Flying - Grenzenlose Lust

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Eine mitreißende Love-Story voll erotischer Höhenflüge …

Angst vorm Fliegen? Kennt Stella nicht. Jedes Wochenende nimmt sie den günstigsten Flug aus der Stadt, egal wohin. Hauptsache die Airport-Bar ist akzeptabel - und der Fremde, den sie sich dort für eine Nacht aussucht, willig. Stella lebt für diese wilden, hemmungslosen One-Night-Stands am Flughafen. Keiner ihrer Spontan-Lover hinterlässt bleibenden Eindruck, bis sie bei ihren erotischen Streifzügen auf den atemberaubenden Matthew trifft. Ihre Affäre ist so turbulent wie intensiv, und obwohl Stella spürt, dass dieser Mann ein dunkles Geheimnis hat, kann sie nicht genug kriegen von seinen heißen Verführungskünsten …


  • Erscheinungstag 01.06.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494376
  • Seitenanzahl 300
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Megan Hart

Flying – Grenzenlose Lust

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Flying

Copyright © 2014 by Megan Hart

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Scott Church

ISBN eBook 978-3-95649-437-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Rote Lippen.

Weiche Haut.

Parfüm.

Das sind die Tricks, die viele Frauen kennen. Männer mögen seidiges Haar und enge Kleider, High Heels und Strapse, wie diese, die sie gerade trägt. Als sie in ihren Zwanzigern war, hatte Stella sich beigebracht, für einen Mann sexy zu sein; erst wesentlich später hatte sie entdeckt, wie viel besser es war, für sich selber sexy zu sein.

Ihre Schritte flüstern über den kühlen Industriefußboden, als sie ihre Pumps mit der roten Sohle in die Kunststoffwanne stellt und diese auf dem Rollband in Richtung des Röntgenapparats schiebt. Als Nächstes folgt ihre Tasche, die sie liebevoll TARDIS nennt. Wie die Raum-Zeit-Maschine aus Dr. Who, der Lieblingsserie ihres Sohnes, ist auch Stellas Tasche innen größer, als sie von außen aussieht. Alles, was eine Frau für ein Wochenende benötigt, um sich schön zu machen, passt hinein – plus ein Buch für den Fall, dass sie niemanden findet, für den es sich lohnt, schön zu sein.

Ihr Mantel folgt danach. Sie würde ihn lieber anbehalten, aber selbst wenn man sie damit durch den Scanner gehen ließe, würde die Gürtelschnalle den Alarm auslösen. Was die Ösen an ihren Strapsen ohnehin tun werden. Inzwischen kennt Stella die meisten der Sicherheitsbeamten auf dem Harrisburg International Airport mit Namen. Sie müssen sie natürlich immer noch abtasten, aber es ist mehr zu einem Spiel zwischen ihnen geworden.

„Hi Pete.“ Ihr entgeht nicht, wie sein Blick zu ihren nylonbestrumpften Füßen gleitet und einen Moment an ihren Waden hängen bleibt, als sie sich umdreht, um ihr Handy auch noch in eine weitere Plastikwanne zu legen, bevor sie diese der ersten hinterherschiebt. Sie kann es zwar nicht sehen, würde aber wetten, dass er auch ihren Hintern einer intensiven Begutachtung unterzieht.

Das ist gut.

Es ist egal, dass Pete mindestens so alt ist wie ihr Vater und einen Walrossbart hat. Oder dass er verheiratet ist und Kinder und Enkelkinder hat, deren Fotos er stolz auf seinem Handy herumzeigt. Oder dass selbst die Kaugummis, die er konstant kaut, nichts gegen seinen schlechten Atem ausrichten können. Es ist egal, dass sie Pete nicht mit nach Hause nehmen wird, um ihn zu ficken.

Wichtig ist nur, dass sie es könnte, wenn sie wollte. Wenn sie sich etwas Mühe gäbe. Wenn sie ihn ein wenig zu nah bei sich stehen, ein wenig zu schwer atmen ließe und wenn sie sich richtig bewegte, sodass ihr geschlitztes Kleid gerade weit genug auseinanderklaffte, um ihm einen Blick auf ihre nackten Oberschenkel zu gewähren.

Stella ist sich ziemlich sicher, dass Pete sie für ein teures Callgirl oder zumindest die Geliebte eines reichen Mannes hält. Das liegt an ihrer Kleidung, der Frisur, den manikürten Fingernägeln. Und an den Schuhen. Niemand würde auf die Idee kommen, sie für eine Frau auf Geschäftsreise zu halten, außer, ihr Geschäft wäre das Vergnügen. Pete weiß nicht, dass sie dafür nicht bezahlt wird – zumindest nicht mit Geld.

„Wohin geht’s heute?“ Pete lässt den Scannerstab über ihren Körper gleiten, während sie die Arme hebt. Um ihre Schenkel herum piept es. Pete fährt noch einmal langsam über die Stelle. Hoch und runter. „Tut mir leid, Stella.“

„Kein Problem.“ Ihr warmes Lächeln ist nicht gezwungen. Er weiß nicht, dass es genauso künstlich ist wie ihre Wimpern und Fingernägel. Der einzige Unterschied ist, sie muss es nicht festkleben, damit es hält. „Inzwischen bin ich daran gewöhnt.“

Er winkt sie zur Seite, wo weitere Sicherheitsbeamte sie abtasten werden, wobei sie jeden Schritt im Vorhinein erklären und sie wiederholt um Erlaubnis fragen, um sie an Stellen zu berühren, die sich für sie längst nicht mehr intim anfühlen. Stella machte es ihnen leicht. Sie tun schließlich nur ihre Arbeit.

Die Beamtin, die sich vorbeugt, um mit der Hand an Stellas Wade hinaufzustreifen, ist neu; oder sie hat zumindest noch nie in der Freitagabendschicht gearbeitet, wenn Stella hier war. Ihr Namensschild sagt, sie heißt Maria. Obwohl sie ihr schwarzes Haar zu einem festen Knoten zusammengefasst hat, sieht man, dass ihre Haare eigentlich kraus sind. Die Augen werden von dunklen, langen Wimpern gerahmt, die nicht angeklebt werden müssen. Ihre Lippen sind nicht geschminkt, doch sie sind so prall glänzend, als wären sie es. Sie erledigt ihren Job effizient, lässt sich kaum zu einem Lächeln hinreißen. Nicht unfreundlich, aber definitiv distanziert. Als sie aufschaut, glaubt Stella, die zu ihr hinunterschaut, zu wissen, warum.

Stella hatte noch nie etwas mit einer Frau angefangen, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht darüber nachdachte. Ihre Tricks funktionieren manchmal auch bei Frauen. Das interessierte Funkeln, egal, wie schwach und wie sehr sie sich bemühen, es zu verbergen, spricht sie genauso an wie im Auge eines Mannes, denn für Stella geht es nicht so sehr darum, zu wollen, als gewollt zu werden.

Als Marias Fingerspitzen über die Innenseite ihrer Oberschenkel streichen, reagiert Stella sofort, wenn auch nicht unbewusst. Ihr Fuß rutscht auf der blauen Markierung auf dem Boden ein Stück zur Seite, die raue Farbe könnte ihr eine Laufmasche ziehen, wenn sie nicht aufpasst. Es ist nur eine winzige Bewegung, klein genug, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber der Beamtin fällt es auf. Ihre Blicke treffen sich. Unter den Schichten aus Seide und Spitze pocht Stellas Mitte.

Maria senkt den Blick.

Wie wäre es wohl, sich so zu verstecken, dass die Welt keine Ahnung von etwas hat, das so ein grundlegender Teil von einem ist? Stella versteht das. Jeder hat Geheimnisse, und die meisten davon drehen sich um Sex.

Maria schaut sie bis zum Ende der Inspektion nicht noch einmal an, und ihre Stimme behält den ruhigen, monotonen Tonfall bei, mit dem sie ihre Anweisungen gibt, die Stella auswendig aufsagen könnte. Stellas Stimme hingegen ist jetzt rauer, wenn sie die Erlaubnis für jede einzelne Berührung von Marias Händen auf ihrem Körper gibt. Als es vorbei ist, fühlt Stella sich erhitzt und zittrig; sie fummelt mit ihren Sachen herum, und Maria muss ihr mit Mantel und Tasche helfen.

„Lassen Sie sich Zeit, Ma’am“, sagt Maria mit neutraler Stimme. „Einen schönen Tag noch.“

Stella schlüpft in ihre Schuhe und zieht die Tasche auf den Rollen hinter sich her. Den Mantel hat sie sich über den Arm gehängt. Sie schaut nicht zurück, hält den Kopf hoch und atmet gleichmäßig ein und aus, um sich zu beruhigen. In den Waschräumen schließt sie sich in einer Kabine ein, lehnt sich gegen das kühle Metall, schließt die Augen und schiebt ihre Hände durch den Schlitz in ihrem Wickelkleid. Über die Innenseite ihrer Oberschenkel, über die Strümpfe und ihre nackte Haut, bis sie durch den Stoff ihres Slips hindurch ihre Klit massiert. Sie drückt den Rücken durch. Ihre Nippel sind hart. Ein paar Augenblicke gestattet sie sich die Vorstellung, das Gesicht dieser Frau an ihrem Fleisch zu spüren. Diese vollen Lippen an ihrer Muschi. Wäre es anders als die stoppelige Berührung eines Mannes? Vermutlich. Sie lacht über sich, aber leise, und am Waschbecken benetzt sie ein Papierhandtuch, bevor sie es sich in den Nacken drückt.

