Bianca Exklusiv Band 395

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EIN ENGEL MIT GEHEIMNIS von TRACY MADISON

Ein Engel? Witwer Parker Lennox traut seinen Augen nicht, als ihm im dichten Schneegestöber eine Frau mit Flügeln auf dem Rücken begegnet. Die junge Nicole ist so betörend, dass bald längst vergessene Gefühle in ihm erwachen. Allerdings scheint sie etwas vor ihm zu verbergen …

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  • Erscheinungstag 06.12.2025
  • Bandnummer 395
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531207
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tracy Madison, Michelle Major, Karen Rose Smith

BIANCA EXKLUSIV BAND 395

Tracy Madison

1. KAPITEL

Dicke Schneeflocken tänzelten im Licht der Straßenlaternen. Ein hübscher Anblick, dachte Parker Lennox – die sanfte Anmut, mit der sie durch die Luft wirbelten, erinnerte ihn an die Ballettaufführungen, in die seine verstorbene Frau ihn in Boston immer gezerrt hatte.

Kaum zu glauben, dass Bridget seit fast sechs Jahren tot war und er vor sieben Jahren mit ihr zum letzte Mal ein Ballett besucht hatte. Manchmal fand Parker das geradezu absurd. An anderen Tagen hingegen – heute zum Beispiel – hatte er das Gefühl, dass seitdem eine ganze Ewigkeit vergangen war. So oder so, er vermisste seine Frau.

Er vermisste alles an ihr – ihr strahlendes Lächeln, ihr Lachen, die Art, wie sie ihn von der anderen Seite eines Zimmers aus ansah, und wie gut es sich anfühlte, wenn sie sich im Schlaf an ihn schmiegte.

Himmel, sechs Jahre! Wie war das nur möglich?

Ein knappes Jahr nach ihrem Tod war Parker mit seinen beiden kleinen Töchtern Erin und Megan nach Colorado in seine Heimatstadt Steamboat Springs zurückgekehrt, um alldem, was ihn so an Bridget erinnerte, zu entkommen: das Leben in Boston, die Restaurants, Parks und Geschäfte – von ihrem Haus ganz zu schweigen –, alles war eine einzige Qual geworden. Für ihn, und vor allem für seine Töchter.

Erin war erst vier und Megan zwei gewesen, als Bridget ihrer Krebserkrankung nach tapferem Kampf erlegen war. Der Verlust ihrer Mutter hatte die kleinen Mädchen tief verstört. Parker natürlich auch, aber in seinem Alter ging man anders mit seiner Trauer um. Als Erwachsener wusste man, dass der Schmerz irgendwann nachließ.

Seine Töchter jedoch hatten diese Erfahrung noch nicht gemacht, wie ihm eines Morgens schmerzlich bewusst wurde, als er Erin und Megan in die Kleidungsstücke ihrer Mutter gehüllt und weinend in seinem Kleiderschrank gefunden hatte.

An diesem Morgen hatte er endgültig beschlossen, nach Steamboat Springs zurückzukehren, damit die Mädchen es etwas leichter hatten. Also hatte er trotz der Einwände seiner Schwiegereltern sein Haus verkauft, seinen Job gekündigt und sich hier niedergelassen.

In den fünf Jahren seit dem Umzug hatte er diese Entscheidung nur einmal bereut – nach einem fast tödlichen Skiunfall, der seine geliebten Töchter um ein Haar zu Vollwaisen gemacht hätte. In Boston wäre ein solcher Unfall ausgeschlossen gewesen.

Doch Gott sei Dank hatte er alles gut überstanden, und in den vergangenen drei Jahren hatte sich vieles zum Guten gewendet. Seine Töchter blühten förmlich auf, und Parkers vorübergehende Zweifel hatten sich längst in Luft aufgelöst. Steamboat Springs war inzwischen in jeder Hinsicht ihr Zuhause geworden.

Und trotzdem musste er beim Anblick dieser verdammten Schneeflocken an damals denken – an seine wundervolle Frau. An die schönen Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, und an die Jahre, seit der Krebs sie ihnen genommen hatte.

Seufzend bremste Parker an einer roten Ampel drei Blocks von der Grundschule entfernt und riss sich aus seinen Erinnerungen. Zwei Stunden zuvor hatte er seine Töchter von der Schule abgeholt und war mit ihnen essen gegangen, jetzt brachte er sie zum Vorsprechen für die bevorstehende Weihnachtsaufführung zurück. Wenn sie später nach Hause fuhren, würde er die Mädchen ein bisschen aufbleiben lassen, weil Freitag war, und danach würde er noch ein paar Stunden arbeiten, um den Rest des Wochenendes frei zu haben.

In Boston hatte er die Marketingabteilung einer großen Firma geleitet, doch seit er in Steamboat Springs lebte, arbeitete er freiberuflich. Die ersten Jahre waren finanziell nicht ganz einfach gewesen, aber dank Bridgets Lebensversicherung und dem Geld, das nach dem Kauf des Hauses hier vom Verkaufserlös des Hauses in Boston übrig geblieben war, waren sie über die Runden gekommen.

Bis zur Einschulung seiner jüngeren Tochter Megan hatte er ausschließlich von zu Hause aus gearbeitet, dann jedoch drei Meilen von der Schule entfernt ein Büro gemietet. Meistens gelang es ihm, seine Arbeit während der Unterrichtszeit zu erledigen, aber manchmal – so wie heute – musste er noch etwas mit nach Hause nehmen.

Er hatte nicht viel Zeit für sich, aber sein Leben gefiel ihm. Natürlich überkam ihn manchmal ein Gefühl der Trauer, wenn er an seine Frau dachte. Gelegentlich war er auch einsam, aber im Grunde konnte er sich nicht beklagen.

Nur noch zwei Wochen bis Thanksgiving, und er hatte eine Menge, wofür er dankbar sein konnte. Seine Töchter waren gesund. Er war gesund. Sie hatten genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, genug Geld auf der Bank, Freunde und Familie und jede Menge Freizeitaktivitäten, die ihnen Spaß machten. Abgesehen von Bridget fehlte ihnen nichts.

Parker bremste erneut – diesmal vor einem Stoppschild – und warf einen Blick in den Rückspiegel. „Wir sind fast da, Mädels. Seid ihr schon aufgeregt?“

„Ja!“, bekräftigte die achtjährige Megan vom Rücksitz aus. „Ich kann es kaum erwarten! Ich will einen Engel spielen, aber Erin will das auch. Glaubst du, wir werden beide Engel?“

„Sei doch nicht so dumm!“, sagte die zehnjährige Erin auf ihre übliche direkte Art. „In dem Stück gibt es jede Menge Engel, also können wir beide Engel sein.“

„Aber nur, wenn wir ausgewählt werden“, wandte Megan ein. „Nur, wenn wir gut genug sind.“

„Ihr seid beide gut genug, aber das heißt dennoch nicht, dass ihr die Rollen kriegt, die ihr wollt“, schaltete Parker sich ein. Jedes Kind, das heute vorspielte, würde bei dem Stück mitmachen, egal, ob als Engel, Stern, Baum oder hinter der Bühne. „Lasst uns nicht vergessen, dass es vor allem darum geht, Spaß zu haben und Weihnachten zu feiern, okay?“

Die Mädchen zögerten einen Moment, bevor sie zustimmten.

Parker hoffte inständig, dass entweder keine von ihnen einen Engel spielen würde oder beide. Sonst würde in den nächsten sechs Wochen die Hölle los sein.

Allerdings würden die Mädchen dann auch eine wichtige Lektion lernen, obwohl Parker es schlimm finden würde, wenn sie enttäuscht wurden. Die beiden hatten schon zu viel Kummer in ihrem noch jungen Leben gehabt. Wenn es nach ihm ginge, würde ihnen für den Rest ihres Lebens jede schmerzliche Erfahrung erspart bleiben, aber das war leider unrealistisch.

