Bianca Exklusiv Band 396

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VERRÜCKT NACH MR. PERFECT! von KAREN TEMPLETON

Männer sind für Emily nach ihrer geplatzten Hochzeit tabu … bis der verwegen attraktive Colin Talbot sie auf der Ranch ihrer Cousine wieder zum Lachen bringt. Mit ihm fühlt sie sich wie in einem neuen Leben. Aber kann der rastlose Fotojournalist ihr geben, wonach sie sich sehnt?

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  • Erscheinungstag 03.01.2026
  • Bandnummer 396
  • ISBN / Artikelnummer 9783751538176
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karen Templeton, Brenda Harlen, Wendy Warren

BIANCA EXKLUSIV BAND 396

Karen Templeton

1. KAPITEL

Die junge Frau, die auf der anderen Seite des Gepäckbandes stand, hatte ihn schon eine ganze Weile gemustert. Die blasse Stirn hatte sie dabei in Falten gelegt. Viel zu groggy, um sich darüber Gedanken zu machen oder ihr Interesse zu erwidern, sollte es ihr darum gehen, konzentrierte sich Colin auf sein Handy, während er gedankenverloren die hartnäckige Verspannung in seinem Nacken wegzumassieren versuchte. Eigentlich war sein ganzer Körper eine einzige Schmerzzone nach zwei Tagen, die er entweder im Flugzeug verbracht oder auf eines gewartet hatte …

„Ähm … Colin? Colin Talbot?“

Instinktiv griff er nach seiner Fototasche und schaute plötzlich in ein paar wachsame himmelblaue Augen, die er, da war er sich ziemlich sicher, nie zuvor gesehen hatte. Offenbar war er noch erschöpfter, als ihm bewusst gewesen war. Sonst hätte sich ihm die Frau wohl kaum unbemerkt nähern können.

Quietschend und ächzend setzte sich das Gepäckband in Bewegung. Die Koffer und Taschen aus dem Bauch des Flugzeugs fielen jetzt wie ein Haufen schläfriger Betrunkener auf die Rutsche. Die Wartenden traten näher, bereit, die Mitreisenden beiseitezuschieben, um an ihr Gepäck zu kommen. Viele von ihnen trugen die üblichen Cowboyhüte und ausgelatschten Stiefel, die man in New Mexico so häufig sah. Colin warf einen Blick auf das Ende des Gepäckbandes und wartete mit müdem Blick auf seine schäbige Reisetasche, ehe er die junge Frau erneut anschaute. Mist. In seinem Kopf dröhnte es.

„Kennen wir uns? Ich bin mir nicht sicher …“

„Ich war noch ein Kind, als ich dich das letzte Mal gesehen habe“, antwortete sie amüsiert. Ihre Lippen schimmerten ebenso wie das lange wellige Haar, dessen Farbe zwischen Blond und Braun tendierte. „Als ich die Ranch besucht habe.“ Sie schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, und sein Blick fiel auf einen goldenen Armreif und den Saum ihrer Bluse, der bei dieser Geste aus ihrer engen Jeans rutschte und einen Streifen ihrer schmalen Hüfte entblößte. Neben dieser Gestalt kam sich Colin wie der letzte Penner vor. Wahrscheinlich roch er auch so, denn sein Sitznachbar hatte sich auf der letzten Etappe des Fluges von Dallas so weit wie möglich von ihm ferngehalten.

Wieder lächelte sie – ein Lächeln, das ihre Augen allerdings nicht erreichte. Sie legte sich nun eine perfekt manikürte Hand auf die Brust. „Emily Weber? Deannas Cousine?“

Deanna. Die neue Frau seines jüngeren Bruders Josh. Und die Tochter von Dads altem Chef. Jetzt erinnerte sich Colin dunkel an die schlaksige Schülerin, die in einem Sommer vor mehr als zehn Jahren ein paar Wochen auf der Vista Encantada Ranch verbracht hatte. Dunkel deswegen, weil er bereits auf dem College gewesen war und sie nicht viel miteinander geredet hatten. Wenn überhaupt. Vor allem wegen des Altersunterschieds. Dass sie ihn nach all den Jahren noch erkannte …

„Ach ja, richtig.“ Colin zwang sich zu einem Lächeln, was ihm wegen seiner Kopfschmerzen allerdings nicht leichtfiel. „Du siehst ganz anders aus, als ich dich in Erinnerung habe.“

In ihren Augen blitzte es amüsiert. „Du auch.“

Er verlagerte jetzt das Gewicht seines Rucksacks. „Woher wusstest du denn, dass ich es bin?“

Sie errötete leicht. „Zuerst habe ich dich nicht erkannt. Vor allem mit dem Bart. Aber es ist schwer, den größten Mann im Raum zu übersehen. Dann habe ich die Fototasche bemerkt und mich an die Bilder erinnert, die bei deinen Verwandten im Haus hängen, als ich vor ein paar Monaten zu der Hochzeit dort war. Joshs Hochzeit, meine ich.“ Sie grinste. „In letzter Zeit hat es davon in deiner Familie ja mehrere gegeben.“

In der Tat waren seine Brüder offenbar einer regelrechten Hochzeitsmanie verfallen. Erst Levi, dann Josh – seine jüngeren Zwillingsbrüder –, und demnächst würde auch noch Zach, der Älteste, zum zweiten Mal heiraten …

„Jedenfalls schienen alle Puzzlestücke zu passen, sodass ich dich einfach kurzerhand angesprochen habe. Wahrscheinlich hast du dich gefragt, wer dich da gerade anzubaggern versucht.“

Erneut schaute Colin zum Gepäckband. „Der Gedanke ist mir überhaupt nicht gekommen.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie nun ihre flachen Schuhe betrachtete. „Verrückt, nicht wahr?“ Sie schaute wieder hoch, allerdings immer noch nicht zu ihm. „Dass wir beide seit Albuquerque im selben Flugzeug gesessen haben …“

„Ja.“

Auf einmal klang sie ein wenig verzagt. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht belästigen. Ich habe mir nur gedacht, dass es etwas merkwürdig wäre, nicht Hallo zu sagen, nachdem ich dich erkannt habe. Vor allem, weil wir vermutlich gleich beide zur Ranch fahren wollen.“ Wieder wurde sie rot. „Oder nicht?“

Colin schloss die Augen, als ob dies ihren Redefluss unterbrechen könnte. Er war wirklich erschöpft und hungrig und hatte überhaupt keine Lust auf SmallTalk, vor allem nicht mit einer so chic gekleideten und ausgesprochen geschwätzigen Frau, an die er sich kaum erinnern konnte und der offenbar nichts peinlich war. Trotzdem kam er sich wie ein Esel vor, weil er so abweisend reagierte. Sein Vater hätte ihm jetzt etwas erzählt. Von seiner Mutter mal ganz zu schweigen.

„Doch.“ Jetzt riskierte er sogar einen Blick in ihre Augen … und auf ihren Mund, den sie etwas missbilligend verzogen hatte. Einen Mund, der ihn unter anderen Umständen – aber wer weiß, unter welchen – bestimmt auf ziemlich dumme Gedanken hätte bringen können. „Entschuldige bitte. Es war ein wirklich anstrengender Flug. Jedenfalls teilweise.“

Obwohl er lange nicht so anstrengend wie die Wochen und Monate zuvor gewesen war.