Sie mustert ihr Spiegelbild. Dunkel umrahmte Augen vor blasser Haut, diese roten Lippen. Ihr braunes Haar ist schulterlang. Normalerweise hat sie die Enden ein wenig gelockt, doch heute nicht. Heute trägt sie einen tiefen Seitenscheitel und hat die Haare mit einer kleinen Klammer hinter einem Ohr festgesteckt, die andere Seite fällt ihr lose auf die Schulter. Weil sie alleine im Waschraum ist, gestattet sie sich, der Frau im Spiegel zuzulächeln und sie abschätzend zu betrachten. Stella schaut sich nicht aus Eitelkeit an. Sie tut es, um festzustellen, wie sie auf andere Menschen wirkt. Sie tut es, damit sie sicher sein kann, dass ihr Mienenspiel echt wirkt, ihr Lächeln so hell oder sexy oder sympathisch aussieht, wie gewünscht, und nicht wie das Grinsen vom Joker. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie nicht über ihr Aussehen nachdenken müssen, doch das war lange her. Damals war sie eine andere Frau gewesen, eine, die sich nie Gedanken um ihr Make-up oder ihre Haare machte oder darüber, ob sie jemand mit ihrem Lächeln erschrecken könnte.

Inzwischen ist sie darin besser geworden.

Sie zieht ihren Lippenstift nach und pudert sich die Nase. Dann zupft sie ihre Strümpfe und den Push-up-BH zurecht und öffnet den Ausschnitt ihres Kleides ein kleines bisschen weiter. Sie schlüpft in den Mantel und schließt den Gürtel. Als sie am Gate ankommt, hat das Boarding bereits begonnen, und sie wartet geduldig in der Schlange, um den Platz einzunehmen, der übrig bleibt. Manchmal stellt sie am Gate fest, dass sie nicht dahin fliegen wird, wohin sie hatte fliegen wollen, und dass sie es auf einem anderen Flug probieren muss, aber das ist der Preis, den sie dafür bezahlt, umsonst zu fliegen. Es passiert jedoch nicht sehr oft. Harrisburg ist zwar ein internationaler Flughafen, aber er ist auch sehr klein und meist nicht sonderlich ausgelastet. Am heutigen Abend gibt es kein Problem.

Heute fliegt sie nach Atlanta.

Dort wird es wärmer sein, als es Ende September in Pennsylvania ist, und das ist gut so. Stella hat nicht vor, sich die Stadt anzuschauen. Sie wird kaum einmal den Flughafen verlassen. Am einen Abend hin, am nächsten wieder zurück. Sie hat das Buch, falls sie kein Glück hat … aber das hat sie meistens.

Sie mag den Hartsfield-Jackson Airport in Atlanta. Er hat ein paar nette Bars und Coffeeshops, in denen sie Eistee oder Kaffee und, je nach Laune, manchmal auch eine heiße Schokolade trinken kann. Wie jeder Flughafen, den sie je genutzt hat, bietet er eine große Auswahl an Hotels, die nur eine kurze Fahrt mit dem Shuttlebus entfernt liegen. Sie ist Mitglied in allen Vielfliegerprogrammen, und es bedarf normalerweise nur eines kurzen Anrufs, um ein billiges Zimmer zu bekommen.

Stella denkt immer noch an Maria, als sie an der Bar in Atlanta sitzt, die Tasche zu ihren Füßen. Sie ständig mitzuschleppen ist das einzig Unangenehme an diesen Reisen, aber gleichzeitig auch der schnellste Fluchtweg. Wenn sie eine Entschuldigung braucht, kann sie immer sagen, sie müsse ihren Flug kriegen. Die Ausrede hat sie schon ein paarmal benutzt, obwohl immer die Chance besteht, dass der Mann, dessen Aufmerksamkeit sie entkommen will, sie in einer anderen Bar mit einem anderen Mann sieht – aber mal ehrlich, was interessiert sie das? Sie schuldet ihnen nichts, selbst wenn sie ihr einen Drink oder drei spendieren. Selbst wenn sie sich ein wenig zu weit zu ihnen herüberlehnt, mit den Wimpern klimpert oder ihre Beine kunstvoll so übereinanderschlägt, dass sie ihnen einen Blick auf ihr unausgesprochenes Versprechen gewährt.

Heute ist nicht das erste Mal, dass sie von einer Frau ausgecheckt wurde. Frauen mustern einander ständig. Frauen betrachten einander mit klugen, wissenden Augen, die ihre Zustimmung, ihren Neid oder ihre Verachtung verraten. Die Tricks von Gloss und Glitzer sollen Männer anlocken und Frauen beeindrucken. Stella mag in den Spiegel schauen müssen, um zu sehen, ob ihre Miene das ausdrückt, was sie ausdrücken will, aber um zu erkennen, ob ihr Körper das Gleiche tut, muss sie nur eine andere Frau ansehen.

Trotzdem ist es etwas anderes, so von einer Frau angesehen zu werden. Dieses flüchtige Aufblitzen von Lust in Marias Augen, gepaart mit der zu höflichen Art, mit der sie ihre Inspektion durchführte, hatte ein vertrautes Feuer in Stella entfacht. Manchmal mag sie es, zu flirten und schüchtern zu sein, um ihre Gelüste herumzutanzen und sie künstlich zu verlängern. Dann gefällt es ihr, eine Weile im Unsicheren zu schweben. Manchmal mag sie es auch, verfolgt zu werden. Und manchmal, so wie heute, will sie diejenige sein, die jemanden dazu bringt, eine Grenze zu überschreiten, von der derjenige nicht einmal gewusst hat, dass sie existierte.

Ein Mann setzt sich neben sie. Einen gibt es immer. Er versucht gar nicht erst, seinen bewundernden Blick zu verbergen. Er ist auf konventionelle Weise attraktiv – kantiger Kiefer, guter Haarschnitt, leichte Krähenfüße in den Augenwinkeln und ein Hauch Silber an den Schläfen. Geschäftsmann mit Anzug und Krawatte, weißem Hemd, netter Uhr. Collegering am Ringfinger. Er riecht gut.

Er ist nicht, was sie will. In anderen Nächten schon, aber nicht heute. Stella wendet sich ein wenig von ihm ab und konzentriert sich auf ihr Handy. Er versteht den Hinweis, bestellt sich einen Drink und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Frau, die auf seiner anderen Seite sitzt. Stella lauscht seinem Anmachspruch. An einem anderen Abend hätte der bei ihr auch gewirkt. Das tun sie fast alle.

Sie sieht, was sie will. Er sitzt am anderen Ende der Bar mit einem Glas Bier vor sich. Sein Blick ist auf den Fernseher an der Wand gerichtet, auf dem eine Sportsendung läuft. Er ist jung, mindestens ein paar Jahre jünger als sie. Sehr adrett, die dunklen Haare kurz geschnitten, kein Anzeichen eines Barts. Er trägt ein langärmliges schwarzes Hemd und schwarze Hosen, und – sie sucht danach – ja, die Ecke eines weißen Kragens schaut aus seiner Hosentasche heraus.

Stella hat das Beobachten zur Kunstform erhoben. Sie betrachtet ihn verstohlen, bemerkt die schwarze Tasche, die wie ein treuer Hund zu seinen Füßen liegt. Die Art Tasche, die man auf Konferenzen bekommt. Darauf eine Taube und die Worte Herbstkonferenz der episkopalen Diözese.

Episkopal, nicht römisch-katholisch. Kein Keuschheitsgelübde, aber trotzdem ein Priester. Trotzdem die Art Mann, die nicht tun sollte, was sie von ihm verlangen will.

Er schaut sich nicht um, als ein paar Frauen direkt an ihm vorbei zu den Toiletten gehen. Nicht einmal, als eine von ihnen seine Schulter mit ihrer Handtasche streift. Er schaut gerade lange genug auf, um seinen Barhocker ein wenig zur Seite zu rücken, als es zwischen Küche und Toiletten ein wenig eng wird, was bedeutet, er ist sich seiner Umgebung durchaus bewusst und nicht vollkommen von den aktuellen Sportereignissen gefesselt. Doch er ist definitiv für ein Bier und etwas zu essen hier und nicht, weil er Gesellschaft sucht. Vor allem keine zufälligen Damenbekanntschaften. Wenn der weggesteckte Kragen ihn nicht verraten hätte, würden es die Zwiebelringe tun.

Stella trinkt aus und sammelt ihre Sachen zusammen. Er schenkt ihr ein wenig mehr Aufmerksamkeit als den anderen Frauen. Als sie sich neben ihn setzt, bedenkt er sie mit einem kurzen Blick und einem höflichen Lächeln. Stella erwidert beides mit dem gleichen Mangel an Hitze und Interesse. Der Barkeeper bestätigt ihr, dass sie Eistee haben, und sie bestellt ein Glas und sieht sich, nachdem es serviert wurde, auffällig nach dem Zucker um.

„Oh … Entschuldigung.“ Ein Lächeln mit gerade der richtigen Dosis Freundlichkeit, der Blick indirekt genug, um nicht bedrohlich zu wirken. Sie deutet auf eine kleine Schüssel mit Zuckerpäckchen zu seiner Rechten. „Könnten Sie mir wohl den Zucker reichen?“

Sie hatte bereits gesehen, dass das Schälchen eine ganze Reihe Süßstoffe enthielt. Er schiebt es ihr mit einem gemurmelten „Oh, na klar“ hin. Stella runzelt die Stirn. Als sie ihn dieses Mal anschaut, stellt sie sicher, dass sie seinen Blick auffängt. Ein weiteres Lächeln, etwas träger.