„Oh! Sieh mal, Erin“, rief Megan aufgeregt, als sie sich der Schule näherten. „Ist das nicht ein …?“

„Pass auf, Daddy!“, schrie Erin. „Überfahr den Engel nicht!“

Überfahr den … was?!

Parker bekam vor Schreck fast einen Herzinfarkt, als er tatsächlich einen Engel – oder vielmehr eine als Engel verkleidete Frau – hinter einem großen, schnellen Tier auf die Straße laufen sah. War das etwa ein Hund? Vielleicht, aber das Vieh schien Hörner zu haben, also konnte Parker das nicht mit Sicherheit sagen.

Er unterdrückte einen Fluch und riss das Lenkrad nach links, während er gleichzeitig auf die Bremse stieg. Er würde nicht gerade Vater des Jahres werden, wenn er einen Engel überfuhr – schon gar nicht, wenn seine Töchter, die gerade aus vollem Hals „Daddy! Halt an! Bitte halt an!“, schrien, es mit ansehen mussten.

Gott schien jedoch Erbarmen mit ihm zu haben, denn es gelang Parker, den Wagen zum Stehen zu bringen, ohne die Frau oder das flüchtende Tier anzufahren. Und ihnen war auf der Gegenfahrbahn, auf der er zum Stehen kam, auf wundersame Weise kein Auto entgegengekommen.

Parker atmete tief durch und stellte den Motor aus. Die Engel-Frau stand direkt vorm Wagen im Scheinwerferlicht und sah Parker erschrocken aus weit aufgerissenen Augen an. Sie stieß einen Fluch aus, den Parker sofort erkannte, obwohl er ihn nicht hören konnte.

Mann, das war ganz schön knapp!

Megan schien seine Gedanken zu erraten: „Du hättest fast einen schönen Engel getötet, und das wäre ganz, ganz böse gewesen. Die Polizei hätte dich ins Gefängnis gesperrt und … und …“

„Sieh mal, Megan“, fiel Erin ihr ins Wort. „Das ist gar kein richtiger Engel. Das ist Miss Bradshaw!“

„Oh! Ja, das ist Miss Bradshaw. Aber warum sieht sie wie ein Engel aus?“

„Bestimmt wegen des Vorsprechens. Daddy hätte fast unsere Musiklehrerin getötet, aber das wäre auch ganz böse gewesen, denn sie ist toll.“

„Und wie! Wir mögen Miss Bradshaw! Sie kommt aus Denver.“

Hm. Diese Frau war also die neue Musiklehrerin? Warum hatte Parker sie dann nicht am Tag der offenen Tür letzten Monat gesehen? Er achtete immer darauf, alle Lehrer seiner Töchter kennenzulernen, aber damals war er erkältet und Megan so aufgeregt gewesen, dass er seiner Umgebung wahrscheinlich nicht genug Beachtung geschenkt hatte.

„Ich habe niemanden fast getötet, weder Engel noch Lehrerin“, sagte er und schnallte sich ab. Und auch wenn er die Frau angefahren hätte, wäre es bei seinem langsamen Tempo bestimmt nicht zu lebensbedrohlichen Verletzungen gekommen.

Zumindest ging er davon aus.

„Du hättest sie töten können, wenn du sie überfahren hättest“, widersprach Erin.

„Aber das habe ich nicht.“

„Genau, Erin“, bekräftigte Megan. „Das hat er nicht!“

„Das weiß ich auch, Megan! Ich habe schließlich Augen im Kopf!“

„Wartet mal, Mädels“, mischte Parker sich in den Beinahe-Streit ein. „Ich will mich nur kurz vergewissern, dass es eurer Lehrerin gut geht, und dann …“

Er verstummte abrupt, weil Miss Bradshaw, die gerade auf seine Seite des Wagens zukam, plötzlich ausrutschte und das Gleichgewicht verlor. Sie landete mit dem Po auf dem Boden, sprang jedoch sofort wieder auf und klopfte sich stirnrunzelnd den Schnee vom Hintern. Autsch, das hatte bestimmt wehgetan. Wieder sah er sie einen Fluch ausstoßen, den er mühelos von ihren Lippen lesen konnte.

Parker schaltete das Warnblinklicht ein. Sobald er sich vergewissert hatte, dass Miss Bradshaw nicht verletzt war, musste er seinen Wagen von der Gegenfahrbahn schaffen. „Es dauert nicht lange.“

Als er ausstieg, kam Miss Bradshaw ihm schon entgegen. „Tut mir schrecklich, schrecklich leid“, sagte sie zerknirscht. „Roscoe – mein Hund – hat sich losgerissen, und ich … ich bin einfach losgelaufen, um ihn einzufangen. Ich habe überhaupt nicht auf die Straße geachtet.“

Wenn je ein normaler Mensch einem Engel geähnelt hatte, dann diese Frau. Beim Anblick ihrer langen, hellblonden Haare, ihrer vollen Wimpern und Lippen und ihrer zart gerundeten Wangen fiel ihm nur das Wort „ätherisch“ ein.

Sie trug ein knöchellanges Kleid, das in der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde und an dessen Rückseite Flügel befestigt waren. Sie war zierlich, hatte aber sehr weibliche Rundungen. Nein, Parker konnte ihr unmöglich am Tag der offenen Tür begegnet sein. Das hätte er nie im Leben vergessen.

„Alles okay mit Ihnen?“, fragte er, mehr um ihr Wohlergehen besorgt als um das ihres Hundes, von dem keine Spur mehr zu sehen war. „Ihnen ist nicht schwindlig oder so?“

„Nein, ich habe nur einen Schreck bekommen. Entschuldigen Sie bitte nochmals, dass ich Ihnen fast in den Wagen gelaufen wäre.“ Sie zitterte – vor Kälte oder wegen ihres Sturzes oder der Beinahe-Kollision. Vermutlich wegen allem zusammen. Sie betrachtete den Bürgersteig und die Häuser auf der anderen Seite der Straße. „Aber Sie müssen jetzt vermutlich Ihren Wagen wegfahren, und ich muss meinen Hund suchen.“

„Ich … Das ist richtig, aber ich würde Ihnen gern helfen. Ich bringe nur schnell meine Töchter in die Schule und komme dann zurück.“ Zu seiner Belustigung fiel Parker auf, dass das Haarband mit dem Heiligenschein auf Miss Bradshaws Kopf verrutscht war, sodass sie etwas ramponiert aussah. Und irgendwie niedlich. Da sie immer noch zitterte und ihre Zähne klapperten, zog er seine Jacke aus. „Hier, ziehen Sie die über, bevor Sie noch erfrieren.“

Er rechnete mit Widerspruch, aber zu seiner Überraschung nickte sie nur lächelnd. „Danke. Ich bin übrigens Nicole, und … Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, würde ich Ihre Hilfe bei der Suche nach Roscoe gern annehmen.“

„Ich hätte Ihnen meine Hilfe nicht angeboten, wenn mir das etwas ausmachen würde, und ich heiße Parker.“ Er wollte gerade noch etwas sagen, als er die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens sah. Ja, es wurde höchste Zeit, den Wagen von der Straße zu fahren. „Passen Sie gut auf sich auf“, warnte er sie, als er seine Autotür öffnete.

Erin nutzte sofort die Chance, sich vom Rücksitz aus bemerkbar zu machen. „Miss Bradshaw! Wir sind’s, Erin und Megan Lennox! Sie sehen sehr hübsch aus, und ich bin froh, dass wir Sie nicht überfahren haben.“

Nicole beschattete mit einer Hand lachend ihre Augen, um die beiden besser sehen zu können. „Hallo, Erin und Megan! Ich bin auch froh.“ Sie richtete den Blick wieder auf Parker. „Sie sind der Vater, nehme ich an?“

„Das bin ich.“

„Schön, Sie kennenzulernen.“ Sie streifte sich seine Jacke über, die so groß war, dass ihre Flügel darunter passten, und zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Bei dieser Bewegung verrutschte das Band des Heiligenscheins noch mehr, und sie sah doppelt so niedlich aus. Oder dreimal.