Emily schaute wieder besänftigt. „Woher kommst du denn gerade?“

„Aus Serbien.“

Ein kurzes Schweigen entstand. „Wieso habe ich das Gefühl, dass ich es bei dieser Frage belassen sollte?“

Um seine Mundwinkel herum zuckte es. „Weil du so gut Gedanken lesen kannst?“

Sie verzog das Gesicht. „Von wegen …“ Er schaute ihr in die Augen und glaubte, dort etwas Schmerzhaftes in ihrem Blick erkennen zu können. „Andererseits … einige Gedanken sind nun einmal leichter zu lesen als andere.“

Nein, er würde nicht nach diesem Köder schnappen. Selbst wenn er genau gewusst hätte, um was für einen Köder es sich handelte. Er verschränkte die Arme über seiner Jeansjacke, die noch abgewetzter aussah als seine Reisetasche. Diese war übrigens immer noch nicht auf dem Gepäckband aufgetaucht. „Bist du in Washington zugestiegen oder in Dallas?“

„In Washington.“

„Und keiner holt dich ab?“

„Es war ein Last-minute-Flug. Deshalb habe ich Dee gesagt, ich würde mir einen Wagen mieten, damit ich ihr oder Josh die fünf Stunden Fahrt erspare. Sie haben schließlich schon genug mit den Kindern und der Ranch zu tun. Außerdem kenne ich ja den Weg.“ Sie schaute ihn wieder an. „Und was ist mit dir?“

„Sie wissen gar nicht, dass ich hier bin.“

„Ach so.“ Sie musterte ihn mit einem fragenden Blick, dann trat sie einen Schritt nach vorn. „Da kommt einer meiner Koffer.“

„Welcher ist es denn?“

„Der Metallkoffer mit dem pinkfarbenen Gurt. Und da sind auch die beiden anderen. Aber du brauchst dich nicht …“

„Kein Problem“, sagte Colin und wuchtete die drei Hartschalenkoffer vom Band. Grau mit pinkfarbenen Gurten. Ausgefallen und zweifellos teuer. Verstohlen musterte er sie noch einmal … die Kleidung, die Haare und die Fingernägel. Der Duft ihres Parfüms stieg ihm ebenfalls in die Nase.

Ein reiches Mädchen, flüsterte eine Stimme in seinem Ohr, und er erinnerte sich daran, dass die Mutter seiner neuen Schwägerin aus einer berühmten Ostküstenfamilie stammte. Eigentlich war sie die Tante, sie hatte sie nach dem Tod von Deannas Mutter bei sich aufgenommen und war nicht gerade glücklich darüber gewesen, dass ihre einzige Nichte einen Cowboy geheiratet hatte und in das provinzielle New Mexico gezogen war.

Doch was kümmerte ihn das privilegierte Leben, das diese Frau zweifellos geführt hatte? Ein Leben, das zu immer höheren Ansprüchen führte und zu immer weniger Verständnis für diejenigen, die nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden waren …

„Alles in Ordnung mit dir?“

Colin zuckte zusammen. Er konnte es kaum fassen, als er in ihrem Blick echte Besorgnis zu erkennen glaubte. Vermutlich spielte ihm sein Gehirn nach dem langen Flug einfach nur einen Streich.

„Klar.“ Er griff hastig nach seiner Reisetasche, als diese auf dem Gepäckband an ihm vorbeirollte, und warf sie neben das elegante Koffertrio. „Und es wird noch besser, wenn ich erst einmal ausgiebig geduscht, gegessen und geschlafen habe.“ Ganz zu schweigen von dem dringenden Wunsch, endlich allein zu sein. „Und je früher wir …“ Fast hätte er zu Hause gesagt und erschrak über sich selbst. „… auf der Ranch sind, desto schneller bekomme ich das alles.“ Er schlang sich die Reisetasche zusammen mit der Fototasche über die Schulter und nahm dann auch noch Emilys zwei kleinere Koffer. Mit einem Kopfnicken deutete er auf den Schalter der Mietwagenzentrale am anderen Ende der Halle. „Lass uns unsere Autos holen und dann von hier verschwinden.“

Emily zog den Haltegriff ihres Koffers heraus und runzelte dann die Stirn. „Warum sollen wir denn zwei Wagen mieten? Wäre es nicht viel sinnvoller, wenn wir uns einen teilen würden? Bitte verstehe mich nicht falsch, aber du siehst nicht gerade so aus, als wärst du noch dazu fähig, mehrere Hundert Meilen hinter dem Steuer zu verbringen. Vor allem nachts. Wie wäre es, wenn ich stattdessen fahre?“

Um ein Haar hätte er verächtlich geschnaubt, denn Autofahren war schließlich Männersache. So weit käme es noch, dass er … doch dann, spürte er plötzlich seine grenzenlose Müdigkeit – was sein logisches Denkvermögen aber glücklicherweise nicht beeinträchtigte. Die Frau hatte ja recht, es war wirklich albern, zwei Wagen zu mieten, wenn man dasselbe Ziel hatte.

„Ich weiß nur nicht, ob du zweieinhalb Stunden auf engstem Raum mit mir zusammensitzen möchtest“, wandte er ein, „denn ich glaube, ich stinke.“

Sie lachte. „Bis jetzt habe ich noch nichts davon gemerkt. Aber es ist ja warm genug, um notfalls die Fenster offen lassen zu können.“

„Das bezweifele ich. Ab Santa Fe wird es erst im Mai richtig warm … und wie willst du später ohne eigenen Wagen zurechtkommen?“

„Dee hat gesagt, ich könnte mir einen Truck von ihr leihen, wenn ich ein Auto bräuchte. Ich hätte den Mietwagen so oder so morgen in Taos zurückgegeben.“

Colin konnte sich diese elegante Frau beim besten Willen nicht in einem dreckverkrusteten Truck vorstellen. Als er nichts sagte, fragte sie: „Oder hast du ein Problem damit, mit mir zusammen zur Ranch zu fahren?“

Colin wurde rot. „Das liegt nicht an dir.“

„Ich verstehe. Allmählich wird mir klar, was Josh damit gemeint hat, als er sagte, du seist ein einsamer Wolf …“

„Ich bin kein …“

„Sogar ich weiß, dass du seit Jahren nicht zu Hause gewesen bist“, erwiderte sie. Es klang aber nicht vorwurfsvoll. „Und dass du mit kaum jemandem Kontakt hattest, seit du weggegangen bist. Und dann sagst du deiner Familie nicht einmal, dass du zurückkommst? Du bist mir vielleicht einer … Na ja, wie auch immer.“ Sie setzte sich jetzt in Richtung Mietwagenschalter in Bewegung. Das Haar fiel ihr über die Schulter und schwang auf ihrem Rücken schimmernd und verführerisch hin und her. „Ich will jetzt nur noch so schnell wie möglich zur Ranch.“ Sie drehte sich nach ihm um. „Es wäre doch das Vernünftigste. Was du tust, geht mich auch nichts an. Und umgekehrt gilt das Gleiche. Wir brauchen im Auto auch nicht zu reden, wenn du das nicht willst. Ich werde es dir nicht übel nehmen, versprochen. Also? Abgemacht?“

„Abgemacht“, brummte Colin, stellte die Koffer vor dem Schalter ab und fragte sich, warum ihm ihre vernünftigen Argumente so sehr missfielen.

Eine Stunde später musste Emily sich eingestehen, dass Colin mit zwei Dingen recht gehabt hatte: Je weiter sie nach Norden fuhren, umso kälter wurde es, und er verströmte tatsächlich einen äußerst strengen Geruch. Entweder ließ sie also die Fenster einen Spalt geöffnet und fror, oder ihr drohte der Erstickungstod.

Außerdem war es ringsherum pechschwarz, und die Lichtkegel der Scheinwerfer wirkten irgendwie unheimlich in der Dunkelheit. Nacht bedeutete für sie, dass überall Laternen brannten, die die Sonne ersetzten, wenn mit ihr das Tageslicht verschwand. Außerdem war sie diese Strecke noch nie zuvor gefahren …

„Reiß dich gefälligst zusammen“, murmelte sie und schaltete das Radio ein. Vielleicht würde die Musik sie ja ablenken. Und auch von dem Kummer, der ihr den Kopf verstopfte – fast wie ihre alten Pullover und Jeans und Tops, die sie achtlos in ihre hübschen neuen Koffer gestopft hatte. Kleidungsstücke, die sie vor der Zeit mit Michael gekauft, aber in seiner Gegenwart nie angezogen hatten, weil er behauptete, sie sähe plump darin aus.