Sie hält seinen Blick ein wenig länger, als angenehm ist, bevor sie sagt: „Gibt es irgendwo auch echten Zucker?“

Er schaut wieder nach rechts, aber das hier ist eine Bar, kein Restaurant. Sie hat ihn jedoch richtig eingeschätzt. Bevor sie etwas sagen kann, winkt er dem Barkeeper und bittet ihn um echten Zucker, den dieser erst eine Weile unter dem Tresen suchen muss, bevor er eine Handvoll weiße Päckchen herüberreicht. Sie purzeln aus der Hand des Mannes über den polierten Tresen, und Stella lacht und hilft, sie aufzusammeln und neben ihre chemischen Verwandten ins Schälchen einzusortieren.

„Danke“, sagt sie. Das reicht. Wie sie geahnt hatte.

Er lächelt sie an. „Gern geschehen.“

Sie reißt zwei Zuckerpäckchen gleichzeitig auf und rührt den Zucker in den Eistee, dann nimmt sie den langen Löffel heraus und steckt ihn sich in den Mund, um ihn abzulecken, bevor sie ihn auf die Serviette vor sich legt. Er wendet den Blick ab, aber nicht schnell genug. Sie beugt sich ein wenig – nicht zu viel – zu ihm hinüber.

„Ich hasse den Geschmack von künstlichem Süßstoff.“ Das hier ist ein Tanz. Vielleicht kennt er ihn. Vielleicht nicht. Aber Stella kennt ihn und setzt ihre Schritte sehr vorsichtig. „Der ist grauenvoll.“

„Ja, ich weiß, was Sie meinen.“ Er lässt seinen Blick zu ihr schweifen, aber nicht seinen Körper. Seine Hand schließt sich um sein Glas, doch er trinkt nicht.

Gloss und Glitzer. Es baumelt wie ein paillettenbesetzter Wurm im sonnengesprenkelten Wasser, schwebt hierhin und dorthin und fängt das Licht ein, bis der Fisch sich entschließt, anzubeißen. Die Frage ist – wird er es auch tun?

„Ganz schön verrücktes Wetter, was?“ In der Sekunde, in der er seinen Mund öffnet, ist es vollkommen egal, was er sagt. Denn allein, dass er etwas sagt, bedeutet, er hat angebissen. Er zeigt auf den Fernseher, in dem ein Nachrichtenband läuft. Im Mittleren Westen wüten Tornados, genau wie an einigen Orten an der Ostküste, die von solchen Wetterphänomenen normalerweise verschont bleiben. Er schaut sie nicht wirklich an und sie ihn definitiv auch nicht, aber sie spürt, dass er ab und zu einen Blick riskiert.

Eine lange Sekunde täuscht sie Unaufmerksamkeit vor, gerade so weit, dass sie sich auf seine Worte hin nicht ihm zuwendet. Doch dann … „Hm? Oh. Ja. Verrückt.“ Ein weiches Stirnrunzeln, ein besorgter Blick. „Diese armen Menschen. Ich hoffe, es wird niemand verletzt.“

„Ich glaube, es gab schon ein paar Tote.“ Andere Männer hätten das mit einem Hauch Schadenfreude gesagt, die Erleichterung derjenigen, die unbeschadet davongekommen sind. Aber dieser Mann … Seine Ernsthaftigkeit ist vermutlich echt. „Und wer kann schon sagen, wie teuer die Beseitigung der Schäden wird?“

Stella dreht sich ein winziges Stück zu ihm. „Ja. Echt beängstigend. Haben Sie je einen Tornado erlebt?“

Wie geplant, scheint ihn die Frage einen Hauch zu irritieren. Er schüttelt den Kopf. Sein Körper wendet sich ein wenig ihr zu, beinahe wie ein nachträglicher Gedanke. „Nein. Sie etwa?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Und ich hoffe, das werde ich auch nie. Bei meinem Glück würde ich vermutlich in Oz landen und mein Haus auf eine der Hexen fallen lassen.“

Er lacht. Er hat hübsche weiße Zähne. Sehr gerade. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln zeigen, dass er etwas älter ist, als sie anfangs gedacht hat. Er schaut sie jetzt an. Schaut sie richtig an. Da ist dieser Glanz, köstlich widerstrebend, der eine erneute Hitzewelle in ihr auslöst.

„Ich bin Glenn.“ Er streckt ihr die Hand hin.

Sie ergreift sie. Schüttelt sie kurz und fest, immer noch äußerst höflich. „Maria. Soll ich Sie Pater nennen?“

Eine Sekunde wirkt er überrascht, und als er ihre Hand loslässt, berührt er mit seinen Fingern kurz seine Kehle. Dann seine Tasche. „Oh. Nein. Ich meine, das müssen Sie nicht.“

Sie neigt den Kopf, lässt ihren Blick, wie das Lächeln vorhin, ein wenig länger auf ihm ruhen, als nötig ist. „Hätten Sie denn gerne, dass ich es tue?“

Für einen halben Atemzug fürchtet sie, ihn falsch eingeschätzt zu haben. Entweder hat er keine Geheimnisse, oder er ist sehr gut darin, sie zu bewahren. Doch dann … „Sie können mich einfach Glenn nennen, Maria.“

Danach unterhalten sie sich. Übers Wetter. Das Spiel im Fernsehen – er ist beeindruckt, dass sie sich gut genug auskennt, um mitreden zu können. Das sind Männer immer, was sie entweder nervt oder amüsiert, das hängt ganz von der Situation ab. Heute amüsiert es sie. Sie sprechen auch über andere Dinge. Musik zum Beispiel. Konzerte. Er hat ein paar der Bands gesehen, die sie mag. Er nennt ihr einige seiner Lieblingslieder. Als die erste Stunde vorüber ist, hat sie ihn so weit, dass er wesentlich näher an sie herangerutscht ist. Er bietet ihr einen Zwiebelring an und lacht, als sie ablehnt. Sie bestellen sich einen Teller Mozzarellasticks zum Teilen.

Sie sprechen nicht mehr über seinen Kragen – oder das Fehlen desselben. Sie nimmt an, er wird ihr jede Sekunde sagen, dass er gehen muss. Immerhin befinden sie sich auf einem Flughafen. Dann erklärt er, dass sein Flug wegen der Stürme, mit der ihre Unterhaltung begonnen hatte, verspätet ist. Sie sagt, bei ihrem Flug wäre es genauso, und was Lügen angeht, ist diese so klein, dass sie beinahe wahr sein könnte.

Es gibt einen Moment, wo sie dem allen eine andere Wendung geben könnte. Sie könnte ihm für das Essen und die Eistees danken, die er bezahlt hat. Sie könnte weggehen und ihn die Geheimnisse behalten lassen, die er bereits hat, anstatt noch eines mehr zu werden. In einem Anflug von Moral steht Stella auf und wünscht ihm eine gute Nacht und viel Glück.

Er erhebt sich ebenfalls. Fragt sie, wo sie übernachtet. Der Moment, das Richtige zu tun, ist vorbei, und wer weiß denn überhaupt schon, was richtig und was falsch ist? Er ist erwachsen. Sie zwingt ihn zu nichts.

Sie hat ihm nur ein Angebot gemacht. Er muss es nicht annehmen. Aber als sie ihre Tasche aufnimmt und er ihr mit dem Mantel hilft, weiß Stella, dass er das bereits getan hat.

„Ich habe ein Zimmer im Marriott“, sagt er.

„Ich auch“, erwidert sie und entschuldigt sich kurz, um aus den Waschräumen per Handy eines zu reservieren.

In der Lobby holt sie ihren Schlüssel, während Glenn die nichtssagenden Bilder von Pferden und Blumen mit einer Intensität betrachtet, die eines Kunstwerks im Metropolitan Museum of Art würdig wäre. Sie hat um ein Zimmer im Erdgeschoss gebeten – keine Fahrstühle, keine Treppen, nur einen kurzen, antiseptisch riechenden Flur hinunter.

An der Tür dreht sie sich lächelnd um. „Gute Nacht, Glenn. Danke, dass Sie mich begleitet haben.“

„Gern geschehen.“

Stella bietet ihm ihre Hand als Erste an. Handfläche berührt Handfläche, Finger verhaken sich ineinander. Es entsteht ein langer, langsamer und nachklingender Moment. Sie zieht ihn sanft zu sich. Einen Schritt. Noch einen. Zwischen ihnen ist nur noch Platz für einen Atemzug, und den nimmt sie. In diesen Schuhen muss sie nicht mehr tun, als ihren Kopf zu neigen und ihren Mund anzubieten, ihn glauben lassen, dass ihre Hand ihn zu sich zieht, während er immer näher kommt.

Sie küsst ihn nicht. Das ist wichtig. Stella lässt Glenn den Kuss initiieren. Und auch beenden. Sie hält die Augen geschlossen und kann nicht aufhören, zu lächeln. Ohne die Lider zu öffnen oder sich umzuschauen, ob sie alleine auf dem Flur sind, lehnt sie sich gegen die Zimmertür und schiebt seine Hand, die immer noch mit ihrer verbunden ist, unter ihr Kleid. An ihre Haut. Sie krümmt ihre Finger ein wenig um seine, sodass seine Knöchel über Spitze und Hitze streichen. Er küsst sie erneut, dieses Mal härter.

Glenns Zunge berührt ihre. Er ist ein ausgezeichneter Küsser. Die Hand, die nicht zwischen ihren Beinen steckt, gleitet über ihren Körper, ihre Brüste, um schließlich ihren Nacken zu umfassen. Er stöhnt leise an ihrem Mund, und Stella drückt sich gegen ihn.