„Ebenfalls.“ Parker winkte ihr zu, stieg ein und schnallte sich an. Seine Neugier auf Nicole war schon jetzt riesig. „Okay“, sagte er zu den Mädchen, „nichts passiert. Und jetzt lasst uns zur Schule fahren, bevor uns noch so etwas Verrücktes zustößt.“

Binnen Sekunden redeten die Mädchen wieder über das Stück und ihre Chance, beide Engel zu spielen. Währenddessen überquerte Nicole die Straße ohne weiteren Zwischenfall. Parker konnte sie sogar durch das geschlossene Fenster ihren Hund rufen hören. Beim Anblick des zerzausten Engels musste er wieder lächeln.

Kurz darauf bog er auf den Schulparkplatz. Obwohl Parker sich am Gespräch der Mädchen beteiligte, war er in Gedanken bei Nicole Bradshaw und dem Knistern, das er während ihres kurzen Gesprächs und beim Anblick ihres schiefen Heiligenscheins und ihrer ätherischen Gesichtszüge verspürt hatte. Er kannte dieses Knistern, auch wenn es Jahre her war, dass er es das letzte Mal wahrgenommen hatte.

Bis vor wenigen Minuten war Bridget die einzige Frau gewesen, zu der Parker sich spontan hingezogen fühlte – es war damals Liebe auf den ersten Blick.

Sie war die einzige Frau, die er geliebt hatte und mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Die Frau, die er immer noch vermisste und nach der er sich fast täglich sehnte. Die Mutter seiner Töchter. Seine Frau. Seine Bridget.

Ehrlich gesagt wusste Parker nicht, was er davon halten sollte, dass er eben auf Nicole genauso reagiert hatte wie damals auf Bridget, aber er würde dieser Reaktion gern auf den Grund gehen. Ob der Blitz tatsächlich auch ein zweites Mal einschlagen konnte?

2. KAPITEL

Verdammt, wo steckte dieser Hund nur? „Roscoe!“, rief Nicole wieder und wieder. „Na los, komm schon, alter Junge! Willst du ein Leckerli? Hier, Roscoe!“

Nichts. Kein Bellen, kein Winseln, kein erleichtertes Jaulen.

Immer wieder blieb sie stehen und rief.

Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, den Hund mit zum Vorsprechen zu bringen. Er war nun halt mal ein richtiger Streuner. Er liebte nichts mehr, als wegzulaufen, um in aller Ruhe die Umgebung zu erkunden, und nutzte daher jede Chance, die sich ihm bot. Nicole hatte sich zwar angewöhnt, gut auf ihn aufzupassen, wenn sie mit ihm nach draußen ging, aber heute war es ihm nach längerer Zeit mal wieder gelungen, sich loszureißen.

Und das war nur ihre Schuld.

Eine Viertelstunde vor dem Vorsprechen hatte Nicole das dämliche Rentiergeweih an Roscoes Kopf befestigt und ihn von der Leine gelassen. Genau in dem Moment hatte der Hausmeister die Tür nach draußen geöffnet, und der Hund war sofort losgeschossen. Und jetzt lief Nicole im Engelskostüm durch die Gegend und suchte ihn!

Sie hatte ihn in der stillen Hoffnung mitgebracht, dass der Anblick des großen Mischlingsrüden mit Rentiergeweih die Kinder zum Lachen bringen und die Stimmung auflockern würde. Das hätte Nicole irgendwie beruhigt.

Sie war erst seit dem Frühjahr Musiklehrerin an der Grundschule in Steamboat Springs und hatte ihren Platz dort noch nicht so richtig gefunden. Ihre Vorgängerin Mrs. Engle, die dann in Rente gegangen war, war sowohl bei den Kollegen als auch den Schülern und Eltern sehr beliebt gewesen, dass Nicole Angst hatte, keine würdige Nachfolgerin sein zu können. Vor allem, was die Theateraufführungen anging.

Und das empfand sie als Riesenbelastung. Mit Konzerten hatte sie kein Problem, die hatte sie auch in Denver veranstaltet, aber ein Theaterstück hatte sie noch nie aufgeführt. Außerdem hatte sie beschlossen, das bisher übliche Krippenspiel durch Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, allerdings mit Märchenfiguren, zu ersetzen.

Die Kinder kannten diese Fassung noch nicht, und seit Nicole ihre Schüler von Rollen wie Maria, den drei Weisen aus dem Morgenland oder Engeln hatte reden hören, hatte sie Angst, dass sie enttäuscht sein würden, wenn sie erfuhren, dass sie Märchengestalten wie Rumpelstilzchen oder Pinocchio spielen sollten.

Vielleicht freuten sie sich auch über die Veränderung. Doch da Nicole sich gerade nicht in der Aula befand – wo in diesem Augenblick vermutlich schon die Kinder und deren Eltern ungeduldig auf sie warteten –, würde sie das vorerst nicht erfahren.

Wieder rief sie Roscoes Namen. Immer noch keine Reaktion. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und versuchte, rational zu denken. Oder wie ein Hund.

Okay, so, wie sie Roscoe kannte, hatte er vielleicht schon Freundschaft mit einer Familie geschlossen, die in einem dieser Häuser wohnte, und lag jetzt zusammengerollt auf einem Küchenfußboden. Bitte, lieber Gott! Roscoes Halsband enthielt sämtliche wichtigen Kontaktdaten – ihren Namen, den des Tierarztes und die entsprechenden Telefonnummern.

Sie schob ihre eiskalten Hände in die Taschen von Parkers Jacke – er war wirklich ein echter Gentleman – und spähte durch den immer dichter fallenden Schnee. Trotz der Straßenbeleuchtung konnte sie nicht weit sehen.

„Roscoe!“, rief sie, während sie weiter den Bürgersteig entlangging – immer weiter weg von der Schule. „Wo steckst du bloß, alter Junge? Willst du ein Leckerli? Roscoe, komm her!“

Sie blieb stehen und lauschte hoffnungsvoll. Immer noch nichts. Der Wind wurde stärker, und der Heiligenschein auf ihrem Kopf verrutschte noch mehr. Genervt riss sie sich das verdammte Ding runter, faltete es zusammen und schob es in die Jackentasche.

Noch so eine Schnapsidee von ihr, sich als Engel zu verkleiden!

Sie hatte das aus dem gleichen Grund gemacht, aus dem sie ihrem Hund das Geweih aufgesetzt hatte: um die Kinder zum Lachen zu bringen. Und das einzige andere verfügbare Kostüm für Erwachsene war ein Weihnachtsmannkostüm gewesen. Nicole hatte nichts gegen den guten alten Mann, hatte jedoch keine Lust gehabt, sich einen falschen Bart anzukleben oder mehrere Lagen Kleidung übereinander zu tragen.

Na ja, wenn sie ganz ehrlich mit sich war, hatte sie vor allem der falsche Bauch abgeschreckt. Ihr größter Wunsch war nämlich, schwanger zu werden, und als sie sich im Spiegel mit dem großen runden Bauch sah, in dem kein Baby war, wäre sie fast in Tränen ausgebrochen.

Also hatte sie sich für das Engelskostüm entschieden.

Wieder erschauerte sie – jetzt mit einer Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Ob die künstliche Befruchtung diesmal endlich geklappt hatte? War sie vielleicht schon schwanger? Aber natürlich war es noch zu früh, das herauszufinden. Es war erst drei Tage her, dass sie zum vierten – und hoffentlich letzten – Mal in einer Fruchtbarkeitsklinik in Denver war. Obwohl sie es wieder und wieder versuchen würde – bis sie alle ihre eingefrorenen Eizellen, ihre Geldreserven oder ihre Hoffnung aufgebraucht hatte.

Vor einem Jahr hatte ihr Arzt ihr zögernd sein Einverständnis für Hormonspritzen gegeben, bevor ihre Eierstöcke ihre ohnehin schon eingeschränkte Tätigkeit ganz einstellten. Es hatte geklappt, aber sie hatte nur eine begrenzte Anzahl Eizellen zu Verfügung, was hieß, dass ihr nicht allzu viele Versuche blieben. Trotzdem würde sie erst aufgeben, wenn sie keine andere Wahl mehr hatte.