Emilys Nasenflügel zitterten, während ihre Finger das lederbezogene Lenkrad umklammerten. Irgendwann würde sie deswegen bestimmt noch einmal heulen müssen.

Irgendwann. Wenn sie das Stadium der Wut und des Fluchens hinter sich gelassen hatte.

Neben ihr schnarchte der ein Meter achtzig große Colin vor sich hin. Im Schlaf hatte er die Arme vor der Brust verschränkt. Kaum hatten sie Albuquerque hinter sich gelassen, hatte die Erschöpfung ihren Tribut gefordert, und er war eingeschlafen. Hätte Dee ihr nicht irgendwann einmal ein Bild von ihm gezeigt, hätte sie ihn niemals erkannt. Sie wunderte sich selber darüber, dass sie es trotzdem getan hatte bei dem Fünftagebart und dem zerzausten Haar, der zerknautschten Kleidung und den Ringen unter seinen Augen. Wahrscheinlich waren es die Augen gewesen … blassgrün in seinem sonnengegerbten Gesicht …

In ihrer Tasche klingelte plötzlich ihr Handy. Es war der Klingelton, den sie für ihre Mutter eingestellt hatte. Gut, dass sie gerade am Steuer saß, denn … Nein.

Der Mann neben ihr murmelte auf einmal etwas Unverständliches im Schlaf. Er schien die Stirn zu runzeln, obwohl er eigentlich die ganze Zeit über eine gerunzelte Stirn zur Schau zu tragen schien.

„Mist!“

Zwei helle Lichtpunkte starrten ihr plötzlich aus der Dunkelheit in der Mitte der Fahrbahn entgegen. Mit einer scharfen Bewegung nach rechts wich Emily dem Tier aus. Der Wagen schlitterte über niedrige Büsche und Steine, bevor er ruckartig zum Stehen kam. Colin prallte mit der Hand gegen das Armaturenbrett und stieß einen lauten Fluch aus.

„Was ist passiert?“

„Irgendwas ist mir vor den Wagen gesprungen“, stammelte Emily, als ihr klar wurde, wie knapp sie einem schweren Unfall entkommen waren.

„Alles in Ordnung mit dir?“

Dass eine harsche Stimme gleichzeitig so mitfühlend klingen konnte, war für Emily unbegreiflich. Und wie sie bei diesem Mitgefühl die Beherrschung nicht komplett verlieren sollte, war ihr noch unverständlicher. Aber sie würde sich zusammenreißen. Koste es, was es wolle.

Ihr Nacken schmerzte ein wenig, als sie nickte. „Ja, alles Okay.“

„Du klingst aber nicht so.“

Sie stieß ein ersticktes Lachen aus. „Um ein Haar hätte ich Bambi getötet.“ Sie schaute ihn von der Seite an, konnte aber nicht in seine Augen sehen. Was vielleicht auch ganz gut war. „Tut mir leid, dass ich so hart bremsen musste. Ist mit dir alles …?“

„In Ordnung? Sicher – sobald sich mein Herzschlag wieder eingependelt hat.“ Er räusperte sich. „Gute Reaktion übrigens.“

„Woher willst du das denn wissen? Du hast doch geschlafen.“ Dennoch freute sie sich über seine Bemerkung.

„Wir leben noch. Das ist doch schon mal was.“

„Komisch. Du machst auf mich eigentlich gar nicht den Eindruck, als würdest du alles immer auf die leichte Schulter nehmen.“

„Ich bin halt für Überraschungen gut.“

„Du überraschst mich wirklich.“ Ihr eigenes Herz sollte langsam eigentlich auch wieder normal schlagen, überlegte sie, während sie die Finger wieder um das Steuer legte. „Wir sollten weiterfahren.“

„Du zitterst ja.“

„Nur ein bisschen … Was hast du vor?“

Er stieg aus dem Wagen, lief zur Fahrerseite und öffnete die Tür. „Wonach sieht’s denn aus? Ich fahre jetzt weiter.“

„Das brauchst du aber nicht.“

„Ich glaube schon.“

Emily schnitt eine Grimasse. „Hast du nicht gerade gesagt, ich hätte gut reagiert?“

„Das hast du auch. Ehrlich. Aber jetzt bin ich sowieso hellwach …“

„Das tut mir leid.“

„… und vielleicht ein bisschen stresserprobter als du.“

„Hey, bist du mal auf der Umgehungsautobahn von Washington gefahren?“

„Schon sehr oft. Aber glaub mir, das ist nichts im Vergleich zu Mumbai. Mal abgesehen davon – weißt du überhaupt, wie du fahren musst, wenn wir die Stadt erreichen?“

Da hatte er tatsächlich recht. Denn als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sie gar nicht selbst am Steuer gesessen. Sie hätte sich zwar auf das Navi verlassen können, aber sie wollte nicht starrköpfig erscheinen. Außerdem hatte ihr der Beinahezusammenstoß mehr zugesetzt, als sie sich selbst eingestehen wollte.

„Emily?“, hakte er geradezu behutsam nach.

„Na gut!“ Sie rutschte vom Fahrersitz und lief auf die andere Seite des Wagens. Dort sank sie auf den Beifahrersitz, schlang den Mantel enger um sich und schnallte sich an. Steine knirschten unter den Reifen, als Colin rückwärts auf den Highway fuhr. Emily spürte, wie sich ihre Nerven allmählich wieder beruhigten. Wenigstens ein bisschen.

In wachem Zustand schien Colin viel größer zu sein, als wenn er schlief. Dabei war sie selbst nicht gerade klein. Was ihre winzige Mutter übrigens stets mit Sorge erfüllt hatte …

„Wo genau sind wir denn?“, fragte Colin nun.

„Kurz hinter Taos.“

Er nickte. „Hast du was dagegen, wenn ich die Musik leiser stelle?“

„Du kannst sie auch ganz ausmachen, wenn dir das lieber ist. Mir ist es egal.“

„Wirklich?“

„Wirklich!“

Doch in der Stille, die daraufhin folgte, fühlte sie sich auch nicht wohler. Ruhe machte ihr sonst nichts aus, wenn sie allein war, aber wenn jemand auf engstem Raum neben einem saß …

„Wieso hast du denn niemandem erzählt, dass du kommst?“

Er zögerte mit der Antwort. „Weil ich es nicht wollte.“

„Du meinst, es geht mich nichts an.“

Er schaute sie kurz an, ehe er sich wieder auf den Weg konzentrierte.

„Und du glaubst nicht, dass sie es seltsam finden werden, wenn wir zwei plötzlich zusammen dort auftauchen?“

Er lachte. „Du bist ganz schön hartnäckig, was?“

Emily presste die Lippen zusammen und schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Nach allem, was in letzter Zeit geschehen war, hatte sie sich fest vorgenommen, nicht mehr so schnell klein beizugeben … egal, worum es ging. „Ich glaube, ich stehe in letzter Zeit nicht mehr so auf Geheimniskrämerei.“

„Obwohl das gar nichts mit dir zu tun hat?“

„Mit mir nichts, aber mit meiner Cousine und ihrem Mann. Und seiner Familie. Also …“

„Und du bist immer hundertprozentig loyal …“

Sie versuchte, den Stich in ihrem Herzen zu ignorieren. „Ja, auch wenn das sehr altmodisch ist.“

Es dauerte ein paar Meilen, bis er antwortete: „Ich nehme mal an, dass ich in letzter Zeit öfter Gesprächsthema war oder?“

„Dein Name wird oft erwähnt“, antwortete sie ruhig. „Schließlich bist du der Bruder, der nie da ist. Und seit Jahren nicht da gewesen ist.“

Ein paar Sekunden verstrichen. „Ich hatte … zu tun.“

Genau das hatte Josh auch bei seiner Hochzeit mit Dee gesagt und versucht, seine Enttäuschung mit einem Schulterzucken abzutun. Vielleicht lag es an der Beinahekollision mit dem Reh, dass sie immer noch nervös war und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Deshalb sagte sie, ohne lange darüber nachzudenken: „Nach allem, was ich gehört habe, hast du eine wirklich tolle Familie, Colin. Die meisten Menschen wären dafür sehr dankbar.“ Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen, und sie wandte hastig den Kopf ab. „Was haben sie dir denn bloß getan, dass du so sauer auf sie bist?“

Bis zu diesem Moment hatte Colin gedacht, dass Schlimmste, was ihm mit dieser verrückten Frau an seiner Seite während der Fahrt passieren könnte, sei die Landung im Straßengraben gewesen.