Das ist es, wonach sie sich verzehrt. Was sie will. So sehr gewollt werden, dass er alles tun würde, sie im Flur befummeln, ja vielleicht sogar gleich hier ficken, weil er es nicht erwarten kann, seinen Schwanz in ihr zu versenken.

„Drinnen“, flüstert Glenn an ihren Lippen.

Ohne sich umzudrehen, schiebt sie die Schlüsselkarte ins Schloss. Die Tür schwingt auf, und sie treten hindurch, ohne sich voneinander zu lösen. Als die Tür ins Schloss fällt, sind sie schon längst am Bett angekommen. Glenns Hand ruht noch auf ihrer Möse, sein Mund auf ihren Lippen. Die Hand in ihrem Nacken bewahrt sie davor, zu fallen.

Er unterbricht den Kuss und lehnt mit geschlossenen Augen seine Stirn an ihre. Leckt sich über die Lippen. Nun ist es an Stella, seinen Nacken zu umfassen, und sie spürt, wie er unter der Berührung erschauert. Sie hält seine Hand nicht länger zwischen ihren Beinen fest, aber er hat sie nicht weggezogen. Seine Finger strecken sich gerade weit genug, dass sie unter die Spitze gleiten können.

Sie ist seit Stunden feucht. Seine Fingerspitze gleitet über sie, streift ihre Klit, und Stella stöhnt auf. Ein tiefes, raues Geräusch, doch das ist ihr egal. Sie will, dass er das Verlangen in ihrer Stimme genauso hört, wie er es zwischen ihren Beinen fühlt.

Sie will nichts zurückhalten.

Denn das ist es, wonach Stella sich wirklich sehnt, was sie braucht und sucht. Diese nackte, irgendwie verzweifelte Verbindung von zwei Menschen, die nicht einmal den Nachnamen des anderen kennen, aber trotzdem genau wissen, wie er schmeckt. Glenn schmeckt nach Schuld und Eifer. Schmeckt sie genauso? Oder ist ihr Geschmack bitterer, nach Geheimnissen und Trauer? Sie will mehr von ihm, also öffnete sie den Mund und lädt seine Zunge ein.

Sollte sie überrascht sein, als er murmelnd wie beim Gebet vor ihr auf die Knie sinkt? Zumindest überrascht es sie so, dass sie einen Schritt zurückgemacht hätte, wäre nicht das Bett direkt hinter ihr gewesen. Doch so kann sie sich nicht rühren, und selbst wenn sie es könnte, umfassen seine Hände in diesem Moment ihre Oberschenkel von hinten und halten sie fest. Er schaut nicht auf, als er den Gürtel ihres Wickelkleids löst, und auch nicht, als es sich öffnet und einen blassblauen BH mit passendem Slip enthüllt; die Strapse und die Strümpfe, die sie so sehr liebt.

Die Haare, der Mund, die Schuhe, die Titten und die Muschi sind nicht länger wichtig. Wenn sie zum ersten Mal vor einem Liebhaber steht – und es gibt immer nur erste Male; erste und zugleich letzte Male –, will sie sich am liebsten hinter ihren Händen verstecken. Sie möchte im Dunkeln vögeln, damit nichts existiert außer Hitze, Duft und Berührungen. Damit sie darin aufgehen kann und sie ihre Narben nicht sehen müssen.

Aber Männern ist das egal. Das versteht sie. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sie nackt vor ihnen steht, sind ihre Schwänze steif und ihre Münder hungrig. Sie sehen nur Kurven und Haut, sonst nichts. Deshalb versteckt sie sich auch nie, egal, wie sehr sie es möchte. Sie steht nackt im Licht, obwohl sie die Dunkelheit vorzieht, weil sie die kritischen Blicke verdient hat und auf eine verdrehte Art die Qualen liebt, die diese mit sich bringen.

Glenn küsst sie durch die Spitze. Er erschauert, seine Hände umfassen ihren Hintern und ziehen sie näher zu sich. Eine gleitet nach vorne, um ihren Slip zur Seite zu schieben, damit seine Zunge ihre Klit findet. Er weiß, was er tut. Es ist gut, verdammt, es ist so unglaublich gut, dass ihre Finger sich in seinen Haaren vergraben, bevor sie es bemerkt. Ihre Hüften drängen sich ihm entgegen. Er saugt sanft an ihrem geschwollenen Fleisch.

Dann schaut er zu ihr auf.

Sein Mund ist feucht, die Augen glänzen. Da ist dieses Verlangen, das sie die ganze Zeit sehen wollte – zusammen mit der Schuld, die sie in seinen Küssen geschmeckt hat. Er schluckt sichtbar. „Maria, ich …“

„Psssst.“ Ihre Finger krampfen sich noch einmal kurz in seine Haare, bevor sie den Griff löst und ihm über den Kopf und die Wange streichelt. „Ist gut. Niemand wird je davon erfahren.“

Gut, Gott wird es wissen, aber das behält Stella für sich. Sie glaubt nicht an Gott, und wenn Glenn das tut, ist das etwas, das er alleine mit seinem Schöpfer ausmachen muss. Glenn erschauert erneut und presst seine Wange an ihren Schenkel, während seine Finger sich in ihren Hintern graben. Sein Atem ist heiß durch den Stoff ihres Slips. Seine Zunge ist feucht. Seine Zähne drücken gegen ihre Haut, und sie wappnet sich gegen den Schmerz. Doch er beißt nicht. Sie ist ein wenig enttäuscht.

Sie hat ein paar Versuche benötigt, um herauszufinden, dass man den Slip am besten über die Strapse zieht, sodass man ihn leicht ausziehen kann, ohne sich vorher der Strümpfe entledigen zu müssen. Das macht es auch wesentlich einfacher an Orten zu vögeln, an denen es wichtig ist, den Großteil der Kleidung anzubehalten.

Glenns Finger haken sich unter die Spitze und ziehen das Höschen über ihre Hüften und Schenkel nach unten. Sie tritt aus ihm heraus, und Glenn drückt sie mit den Händen sanft nach hinten, bis sie auf der Bettkante sitzt. Immer noch kniend, öffnet er sie mit den Daumen und findet ihre Klit mit Lippen und Zunge. Oh Gott, seine Zähne. Wieder beißt er nicht, doch der Druck reicht, dass ihre Muskeln sich anspannen.

Stella öffnet sich ihm, spreizt die Beine. Eines legt sie ihm über die Schulter, zieht ihn näher heran. Ihre Hüften bewegen sich unter seinem Mund. Ab und zu beißt sie sich auf die Zunge, um nicht aufzuschreien, aber als er einen Finger in sie hineingleiten lässt, stößt sie einen Schrei aus und bedeckt ihre Augen mit der Hand.

Ihre Lust ist eine Sprungfeder, die sich immer enger zusammenzieht. Ihre Welt wird kleiner, konzentriert sich ganz auf die Fertigkeit von Glenns Mund und Fingern. Obwohl sie unter ihm zuckt und sich windet, behält er sein gleichmäßiges, beinahe aufreizendes Tempo bei. Sie schwebt nah am Orgasmus, und er macht immer weiter, bis sie schließlich mit zittriger Stimme fleht.

„Bitte. Oh bitte … bitte, bitte, bitte …“

Sie ist blind vor Verlangen, aber nicht taub. Sie hört, wie er scharf den Atem einzieht, und fühlt es zwischen ihren Beinen. Dann endlich bewegt sich seine Zunge im Gleichtakt mit seinen stoßenden Fingern. Stella stürzt mit voller Wucht in den Abgrund. Ihr Orgasmus ist brutal. Er bricht sie auf, lässt sie keuchend und ermattet zurück. Sie blinzelt die Sterne vor ihren Augen fort.

Glenn ist immer noch vollständig angezogen. Nun steht er auf und setzt sich neben sie aufs Bett, ohne sie zu berühren. Er sagt nichts. Stella findet ihren Atem wieder und drückt sich auf einen Ellbogen hoch, um ihn anzusehen. Sein Kopf ist gesenkt, die Schultern leicht zusammengesackt.

„Ich war mal verheiratet“, sagt er. „Wir sind geschieden. Und mit meiner Arbeit ist es schwer … jemanden zu finden … Mich zu verabreden ist beinahe unmöglich. Es … es tut mir leid.“

Sie wollte ihn zwar widerstrebend, aber nicht bereuend. „Bitte, das muss es nicht. Mir tut es nicht leid.“

Sein Lächeln ist schwach, aber ehrlich. „Wärst du gekränkt, wenn ich mich bei dir bedanke?“

Stella lacht leise. Schüttelt den Kopf. „Nein. Natürlich nicht. Aber ich müsste mich eher bei dir bedanken.“

Als sie eine Hand auf seinen Oberschenkel legt, spannen sich seine Muskeln an. Sie schiebt sie ein wenig nach oben, und er legt seine darauf. Sie lässt sich von ihm aufhalten.

„Ich könnte den Gefallen erwidern“, sagt sie und stellt sich schon vor, wie er sich in ihr anfühlt.

Aber Glenn schüttelt den Kopf. „Das hat gereicht.“

„Aber ich …“ Sie hält inne, versteht auf einmal, was er sagen will, und möchte nicht, dass er sich schlecht fühlt.