Sie hatte gelernt, wie wichtig es war, sich in der Gegenwart auf seine Ziele und Wünsche zu konzentrieren. Weil es nämlich morgen oder nächsten Monat oder in zwei Jahren schon zu spät sein konnte. Im Leben gab es nun mal keine Garantien. Und deshalb hatte sie sich für ein Kind entschieden – trotz des Risikos, wegen der Hormonbehandlung einen Rückfall zu bekommen.

Wie sehr sie sich danach sehnte, Mutter zu werden! Sie war nicht nur bereit, sondern nach allem, was sie durchgemacht hatte, auch stärker als je zuvor. Sie liebte das Leben. Sie liebte ihr Leben.

Alles, was sie brauchte, um es komplett zu machen, war ein Kind.

Sie riss sich aus ihren Gedanken und drehte um. Vielleicht war Roscoe ja zur Schule zurückgelaufen und suchte auf dem Parkplatz nach Kontakt und Streicheleinheiten. Roscoe saugte Zuwendung auf wie ein Schwamm.

In ihrer Hast machte sie so rasch kehrt, dass sie fast in jemanden hineingerannt wäre – in einen großen, kräftigen Mann: Parker Lennox, der gut aussehende, blauäugige, blonde Witwer, von dem ihre Kolleginnen alle schwärmten und dem sie vorhin fast ins Auto gelaufen war. Leider hatten ihre Schuhe viel zu glatte Sohlen, sodass sie wieder ausrutschte und das Gleichgewicht verlor.

Bevor Nicole zum zweiten Mal an diesem Abend auf dem Po landen konnte, zog Parker sie an den Armen hoch, und sie stolperte direkt gegen seine harte – oh, wow, sehr harte – Brust. Instinktiv schlang er die Arme um sie und hielt sie fest.

Sofort überwältigte sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, rasch gefolgt von einem seltsamen Déjà-vu. So irrational das auch war, aber sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen. So, als habe sie ihr ganzes Leben lang auf ihn gewartet.

Ha! Das wäre ein bühnenreifes Märchen.

„Sagen Sie“, sagte Parker belustigt, „ist es normal, dass Sie ständig in Menschen oder Autos hineinlaufen? Oder bin ich eine Ausnahme?“

„Nicole, bitte.“ Errötend machte sie sich von ihm los und ging einen Schritt zurück. „Sie sind anscheinend eine Ausnahme, denn normalerweise bin ich nicht so ungeschickt.“

„Hm.“ Er klang immer noch belustigt. „Ich glaube, ich habe in über dreißig Jahren noch nie eine Frau umgeworfen, und jetzt ist es gleich zwei Mal nacheinander passiert. Sollte ich mich geschmeichelt fühlen oder besorgt um Ihre Sicherheit sein und mich lieber von Ihnen fernhalten?“

Lachend sah sie sich nach Roscoe um. Sie versuchte zu ignorieren, dass sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte. Was nicht ganz einfach war – vor allem nach dem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das sie in seinen Armen empfunden hatte. Ein Gefühl, das sie in den vielen Tagen und Wochen der Operationen und Chemotherapie im Krankenhaus gut hätte gebrauchen können.

Aber sie hatte es auch so überstanden, Gott sei Dank! Und jetzt, vier Jahre später, war sie immer noch gesund.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie brauchen sich weder geschmeichelt zu fühlen noch sich Sorgen zu machen. Ich habe einfach nur einen schlechten Tag. Den haben wir alle mal.“

„Das stimmt.“ Mit völliger Selbstverständlichkeit nahm er ihren Arm. „Aber ich würde mich erheblich besser fühlen, wenn ich aufpasse, dass Sie nicht noch mal hinfallen.“

Nicole hätte ihm ihren Arm entziehen und ihn darauf hinweisen können, dass sie durchaus imstande war, allein zu gehen, aber er strahlte so viel Sicherheit und Stabilität aus. Ihre Angst um ihren Hund und davor, sich zu verspäten, ließ sofort nach. „Klingt vernünftig. Aber wenn wir Roscoe nicht bald finden, muss ich ohne ihn zur Schule zurück.“ Sie seufzte niedergeschlagen. „Ich wünschte wirklich, wir würden ihn finden.“

„Wir werden ihn finden“, sagte Parker voller Überzeugung. „Wo haben Sie schon überall gesucht?“

„Ich habe ihn immer wieder gerufen, aber nicht an Türen geklopft oder in Gärten gesucht. Vermutlich hätte ich das tun sollen, aber ich dachte, er kommt, wenn er meine Stimme hört.“ Normalerweise tat er das auch, wenn auch nur, um sich kurz blicken zu lassen und dann wieder davonzuschießen. Verdammt! Sie musste ihn finden!

Dieser dumme, riesige Hund war ihr bester Freund. Er war ihr treu zur Seite gestanden, als sie um ihr Leben gekämpft hatte. Ihre Eltern und ihr Bruder hatten sie zwar so gut es ging unterstützt, aber nur Roscoe hatte sie ihre schlimmsten Ängste anvertraut.

„Lassen Sie uns den anderen Weg an der Schule vorbei nehmen“, schlug Parker vor. „Keine Sorge, Ihr Hund ist irgendwo da draußen, und so groß, wie er ist, und mit diesem Geweih auf dem Kopf, wird man ihn kaum übersehen können. Das war doch ein Geweih, oder?“

„Ja. Blöde Idee von mir, ihn als Rentier zu verkleiden.“

Parker lachte. „Vielleicht ist er deshalb weggelaufen. Weil er sich gedemütigt fühlt.“

„Ach, ich glaube kaum. Ich habe früher …“ Nicole verstummte abrupt und unterdrückte die Bemerkung, dass sie während ihrer Chemotherapie gleiche Tücher für ihren Kopf und seinen Hals gekauft hatte. „Das macht ihm nichts aus. Ich mache mir eher Sorgen, dass er jemandem einen Schrecken einjagt. Es ist dunkel, und man sieht nicht sofort, dass er ein Hund ist.“

„Ich verstehe. Was für eine Rasse ist er eigentlich?“

„Wer weiß?“, entgegnete sie mit einem gezwungenen Lachen. „Er ist eine Promenadenmischung.“

„Dann könnte er tatsächlich ein halbes Rentier sein“, sagte Parker grinsend. „Sie kommen also aus Denver? Sind Sie hergekommen, weil es hier so tolle Wintersportmöglichkeiten gibt?“

Nicole rief wieder nach Roscoe, bevor sie antwortete: „Nein, Wintersport ist nicht so mein Ding. Sehr zum Ärger meiner Familie, in der alle begeisterte Skifahrer sind. Mein Bruder Ryan ist deshalb vor einigen Jahren hergezogen, meine Eltern ein halbes Jahr nach ihm. Ich bin hier, um in ihrer Nähe zu sein.“

„Ich verstehe. Tja, Familie ist wichtig.“

„Stimmt. Ich … Es gab für mich keinen wichtigen Grund, in Denver zu bleiben, und wir stehen uns sehr nahe. Aber natürlich musste ich hier erst einen Job finden, und da Stellen für Musiklehrer rar sind, brauchte ich etwas Geduld.“

Ihre Erklärung war hundertprozentig zutreffend, auch wenn Nicole unterschlug, dass ihre Entscheidung, nach Steamboat Springs zu ziehen, vor allem mit ihrem Kinderwunsch zusammenhing. Sollte er sich erfüllen, war es wichtig, ihre Eltern und Ryan in der Nähe zu haben. Als Unterstützung, aber auch …

Nun ja, der Krebs könnte theoretisch jederzeit zurückkommen. Eine schreckliche Vorstellung zwar, aber sie musste es mit einplanen, bevor sie ein Kind in die Welt setzte. Denn sollte das Schicksal zum zweiten Mal zuschlagen und sie diesmal nicht überleben, würden ihre Eltern sich um das Kind kümmern.