Natürlich schuldete er ihr – und auch niemandem sonst – irgendeine Erklärung, obwohl sie ganz nett zu sein schien, wenn auch ein bisschen zu neugierig für seinen Geschmack. Andererseits wollte er auch nicht vollkommen stur wirken. Abgesehen davon würden sie ohnehin in einer halben Stunde am Ziel sein. Er würde sich dort sofort in eine der Hütten verziehen, und sie würde bei ihrer Cousine im Haupthaus bleiben, sodass sie sich während seines Aufenthalts möglicherweise gar nicht mehr über den Weg laufen würden.

Jetzt allerdings wartete sie offenbar auf eine Antwort, während sie ihn mit ihren melancholischen Augen anschaute. Was für eine Geschichte verbarg sich wohl dahinter? Nicht dass er irgendetwas darüber erfahren wollte. Schließlich war er nach Hause gefahren, um endlich mal einen klaren Kopf zu bekommen – nicht, um sich noch zusätzlich mit den Problemen anderer Leute zu belasten.

„Sie haben mir gar nichts getan“, murmelte er schließlich. „Wie du schon gesagt hast, es ist eine wirklich tolle Familie. Es ist einfach nur so, dass wir leider in vielen Dingen sehr unterschiedliche Meinungen haben.“

Nachdenklich verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Und was ist im Laufe der Zeit anders geworden?“

„Denkst du eigentlich manchmal auch vorher nach, bevor du redest?“

„Wahrscheinlich genauso viel, wie du darüber nachgedacht hast, wie sie wohl auf dein plötzliches Auftauchen reagieren werden. Vor allem dein Vater … so, wie es momentan um sein Herz steht …“

„Dass Leute vor lauter Schock umkippen und sterben, passiert nur in Filmen.“

„Nicht nur in Filmen.“

„Aber meistens dort. Und außerdem ist Dad nicht sterbenskrank. Soweit ich weiß, war er das noch nie.“

„Woher willst du das denn wissen, wenn du nie da warst?“

„Weil er das selbst mal gesagt hat, klar? Außerdem habe ich damals jeden Tag mit ihm oder Mom gesprochen. Ich bin also nicht vollkommen hinter dem Mond, was das angeht …“

„Aber auch nicht weit davon entfernt.“

Hätte sie es nicht so humorvoll gesagt, wäre er jetzt ziemlich sauer gewesen. Da war allerdings noch etwas in ihrem Tonfall, was er sich einfach nicht erklären konnte. „Sie haben mir gesagt, es sei nicht nötig, dass ich extra nach Hause komme. Und der Grund, warum ich es jetzt tue …“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „… geht nur mich etwas an.“

„Genauso wie der, dass du dich nicht vorher bei ihnen angekündigt hast. Ich verstehe.“

„Du kannst einen echt nerven, weißt du das?“

Ihr Lachen irritierte ihn. „Dann habe ich ja einen guten Job gemacht.“ Sie klang sehr zufrieden mit sich. Diese Frau hatte wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wieso geriet er immer an solche Typen? Das war offenbar sein Schicksal.

„Sieh mal“, sagte er versöhnlich, „wenn du länger als dreißig Sekunden mit meiner Familie zusammen bist, kann sie sehr … einnehmend sein. Das müsstest du doch inzwischen auch wissen.“

Wieder lachte sie. „Das ist mir auch schon aufgefallen.“

„Hätte ich meinem Bruder gesagt, dass ich komme, wären alle auf die Ranch gekommen, um mich ausgiebig zu begrüßen. Darauf kannst du wetten.“ Seine Kiefermuskeln spannten sich an. „Wahrscheinlich wäre sogar die ganze Stadt gekommen. Ich weiß, was mich erwartet, das kannst du mir glauben, aber ich möchte zu meinen eigenen Bedingungen in den Schoß der Familie zurückkehren. Jedenfalls soweit es mir möglich ist.“

„Das verstehe ich.“

„Wirklich?“

„Glaubst du etwa, du bist der einzige Mensch auf der Welt, der Probleme mit seiner Familie hat?“ Sie schaute ihn dabei nicht an. „Ich bitte dich!“

Auf einem Straßenschild blitzte nun der Name Whispering Pines im Licht der Scheinwerfer auf. Colin verließ den Highway und bog auf eine Nebenstraße ab, die zu der kleinen Stadt führte. Emily versank noch tiefer in ihrem Mantel, denn je höher sie kamen, desto kälter wurde die Nacht. Aber die Luft war auch klar und rein. Colin fand sie sehr erfrischend.

„Es ist der Ort, nicht wahr?“, sprach sie nun mitten in seine Gedanken hinein.

„Wie bitte?“

„Der Grund, warum du jetzt nach Hause gekommen bist. Aus dem gleichen bin ich nämlich auch hier, nehme ich an. Um dem Lärm zu entgehen.“ Sie machte eine Geste zu ihren Ohren, ehe sie die Arme wieder verschränkte. „Den ganzen Menschen.“

Er musste sich beherrschen, um nicht nachzuhaken. Er hatte geglaubt, sie sei einfach nur zu Besuch gekommen, so, wie es andere Menschen auch taten. Jedenfalls normale Menschen. Oder wegen Zachs Hochzeit, obwohl die erst in ein paar Wochen stattfand.

Aber egal. Was gingen ihn schon ihre Gründe an?

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, murmelte er und ignorierte ihren zweifelnden Blick. Kopfschüttelnd zog Emily ihr Handy aus der Handtasche, um es mit einem Seufzer sofort wieder wegzustecken.

„Kein Empfang. Himmel, wie überleben die Menschen hier draußen eigentlich?“

„Genauso wie vor hundert Jahren, nehme ich an.“

Als Antwort erhielt er nur ein unverständliches Brummen von ihr. Gott sei Dank! Obwohl sich Colin insgeheim eingestehen musste, dass die Stille noch schlimmer war als ihre neugierigen Fragen, denn jetzt musste er seinen eigenen quälenden Gedanken nachhängen. Obwohl er sich einzureden versuchte, dass das genau der Ort war, an dem er sein sollte, hatte er gleichzeitig das Gefühl, als würde er plötzlich wieder ganz vorn anfangen.

Oder schlimmer noch: als hätte er versagt.

Hundegebell beendete die Stille abrupt, als sie auf die halbrunde Einfahrt zur Vista-Ranch einbogen, obwohl Colin es über das Klopfen seines Herzens und das Rauschen in seinen Ohren nur wie aus weiter Ferne vernahm. Emily griff nach ihrer Tasche und warf ihm einen Blick zu – voller Mitgefühl, wie er vermutete –, ehe sie die Hand auf den Türgriff legte.

„In diesem Moment beneide ich dich nicht“, murmelte sie, öffnete die Tür und stieg aus. Ihre Cousine und sein Bruder waren bereits auf die geräumige Veranda hinausgetreten. Selbst in dem dämmerigen Licht konnte er ihren staunenden Gesichtsausdruck erkennen.