Glenn wirkt ein wenig peinlich berührt, aber nicht sehr. „Es ist lange her. Und du … Du bist sehr sexy.“

Er lässt seinen Blick so eindringlich über ihren Körper gleiten, dass sie, als er ihr schließlich in die Augen schaut, ganz erhitzte Wangen hat. Erneut will sie sich bedecken, entscheidet sich aber für ein weiteres Dankeschön. Als er sich vorbeugt, um sie zu küssen, legte Stella beide Hände an seine Wangen und hält ihn so an ihrem Mund fest. Dann umarmt sie ihn. Seine Hände streichen über ihren Rücken, bevor er sie loslässt.

Er bittet nicht darum, bleiben zu dürfen, und das ist gut, denn so muss sie sich nicht überlegen, wie sie ihn später loswird. Als er fort ist, steigt Stella unter die Dusche und öffnete ihren Mund dem Strahl, um seinen Geschmack wegzuspülen. Eines Tages, denkt sie, wird mich vielleicht ein Fremder, den ich verführe, nach den Narben fragen. Und eines Tages werde ich es ihm vielleicht erzählen.

2. KAPITEL

„Mom!“

Stella hat vom Meer geträumt. Sanfte Wellen, die über ihre Zehen schwappen, weghuschende Krebse, warmer, goldener Sand. In dem Traum hatte sie einen wunderschönen blaugrünen Bikini angehabt. Deshalb wusste sie, dass es ein Traum war – denn selbst in den Tagen vor der Geburt ihres Kindes und allem anderen, was passiert war, hatte sie niemals einen Bikini getragen. Zu viel Haut, die ungeschützt der Sonne ausgesetzt war.

„Mom!“

Sie öffnete die Augen und stöhnte. Die Bettdecke lag zerknüllt zu ihren Füßen. Das Kissen, das sie immer zwischen den Knien hatte, war irgendwo im Chaos ihrer Laken verloren gegangen. Ihr Nacken schmerzte. Das Lavendelöl, mit dem sie ihr Kopfkissen benetzte, war die Quelle ihrer lebhaften Träume, aber jetzt musste sie davon niesen.

„Was?“, murmelte sie, wohl wissend, dass Tristan sie nicht hören konnte. Von der Lautstärke seiner Rufe her zu urteilen, befand er sich irgendwo im Erdgeschoss. „Was um alles in der Welt willst du?“

Die elefantengleichen Schritte ihres sechzehnjährigen Sohnes auf der Treppe reichten, damit sie sich noch tiefer in den Kissen vergrub. Tristan hatte einen erneuten Wachstumsschub hinter sich. Er war inzwischen über eins achtzig, und seine Schuhgröße war entsprechend mitgewachsen. Sie hatte einem Riesen das Leben geschenkt. Einem Riesen mit Füßen, über die er ständig stolperte und die gigantische Matschspuren auf dem Fußboden hinterließen und auf denen er sich scheinbar nicht leise fortbewegen konnte.

„Mom, ich brauche Geld fürs Mittagessen.“

Stella hob den Kopf gerade so weit vom Kissen, um ihren Sohn, der im Türrahmen stand, anzufunkeln. „Und das musst du mir jetzt sagen?“

„Na ja, ich muss heute Mittag ja irgendetwas essen, oder?“

„Wie wäre es gestern Abend gewesen, als ich dich gefragt habe, ob du alles für die Schule zusammenhast, und du Ja sagtest?“

„Ich komme zu spät“, warnte er. „Dann verpasse ich den Bus und du musst mich fahren.“

Das wäre definitiv schlimmer, als ihn zu ihrem Scheckbuch zu führen, denn es bedeutete, sie müsste aufstehen und hätte nicht einmal Zeit, zu duschen. Mit einem weiteren Stöhnen winkte Stella in Richtung des Durcheinanders auf ihrer Kommode. „Guck mal, ob ich noch einen Zwanziger in meinem Portemonnaie habe.“

Wenn er so weitermachte, würde Tristan mit zwanzig Dollar nur wenige Tage auskommen, aber sie könnte später Geld auf sein Konto überweisen. Laut der Uhr würde er in fünfzehn Minuten im Bus sitzen, und sie könnte sich noch mal für eine Stunde umdrehen.

Er wühlte in ihrer Tasche, fand das Portemonnaie nicht, ertrug ihr Grummeln, als sie ihm die Tasche abnahm, um selber danach zu suchen. „Dad holt mich heute nach dem Training ab. Ich bleibe über Nacht bei ihm.“

„Was? Warte mal. Ich dachte, wir wollten einkaufen gehen …“

„Das mache ich mich Dad.“

„Weiß er das?“

Tristan zuckte mit den Schultern; es war ihm egal.

Es war nicht so, dass Stella ihrem Exmann Jeff nicht glaubte, aber aus Erfahrung wusste sie, dass er nur zu froh war, alle elterlichen Verpflichtungen auf seine neue Frau abzuwälzen, die leider so hilflos und flauschig wie ein Häschen war. Cynthia hatte Jeff geheiratet, da war sie gerade zweiundzwanzig gewesen. Sie hatte keine eigenen Kinder, hatte nie babygesittet und hatte mit der Eheschließung nun einen Sohn im Teenageralter geerbt, der ihr so fremd war, als wäre er auf dem Mars geboren. Selbst nach vier Jahren kam es Stella grausam vor, dass Cynthia sich um alles kümmern musste, worauf Jeff keine Lust hatte, obwohl doch so offensichtlich war, dass Tristan für sie ein konstantes Abenteuer bedeutete.

„Mach dir einen schönen Tag! Ich hab dich lieb!“, rief sie ihm nach, als er die Treppe hinunterpolterte. Tristan erwiderte nichts. Dann fiel die Haustür ins Schloss.

Stille. Gelobte Stille.

So sah Stellas Leben mit geteiltem Sorgerecht aus. Am Anfang war Tristan erst acht und noch auf der Grundschule gewesen. Zu jung, um mit Freunden wegzugehen, immer noch damit zufrieden, mit seiner Mom Filme zu gucken. Und immer noch voller Hoffnung, dass seine Eltern sich vielleicht nur getrennt hatten, aber nicht scheiden lassen würden. Sie hatten entschieden, dass es für Tristan zu unruhig wäre, wöchentlich zwischen zwei Haushalten zu wechseln, also hatte er die meisten Wochentage bei ihr verbracht. Dafür genoss Stella jedes zweite freie Wochenende, wenn Tristan freitags nach der Schule direkt zu seinem Vater ging.

Inzwischen war es so, dass er seine Tage, wenn er nicht gerade Sport oder eine andere Schulaktivität hatte oder sich mit Freunden traf, mit Videospielen vor dem Fernseher verbrachte oder sich endlos Filme anschaute. Ihr Haus war sein Ort zum Chillen, und das war ihr eigentlich auch ganz recht. Nur manchmal war ihr der Lärmpegel ein wenig zu hoch. Aber immer noch besser, als wenn sie ihn ständig irgendwo hinfahren oder abholen müsste. Jetzt, wo Tristan älter war, wurde er natürlich öfter von seinen Freunden mitgenommen und hatte auch angefangen, in der Woche mal einen Abend mit Jeff zu verbringen, vor allem, weil er jetzt weniger Fürsorge benötigte und die beiden einfach miteinander abhängen konnten.

Es hatte keinen Zweck mehr, noch einmal einschlafen zu wollen. Stella streckte sich und befreite sich von der Decke. Jeder Teil ihres Körpers knackte. Zeit, dem Chiropraktiker mal wieder einen Besuch abzustatten. Sie müsste regelmäßiger hingehen, anstatt immer zu warten, bis die Schmerzen unerträglich wurden, aber irgendwie lief ihr ständig die Zeit davon. Sie zuckte unter dem scharfen Schmerz zusammen, der durch ihren Nacken schoss, als sie die Haare auf dem Kopf zusammenband. Es war auch mal wieder an der Zeit für einen Friseurbesuch. Und vielleicht einen Abstecher zum Augenarzt, dachte sie, als ihr Blick kurzfristig verschwamm. Sie blinzelte den Schlaf weg, stützte sich auf dem Waschbecken ab und starrte einen Augenblick in den Spiegel.

Sie packte das Porzellan so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann atmete sie ein. Und aus. Sie atmete, bis das Gesicht der Frau im Spiegel aufhörte, so auszusehen, als wollte sie weinen.

Sie lächelte.

Sie runzelte die Stirn.

Sie schaute besorgt.

Letzteres war kein guter Ausdruck für sie. Er machte ihre Stirn faltig und ließ kleine Linien an Augenwinkeln und Mund entstehen. Das war beinahe so schlimm wie vorgetäuschtes Interesse, das ein kleines Funkeln in den Augen verlangte. Aber alles davon war besser als die Frau mit dem gehetzten Blick und den heruntergezogenen Mundwinkeln, die sie vor ein paar Minuten begrüßt hatte.

Um den Duschkopf herum hatte sich Dampf gebildet, und so zog sie ihr Nachthemd über den Kopf und hängte es vorsichtig an den Haken an der Tür. Er schwang lose hin und her, und sie machte sich eine mentale Notiz, ihn zu reparieren, wobei sie wusste, dass sie das sowieso wieder vergessen würde, bis sie das nächste Mal etwas daranhängte und er drohte herunterzufallen. In der Dusche senkte sie den Kopf, sodass das heiße Wasser auf Nacken und Schultern prasseln konnte. Eine schnelle Hilfe, die Schmerzen und Verspannungen wenigstens für eine kurze Zeit vertreiben würde. Dazu kämen gleich eine doppelte Dosis Ibuprofen und einige Stretchübungen, wenn sie es schaffen sollte, sich dazu zu zwingen. Sie hätte das vor dem Duschen erledigen sollen, aber der Morgen hatte schon vollkommen verkehrt angefangen – warum sollte sie sich jetzt noch bemühen, ihn geradezurücken?