Und wenn sie hier wohnte, würde ihr Sohn oder ihre Tochter im Falle ihres Todes zumindest nicht umziehen, die Schule wechseln und neue Freunde finden müssen. Nur so ließ sich eine letztlich nicht kontrollierbare Situation halbwegs steuern.

Doch Nicole hatte nicht die Absicht zu sterben. Sie hatte sich fest vorgenommen, hundert Jahre oder älter zu werden. Aber sie konnte nicht ein Kind in die Welt setzen, ohne sämtliche Eventualitäten zu berücksichtigen. Auch die, an die sie lieber nicht denken wollte.

„Familie ist etwas sehr Wichtiges“, riss Parkers ruhige Stimme sie aus ihren Gedanken. „Meine Eltern sind vor einer Weile nach Florida gezogen, und meine Schwester hat länger in Kalifornien gelebt, wohnt aber inzwischen wieder hier. Sie ist glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Zwillinge.“

„Mein Bruder hat erst vor Kurzem geheiratet und hat noch keine Kinder.“ Was sich jedoch schnell ändern konnte. Nicole liebte ihren Bruder und ihre Schwägerin Andi, musste sich aber manchmal eingestehen, dass sie neidisch auf die beiden war. „Wow, Zwillinge. Klingt anstrengend und wundervoll zugleich. Eineiig oder zweieiig?“

„Ein Junge und ein Mädchen, also zweieiig. Sie sind noch klein. Daisy und Reid haben mit ihnen alle Hände voll zu tun.“ Parker lachte und rief nach Roscoe. „Ja, es ist immer gut, Familie in der Nähe zu haben. Das macht das Leben erheblich einfacher.“

Allerdings. Nicole seufzte frustriert, weil ihr Hund immer noch nicht auftauchte, und … vor Neid. „Zwei Babys auf einmal, und dann auch noch ein Junge und ein Mädchen. Klingt perfekt.“

Wieder rief sie nach ihrem Hund, wieder ohne Erfolg. Die Tränen, die sie bisher erfolgreich hatte unterdrücken können, drohten sie plötzlich zu überwältigen. Sie holte tief Luft, bevor sie womöglich noch in Gegenwart eines Mannes in Tränen ausbrach, den sie kaum kannte, so nett und charmant er auch war.

Bei dieser Vorstellung versiegten ihre Tränen schlagartig. Nicole weinte nicht gern in Gesellschaft anderer Menschen. Schwäche zeigte sie nur gegenüber Roscoe. Sie zog es vor, nach außen hin stark und souverän zu wirken. Dann fühlte sie sich nicht so verletzlich, obwohl ihr natürlich bewusst war, dass sie das nicht vor Schmerz oder Krankheit bewahrte.

„Roscoe! Komm, alter Junge!“, hallte Parkers tiefe Stimme durch die Dunkelheit und machte Nicole erneut seine Nähe bewusst. Als er den Griff um ihren Arm festigte, fühlte sie sich wieder sicher und geborgen.

„Danke“, sagte sie. „Dafür, dass Sie mich und meinen Hund nicht überfahren haben … und für alles andere.“ Ihr Haar war nass vom Schnee, und ihre Beine und Füße waren im kalten Wind eiskalt geworden. Dank Parkers Nähe und seiner Jacke war ihr jedoch wenigstens von den Schultern bis zur Hüfte wohlig warm. „Sie hätten mir nicht Ihre Jacke zu leihen oder Ihre Kinder allein zu lassen brauchen, um mir bei der Suche zu helfen. Ich … Das ist sehr nett von Ihnen.“

„Gern geschehen. Glauben Sie mir – ich bin genauso froh, dass ich Sie oder Ihren Hund nicht umgemäht habe, und ich helfe gern. Meine Mädchen brauchen mich gerade nicht. Sie sind mit ihren Freundinnen beschäftigt, und es sind jede Menge Erwachsene da, die auf sie aufpassen. Was würde das außerdem über mich aussagen, wenn ich zulassen würde, dass einem Engel die Flügel einfrieren?“

„Trotzdem. Sie müssen doch selbst schon halb erfroren sein.“

„Nein, ich trage zwei Schichten Kleidung übereinander, also kein Problem. Lassen Sie uns auf die Suche konzentrieren. Damit Roscoe bald wieder dahin zurückkehrt, wo er hingehört.“

Inzwischen waren sie bei den Häusern direkt gegenüber der Schule angekommen. Nicole spielte mit dem Gedanken, die Suche abzubrechen. Aber wie konnte sie, solange Roscoe allein da draußen in der Kälte und der Dunkelheit herumlief? Und womöglich verletzt war? Im Grunde blieb ihr nur eine Option.

Sie beschloss, auf ihr Bauchgefühl zu hören. „Können Sie mir einen Gefallen tun? Ich will nicht aufhören zu suchen, aber in der Aula warten die Schüler und Eltern auf mich. Könnten Sie ihnen mitteilen, dass ich das Vorsprechen auf … nächste Woche verschiebe?“

„Klar, mach ich. Kein Problem.“

„Danke. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass …“

„Aber wenn Sie meine Meinung hören wollen“, fiel ihr Parker ins Wort, „sollten Sie erst mal mit reinkommen und sich etwas Wärmeres anziehen. Und danach setzen wir gemeinsam die Suche im Auto fort. Das geht schneller.“

Nicole blinzelte überrascht. Und gerührt. „Das ist wirklich nicht nötig. Ich meine, Sie haben schon mehr als genug für mich getan. Aber etwas Wärmeres anzuziehen ist natürlich eine gute Idee. Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen auch Ihre Jacke zurückgeben.“

„Wie schon gesagt, ich würde Ihnen nicht meine Hilfe anbieten, wenn ich nicht wollte“, sagte Parker, während sie die Straße überquerten. Immer noch Arm in Arm. „Abgesehen davon werden meine Töchter sowieso darauf bestehen mitzuhelfen, so, wie ich sie kenne. Und sehen wir den Tatsachen mal ins Auge – vier sehen mehr als einer allein.“

„Okay, ich nehme Ihr Angebot an“, sagte Nicole lachend. Warum sich sträuben? Parker hatte recht – je mehr Leute nach Roscoe Ausschau hielten, desto besser waren die Chancen, ihn zu finden. „Danke.“

Parker lachte ebenfalls. „Noch nie hat sich jemand innerhalb so kurzer Zeit so oft bei mir bedankt, aber gern geschehen, Nicole. Und obwohl die Umstände alles andere als ideal sind, freue ich mich, Sie kennengelernt zu haben.“

Nicole schoss das Blut ins Gesicht. Es war schon eine Weile her, dass das Kompliment eines Mannes sie zum Erröten gebracht hatte. So lange, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Klar hatte sie sich vor und nach ihrer Erkrankung mit Männern getroffen. Mit einem hätte sie sich sogar eine feste Beziehung vorstellen können, aber nachdem sie ihm von ihrer überstandenen Krebserkrankung erzählt hatte, war er vom Erdboden verschwunden.

Sie hatte nie wieder von ihm gehört. Kein Anruf, keine Mail. Noch nicht mal eine feige SMS. Ihr Geständnis hatte dem Mann offensichtlich einen solchen Schrecken eingejagt, dass er geflohen war. Sie konnte das zwar verstehen, zumal sie noch nicht lange zusammen gewesen waren, aber sein Verhalten hatte sie trotzdem verletzt. Anscheinend betrachteten die meisten Männer sie jetzt als Ausschussware, und das gefiel ihr gar nicht.

Also zog sie es vor, allein zu bleiben.

Und bisher hatte sie auch nichts vermisst. Doch Parker mit seiner lieben, aufmerksamen Art und … okay, seinem unglaublichen Sexappeal weckte wieder ihre Sehnsucht nach Liebe. Und das war gefährlich.