„Ihr erratet nie, wem ich am Flughafen begegnet bin“, rief sie, und Colin wurde klar, dass er jetzt zwei Möglichkeiten hatte. Entweder stieg er aus und zeigte sich, oder er wendete den Wagen schnell und tat so, als sei das alles nur ein riesiger Fehler gewesen. Der Haken an Plan B war allerdings, dass Emilys Gepäck noch in dem Wagen lag. Und außerdem würde sie ihn bestimmt verpfeifen.

Also löste sich Colin seufzend vom Steuer, stieg aus und schaute seinem kleinen Bruder ins Gesicht. Dieser stieß daraufhin einen Fluch aus, für den er von seiner Mutter sofort eine Ohrfeige bekommen hätte. Aber bereits zwei Sekunden später umarmte er Colin und klopfte ihm wie verrückt auf den Rücken. Anschließend grinste er ihn an, als habe er den Verstand verloren.

„Zum Teufel noch mal, Col“, sagte er mit Tränen in den Augen, und Colin bemühte sich nach Leibeskräften, zurückzugrinsen.

„Schon klar.“ Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Und als er zu Emily hinüberschaute, stellte er fest, dass sie gerade seine frischgebackene Schwägerin fest umarmte und begonnen hatte, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen.

2. KAPITEL

„Warum hast du denn nichts gesagt?“

Emily stand am Spülbecken der geräumigen, im Western-Stil eingerichteten Küche und stellte den Schmortopf auf das Abtropfregal. Colins Frage entlockte ihr einen Seufzer. Von dem köstlichen Eintopfgericht hatte sie vor lauter Weinen kaum etwas essen können, was ihr im Nachhinein ziemlich peinlich war. Dass ihre Cousine das Essen für sie – für sie beide, wie sich letzten Endes herausgestellt hatte – warm gehalten hatte, war wirklich eine nette Geste gewesen. Aber das war eben typisch Dee.

Emily wischte sich die feuchten Hände an ihrem Hintern ab und drehte sich zu Colin um, der sie immer noch mit diesem grollenden Blick anschaute, den sie schon während des Essens auf sich gespürt hatte. Wenigstens roch er nicht länger so, als sei er geradewegs aus dem Dschungel gekommen, und sah wieder sehr manierlich aus – was bei seiner Größe besonders beeindruckend wirkte. Und nach der Rasur wirkte er auch nicht mehr wie ein Höhlenmensch. Was allerdings nichts an seiner Attraktivität änderte. Dazu noch das feuchte Haar … keiner der Talbot-Brüder war von kleiner Statur, aber Colin hatte geradezu etwas Einschüchterndes an sich. Dazu noch dieser drohende Blick …

Nun ja.

„Dein Bruder hat dich also aus seinen Klauen gelassen?“

Um Colins Mundwinkel herum zuckte es. „Fürs Erste, ja. Der Hund hat sich so verhalten, als würde sich jemand vor dem Haus herumtreiben, deshalb ist Josh mit ihm hinausgegangen, um nachzusehen.“

„Und was hat er dazu gesagt, dass der verlorene Sohn aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht ist? War das nicht eine große Überraschung für ihn?“

„Nicht so groß offenbar wie deine abgesagte Hochzeit.“

Er klang irgendwie aufgebracht. Warum? Weil sie es ihm nicht gesagt hatte? Weil sie ihm leidtat? Sie hatte es ihm nicht sagen können. Im Grunde spielte es ja auch gar keine Rolle. Vielleicht war er auch nur sauer wegen irgendwelcher Sachen, in die sie nicht eingeweiht war. Und es wahrscheinlich auch niemals würde.

Abrupt drehte sich Emily zum Spülbecken um, weil sie seinen Blick nicht länger ertragen konnte. „Um der Wahrheit die Ehre zu geben“, erwiderte sie, während sie die Edelmetallspüle heftiger abwischte als nötig. „Ich war es, die Schluss gemacht hat.“

„Weil dein Verlobter dich betrogen hat. Josh hat’s mir erzählt.“

Emily drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wirklich? Du siehst deinen Bruder zum ersten Mal seit gefühlt tausend Jahren, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als über mich zu reden?“

„Hey! Du warst es schließlich, die die Fassung verloren hat, als wir hier angekommen sind, nicht ich. Ich habe auch gar nicht danach gefragt. Josh hat es mir von sich aus erzählt. Mal abgesehen davon haben wir auch nicht die ganze Zeit darüber geredet. Aber ich dachte mir, dass du es vielleicht zu schätzen wüsstest, wenn ich Bescheid weiß.“ Er hielt kurz inne. „Ich habe auch bestimmt nicht vor, dich weiterhin zu behelligen. Gleich ziehe ich nämlich in die Hütte des Vorarbeiters.“

Noch ehe sie etwas erwidern konnte, tauchte Josh mit seinem Hund in der Küche auf. Thor trottete sofort zu seinem Napf und schlürfte das Wasser geräuschvoll.

„Keine Ahnung, was er da draußen gehört hat“, meinte Josh auf dem Weg zur Spüle, wo er sich selbst ein Glas mit Wasser füllte. Colin war gut zehn Zentimeter größer als sein Bruder, und der war schon nicht gerade klein. Joshs grüne Augen blickten fragend zwischen Emily und seinem Bruder hin und her, seine Gedanken behielt er jedoch für sich. Schließlich stellte er das leere Glas beiseite und versetzte Colin einen Klaps auf den Arm. „Dann wollen wir dich mal unterbringen. Ich war schon selbst ein paar Wochen nicht mehr draußen bei der Hütte; ich weiß also gar nicht, wie’s dort im Moment aussieht …“

„Im Vergleich zu einigen anderen Orten, an denen ich schon übernachtet habe, ist es bestimmt geradezu luxuriös“, entgegnete Colin grinsend. „Außerdem bin ich todmüde. Wir können morgen weiterreden. Aber nimm’s mir bitte nicht übel, wenn ich bis zum Mittag schlafe. Und versprich mir, Mom und Dad nicht zu erzählen, dass ich hier bin.“

„Versprochen.“

Colin ging jetzt zur Hintertür, wo er seine Sachen abgestellt hatte, und eine Sekunde später war er bereits verschwunden. Emily wandte sich an ihren Cousin und musterte ihn mit einem so durchdringenden Blick, dass er sofort peinlich berührt war.

„Tut mir leid, es ist mir irgendwie herausgerutscht. Andererseits …“ Er lehnte sich gegen die Spüle. „Es ist ja schließlich kein Geheimnis, oder?“

„Nein.“ Emily warf einen Blick zur Tür, durch die Colin soeben gegangen war. Sie hatte das Gefühl, seine Gegenwart immer noch spüren zu können. „Nein“, wiederholte sie und lächelte flüchtig. Dann zog sie die Nase hoch und versuchte, die Tränen, die erneut zu fließen drohten, mit aller Kraft zurückzuhalten.

„Du kannst so lange bleiben, wie du willst“, versicherte ihr Josh. „Dee hat mir eine Menge von dir erzählt, nachdem sie zurückgekommen ist. Nach dem Tod ihres Vaters. Wie du ihr geholfen hast, nachdem das mit ihrem Freund und ihr in die Brüche gegangen ist. Wie du zu ihr gehalten hast, als deine Familie … nun ja …“

Emily lachte gequält. „Ja, sie legen großen Wert auf Korrektheit. Vor allem Mom.“ Und es passte nun einmal überhaupt nicht in Margaret Webers Plan, dass man ihrer Nichte ein Kind angedreht hatte. Obwohl das eigentlich noch Kleinkram gewesen war im Vergleich zu der kurzfristig abgesagten Hochzeit. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Ehe früher oder später sowieso ein unrühmliches Ende gefunden hätte.