Sie schäumte das Duschgel zwischen ihren Händen auf und strich mit ihnen über ihre Arme, ihren Bauch, ihre Schenkel. Dort brannte es etwas, und sie drehte sich herum, um den Schaum vom Wasser wegspülen zu lassen.

Eine kleine Schramme, nicht größer als eine Münze und an den Rändern bereits grünlich verblassend. Sie tat weh, wenn sie daraufdrückte, aber der Schmerz war eine Erleichterung. Sie drückte noch mal zu, bis es schmerzte. Sie hätte sich zum Bluten bringen können, hörte aber kurz vorher auf. Sie hatte schon genügend Narben, ohne sich noch weitere hinzuzufügen.

Die Tränen fielen, bevor sie sie aufhalten konnte. Und obwohl sie im Wasser der Dusche nicht sichtbar waren, brannten sie dennoch. Der gewellte Boden, der sie davor bewahrte, auszurutschen und sich den Hals zu brechen, war unmöglich sauber zu halten. In den Rillen sammelten sich alle möglichen Mineralien und Eisen vom Wasser und färbten sie orange, egal, wie sehr sie schrubbte oder wie viel Bleiche sie benutzte. Außerdem taten sie ihr an Knien und Händen weh, als sie zu Boden sackte. Sie blieb so liegen, bis das Wasser kalt wurde. Zu dem Zeitpunkt hatte sie die Erinnerungen an Glenns Mund schon so weit von sich geschoben, dass sie so tun konnte, als wäre es jemand anderem passiert.

3. KAPITEL

Was Stella tat, würde niemals in einem Museum ausgestellt werden, aber Fotos zu retuschieren war durchaus eine Kunst. Die Sorgenfalten in der Stirn glätten. Hautunreinheiten auslöschen, die, wenn man sie wegoperierte, zu Narben führen würden. Die Narben selber entfernte sie nie, außer ein Kunde hatte extra danach gefragt. Konsequenterweise endeten Fotos mit vielen Narben in der Warteschlange, und das war für sie in Ordnung. Sie wusste nur zu gut, wie sehr Narben einen Menschen definieren konnten, egal, wie hässlich sie waren.

Heute musste sie ein Familienporträt für ein Kirchenverzeichnis bearbeiten. Ergraute Eltern, ein mürrisches Mädchen im Teenageralter. Ein Sohn in Marineuniform. Die Eltern und das Mädchen bildeten ein Dreieck, der Sohn stand etwas abseits, obwohl die Hand der Mutter sich an seine Schulter klammerte. Ihr Griff hatte etwas Verzweifeltes, woran Stella nichts ändern konnte, doch sie verstand es vollkommen.

Der Marine hatte definitiv schon einiges in seinem Leben gesehen. Die rechte Seite seines Gesichts war verbrannt. Die Krater seiner Narben waren noch violett und rot, der Bogen seiner Augenbraue vollkommen unbehaart, die Wimpern an dem Auge fehlten. Sein Mund wurde auf dieser Gesichtsseite heruntergezogen. Aber er stand stramm, den Blick fest auf die Kamera gerichtet. Kein Lächeln. Kein Stirnrunzeln. Es war unmöglich, zu sagen, ob er resigniert, beschämt oder einfach nur gelangweilt war.

Die Kunden hatten um die Entfernung eines Schattens gebeten – zusätzlich zum üblichen Retuschieren von kleinen Pickeln und der Spiegelung auf der Brille des Vaters. Das Letzte war am schwersten, also sparte sie es sich bis zum Schluss auf. Stella konzentrierte sich darauf, ein paar lose Haare und unschöne Falten in der Kleidung zu entfernen – Sachen, die nicht auf der Liste ihrer Kunden standen und von denen sie nicht bemerken würden, dass sie sie verbessert hatte. Aber sie würden merken, wenn sie es nicht täte, das wusste Stella.

Ihr Blick glitt immer wieder zum Gesicht des Marines und den verkrampften Fingern seiner Mutter. Stoisch, beschloss sie. So sah er aus. Nicht gelangweilt oder etwas anderes, sondern einfach stoisch.

Seine Mutter hingegen wirkte verblasst und müde, die Lippen geschürzt, die Haare schlaff. Vielleicht hatte sie an seinem Bett gesessen, während er sich von den Verletzungen erholte, und seine Hand gehalten. Oder vielleicht hatte er auch allein gelitten, bis er stabil genug gewesen war, nach Hause geschickt zu werden. Wie schlimm es gewesen sein musste, als seine Mutter das erste Mal in dieses zerstörte Gesicht geschaut hatte.

Stella schloss die Augen, die Hand, mit der sie eben noch die Maus geführt hatte, blieb still. Sie nahm sie weg und faltete sie mit ihrer anderen Hand im Schoß, während sie sich sammelte. Langsam atmen. Tief atmen. Bis fünf zählen. Dann bis sieben. Bis zehn.

Es wird nie aufhören, mich zu verfolgen, dachte sie und schüttelte sich erst mental, dann auch körperlich. Sie öffnete die Augen und stieß ein peinlich berührtes Lachen aus, als sie ihre Kollegin Jen um die Wand ihres Arbeitsplatzes herumschauen sah. Wortlos hielt Jen eine Kaffeetasse und eine E-Zigarette hoch.

„Gerne“, sagte Stella. „Gib mir noch eine Minute.“

Stella hatte im College angefangen zu rauchen, aber während ihrer Schwangerschaft aufgehört. Doch es fehlte ihr noch immer. Manchmal rauchte sie eine Zigarette, wenn sie flog, das kam ganz auf die Situation an und darauf, wer sie ihr anbot. Soweit sie wusste, rauchte Jen auch nicht wirklich, außer die E-Zigarette, die sie vor ein paar Monaten gekauft hatte und mit wenig nikotinhaltigen Kartuschen füllte. Sie hatten beide einfach nur im letzten Jahr festgestellt, dass Raucher Pausen machten und Nichtraucher nicht.

Mit einem frischen Becher Kaffee aus dem Pausenraum in der Hand drückte Stella die Hintertür des Gebäudes auf und sah Jen schon draußen stehen. Handy in der einen, Kaffee in der anderen Hand, hob sie grüßend das Kinn, als Stella hinaustrat.

„Verdammt kalt hier draußen“, sagte sie um die E-Zigarette herum, die zwischen ihren Lippen klemmte. „Mit meinen Nippeln könnte ich Glas schneiden.“

Stella rieb sich über die Arme, froh, heute eine Strickjacke übergezogen zu haben. Sie nippte an ihrem heißen Kaffee und verzog das Gesicht. „Was für eine Plörre.“

Jen lachte und nahm die E-Zigarette herunter. „Da hast du recht. Ich schätze, sie haben Angst, wenn sie besseren Kaffee machen, trinken wir mehr davon und verbringen dementsprechend mehr Zeit auf dem Klo und würden folglich weniger arbeiten.“

„Ein diabolischer Plan.“ Stella lachte auch. „Erinnerst du dich noch, als es hier den Kaffee- und Sandwichservice gab?“

Jen pfiff sehnsüchtig durch die Zähne. „Ja. Der Kerl war so süß. Ich habe mehr Geld für pappige Bagels ausgegeben, als ich überhaupt verdient habe.“

Stella wollte nicht an dem splitterigen Picknicktisch sitzen, also lehnte sie sich gegen die Mauer, während sie sich die Hände an dem bereits kühl werdenden Becher wärmte. „Ich weiß nicht, warum er nicht mehr kommt.“

„Weil sie von den Verkaufsautomaten eine Provision bekommen“, sagte Jen.

Daran hatte Stella noch gar nicht gedacht.

Für die Memory Factory Fotos zu retuschieren war kein unangenehmer Job, vor allem, wenn man sich erst einmal an die Totenstille gewöhnt hatte, in der sie arbeiteten. Die Arbeitszeiten waren gut, und die Bezahlung beruhte auf dem jeweiligen Fortbildungslevel, was bedeutete, dass Stella sich im oberen Bereich befand. Aber es war kein Geheimnis, dass die Firma selber – die als kleines Fotostudio angefangen hatte und irgendwann von einem großen Konzern aufgekauft worden war – sehr hungrig nach Geld war.

Jen zog noch einmal an der E-Zigarette und stieß eine Rauchwolke in die kalte Oktoberluft aus. „Ich habe gehört, Randall wird bald Einzelgespräche mit den Mitarbeitern bezüglich der Qualität ihrer Arbeit führen. Ich schätze, in den letzten Monaten hat es wohl ein paar zu viele Beschwerden gegeben.“

„Darüber mache ich mir keine Sorgen. Du etwa?“

„Mädchen“, sagte Jen grinsend. „Auf keinen Fall. Aber einigen der Zeitarbeiter schlottern die Knie. Was gut ist, denn dann werden sie vielleicht gefeuert und wir bekommen ein paar Stunden zurück.“

In der letzten Hochsaison zu den Feiertagen hatte die Firma eine Handvoll Zeitarbeiter eingestellt, um die Extraarbeit zu schaffen, die zwischen Weihnachten und Mitte Januar anfiel. Aus irgendeinem Grund waren die vier gebeten worden zu bleiben. Keiner von ihnen war gut, keiner hatte mehr als das Basistraining absolviert, und keiner von ihnen kam mit irgendjemandem aus der Firma gut aus. Stella war sicher, dass zwei von ihnen den Großteil des Tages damit verbrachten, sich im Materiallager Drogen reinzupfeifen – wenn sie da nicht gerade vögelten. Das hätte ihr nichts ausgemacht, wenn die Anwesenheit dieser Zeitarbeiter nicht, wie von Jen eben angesprochen, dazu geführt hätte, dass sie weniger Überstunden machen konnten, auf die sie und die anderen acht Leute ihrer Abteilung im Sommer immer gezählt hatten.