Außerdem war Parker vielleicht nur deshalb so nett zu ihr, weil er von Natur aus hilfsbereit war und gute Manieren hatte. Und selbst wenn er sich für sie als Frau interessierte, würde er seine Meinung bestimmt ändern, sobald er von dem Krebs erfuhr. Und warum auch nicht? Soweit Nicole wusste, war seine Frau an derselben Krankheit gestorben, die auch sie fast das Leben gekostet hätte: Brustkrebs. Es würde sie nicht wundern, wenn er dann sofort die Flucht antreten würde. Und sie könnte ihm das noch nicht einmal verdenken.

Also würde sie seine Hilfe annehmen und seine Aufmerksamkeit genießen, aber zwischen ihnen konnte sich nichts weiter als eine Freundschaft entwickeln. Zumal sie vielleicht schon schwanger war. In einem Jahr konnte sie bereits Mutter sein.

Nein, trotz ihrer körperlichen Reaktion auf Parker und der geringen – sehr geringen – Chance, dass er sich für sie interessierte, gab es in ihrem Leben keinen Platz für einen anderen Menschen. Sie musste sich darauf konzentrieren, gesund zu bleiben und schwanger zu werden.

Nur das zählte. Alles andere war nebensächlich.

Als Parker und die Mädchen am nächsten Morgen am Frühstückstisch saßen, drehte sich das Gespräch natürlich um den gestrigen Abend – und über den immer noch ausgebüxten Roscoe.

Sie hatten wirklich alles versucht, um ihn zu finden. Immer wieder waren sie im Schneckentempo sämtliche Straßen in der Umgebung der Schule abgefahren und hatten nach dem Hund gerufen, leider ohne Erfolg. Nach über einer Stunde hatte Nicole Parker und die Mädchen dann nach Hause geschickt.

Parker hatte die Suche nur ungern abgebrochen, zumal er Nicole angehört hatte, dass sie den Tränen nahe war, als er sie auf dem Schulparkplatz bei ihrem Wagen abgesetzt hatte. Aber letztlich war es ihr Hund. Sie traf die Entscheidungen.

Parker vermutete, dass sie allein weitergesucht hatte – trotz ihrer Versicherung, sofort nach Hause zu fahren. Aber auch das würde er respektieren müssen.

„Glaubst du, Miss Bradshaw hat Roscoe schon gefunden?“, fragte Megan, als könne sie seine Gedanken lesen.

„Keine Ahnung, mein Schatz. Das wäre natürlich toll.“

„Wir können sie ja anrufen und sie fragen“, schlug Erin vor. „Und wenn sie ihn noch nicht gefunden hat, können wir überall Zettel aufhängen, damit die Leute nach ihm Ausschau halten.“

Keine schlechte Idee. Eigentlich sogar eine richtig gute – vor allem der Vorschlag, Nicole anzurufen. „Klingt vernünftig“, sagte Parker. „Holt doch schon mal Papier und Stifte und fangt an. Ich telefoniere solange mit eurer Musiklehrerin.“

Erin sprang sofort auf. „Machen wir, Daddy! Komm, Megan! Wir holen Stifte und Kleber und Glitzer und … Oh, wir haben ja gar keine Fotos von Roscoe. Wir wissen gar nicht, wie er aussieht, nur dass er groß und braun ist!“

„Wir können doch Aufkleber benutzen!“, schlug Megan vor. „Wir haben jede Menge Hundeaufkleber.“

„Aber wir wissen nicht, ob Roscoe so aussieht wie die Hunde auf den Aufklebern.“ Erin ließ enttäuscht die Schultern hängen. „Ohne Fotos geht das nicht.“

„Doch“, widersprach Parker, um den Mädchen Mut zu machen. „Denkt mal kurz nach. Wir haben keine Fotos von Roscoe, aber jemand anderer hat bestimmt jede Menge davon. Und wer mag das wohl sein?“

„Miss Bradshaw“, riefen die Mädchen einstimmig.

„Genau. Und sie lässt uns bestimmt das beste aussuchen.“ Falls sie das Tier nicht schon gefunden hatte. „Dann machen wir Kopien und kleben sie an sämtliche Straßenschilder und Laternen. Ihr müsst nur daran denken, in der Mitte genug Platz für das Foto zu lassen. Glaubt ihr, ihr kriegt das hin?“

„Na klar!“ Megan sprang ebenfalls auf und zog ihre Schwester ungeduldig an einem Arm. „Komm, wir holen unsere Malsachen und machen ganz tolle Zettel. Damit Miss Bradshaw nicht mehr so traurig ist.“

Es wunderte Parker nicht, dass Megan gestern Abend mitbekommen hatte, wie schlecht es Nicole ging, und ihr helfen wollte. Seine beiden Töchter hatten ein sehr feines Gespür für die Stimmung anderer Menschen.

Was vielleicht daran lag, dass ihr Haus in den letzten Lebenswochen ihrer Mutter voller Freunde und Familienmitglieder gewesen war, die Abschied hatten nehmen wollten. Obwohl Megan kaum Erinnerungen an ihre Mutter hatte, hatte sich diese Erfahrung tief in sie eingebrannt. Manche Augenblicke, mancher Schmerz blieben eben unvergesslich, ganz egal, wie alt man wurde.

Parker unterdrückte ein Seufzen und wartete, bis die Mädchen nach oben verschwunden waren, um ihre Malutensilien zu holen, bevor er seinen Laptop einschaltete. Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass Nicoles Telefonnummer nicht oder noch nicht im Telefonbuch verzeichnet war. Es gab jedoch mehr Bradshaws in Steamboat Springs, und Nicole hatte doch gesagt, dass ihr Bruder Ryan hieß.

Unter den sechs aufgeführten Bradshaws gab es nur einen Ryan. Parker wählte dessen Nummer und drückte die Daumen, dass der Mann zu Hause war. Und er Parker die Telefonnummer seiner Schwester gab oder sich zumindest bereit erklärte, Nicole etwas auszurichten.

Der Mann meldete sich sofort. Nachdem er sich von seiner Überraschung erholt und ein paar gezielte Fragen gestellt hatte, versprach er, Nicole zu kontaktieren. Schon eine Viertelstunde später – die Mädchen waren ganz in ihre Arbeit vertieft – klingelte Parkers Handy.

Nicole.

Beim Klang ihrer Stimme beschleunigte sich Parkers Herzschlag, und sein Magen verkrampfte sich nervös. Reaktionen, die ihn an seine erste Zeit mit Bridget erinnerten, als er sie einfach nicht aus dem Kopf bekommen hatte und er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, um sie um ein Date zu bitten.

Oh ja, er mochte Nicole. Sehr sogar, wenn er seinen Körperreaktionen vertrauen konnte, und das konnte er. Bei Bridget hatte er das getan.

Was sprach also jetzt dagegen?

Er holte tief Luft und lächelte seinen Töchtern aufmunternd zu, die ihn erwartungsvoll ansahen, bevor er mit der zweiten Frau in seinem Leben sprach, die er einfach nicht aus dem Kopf bekommen konnte.

3. KAPITEL

Warum, oh, warum nur hatte sie sich einverstanden erklärt, dass Parker und seine Töchter sie abholten, um ihr wieder bei der Suche nach Roscoe zu helfen? Nicole schob den Vorhang zur Seite und spähte nervös auf die Straße. Sie wollte sich so schnell wie möglich wieder auf die Suche nach Roscoe machen.

Vor einer Stunde hatte sie alle Tierheime abtelefoniert, wo zu ihrer Enttäuschung jedoch kein Hund abgeliefert worden war, auf den Roscoes Beschreibung zutraf. Wenigstens hatte man dort jetzt alle nötigen Kontaktinformationen.

Es blieb ihr also nichts anders übrig, als noch mal alles abzusuchen. Sie würde bei der Schule anfangen, das Suchgebiet immer weiter ausdehnen und jeden, der ihr begegnete, fragen, ob er Roscoe gesehen hatte.

Nicole nahm ihre Jacke, ihre Handschuhe und das Foto von Roscoe, das sie ausgedruckt hatte, um es herumzuzeigen, und legte alles fein säuberlich neben ihre Haustür, bevor sie zu ihrem Platz vorm Fenster zurückkehrte.