„Nach allem, was du für Dee getan hast“, fuhr Josh fort, „stehen wir natürlich tief in deiner Schuld und tun deshalb alles für dich …“

„Danke. Aber …“

Der Mann ihrer Cousine schmunzelte. „Was?“

Emily seufzte schwer. Nachdem sie Michaels Geheimnis entdeckt hatte, wollte sie nur noch weg von ihm – so weit weg wie nur möglich von ihrem Exverlobten und ihrer Mutter und all den Klatschtanten in McLean, Virginia. Da lag es natürlich nahe, dass sie an den Ort fuhr, der immer schon Balsam für ihre Seele gewesen war – und wo der einzige Mensch lebte, der stets vollstes Verständnis für Emily gehabt hatte.

Doch jetzt, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, wurde ihr klar, dass sie gerade bei einem frisch verheirateten Paar gelandet war – ein frisch verheiratetes Paar mit zwei Kindern, die vermutlich jede Minute des Alleinseins genossen, wenn die Kinder endlich im Bett waren. Und vermutlich war das Letzte, was die beiden momentan gebrauchen konnten, eine junge Frau, deren Gefühlsleben ein heilloses Chaos war.

„Ihr müsst mir aber versprechen, dass ihr es mir sofort sagt, wenn ich euch auf die Nerven gehe“, bat sie Josh.

Er lachte laut. „Das tun schon andere: unser Vierjähriger und das Baby. Da fällst du gar nicht weiter auf. Wenigstens kannst du dir nachts allein etwas zu trinken besorgen, wenn du durstig aufwachst.“

Emily grinste. „Ich kann mir sogar mein Frühstück selbst machen.“

„Na, siehst du.“ Josh tätschelte ihre Schulter. „Falls du es noch nicht mitgekriegt hast – wir sind hier eine ziemlich große Familie. Da ist für jeden Platz. In Ordnung?“

Wieder brannte es in ihren Augen, als sie nickte. Dieses Mal jedoch nicht, weil sie erschöpft oder so verblendet war, an ein Märchen zu glauben, das war einfach nur dumm gewesen. Aber sie würde es überleben, davon war sie überzeugt, und diese Erfahrung würde sie letztendlich nur noch stärker und klüger machen. Wie ein Phönix aus der Asche … oder so ähnlich zumindest.

Nein, was ihr dieses Mal die Tränen in die Augen trieb, war die Erkenntnis, dass bisher etwas Wesentliches in ihrem Leben gefehlt hatte; nämlich so behandelt zu werden, wie sie andere Menschen auch behandelte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht, irgendwelche Erwartungen zu erfüllen. Das war ja auch in Ordnung für sie gewesen, meistens jedenfalls. Aber wie oft hatte das jemand für sie getan? Mal abgesehen von Dee, die kurz nach dem Tod ihrer Mutter zu Emily und ihren Eltern gezogen war, als sie und ihre Cousine noch Teenager gewesen waren.

Und jetzt stand Emily vor dem wunderbaren Mann, den Dee geheiratet hatte, und war dankbar für das Glück, das ihre Cousine erleben durfte. Es führte ihr aber leider auch vor Augen, wie sehr sie selbst bisher vom Leben benachteiligt worden war. Jetzt kam auch ihre Cousine in die Küche und schlang den Arm um die Taille ihres Mannes, und Josh schaute Dee mit einem Blick an, mit dem Michael sie niemals angesehen hatte.

„Schläft sie?“, wollte Josh von Dee wissen.

Sie fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. Sie ließ es wachsen, seit sie nicht mehr in der Kunstgalerie in Washington arbeitete. Es reichte ihr bereits bis zum Kinn und rahmte ihr Gesicht wunderbar ein.

„Wie ein Murmeltier.“ Gähnend kuschelte sich Dee näher an Josh.

Da war er wieder, dieser kleine Stachel von Neid, der sich in Emilys Herz bohrte, als sie sah, wie gut die beiden sich verstanden und wie verliebt sie waren. Sie waren schon als Kinder befreundet gewesen, als Joshs Vater für Dees Vater gearbeitet hatte.

Als ihre Gedanken von damals fast im Zeitraffer zu ihrer Fahrt mit Colin rasten, auf der sie sich sehr unwohl gefühlt hatte, empfand sie plötzlich eine unglaublich große Erschöpfung.

„Wenn ihr nichts dagegen habt, lege ich mich jetzt aufs Ohr“, sagte sie. „Es war ein wirklich langer Tag.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Dee löste sich von ihrem Mann, umarmte Emily und hielt sie ein paar Sekunden lang fest an sich gedrückt. „Wir reden morgen weiter, wenn du willst.“

„Das will ich bestimmt“, erwiderte Emily und verließ dann die Küche. Als sie durch den stillen Korridor des alten Hauses lief, stellte sie fest, dass sich seit ihrer Kindheit hier nicht viel verändert hatte. Und das war auch gut so. Das Haus kam ihr vor wie eine alte Frau, die keinen Sinn darin sah, sich nach der neuesten Mode zu kleiden, nur weil sie neu war.

Eine große graue Katze hatte es sich auf der zusammengefalteten Tagesdecke am Fußende des Gästebetts bequem gemacht und musterte Emily aus schläfrigen Augen, als diese die Nachttischlampe anknipste. Niemand wusste, wie alt Smokey tatsächlich war oder wieso er überhaupt hier lebte. Das Tier war wie ein Geist, dessen Anwesenheit einfach akzeptiert wurde.

„Na, alter Knabe“, begrüßte sie ihn und stellte ihre kleinere Tasche auf dem Bett ab. Mürrisch sah er sie an, weil sie ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Außerdem war er offenbar der Ansicht, dass dies sein Reich war, in dem sie nichts zu suchen hatte. „Ab jetzt sind wir wohl eine Weile Zimmergenossen.“

Der Kater gähnte, erhob sich miauend, stakste über das Bett und stupste dann mit dem Kopf gegen ihre Hand, als sie einen Pyjama aus der Tasche zog. Auspacken würde sie erst später oder morgen. Der Gedanke versetzte ihr erneut einen Stich ins Herz. Nicht, weil sie hier war, sondern warum sie hier war …

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Dee kam herein. Sie trug ein lockeres Top, eine bequeme Schlafhose und einen zu großen Morgenmantel, der sehr männlich aussah.

„Brauchst du noch irgendwas?“

„Ein neues Leben vielleicht?“

Mit einem Laut des Bedauerns setzte sich Dee auf das Bett, was der Kater offenbar als Einladung betrachtete, auf ihren Schoß zu springen. „Ich weiß, ich habe morgen gesagt“, begann sie, als Emily sich auszog und in ihren Pyjama schlüpfte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen hatten die beiden Frauen keine Geheimnisse voreinander. „Aber es tut mir so leid, Em.“

Emily ließ sich daraufhin im Schneidersitz auf dem Bett nieder, genauso, wie sie es als Kinder oft getan hatten, und schaute Dee traurig an. Sofort wechselte der opportunistische Kater zu Emily hinüber und strich mit seinem Schwanz über ihr Kinn, ehe er sich umständlich und brummend wie eine Spülmaschine vor ihr niederließ. Lächelnd streichelte sie ihm übers Fell.

„Besser zu früh als zu spät, oder nicht?“

Ihre Cousine lächelte. „Wenigstens bist du nicht schwanger.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Oder etwa doch?“

Emily musste sich ein Lachen verkneifen. Immerhin war das Baby, das unten in seinem Zimmer schlief, nicht von Josh, sondern das Ergebnis einer Affäre von Dee – bevor diese nach New Mexico zurückgezogen war und den Kontakt mit Josh wieder aufgenommen hatte. Ihr Lover hatte ihr nämlich „vergessen“ zu erzählen, dass er bereits drei Kinder hatte … und eine Frau. Noch immer wurde Emily wütend, wenn sie nur daran dachte, wie übel ihrer Cousine mitgespielt worden war.