„Sie stellen nächsten Monat sowieso wieder Neue ein“, sagte Stella.

Jen schnaubte leise. „Stimmt. Aber andere. Vielleicht welche, die keine Arschlöcher sind.“

Stella lachte darüber, wie unwahrscheinlich das war. Ihr Kaffee hatte von Anfang an bitter geschmeckt, aber jetzt war er auch noch kalt. Sie goss ihn auf den Betonboden und beobachtete, wie er langsam einsickerte. Dabei dachte sie an den bevorstehenden Abend. Heute würde sie ihre Flanellbettwäsche herausholen.

„… mit mir?“

„Tut mir leid, was?“ Stella schaute auf.

„Ich fragte, was machst du morgen Abend? Jared und ich wollen zu einer Freundin, die bei einer Open-Mike-Nacht singt. Hast du Lust, mitzukommen?“

Stella hob eine Augenbraue. „Versuchst du wieder, mich zu verkuppeln?“

„Ach komm schon. Das habe ich nur einmal gemacht.“ Sie hielt einen Finger hoch. Dann noch einen und, nach einem klei nen Zögern, einen dritten. „Okay. Drei Mal. Aber du musst zugeben, es war alle drei Male vollkommen legitim.“

„Jen. Ich kann nicht mit Männern ausgehen, die nur wenig älter sind als mein Sohn. Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich nicht interessiert bin. Der Aufwand lohnt sich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf und schaute zum Himmel, der grau und mit dem Versprechen von baldigem Regen über ihnen hing. Für Schnee war es noch zu früh, oder?

Jen seufzte. „Wie kann man nur so wenig interessiert sein?“

„Bin ich einfach nicht. Freunde nehmen zu viel Zeit in Anspruch. Zu viel Mühe.“ Stella zuckte mit den Schultern. „Ich will mich nicht regelmäßig um einen Mann kümmern müssen. Ich bin ganz glücklich allein.“

„Niemand“, sagte Jen düster, „will wirklich alleine sein.“

Stella zuckte erneut mit den Schultern. „Nicht für immer. Aber im Moment habe ich zu Hause genug um die Ohren. Tristan geht in zwei Jahren aufs College. Dann habe ich genügend Zeit, mich um so einen Kram zu kümmern.“

„Das ist kein Kram“, erwiderte Jen.

„Das sagst du nur, weil du verliiiebt bist.“ Stella grinste und gab Kussgeräusche von sich, bis Jen lachend den Kopf senkte. „Wenn man verliebt ist, ist alles anders. Dann lässt man sich alles Mögliche gefallen, das man sonst von niemandem tolerieren würde. Liebe lässt Menschen den Verstand verlieren.“

„Ein großer Penis auch“, sagte Jen ernst.

Stella bemühte sich, nicht zu lachen. „Ein Grund mehr, ihnen aus dem Weg zu gehen.“

„Wenn du nicht aufpasst, wird deine Yoni noch austrocknen wie Steppengras und beim nächsten Windstoß einfach wegwehen.“

„Das Risiko gehe ich ein“, erwiderte Stella.

4. KAPITEL

Bei seiner Geburt hatte Tristan zweitausendachthundert Gramm gewogen und war vierzig Zentimeter groß gewesen. Er war kahl wie ein Ei gewesen und hatte ohne Unterbrechung geschrien. Rund um die Uhr, unersättlich und untröstlich für die ersten anderthalb Monate seines Lebens.

Sechzehn Jahre später war er größer als seine Eltern, ungefähr dreißig Kilo schwerer als Stella und hatte immer noch den gleichen unersättlichen Appetit, doch glücklicherweise hatte er sein konstantes Schreien durch unablässige Kommentare zum Zustand der Welt ersetzt. Zumindest war er einmal ein Junge gewesen, der ständig geredet hat. Anstelle der Umarmungen und unzähligen „ich hab dich lieb, Mama“ waren bei Tristan inzwischen unregelmäßige, irgendwie gekünstelte Unterhaltungen getreten. Er hatte seinen früheren albernen Sinn für Humor mit einem leicht sarkastischen Unterton ausgestattet, der teilweise ans Grausame grenzte, aber trotzdem noch beißend lustig war. Stella hasste es, darüber zu lachen, tat es aber dennoch, vor allem, wenn er sich über seine Stiefmutter lustig machte.

„Das ist nicht nett“, murmelte sie, als er ihr vorführte, wie Cynthias Mund immer ein wenig offen stand. „Iss deinen gegrillten Käse.“

Sie hatte sein Lieblingsessen gemacht, dicke Scheiben Roggenbrot mit Cheddarkäse, dazu ein paar knusprige Scheiben Speck und dünn geschnittene Tomaten. Nicht das gesündeste Abendessen, aber Tristan war so groß und schlaksig geworden, dass ihm die Extrakalorien sicher nicht schadeten. Vor allem wo er jetzt so viel lief. Für sie gab es gebratenes Hähnchen und Spinatsalat.

Tristan schaute auf seinen Teller, dann auf ihren. „Kann ich das haben, was du hast?“

Sie hielt in der Bewegung inne, die Gabel nur wenige Zentimeter davor, den Spinat aufzuspießen. „Du liebst doch gegrillten Käse.“

Tristan sagte nichts. Er löste seinen Blick von ihr und sah auf einmal so sehr aus wie Jeff, dass es in ihrem Herzen schmerzte. Tristan schob den Teller mit den Fingerspitzen von sich. „Nein, tue ich nicht.“

„Seit wann?“ Sie versuchte, den scharfen Unterton aus ihrer Stimme herauszuhalten, weil sie wusste, wie leicht es für sie beide war, in einen Streit zu geraten. Er sah nicht nur aus wie sein Vater, er hatte auch Jeffs Persönlichkeit. All die Dinge, die sie an ihrem Exmann verrückt gemacht hatten, blühten langsam in ihrem Sohn auf. Egal, wie entschlossen sie war, Tristan nicht zu einem Mann zu erziehen, der erwartete, dass die Welt ihm auf einem Silbertablett serviert wurde, schien es manchmal, als ob die Natur der Erziehung doch überlegen wäre. Sie liebte ihren Sohn mit jedem Atemzug, den sie tat. Doch in letzter Zeit hatte es viele Tage gegeben, an denen es ihr schwerfiel, ihn zu mögen.

„Schon immer.“ Er murmelte noch etwas und schob den Teller noch einen Zentimeter von sich weg.

Stella stocherte in ihrem Salat. „Was war das?“

„Nichts. Ich habe nichts gesagt.“

„Hast du wohl“, beharrte sie. „Ich habe es doch gehört.“

„Nichts. Vergiss es.“ Tristan stand störrisch auf. „Ich habe sowieso keinen Hunger. Ich gehe eine Runde laufen.“

Er war bereits durch die Küchentür, bevor sie ihm hinterherrief. „Stopp. Pack das Sandwich für später in den Kühlschrank, und räume deinen Teller in die Spülmaschine.“

Seufzend und mit schleppenden Schritten, als hätte sie ihn gebeten, sich alle Extremitäten mit einem rostigen Kartoffelschäler zu amputieren, kehrte er in die Küche zurück.

„Ich sollte dich um so etwas eigentlich gar nicht erst bitten müssen. Komm schon, Tristan.“ Es gelang ihr, ruhig zu sprechen und sich auf ihren Salat zu konzentrieren. „Du solltest es besser wissen.“

„Ach ja?“, fragte er herausfordernd. „Tja, du auch.“

Bevor sie ihn fragen konnte, was er damit meinte, war er schon davongestapft. Schritte polterten die Treppe hinauf und den Flur entlang in sein Zimmer. Dann fiel die Tür krachend ins Schloss.

Stella hatte ihren Appetit ebenfalls verloren, zwang sich aber, weiterzuessen. Als Tristan die Treppe wieder hinunterstürmte und zur Haustür lief, rief sie erneut nach ihm. „Was machst du und wie lange wirst du weg sein?“

„Ich gehe laufen, das habe ich dir doch gesagt, und ich weiß nicht, wie lange.“

Ohne einen Streit würde sie von ihm keine andere Antwort erhalten, und sie war der ewigen Streitereien so müde. „Hast du dein Handy dabei?“

„Ja.“

„Lauf nicht zu weit“, sagte sie. „Denk dran …“

„Ja, ich weiß, auf dem Rückweg fühlt es sich doppelt so lang an. Ich weiß, Mom.“ Wieder irgendein Gemurmel, das vermutlich irgendein Schimpfwort enthielt, das sie bei seinen Freunden gehört hatte, wenn diese glaubten, keiner der Erwachsenen würde zuhören.

Als die Tür zuknallte, fiel ihr noch etwas ein. Er war bereits halb die Auffahrt hinunter, als sie bei der Tür war. „Tristan!“

Einen Moment glaubte sie, er würde so tun, als hätte er sie nicht gehört. Doch dann drehte er sich um. „Was?“

„Sei zurück, bevor es dunkel wird.“ Das ließ ihm nicht viel Zeit, aber bei dem Gedanken, dass er im Finstern auf den Landstraßen oder sogar dem Highway laufen könnte, zog sich ihr Magen zusammen. „Ich meine es ernst.“

Er machte eine Handbewegung, die genauso gut ein Winken wie ein Vogel sein konnte, und lief weiter. Sie schaute ihm hinterher, bis er hinter den Bäumen verschwand, dann ging sie wieder hinein. Ein paarmal stocherte sie noch in ihrem Salat herum, dann warf sie ihn in den Müll und räumte den Tisch ab. Sie ließ sich Zeit, benutzte das Reinigungsspray und ein Küchenhandtuch, um auch alle Flecken vom Tisch wegzubekommen. Danach widmete sie sich der Edelstahlfront des Kühlschranks, der Mikrowelle und dem Backofen. Dem Herd. Den Schränken.