Als ihr Bruder Ryan sie angerufen hatte, hatte er sich zunächst nach ihrem Befinden und den Umständen von Roscoes Verschwinden erkundigt und ihr angeboten, auf seinen geplanten Besuch bei seinen Schwiegereltern in Rhode Island zu verzichten, um Nicole bei der Suche zu helfen, aber das hatte sie dankend abgelehnt.

Erst danach richtete er ihr Parkers Nachricht aus.

Ihr Herzschlag hatte sich sofort beschleunigt, und sie war von einer Mischung aus Nervosität und Freude erfüllt worden. Es war ein schönes Gefühl gewesen – so herrlich normal. Vielleicht hatte sie Parker deshalb sofort zurückgerufen, anstatt sich auf die Suche nach Roscoe zu machen.

Beim Klang seiner ruhigen Stimme fühlte sie sich sofort optimistischer. Natürlich erkundigte er sich zuerst, ob Roscoe wieder aufgetaucht war. Im Hintergrund hörte sie die Stimmen der beiden Mädchen, die Parker aufgeregt Fragen nach Roscoes Alter, der Farbe seines Fells, seinem Lieblingsfressen und seiner Augenfarbe stellten.

Nicole hatte das alles zwar schon gestern Abend gesagt, beantwortete die Fragen aber gern noch mal mit einer Mischung aus Neugier, Dankbarkeit und Belustigung. Die Mädchen wollten ihr offensichtlich helfen. Parkers Vorschlag, vorbeizukommen und beim Suchen zu helfen, war daher keine Überraschung, und Nicole sagte spontan Ja, auch wenn sie eigentlich ablehnen sollte.

Vermutlich hatte Parkers erneutes Hilfsangebot mehr mit dem Drängen seiner Töchter zu tun, als dass es von ihm ausging. Aber das war für Nicole kein Problem. Es erleichterte ihr sogar, seine Hilfe anzunehmen. Sie konnte schließlich unmöglich zwei kleine Mädchen enttäuschen, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten, oder?

Aber auf die drei zu warten, während ihr Hund immer noch frei da draußen herumlief, fiel ihr ganz schön schwer.

Was war, wenn Roscoe vielleicht gar nicht herumlief? Wenn er dazu gar nicht imstande war? Wenn er von einem Auto angefahren worden und verletzt war oder gar … Nein! Ihr Hund war intelligent. Sie durfte sich nicht gleich das Schlimmste ausmalen. Er war schließlich noch keine vierundzwanzig Stunden fort.

Als sie nach ein paar Minuten immer noch keine Spur von Parker und seinen Töchtern sah, seufzte sie leicht genervt auf. Sie würde ihnen jetzt noch zehn Minuten geben und sich dann allein auf den Weg machen. Erin und Megan würden zwar enttäuscht sein, aber Nicole würde es später wiedergutmachen.

Siebeneinhalb Minuten lang lief sie unruhig in ihrem noch spärlich eingerichteten Wohnzimmer auf und ab und versuchte, nicht an Roscoe zu denken. Sie hatte ihre alten Möbel in Denver verkauft, da sie vorübergehend bei ihren Eltern untergeschlüpft war, bis sie ein eigenes Haus gefunden hatte. Sie wohnte hier erst seit einem Monat und hatte noch längst nicht alles ersetzt, was sie verkauft hatte.

Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihren Bungalow verliebt. Er war fast zu groß für sie allein, aber sie hatte ihn günstig bekommen, da die Vorbesitzer wegzogen und ihn schnell loswerden wollten. Es gab drei Schlafzimmer, von denen sie eins zum Arbeitszimmer umfunktioniert hatte, ein kleines Esszimmer, ein großes Wohnzimmer und zwei Bäder. Zusätzlich gab es ein zweites Geschoss, das jedoch noch nicht ausgebaut war. Nicole bezweifelte, dass sie sich je die Mühe machen würde. Sie brauchte den zusätzlichen Raum nicht, und er eignete sich gut als Speicher.

Zurzeit bestand ihre einzige Wohnzimmermöblierung aus zwei bequemen Sesseln, die sie bei einer Geschäftsauflösung erstanden hatte, einer Stehlampe und ihrem Fernseher. Die Lampe hatte sie von ihren Eltern geliehen. Vor Roscoes Flucht hatte sie den heutigen Tag eigentlich mit Möbelkauf verbringen wollen.

Das Klappen von Autotüren riss sie aus ihren Gedanken. Die Lennox waren da, Gott sei Dank! Nicole lief sofort zur Haustür und öffnete sie. Beim Klang der drei Stimmen – der hohen, aufgeregten der beiden Mädchen und der tiefen, volltönenden ihres Vaters – beschleunigte sich wieder ihr Herzschlag, und sie bekam eine Gänsehaut.

Was für eine attraktive Familie! Der Mann so groß, schlank und sexy, und die beiden Mädchen wirklich niedlich. Erins rotes und Megans hellblondes Haar leuchteten in der Morgensonne.

Ja, sie waren ein hübsches Trio. Als sie zur Haustür kamen, fragte Nicole sich unwillkürlich, wie die Mutter der Mädchen wohl ausgesehen hatte. Sie musste eine richtige Schönheit gewesen sein. Vermutlich rothaarig wie Erin und braunäugig wie beide Töchter.

Nicole musste wieder an die Krankheit denken, der diese ihr fremde Frau erlegen war – eine Krankheit, gegen die sie sich selbst erbittert zur Wehr gesetzt hatte. Mitgefühl für die beiden Mädchen überwältigte sie.

Und für Parker.

Nicht nur, weil die drei einen schrecklichen Verlust erlitten hatten, sondern weil sie auch vorher die Hölle durchgemacht haben mussten.

Nicole konnte sich gut in die andere Frau hineinversetzen – die Angst nach der Diagnose, die rasch schwindende Hoffnung, das Elend der Chemotherapie, der Verlust von Haaren und Identität, der vergebliche Versuch, positiv zu denken und sich den Kindern und dem Ehemann zuliebe zusammenzureißen.

Sie wusste, wie es war, wenn man sein eigenes Spiegelbild nicht wiedererkannte und sich so krank und elend fühlte, dass der Tod einem fast wie eine Erlösung vorkam. Sie hatte das alles selbst durchgemacht und würde es nie mehr vergessen.

Aber sie hatte keine Kinder und keinen Ehemann gehabt, die auf sie angewiesen waren, die sie liebten und denen sie etwas bedeutete. Um die sie sich Gedanken machen oder für die sie stark bleiben musste. Also konnte sie doch nicht ganz nachvollziehen, wie viel Mut und Kraft Parkers Frau hatte aufbringen müssen und wie niederschmetternd es gewesen sein musste, machtlos gegen den eigenen, viel zu frühen Tod zu sein.

Klar, Nicole hatte sich Gedanken um ihre Eltern und ihren Bruder gemacht und sich in ihrer Gegenwart zusammengerissen, aber das war kein Vergleich. Die Gewissheit, nicht für die geliebten Töchter da sein zu können, wenn sie heranwuchsen, musste unendlich viel schrecklicher sein.

Nicole bekam einen Kloß im Hals. Sie schluckte ihn runter und verdrängte ihre deprimierenden Gedanken. Weil sie eine Frage heraufbeschwörten, die sie sich schon oft gestellt hatte: ob es wirklich eine gute Entscheidung war, ohne Partner ein Kind in die Welt zu setzen. Ohne jemanden an ihrer Seite, der alles Nötige übernehmen würde, wenn sie sterben würde – ob durch einen Unfall oder die Rückkehr ihres tödlichen und gefürchteten Feindes.

Aber jetzt musste sie erst mal ihren Hund finden und zwei hübsche kleine Mädchen und ihren sehr attraktiven Vater ins Haus lassen. „Hey, Leute!“, begrüßte sie ihre Gäste lächelnd. „Schön, dass Ihr da seid. Kommt rein, dann können wir …“

„Hi, Miss Bradshaw!“, rief Erin. „Raten Sie mal, was wir gemacht haben!“

„Was denn?“ Ratlos sah sie Parker an, bevor ihr der Stapel Zeichnungen in seinen Händen auffiel – bunt, mit Aufklebern und Glitzer verziert. Überrascht las sie sich den Text durch … und schmolz förmlich dahin. „Ihr seid ja wirklich toll. Danke!“

„Das war meine Idee“, sagte Erin strahlend.