„Was glaubst du denn?“

„Natürlich.“ Um Dees Mund herum zuckte es. „Aber manchmal …“

„Nicht in diesem Fall.“

„Es ist also endgültig aus zwischen dir und Michael?“

„Ja.“ Emily seufzte.

„Na ja …“ Dee grinste verschmitzt. „Dann wird es jetzt höchste Zeit für Rachesex.“

Jetzt musste Emily doch lachen, obwohl dieser Vorschlag geradezu absurd war, denn in so kleinen Orten waren die Möglichkeiten sehr überschaubar. Was sie dann doch wieder als durchaus besorgniserregend empfand, wenn man es genauer betrachtete. „Und mit wem bitte schön?“

In den Augen ihrer Cousine blitzte es. „Ich bin mir sicher, dass wir schon jemanden finden werden, der noch all seine Sinne, alle Zähne und … na ja, du weißt schon, den Rest auch noch hat.“

„Du redest von Colin?“

„Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen“, tat Dee entrüstet.

„Natürlich nicht.“

„Aber du musst zugeben, dass er zumindest schon mal eine Küche aufräumen kann.“ Emily funkelte sie wütend an, und Dee nahm ihre Hand. „Du weißt, dass ich nur Spaß mache, nicht wahr?“

„Bei dir bin ich mir da nie ganz sicher.“

„Na ja.“ Dee schmunzelte. „Aber die Tatsache, dass ihr zusammen hier aufgetaucht seid und er keine Lust zu haben scheint, noch länger solo zu sein …“

„Hat er das Josh etwa erzählt?“

„Es ist viel interessanter, was er Josh nicht erzählt hat. Ohnehin gibt der Mann ja niemals viel von sich preis. Noch weniger, als andere Männer.“

Das kannst du laut sagen, dachte Emily.

„Aber Josh gegenüber hat er angedeutet, dass er dringend mal eine Pause braucht. Und dass er viel zu lange nicht zu Hause gewesen ist. Vor allem, weil in der Zwischenzeit so viel passiert ist. Jede Menge Hochzeiten und was sonst noch alles …“

„Glaubst du, er bleibt bis Zachs und Mallorys Hochzeit?“

„Wer weiß? Ich glaube, Colin ist von Natur aus nicht der große Plänemacher. Von Verpflichtungen hält er wohl auch nicht viel.“ Dee legte den Kopf schief. „Was guckst du denn so komisch?“

Halb lachte und halb seufzte Emily. „Ich denke gerade über etwas nach, was ich wohl besser bleiben lassen sollte. Das Ganze geht mich ja auch nichts an. Zumal ich sowieso schon immer eine schlechte Gedankenleserin gewesen bin. Wie viele Jahre habe ich Michael gekannt? Und ich wusste offenbar trotzdem nichts über ihn. Da sollte ich mich hüten, über einen Mann nachzudenken, den ich gerade mal ein paar Stunden kenne – und von denen er noch dazu die meiste Zeit schlafend verbracht hat.“

„Moment mal“, widersprach Dee. „Es gibt schon einen Unterschied zwischen einem Schweinehund, der dir bewusst etwas vormacht, und einem Mann, der nicht gerne viel von sich preisgibt. So verhält er sich übrigens immer allen gegenüber. Selbst seine Brüder kennen ihn nicht wirklich … warum das so ist, weiß nur Colin. Wenn du also vermutest, dass er Probleme hat, dann bist du nicht die Einzige hier. Josh hat das nämlich auch schon gesagt. Ich habe nur den Eindruck, dass du im Moment schon genug mit dir selbst zu tun hast, um dir auch noch um andere Leute Gedanken zu machen – Leute, die du ohnehin kaum kennst. Einmal abgesehen davon bist du viel zu empathisch. Das warst du schon immer. Deshalb bist du wahrscheinlich auch …“ Dee biss sich auf die Lippen.

Emily verdrehte die Augen. „Los spuck’s schon aus. Deshalb bin ich überhaupt erst in diesen ganzen Schlamassel geraten – das wolltest du doch sagen, oder nicht?“

„Du siehst immer nur das Gute in den Menschen“, erwiderte Dee leise. „Das finde ich ja auch ganz toll, aber du musst auch …“

„Härter werden?“

„Das sagt die Frau, die Erzieherinnen ausbildet.“ Dee lachte kurz. „Du bist schon ziemlich tough, Schätzchen, doch ich glaube einfach …“ Sie verstummte und kniff die Augen zusammen. „Was war die längste Zeit, in der du keinen Freund hattest? Einen Monat? Zwei Monate?“

Emily zuckte zusammen. „Ich … das weiß ich gar nicht so genau. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“

„Weil du nie lange genug allein warst, um dir Gedanken darüber machen zu können. Dann hast du schließlich Michael kennengelernt, und alle haben gesagt: Oh, was für ein toller Kerl …“

„Und ich habe ja auch immer alle Erwartungen erfüllt.“

„Vor allem die von Tante Margaret“, erwiderte Dee schmunzelnd.

„Du hast Michael nie gemocht, stimmt’s?“

Dee streckte die Hand aus und streichelte den Kater. „Ich habe ihm nie vertraut. Reines Bauchgefühl, tut mir leid. Zuerst habe ich gedacht, das legt sich wieder; deshalb wollte ich auch nicht gleich die Pferde scheu machen, aber dann habt ihr euch verlobt und … ich weiß auch nicht. Irgendwas fühlte sich da nicht richtig an. Aber dann habe ich Philippe kennengelernt, und … na ja, in Anbetracht der Tatsache, wie diese Beziehung zu Ende gegangen ist, hatte ich bestimmt kein Recht mehr dazu, irgendetwas zu sagen. Zu dieser Zeit hast du schon mitten in den Hochzeitsvorbereitungen gesteckt …“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Du hättest doch trotzdem etwas sagen können.“

Dee schnaubte verächtlich. „Und dann hättest du sofort auf mich gehört, ja? Oder auf mein Gefühl vertraut, nachdem meine eigene Beziehung gerade krachend gescheitert war?“ Ehe Emily etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: „Ich war mir ja selbst nicht sicher, ob ich überhaupt noch objektiv in Bezug auf Männer sein konnte. Zu dieser Zeit habe ich alles gehasst, was einen Schwanz hatte.“

Smokey hob erstaunt den Kopf, weil Dee so laut geworden war. „Dich meint sie nicht“, beruhigte Emily das Tier. Und an Dee gewandt, sagte sie: „Das kann ich durchaus nachempfinden.“

„Wirklich?“

„Weißt du, was wirklich traurig ist?“ Emilys Blick verdüsterte sich. „Im Moment kann ich nicht einmal sagen, ob ich je wirklich glücklich war – ehe die Wahrheit ans Licht gekommen ist – oder ob ich es mir die ganze Zeit nur eingeredet habe.“

„Das kenne ich.“ Dee seufzte. „Aber die gute Nachricht ist: Auch wir werden irgendwann klüger. Unser Herz wird gebrochen, wir kriegen einen Tobsuchtsanfall, und dann gehen wir wieder arbeiten. Was diese Mistkerle natürlich keinen Deut besser macht, aber derlei Erfahrungen lassen uns an Stärke gewinnen, anstatt welche zu verlieren.“

„Das klingt wirklich sehr erwachsen.“

„Ich kenne mich aus, was?“ Dee grinste, erhob sich und schlang ihren Morgenmantel enger um sich. „Bald wird es dir wieder gut gehen, Em. Es geht dir eigentlich jetzt schon wieder gut. Und weißt du, was das Beste ist?“

„Was denn?“

In Dees Blick lag nun jede Menge Sympathie. „Du bist endlich frei.“ Sie beugte sich zu ihr hinunter und drückte Emily einen sanften Kuss aufs Haar, ehe sie das Zimmer verließ.