Nichts war wirklich schmutzig, aber sie putzte trotzdem weiter.

In den Tagen, als Jeff noch mit im Haus gelebt hatte, war es immer so unordentlich gewesen, dass Stella mit dem Aufräumen nicht hinterhergekommen war. Es hatte sich angefühlt, wie mit einem Wirbelsturm zu leben. Kinder, Hund, Katze, Ehemann – jede Kreatur in dem Haus schien eine Schneise der Verwüstung zu hinterlassen, während sie mit Staubsauger und Wischmopp hinterherlief und der Wäschekorb überquoll. Jetzt, wo Tristan die Hälfte seiner Zeit bei seinem Vater verbrachte, stammte oft die einzige Unordnung im Haus von ihr.

Manchmal ließ sie ihre Wäsche eine ganze Woche auf der ungenutzten Seite des Bettes liegen, bevor sie sie wegpackte. Sie drehte die Zahnpastatube nicht mehr zu und schloss den Toilettendeckel vor dem Spülen nicht. Sie kaufte die Kaffeemarke, die sie am liebsten mochte, und spielte ihre Lieblingsmusik so laut sie wollte. Im Grunde genommen tat sie überhaupt nur, was sie wollte und wie sie es wollte.

Und zwar ganz allein.

Mitten in der schlimmsten Phase, als die Aussicht, sich scheiden zu lassen, sich nicht mehr wie ein Versagen, sondern wie eine Erlösung angefühlt hatte, hatte Stella stundenlang übers Alleinleben nachgedacht, bis ihr irgendwann ganz schwindelig war. Würde es ihr wirklich gefallen, wenn es keine Alternative gab? Am Ende war es Jeff gewesen, der sie verlassen hatte. Was sie ihm nicht vorwerfen konnte. Sie hatte sich zu dem Zeitpunkt schon lange selber nicht mehr leiden können. Und sie hatte beschlossen, dass alleine zu sein besser war, als es sich nur zu wünschen.

An dem Tag von Jeffs Auszug war Tristan im Sommercamp gewesen, und obwohl es eine Sturmwarnung gab, hatte Stella jedes Fenster im Haus geöffnet. Sie hatte im Regen im Garten getanzt und riskiert, vom Blitz getroffen zu werden. Sie hatte ihr Gesicht in den Himmel gereckt und sich vom Regen reinwaschen lassen.

Das Gefühl hatte nicht lange angehalten, aber lange genug. Acht Jahre später war sie immer noch allein, und Jeff hatte wieder geheiratet. Sie nahm an, er war glücklich in seinem wesentlich größeren Haus mit seiner wesentlich jüngeren Frau. Aber eigentlich war es ihr egal.

Die Küche war sauber. Sie hatte ein paar Maschinen Wäsche gewaschen und das meiste davon zusammengelegt. Tristans Stapel legte sie in den Korb und trug ihn den Flur hinunter. Öffnete die geschlossene Tür zwischen ihrem Zimmer und seinem und stellte den Korb direkt hinter der Tür ab. Zuckte kurz zusammen, als ihr der säuerliche Geruch nach Teenagerjungen in die Nase stieg. Er durfte nicht mehr in seinem Zimmer essen, seitdem sie einmal den Kammerjäger hatte rufen müssen, um der Ratten- und Ameisenplage Herr zu werden. Und er hatte die strikte Anweisung, seine dreckige Wäsche jeden Montag auf den Flur zu legen, damit sie sie waschen konnte; tat er es nicht, musste er eine Woche lang mit ungewaschenen Klamotten herumlaufen. Oder selber waschen. Darüber hinaus hielt Stella sich vom Zimmer ihres Sohnes fern. Sie liebte ihre Privatsphäre und nahm an, dass es ihm genauso ging.

Jetzt blieb sie jedoch noch eine Minute stehen. Es war gefährlich, bei Gedanken zu verweilen, wie sie es heute Morgen in der Dusche getan hatte. Melancholie war nicht produktiv. Und doch zog sie etwas einen Schritt oder zwei nach vorne. Er war seinem Kinderbett schon lange entwachsen, und das Erste, was Stella nach der Scheidung getan hatte, war, Tristan ihr altes Bett zu geben und sich neue Schlafzimmermöbel zu kaufen. Er hatte die Pfosten mit Aufklebern und Schleifen von Schulausstellungen und Wettbewerben beklebt. Ein paar Baseballcaps hingen darüber. Am Fuß des Bettes hatte er immer noch einen Berg Kuscheltiere, die zwischen Matratze und Wand geschoben worden waren.

Mr Bear. Tigger. Tristan hatte Plüschtiere den härteren Actionfiguren oder Spielzeugautos schon immer vorgezogen. Er hatte Stunden mit ihnen im Garten verbracht, wo sie so schmutzig wurden, dass die Flecken selbst mit Kochwäsche nicht herausgegangen waren. Andere Mütter sprachen seufzend von Lieblingsdecken oder Teddybären, die ihre Kinder nicht loslassen wollten, sodass sie teilweise identische Lieblingsspielzeuge kauften, damit das Kind nicht durch den kurzfristigen Verlust im Zuge einer Wäsche traumatisiert würde. Tristan war nie so gewesen. Er liebte alle seine Spielzeuge gleich und unverbindlich. Wenn Gliedmaßen verloren gingen oder ein Plüschtier zu abgeliebt war, um weiter damit zu spielen, ersetzte er es problemlos durch ein anderes.

Deshalb amüsierte und berührte es sie so sehr, sie jetzt dort zu sehen. Sie hätte gedacht, dass er sie schon vor Jahren weggeworfen hätte. Zusammen mit seinen alten Pyjamas und der Cowboybettwäsche. Stella schob den Wäschekorb ein kleines bisschen weiter in sein Zimmer und griff nach Mr Bear. Ihre Mom hatte ihn Tristan gekauft, als er noch ein Kleinkind gewesen war. Mr Bear saß an der Wand neben einer namenlosen Stoffschlange, die er an einem Schießstand gewonnen hatte. Sie war grün mit blauen Punkten und trug einen Zylinder. Als Stella an Mr Bears Arm zog, purzelte die Schlange zur Seite. Und noch ein paar andere Tiere auch.

Genau wie das Baby.

Es war ein ganz kleines, weiches Stoffbaby von der Größe ihrer Hand. Ein runder, pummeliger Körper, zwei kurze Ärmchen und Beinchen und ein runder Kopf ohne Hals. Grübchen und buntes Garn bildeten das Gesicht: zwei winzige Augen und ein roter, aufgedruckter Mund. Drei oder vier Strähnen orangefarbenes Haar. Das Baby hatte kein Geschlecht, aber seine blaue Kleidung deutete darauf hin, dass es ein Junge war.

Sie nahm es, ohne zu wissen, was es war, doch beim Anblick des Wollhaars und der dicken schlaffen Arme ließ sie es aufs Bett fallen, wo es mit dem Gesicht nach unten und verdrehten Gliedmaßen liegen blieb.

„Wo ist dein Baby? Wo ist dein Baby?“

Er tapst auf sie zu, zwei Zähne blitzen stolz in seinem Unterkiefer auf. Das Baby hält er fest in seiner pummeligen Faust. Blauer Schlafanzug. Zerzaustes rötliches Haar. Ein dünner Sabberfaden, den sie wegwischt, bevor sie ihn hochhebt und ihr Gesicht in dem süßen Kinderduft vergräbt. Ihr Kind. Ihr Junge.

„Zeig Mama dein Baby.“

Er hält das Spielzeug hoch, und sie nimmt ihn in ihre Arme, küsst ihn so lange, bis er sich windet und runtergelassen werden will. Auf unsicheren Beinen wankt er davon. Ihr Junge.

Oh, ihr Junge.

Stella ließ alles, wie es war, zog die Tür hinter sich zu und schloss alle Erinnerungen weg.

Das Abendessen war schon Stunden her. Immer noch kein Zeichen von Tristan. Keine Nachricht, keine SMS. Die Nacht ist mit aller Macht hereingebrochen. Nicht einmal der Hauch eines Sonnenuntergangs, den sie ihm als Entschuldigung durchgehen lassen könnte. Mit zusammengebissenen Kiefern zog sie ihr Handy heraus und tippte etwas ein.

Wo bist du?

Da sie ihren Sohn schon öfter dabei beobachtet hat, wie er mit verschiedenen Leuten chattet, während er gleichzeitig Xbox spielt, fernsieht und Snacks isst, weiß sie, wenn er sich innerhalb einer Minute oder zwei nicht bei ihr meldet, geschieht das nur, weil er sie ignoriert. Oder ihm etwas zugestoßen ist.

Stellas Mutter hatte sich angewöhnt, jedes Mal „Pass auf dich auf“ zu sagen, wenn Stella das Haus verließ. Stella, Klugscheißerin, die sie damals gewesen war, hatte üblicherweise erwidert: „Nö. Ich werde ganz viele Risiken eingehen und gefährliche Sachen machen.“ Was ihre Mom nicht sonderlich lustig fand.

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