Sah ihn fragend an.

„Ja, Sie“, wiederholte er. „Ich brauche nämlich Hilfe. Es geht um die Bewertung einer Bibliothek in einem alten Schloss. Die Gutachterin der Art Guys hat heute ein Baby bekommen und kann nicht mitkommen. Ich wollte die Sache schon abblasen, aber … Es ist wichtig.“ Zumindest war es das für seine Mutter. „Wenn Sie die Sendung kennen, wissen Sie, dass mich Bücher am wenigsten interessieren. Ich mag Abenteuer, die Herausforderung, das Unbekannte.“

„Ja. Wieso wurden Sie dann auf Bücherpatrouille geschickt?“

„Das Schloss gehört meinem Onkel, der es im Herbst verkaufen will. Die Buchsammlung gehört meinem Vater, der … Er hat Demenz. Meine Mutter hat mich gebeten, die Aufgabe zu übernehmen.“

„Tut mir leid wegen Ihres Vaters. Verkaufen ihre Eltern die Bücher, um Geld für die Pflege zu bekommen?“

Joss schüttelte den Kopf. „Mum meint zwar, sie braucht das Geld dafür, aber davon will ich nichts hören. Ich sorge gern für meine Eltern. Das habe ich schon, seit The Art Guys erfolgreich wurde. Aber in der Sammlung gibt es ein bestimmtes Buch, das ich für Dad suchen soll. Deshalb konnte ich nicht Nein sagen.“

„Sie sind ein guter Sohn.“

Laut seinem Dad eher nicht. Joss und Breck Beckett hatten ein angespanntes und distanziertes Verhältnis. Schon seit Joss ein Kind war. „Du bist dumm, Junge“, hatte sein Vater oft gesagt. „Werde Handwerker! Nur so kannst du überleben.“ Joss hatte sich das Wort „dumm“ so zu Herzen genommen, bis es zu einem Teil von ihm geworden war …

„Also, was halten Sie davon, meine Assistentin zu sein? Wollen Sie das Chaos hier hinter sich lassen und in ein neues Abenteuer aufbrechen? Ich weiß, es kommt plötzlich und ist eine große Bitte.“

„Sehr plötzlich. Sehr große Bitte.“

Joss stand auf und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Er war einen Kopf größer als sie. Der Wunsch, sie in die Arme zu ziehen, war überwältigend, doch er tat es nicht. Ein fremder Mann, der aus den Tiefen auftaucht, nimmt unvermittelt eine Frau in die Arme und drückt sie? Er wollte nicht, dass sie schreiend davonlief.

„Denken Sie darüber nach, und treffen Sie mich morgen am Eingang des Resorts, wenn Sie mitkommen wollen.“

„Wann reisen Sie ab?“

Zog sie sein Angebot in Betracht? Er hoffte es sehr, denn ohne Hilfe würde er die Sache mit den Büchern nie schaffen! Außerdem wollte er zu gern das süße Mädel mit dem erfrischenden Lachen und den traurigen Augen besser kennenlernen.

„Um fünf Uhr morgens. Jetzt ist es …“ Er sah auf die Uhr. „Halb eins. Sie haben also noch ein paar Stunden, um es sich zu überlegen. Ich würde mich freuen. Ich brauche Ihre Hilfe. Außerdem“, er berührte den verwüsteten Schleier und strich ihr dann sanft über die Wange, „mag ich Sie.“

„Sie mögen mich?“ Ihre Anspannung wich. Ein Lächeln tauchte langsam auf, wollte wieder verschwinden und beschloss dann, still weiterzuexistieren. „Verstehe. Sie haben Mitleid mit der verstoßenen Braut.“

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