„Wir haben beide daran gearbeitet“, erklärte Megan. „Weil wir wollen, dass Roscoe wieder nach Hause kommt und Sie nicht mehr so traurig sind. Wir hatten zwar keine Fotos von ihm, aber Daddy hat gesagt, wir kriegen vielleicht eins von Ihnen.“

Nicole war ganz gerührt. „Natürlich, ich habe jede Menge Fotos. Das hier wollte ich gleich herumzeigen. Ich drucke einfach noch mehr aus.“

„Oder Sie machen Kopien! Daddy hat gesagt, dass …“

„Beruhige dich erst mal, Megan“, sagte Parker lächelnd und zwinkerte Nicole zu. „Ich weiß, ihr seid total aufgeregt und wollt Miss Bradshaw unbedingt eure Zettel zeigen, aber lasst uns doch zuerst reingehen.“

Nicole erwiderte sein Lächeln mit klopfendem Herzen und ließ die drei ins Haus. Die Mädchen zogen sich sofort unaufgefordert ihre Stiefel aus, während Parker Nicole den Stapel Zeichnungen reichte, damit er das Gleiche tun konnte. Für einen flüchtigen Moment streiften sich dabei ihre Hände, und das Kribbeln kehrte zurück. Genauso das Gefühl von Vertrautheit und Nähe.

Zu diesem Mann.

Ohne Vorwarnung keimte etwas in Nicole auf, das sie lange verdrängt hatte – Hoffnung vielleicht? Eigentlich hatte sie die Hoffnung auf Liebe längst aufgegeben – darauf, den richtigen Mann zu finden und mit ihm glücklich zu sein. Doch plötzlich war sie wieder da.

Was war, wenn dieses Gefühl der Vertrautheit und der Nähe und dieses Prickeln sich tatsächlich in Liebe verwandelten? Wäre das nicht ein Wunder? Und wie viele Wunder konnte man erwarten? Sie hatte ein zweites Mal ihr Leben und ihre Gesundheit geschenkt bekommen, und vielleicht war sie endlich schwanger, was ja auch ein Wunder wäre. Und dann war da noch Roscoe. Ihn zu finden, wäre Wunder Nummer drei. Das war mehr als genug. Wie konnte sie da noch auf ein viertes hoffen?

„Ich weiß, es ist nicht ganz einfach, aber versuchen Sie, sich nicht allzu große Sorgen zu machen“, sagte Parker. Er nahm Nicole die Zettel ab und gab sie seinen Töchtern, die damit sofort ins Wohnzimmer schossen. „Roscoe geht es bestimmt gut. Bis heute Abend ist er wieder zu Hause.“

„Danke, davon versuche ich mich selbst die ganze Zeit zu überzeugen“, erwiderte Nicole so fröhlich wie möglich. „Aber ich mache mir nun mal Sorgen. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn anfangen würde. Er ist mein bester Freund und ein wichtiger Teil meiner Familie. Das klingt vielleicht etwas gestört, aber so ist es nun mal.“

„Ich finde das gar nicht gestört, sondern völlig normal. Meine Schwester hat auch einen Hund.“ Parker nickte in die Richtung seiner Töchter, die gerade die Zettel auf dem Fußboden nebeneinanderlegten. „Die Mädchen lieben Jinx. Es war hart für sie, als Daisy mit ihr auszog.“

Zwillinge, ein Hund und ein liebevoller Ehemann. Parkers Schwester schien das große Los gezogen zu haben. Manche Frauen hatten wirklich alles, aber das war auch völlig in Ordnung. Nicole brauchte nicht alles, um zufrieden zu sein. Natürlich hätte sie nichts gegen etwas mehr einzuwenden, aber wer hatte das schon? Sie brauchte es nur nicht unbedingt.

„Das muss hart für die beiden gewesen sein“, sagte sie. „Wie lange hat Ihre Schwester bei Ihnen gewohnt?“

„Ach, eine ganze Weile. Sie hat sich um Erin und Megan gekümmert, als ich im Krankenhaus lag.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht, den er rasch mit einem Lächeln maskierte. „Worauf ich hinauswill, ist, dass ich in etwa weiß, was Sie gerade durchmachen.“

„Okay. Ich wollte auch nichts anderes unterstellen.“

Nicole fragte sich, warum und wie lange Parker im Krankenhaus wohl gewesen war, sagte jedoch nichts. Selbst wenn die Mädchen nicht in Hörweite wären – es ging sie nichts an, zumal sie selbst nicht gern über ihre Krankheit sprach. „Wir sollten mit der Suche weitermachen. Ich drucke noch rasch ein paar Fotos von Roscoe aus, damit die Mädchen ihre tollen Plakate fertig machen können, und dann brechen wir auf.“

„Machen wir. Ich dachte, wir machen zwischendurch vielleicht mal Pause in Fosters Bar and Grill. Da ist immer viel los, und meine Schwester ist mit einem der Fosters verheiratet. Sie hängen bestimmt einen Zettel für uns auf.“

„Das wäre super, danke. Ich hole die Fotos. Wie viel brauchen wir? Acht?“, fragte Nicole an die Mädchen gewandt.

Erin bestätigte das.

Lächelnd ging Nicole ins Arbeitszimmer und druckte die Fotos von Roscoe aus. Parkers Krankenhausaufenthalt ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. War er krank gewesen, hatte er einen Unfall gehabt oder …? Was auch immer es war, sie hoffte, dass er es gut überstanden hatte.

Sie seufzte tief, als der Drucker das achte Foto ausspuckte. Parker wusste nicht, dass sie Brustkrebs gehabt hatte. Für ihn war sie nur die Musiklehrerin seiner Töchter, der der Hund weggelaufen war. Nicht mehr und nicht weniger.

Vermutlich war es auch besser, wenn das so blieb.

Nach drei Stunden Suche und dem Aufhängen der Zettel knurrten ihre Mägen, und die Füße taten ihnen weh. Parker wollte die Suche zwar nur ungern unterbrechen, aber sie brauchten dringend eine Pause. Nicole wirkte genauso erschöpft wie die Mädchen … und ziemlich niedergeschlagen.

„Wir sollten etwas essen“, erklärte er, nachdem er sie geschickt in die Nähe des Restaurants gelotst hatte. „Lasst uns den letzten Zettel im Fosters abgeben und nach dem Lunch noch zwei Stunden suchen. Was sagt ihr dazu?“

Zu seiner Überraschung nickte Nicole. Er hätte mit mehr Widerstand gerechnet. „Klingt gut.“

Halb erfreut und halb beunruhigt hielt er ihr und seinen beiden Töchtern die Tür auf und führte sie zu einem freien Fensterplatz.

„Ich will Hähnchenbruststreifen mit Pommes“, verkündete Erin, kaum dass sie Platz genommen hatten. Sie aßen öfter hier, sodass die Mädchen die Speisekarte auswendig kannten. „Und Erdbeerbrause.“

„Was ist mit dir, Megan?“, fragte Parker.

„Hm, keine Ahnung. Was essen Sie, Miss Bradshaw?“

Nicole lehnte sich seufzend in ihrem Stuhl zurück und schloss kurz die Augen. „Ich war noch nie hier, Megan, also brauche ich einen Tipp. Was schmeckt hier besonders gut?“

Megan riss überrascht die Augen auf. „Was?! Noch nie? Wir sind immer hier.“

Na toll! Jetzt dachte Miss Bradshaw bestimmt, dass Parker nicht kochen konnte. „Hier schmeckt alles gut, Nicole, aber ich würde nicht sagen, dass wir ständig hier sind. Eher einmal die Woche. Manchmal zwei Mal, wenn nach der Schu...

Autor

Michelle Major
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.</p>
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Karen Rose Smith
<p>Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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