Gedankenverloren streichelte Emily weiter den Kater, der dies mit einem leisen Schnurren genoss.

Du bist frei …

Erneut wurden ihre Augen feucht, als diese drei Worte sich wie ein Karussell in ihrem Kopf drehten. Denn zum ersten Mal seit Langem war sie das wirklich. Keiner erwartete etwas von ihr … keiner schrieb ihr vor, was sie tun sollte … niemand verurteilte sie. Sie war endlich frei herauszufinden, wer sie wirklich war und was sie wollte.

Und vor allem was sie nicht wollte.

Bei diesem Gedanken wurde ihr fast schwindlig.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Haus seiner Eltern bereitete Colin sich innerlich schon einmal auf das Wiedersehen vor. Er war ziemlich groggy, was zum Teil daran lag, dass er kaum geschlafen hatte. Und das wiederum hatte daran gelegen, dass er ständig an Emily hatte denken müssen, die ihn ein bisschen an Sarah erinnerte. Vielleicht lag es an ihrem langen Haar oder an ihrer Munterkeit. An ihrem Blick, der so direkt und aufrichtig war und der mehr über sie preisgab, als ihr bewusst war.

Und genau damit hatte Colin Probleme. Vor allem nach der Sache mit Sarah.

Und vor allem jetzt!

Als Colin die Einfahrt zum Haus hinauffuhr, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Seufzend parkte er seinen Mietwagen neben dem Pick-up seiner Mutter, den sie schon seit Jahrzehnten fuhr. Beim Aussteigen streifte er seine uralte Jeansjacke über und ließ seinen Blick langsam über das kleine braune Haus wandern, dessen Eingang von Fliederbüschen umrahmt wurde. Whiskyfässer waren zu Blumenkübeln umfunktioniert worden, in denen Stiefmütterchen im Wind zitterten. Das Haus lag auf einem Hügel am Rand von Whispering Pines in einer Sackgasse. In der Ferne zeichneten sich die Berge unter einem stahlblauen Himmel ab. Colin dachte daran, dass sein Dad das Haus von seinem Boss geschenkt bekommen hatte, nachdem die Ärzte ihm geraten hatten, sich zur Ruhe zu setzen. Es war eigentlich gar nichts Besonderes, aber es war ein Zuhause, aus dem niemand seine Eltern je würde vertreiben können. Ein sehr beruhigendes Gefühl.

Colin erschrak, als die Haustür plötzlich geöffnet wurde – aber noch mehr erschrak seine Mutter, als sie ihn erblickte. Ihr Haar war noch weißer geworden, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Aber ihr Gesicht war immer noch faltenfrei und rosig, und auf ihre Figur hätte eine Dreißigjährige neidisch sein können.

„Heiliger Mist“, entfuhr es seiner Mutter, und Colin musste unwillkürlich grinsen.

„Hi, Mom“, begrüßte er sie. Keine Sekunde später hatte sie ihn in die Arme geschlossen und schaukelte ihn hin und her wie einen Dreijährigen. Dabei war sie gut zwei Köpfe kleiner als ihr Sohn. Anschließend hielt Billie Talbot ihn auf Armeslänge entfernt und rief: „Sam! Komm mal schnell her.“ Eine Minute später tauchte auch sein Vater in der Tür auf und strahlte über das ganze Gesicht, als er den Besucher erkannte. Resolut schob er Billie beiseite und umarmte Colin so fest, dass dieser befürchtete, er würde ihm alle Knochen brechen.

„Ich weiß zwar nicht, warum du auf einmal wieder hergekommen bist“, brummte er schließlich, „aber ich bin froh, dass du hier bist.“

Erleichtert, dass das erste Zusammentreffen nach all den Jahren nicht so unangenehm gewesen war, wie er befürchtet hatte, trat Colin, als sein Vater ihn endlich losließ, einen Schritt zurück und steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans. Er hatte seinen Vater immer als Riesen in Erinnerung gehabt. Jetzt musste er feststellen, dass er mittlerweile kleiner als sein Sohn war, was sich irgendwie nicht richtig anfühlte.

„Ich auch.“ Er machte eine Pause. „Ist verdammt lange her.“

„Da stimme ich dir zu“, entgegnete sein Dad. Aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wusste er ganz genau, dass Colin nicht nur deshalb zurückgekommen war, weil „es mal wieder an der Zeit war“.

„Wo wohnst du denn?“, wollte Mom aufgeregt wissen. Erst jetzt bemerkte Colin die Tasche in ihrer Hand, was bedeutete, dass sie zu einer Geburt musste oder zumindest zu einer Untersuchung.

„In eurem alten Gartenhaus“, antwortete er schmunzelnd.

„Dann hast du Josh und die anderen also schon gesehen?“

Er nickte. „Aber sie wussten auch nicht, dass ich kommen würde. Keiner wusste es. Zach oder Levi, meine ich. Ich dachte, ich muss mich mal wieder an euch gewöhnen.“

Billie zog die Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche. „Das ist eine gute Idee. Leider habe ich heute Dienst im Krankenhaus. Aber wir können uns doch zum Abendessen sehen, ja?“

Colin lächelte. „Unbedingt.“

Seine Mom drückte seinen Arm, bevor sie ihn noch einmal stürmisch umarmte. Als sie sich wieder von ihm löste, bemerkte er plötzlich die Tränen in ihren Augen. „Das ist ja eine tolle Überraschung. Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin. Ich kann es kaum abwarten, heute Abend zurückzukommen.“

„Ich freue mich auch.“ Colin sah ihr dabei zu, wie sie zielstrebig zu ihrem Pick-up lief. Diese Frau hält sich wirklich großartig, dachte er bei sich.

„Sie hat mehr denn je zu tun“, sagte sein Vater, und Colin drehte sich zu ihm um. „Und das macht sie sehr glücklich.“

Seine Zwillingsbrüder waren in der Middle School gewesen, als Mom verkündet hatte, dass es allmählich wieder Zeit für ein eigenes Leben für sie wurde. Sie hatte daraufhin beschlossen, Hebamme zu werden. Zuerst war es für alle ein Schock gewesen, denn wie sollten sie bloß allein zurechtkommen? Aber irgendwann hatten sie sich daran gewöhnt und waren sogar stolz darauf gewesen, dass ihre Mutter, die zu Hause so viel zu tun hatte, nebenbei auch noch einen Vollzeitjob stemmen konnte.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte sein Vater nun, während er sich die Hände an seiner ausgebeulten Jeans abwischte. Seit seinem Herzinfarkt war er deutlich dünner geworden. Dennoch hatte er es offenbar nicht für notwendig erachtet, sich Kleidung in der neuen passenden Größe zu kaufen. „Ist vielleicht noch etwas früh für ein Bier, aber ich habe ohnehin nur alkoholfreies im Haus …“

Colin lächelte gerührt. Er hatte sich zwar nie solche heftigen Auseinandersetzungen mit seinem Vater geliefert wie Levi, dennoch hatte er sich wie ein Vogel gefühlt, der endlich aus seinem Käfig herauskonnte, als er wegen des Studiums aus Whispering Pines weggezogen war. Und er hätte ehrlich gesagt auch nicht damit gerechnet, jemals wieder hierher zurückzukehren.

„Das geht schon in Ordnung.“

Sein Vater öffnete die Tür und trat beiseite, um Colin hereinzulas...

Autor

Brenda Harlen
<p>Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
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Wendy Warren
Wendy lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe der Pazifikküste. Ihr Haus liegt nordwestlich des schönen Willamette-Flusses inmitten einer Idylle aus gigantischen Ulmen, alten Buchläden mit einladenden Sesseln und einem großartigen Theater. Ursprünglich gehörte das Haus einer Frau namens Cinderella, die einen wunderbaren Garten mit Tausenden Blumen hinterließ. Wendy und...
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